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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[561]

No. 34.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Vineta.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)

„Was sollte er hier anders wollen, als jagen?“ fuhr die Fürstin fort. „Du weißt, die Jagdleidenschaft hat er von seinem Vater geerbt. Ich bin überzeugt, er wählte nur deshalb die Universität von J., weil der Ort in waldiger Umgebung liegt, und ist, anstatt die Vorlesungen zu besuchen, den ganzen Tag lang mit Flinte und Jagdtasche umhergestreift. Auf seinen Reisen wird es wohl ähnlich gegangen sein. Er kennt und liebt ja nun einmal nichts Anderes, als die Jagd.“

„Er konnte aber zu keiner schlimmeren Zeit kommen,“ rief Morynski. „Gerade jetzt hängt alles davon ab, daß Du unumschränkte Herrin hier bleibst. Rakowicz liegt zu weit von der Grenze; wir sind dort überall beobachtet, überall von Rücksichten eingeengt. Wir müssen die Disposition über Wilicza behalten.“

„Das weiß ich,“ erklärte die Fürstin, „und ich werde dafür sorgen, daß sie uns bleibt. Du hast Recht, der Besuch kommt äußerst ungelegen, aber ich kann es meinem Sohne doch nicht verwehren, seine eigenen Güter zu betreten, wenn es ihm beliebt. Wir müssen eben größere Vorsicht beobachten.“

Der Graf machte eine Bewegung der Ungeduld. „Mit der Vorsicht allein ist es nicht gethan. Es handelt sich einfach darum, Alles aufzugeben, so lange Waldemar im Schlosse ist, und das können wir nicht.“

„Es ist auch nicht nöthig, denn er wird wenig genug im Schlosse sein, oder ich müßte den Reiz nicht kennen, den unsere Wälder auf solch eine Nimrodsnatur ausüben. Bei Nordeck wurde diese Jagdpassion schließlich zur Manie, die ihn unempfänglich für alles Andere machte, und sein Sohn gleicht ihm auch darin vollkommen. Wir werden ihn nur äußerst selten zu Gesichte bekommen; er steckt den ganzen Tag im Walde und hat sicher nicht die mindeste Aufmerksamkeit für das, was in Wilicza vorgeht. Das Einzige, was ihn hier möglicherweise interessirt, ist die große Gewehrsammlung seines Vaters, und die wollen wir ihm gern überlassen.“

Es lag eine Art von mitleidigem Spott in diesen Worten, die Stimme des Grafen dagegen verrieth einiges Bedenken, als er erwiderte: „Es sind vier Jahre her, daß Du Waldemar nicht gesehen hast. Freilich, Du wußtest ihn schon damals ganz nach Deinem Willen zu leiten, woran ich zuerst entschieden zweifelte. Hoffentlich gelingt Dir das auch jetzt.“

„Ich denke,“ versetzte die Fürstin mit ruhiger Zuversicht. „Uebrigens ist er durchaus nicht so schwer zu leiten, wie Du glaubst. Gerade sein störriger Eigenwille bildet die beste Handhabe dazu. Man muß seinem rohen Ungestüm für den Augenblick nur unbedingt nachgeben und ihn in dem Glauben erhalten, daß sein Wille unter allen Umständen respectirt wird, dann hat man ihn vollständig in der Hand. Wenn wir ihm täglich sagen, daß er unumschränkter Herr von Wilicza ist, so wird es ihm gar nicht einfallen, das auch sein zu wollen. Ich traue ihm überhaupt nicht so viel Intelligenz zu, sich um die Verhältnisse auf seinen Gütern eingehend zu kümmern. Wir können unbesorgt sein.“

„Ich muß mich darin ganz auf Dein Urtheil verlassen,“ sagte Morynski. „Ich selbst sah ihn ja nur zwei Mal – wann hast Du den Brief erhalten?“

„Heute Morgen, eine Stunde vor Deiner Ankunft. Danach können wir Waldemar jeden Tag erwarten; er war bereits auf der Reise hierher. Im Uebrigen schreibt er mit seiner gewöhnlichen lakonischen Kürze, ohne alle Details. Du weißt, unsere Correspondenz zeichnete sich nie durch Ausführlichkeit aus; wir haben uns stets nur das Nothwendige mitgetheilt.“

Der Graf sah nachdenkend vor sich nieder. „Kommt er allein?“

„Mit seinem ehemaligen Erzieher, der sein steter Begleiter ist. Ich glaubte anfangs, der Mann werde sich benutzen lassen, um uns Näheres über Waldemar’s Thun und Treiben auf der Universität erfahren zu lassen, täuschte mich aber darin. Ich mußte natürlich die Studien meines Sohnes zum Vorwand der Erkundigungen nehmen und erhielt nun nichts als gelehrte Abhandlungen über diese Studien selbst, nicht ein Wort von dem, was ich zu wissen wünschte; meine Fragen in dieser Hinsicht schienen gar nicht verstanden zu werden, so daß ich schließlich den unfruchtbaren Briefwechsel abbrach. Sonst ist dieser Doctor Fabian einer der harmlosesten Menschen, die existiren. Von seiner Gegenwart ist gar nichts zu besorgen und von seinem Einfluß auch nichts, denn er besitzt keinen.“

„Es handelt sich für uns auch hauptsächlich um Waldemar,“ erklärte der Graf. „Wenn Du also meinst, daß von seiner Seite keine störende Beobachtung zu fürchten ist –“

„Jedenfalls keine schärfere, als wir sie nun schon seit Monaten Tag für Tag erdulden,“ unterbrach ihn die Schwester. „Ich dächte, der Administrator hätte uns Vorsicht gelehrt.“

„Jawohl, dieser Frank und sein ganzes Haus legen sich förmlich auf’s Spioniren,“ rief Morynski heftig. „Ich begreife nicht, Jadwiga, daß es Dir immer noch nicht möglich ist, uns von dieser unbequemen Persönlichkeit zu befreien.“

[562] Die Fürstin lächelte mit vollster Ueberlegenheit. „Beruhige Dich, Bronislaw! Der Administrator nimmt bereits in diesen Tagen seine Entlassung. Ich konnte nicht eher gegen ihn vorgehen; er ist seit zwanzig Jahren auf seinem Posten und hat ihn stets tadellos verwaltet; mir fehlte jeder Grund, die Entlassung zu erzwingen. Ich zog es vor, ihn dahin zu bringen, daß er selbst seinen Abschied nahm, und das hat er gestern gethan, vorläufig nur mündlich, mir gegenüber, aber die formelle Kündigung wird nicht auf sich warten lassen. Ich lege Werth darauf, daß sie von seiner Seite erfolgt, zumal jetzt, wo Waldemar’s Ankunft bevorsteht.“

Die Züge des Grafen, die während der ganzen Unterredung unverkennbare Besorgniß ausgedrückt hatten, glätteten sich allmählich wieder. „Es war auch die höchste Zeit,“ sagte er mit sichtlicher Befriedigung. „Dieser Frank fing bereits an, eine Gefahr für uns zu werden; leider müssen wir ihn noch eine Weile dulden. Sein Contract lautet ja wohl auf mehrmonatliche Kündigung?“

„Allerdings, aber die Frist wird nicht eingehalten werden. Der Administrator ist längst nicht mehr von seiner Stellung abhängig; es heißt ja, er beabsichtige, sich selbst anzukaufen; außerdem besitzt er ein starkes Unabhängigkeitsgefühl. Man ruft irgend eine Scene hervor, die seinen Stolz verletzt, und er geht sofort – dafür bürge ich. Das ist nicht schwer zu erreichen, nachdem er sich überhaupt zum Gehen entschlossen hat. – Wie, Leo, schon zurück von dem Spaziergange?“

Die letzten Worte waren an den jungen Fürsten gerichtet, der soeben eintrat und sich den Beiden näherte.

„Wanda wollte nicht länger im Parke bleiben,“ entgegnete er. „Ich kam – aber ich störe wohl eine Berathung?“

Graf Morynski erhob sich. „Wir sind zu Ende. Ich erfuhr soeben die bevorstehende Ankunft Deines Bruders, und wir erörterten die unvermeidlichen Folgen. Eine derselben wird es auch sein, daß wir den diesmaligen Besuch abkürzen; wir bleiben noch morgen zu der beabsichtigten Festlichkeit, kehren aber schon am nächsten Tage nach Rakowicz zurück, ehe Waldemar eintrifft. Er kann uns doch nicht gleich als Gäste seines Hauses finden?!“

„Weshalb nicht?“ fragte die Fürstin ruhig. „Etwa wegen der Kinderei von damals? Wer denkt noch daran! Wanda gewiß nicht, und Waldemar – er wird doch wohl in den vier Jahren Zeit gehabt haben, die vermeintliche Beleidigung zu verschmerzen! Daß sein Herz sehr wenig betheiligt war, wissen wir ja durch Leo, dem er bereits acht Tage darauf mit der vollkommensten Ruhe erklärte, er habe die ganze Geschichte bereits vergessen, und unser Aufenthalt in Wilicza beweist am besten, daß er ihr gar keine Wichtigkeit mehr beilegt. Ich halte es für das Tactvollste und Zweckmäßigste, die Sache vollständig zu ignoriren. Wenn Wanda ihm unbefangen als seine Cousine entgegentritt, wird er sich kaum noch erinnern, daß er einst eine Knabenschwärmerei für sie hegte.“

„Vielleicht wäre es das Beste,“ meinte der Graf, indem er sich zum Gehen wandte. „Jedenfalls werde ich mit Wanda darüber sprechen.“

Leo hatte sich, ganz gegen seine Gewohnheit, mit keinem Worte an dem Gespräche betheiligt, und als jetzt sein Oheim das Zimmer verließ, nahm er schweigend dessen Platz ein. Er sah schon beim Eintritte äußerst erregt aus, und auch jetzt noch lag in seinen Zügen ein Ausdruck von Verstimmung, den er sich vergebens zu verbergen bemühte, die Mutter wenigstens bemerkte ihn sofort.

„Eure beabsichtigte Promenade wurde ja sehr schnell abgebrochen,“ warf sie hin. „Wo ist denn Wanda?“

„Auf ihrem Zimmer – so vermuthe ich wenigstens.“

„Vermuthest Du nur? Es hat wohl wieder einmal eine Scene zwischen Euch gegeben? Versuche doch nicht, mir das abzuleugnen, Leo! Dein Gesicht spricht deutlich genug davon und außerdem weiß ich, daß Du sicher nicht von Wanda’s Seite gehst, wenn sie Dich nicht selbst vertreibt.“

„Ja wohl, sie findet oft ein eigenes Vergnügen darin, mich zu vertreiben,“ sagte Leo mit unverstellter Bitterkeit.

„Du quälst sie aber auch oft genug mit Deiner ganz unbegründeten Eifersucht auf Jeden, der in ihre Nähe kommt. Ich bin überzeugt, das hat auch heute wieder den Anlaß zu Eurem Streite gegeben.“

Der junge Fürst schwieg und bestätigte dadurch die Voraussetzung seiner Mutter, die jetzt mit leisem Spott fortfuhr: „Es ist doch eine alte Erfahrung: wenn eine Liebe keine Leiden hat, so schafft sie sich solche. Ihr seid in dem seltenen glücklichen Falle, ohne jedes Hinderniß, mit vollster Billigung der Eltern dem Zuge Eurer Herzen folgen zu dürfen, und nun macht Ihr Euch auf diese Weise das Leben schwer. Ich will Wanda keineswegs von der Mitschuld daran freisprechen. Ich bin nicht blind gegen ihre Vorzüge, die sich immer glänzender entwickeln, seit sie das Kind mit seinen Thorheiten abgelegt hat, aber was ich vom ersten Tage an, wo ich sie ihrem Vater zurückgab, fürchtete, ist leider eingetroffen. Er hat mit seiner grenzenlosen Zärtlichkeit und der Vergötterung seiner Tochter Dir und mir einen schweren Stand bereitet. Wanda kennt keinen Willen als den ihrigen; sie ist gewohnt, ihn überall durchzusetzen, und Du lehrst sie leider auch keinen anderen kennen.“

„Ich versichere Dir, Mama, daß ich heute nicht sehr nachgiebig gegen Wanda war,“ versetzte Leo in einem Tone, dem man noch die Gereiztheit anhörte.

Die Fürstin zuckte die Achseln. „Heute vielleicht! Und morgen liegst Du doch wieder vor ihr auf den Knieen und bittest sie um Verzeihung. Sie hat Dich bisher noch jedesmal dazu gebracht. Wie oft soll ich Dir noch klar machen, daß das nicht der Weg ist, einem so stolzen und eigenwilligen Mädchen die Achtung einzuflößen, die der künftige Gemahl unter allen Umständen beanspruchen muß.“

„Ich bin aber solcher kühlen Berechnungen nicht fähig,“ rief Leo leidenschaftlich. „Wo ich liebe, wo ich anbete mit aller Gluth meiner Seele, da kann ich nicht immer und ewig bedenken, ob mein Benehmen auch ja dem künftigen Gemahl nichts vergiebt.“

„So beklage Dich auch nicht, wenn Deine Leidenschaft nicht in dem Maße erwidert wird, wie Du es forderst!“ sagte die Fürstin kalt. „Wie ich Wanda kenne, wird sie nie den Mann lieben, der sich unbedingt ihrer Herrschaft beugt, weit eher den, der ihr Widerstand entgegen setzt. Eine Natur, wie die ihrige, will zur Liebe gezwungen sein, und das hast Du bisher noch nicht verstanden.“

Er wendete sich in grollendem Unmuthe ab. „Ich habe ja überhaupt noch gar kein Recht auf Wanda’s Liebe. Es wird mir ja noch immer versagt, sie öffentlich meine Braut nennen zu dürfen; die Zeit unserer Verbindung wird in endlose Ferne hinausgeschoben –“

„Weil jetzt nicht Zeit ist an Verlobung und Hochzeit zu denken,“ unterbrach ihn die Mutter mit vollster Entschiedenheit. „Weil Du jetzt andere, ernstere Aufgaben hast als die, eine junge Gemahlin anzubeten, die bei Dir alles Andere in den Hintergrund drängen würde. Endlose Ferne! Wo es sich um einen Aufschub von höchstens einem Jahre handelt! Verdiene Dir die Braut – die Gelegenheit dazu wird nicht ausbleiben, und Wanda selbst würde sich nie entschließen, Dir eher ihre Hand zu reichen. Aber da kommen wir auf einen andern Punkt, den ich Dir nicht ersparen kann. – Leo, Dein Oheim ist nicht zufrieden mit Dir.“

„Hat er mich bei Dir verklagt?“ fragte der junge Mann mit einem finsteren Aufblicke.

„Er mußte es leider. Soll ich Dich erst daran erinnern, daß Du dem älteren Verwandten, dem Führer, unter allen Umständen Gehorsam schuldig bist? Statt dessen bereitest Du ihm unnöthige Schwierigkeiten, trittst an der Spitze von mehreren Deiner Altersgenossen in offene Opposition gegen ihn – was soll das heißen?“

Auf dem Gesichte Leo’s lag ein Ausdruck von starrem Trotze, als er antwortete: „Wir sind keine Kinder mehr, die sich willenlos leiten lassen. Wenn wir auch die Jüngeren sind, das Recht einer eigenen Meinung wird uns doch wohl zugestanden werden, und wir ertragen nun einmal nicht dieses ewige Zögern und Bedenken, mit dem man uns zurückhält.“

„Denkst Du, mein Bruder werde sich von Euch jugendlichen Heißspornen auf Bahnen fortreißen lassen, die er für verderblich erkennt?“ fragte die Fürstin mit vollster Schärfe. „Da irrt Ihr sehr. Es wird ihm schon schwer genug, alle die widerstreitenden Elemente im Zügel zu halten, und nun muß er es erleben, daß sein eigener Neffe das Beispiel des Ungehorsams giebt.“

„Ich habe nur widersprochen, nichts weiter,“ vertheidigte [563] sich der junge Fürst. „Ich ehre und liebe Morynski gewiß als Deinen Bruder und mehr noch als den Vater Wanda’s, aber es kränkt mich, daß er mir so gar keine Selbstständigkeit zugestehen will. Du selbst wiederholst mir oft genug, daß mein Name, meine Abkunft mich zu der ersten Stelle berechtigen, und der Onkel verlangt von mir, mich mit einer untergeordneten zu begnügen.“

„Weil er es noch nicht wagen darf, einem einundzwanzigjährigen Feuerkopfe Entscheidendes anzuvertrauen. Du verkennst Deinen Oheim vollständig. Ihm ist der eigene Erbe versagt geblieben, und wie sehr auch Wanda sein Abgott sein mag, die Hoffnungen, die ihm nur ein Sohn verwirklichen kann, sie ruhen doch einzig in Dir, der ja auch seinem Blute entstammt und in Kurzem sein Sohn heißen wird. Wenn er es für den Augenblick noch für nothwendig hält, Dich zu zügeln, für die Zukunft rechnet er doch ganz auf Deine junge, frische Kraft, wo die seinige schon zu ermatten beginnt. Ich habe sein Wort, daß, wenn es zur Entscheidung kommt, Fürst Leo Baratowski die ihm gebührende Stellung einnehmen wird – wir hoffen Beide, Du werdest Dich dessen würdig zeigen.“

„Zweifelt Ihr daran?“ rief Leo aufspringend mit flammenden Augen.

Die Mutter legte beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm. „An Deinem Muthe gewiß nicht. Was Dir fehlt, ist die Besonnenheit, und ich fürchte, Du wirst sie nie lernen, denn Du hast das Temperament Deines Vaters. Auch Baratowski flammte stets so leidenschaftlich auf, ohne nach Schranken und Möglichkeiten zu fragen, und das brachte ihm und mir oft genug Unheil. Aber Du bist doch auch mein Sohn, Leo, und ich denke, etwas wirst Du doch auch von Deiner Mutter geerbt haben. Ich habe mich bei meinem Bruder dafür verbürgt – an Dir ist es, die Bürgschaft einzulösen.“

Es lag in den Worten, trotz ihres tiefen Ernstes, ein solcher Mutterstolz, daß Leo in aufwallender Empfindung sich an ihre Brust warf. Die Fürstin lächelte; sie war nur selten weichen Regungen zugänglich, in diesem Augenblicke aber sprach doch die ganze Zärtlichkeit der Mutter aus ihrem Blicke und ihrem Tone, als sie, die Umarmung des Sohnes erwidernd, sagte: „Was ich für Hoffnungen auf Deine Zukunft setze, mein Leo, das brauche ich Dir nicht erst zu wiederholen, Du hast es oft von mir gehört, bist Du doch von jeher mein Einziger, mein Alles gewesen.“

„Dein Einziger?“ mahnte der junge Fürst mit leisem Vorwurfe. „Und mein Bruder?“

„Waldemar!“ Die Fürstin richtete sich empor; bei dem Namen schwand auf einmal alle Weichheit aus ihren Zügen, alle Zärtlichkeit aus ihrer Stimme. Ihr Antlitz wurde wieder streng und ernst wie vorhin, und ihr Ton klang eisig kalt, als sie fortfuhr: „Ja freilich, ihn hatte ich vergessen. Das Schicksal hat ihn nun einmal zum Herrn von Wilicza gemacht – wir werden ihn ertragen müssen.“


In nicht allzu weiter Entfernung vom Schlosse lag die Wohnung des Administrator Frank. Schloß und Gutswirthschaft waren in Wilicza von jeher getrennt gewesen. Das erstere, mochte es nun bewohnt sein oder nicht, lag stets in vornehmer Abgeschlossenheit da, und die letztere befand sich ausschließlich in den Händen eines Beamten. Das stattliche Wohnhaus desselben, die umliegenden, fast durchweg neuen Wirthschaftsgebäude und die Ordnung, welche auf dem Hofe herrschte, wichen bedeutend von dem ab, was man auf den Gütern der Nachbarschaft zu sehen gewohnt war, und galten auch wirklich in der ganzen Umgegend für ein überall angestauntes, aber niemals nachgeahmtes Muster. Die Stellung des Administrators von Wilicza war allerdings eine solche, daß ihn mancher Gutsherr darum beneiden konnte, sowohl was das Einkommen wie was die Art zu leben betraf.

Der Abend dämmerte bereits. Drüben im Schlosse begann sich die ganze Fensterreihe des ersten Stockwerkes zu erleuchten; bei der Fürstin fand eine größere Festlichkeit statt. In dem Wohnzimmer des Administrators war noch kein Licht angezündet worden, und die beiden Herren, welche sich dort befanden, schienen so sehr in die Unterhaltung vertieft zu sein, daß sie die zunehmende Dunkelheit gar nicht bemerkten.

Der ältere der Beiden war eine stattliche Erscheinung im kräftigsten Mannesalter, mit offenen, von der Sonne stark gebräunten Zügen, der jüngere dagegen verrieth in seinem ganzen Aeußeren, daß er nicht auf dem Lande heimisch sei. Er konnte trotz seiner ziemlich kleinen Figur für einen recht hübschen Mann gelten; das sorgfältig gekräuselte Haar und der äußerst moderne Anzug gaben ihm etwas Stutzerhaftes, doch lag nichts eigentlich Geziertes in seinem Wesen, Sprache und Haltung zeigten im Gegentheil ein Uebermaß von Würde und Wichtigkeit, das mit seiner kleinen Gestalt bisweilen in etwas komischen Gegensatz gerieth.

„Es bleibt dabei – ich gehe,“ sagte der Aeltere. „Ich habe es vorgestern der Fürstin erklärt, daß ich ihr den Gefallen thun werde, Wilicza den Rücken zu kehren, da ihre Manöver seit Jahr und Tag darauf hinzielten. Weiter kam ich aber nicht mit meinen Eröffnungen, denn sie fiel mir mit ihrer vollen Majestät in die Rede. ‚Mein lieber Frank, ich bedauere aufrichtig, daß Sie uns verlassen wollen, kann Ihrem Wunsche aber kein Hinderniß in den Weg legen; seien Sie überzeugt, mein Sohn und ich werden Ihre langjährige Thätigkeit in Wilicza nicht vergessen!‘ – Das sagt sie mir, mir, den sie systematisch vertrieben hat. Glauben Sie denn, daß ich gegen diesen Blick und Ton aufkommen konnte? Ich hatte mir vorgenommen, endlich einmal meinem Herzen Luft zu machen und ihr zum Abschiede gründlich die Wahrheit zu sagen, und jetzt – machte ich eine Verbeugung und ging.“

Der jüngere Herr schüttelte den Kopf. „Eine merkwürdige Frau, aber auch eine höchst gefährliche Frau! Wir von der Regierung haben Proben davon. Ich sage Ihnen, Herr Frank, diese Fürstin Baratowska ist eine Gefahr für die ganze Provinz.“

„Warum nicht gar!“ rief der Administrator ärgerlich. „Aber eine Gefahr für Wilicza ist sie. Sie hat es nun richtig durchgesetzt, die ganze Herrschaft unter ihr Scepter zu bringen; ich war der letzte Stein des Anstoßes, und den räumt sie nun auch aus dem Wege. Glauben Sie mir, Herr Assessor, ich habe ausgehalten, so lange es nur irgend ging, nicht meiner Stellung wegen – ich bin Gott sei Dank so weit, daß ich jeden Tag auf eigenen Füßen stehen kann, aber es that mir weh, daß Alles, was ich in zwanzig Jahren gearbeitet und geschaffen habe, nun zu Grunde gehen soll, wenn die alte polnische Wirthschaft wieder anfängt. Als ich hierher kam, war Herr Nordeck seit ein paar Jahren todt, sein Sohn bei dem Vormunde in Altenhof, und Pächter, Förster und Administratoren wirthschafteten lustig darauf los. Hier in Wilicza ging es am ärgsten zu; mein Vorgänger hatte so offen und unverschämt gestohlen, daß es sogar Herrn Witold zu viel wurde und er ihn Knall und Fall entließ. Das Schloß, von dessen Prachteinrichtung man weit und breit fabelte, stand leer und verschlossen, wie es aber im Dorfe und nun vollends auf dem Gutshofe aussah, das kann ich Ihnen nicht beschreiben. Elende Holz- und Lehmschuppen, die Einem über dem Kopfe zusammenfielen, Schmutz und Unordnung, wohin man sich wandte. Das Dienstvolk kriechend, falsch und voll von echt nationalem Hasse gegen den ‚Deutschen‘, die Felder in einem Zustande, daß sich einem Landmanne das Herz im Leibe umkehrte. Es that wahrhaftig Noth, daß ein paar märkische Fäuste da zugriffen, und es dauerte ein halbes Jahr, ehe ich Frau und Kinder nachkommen lassen konnte, weil eine nach unseren Begriffen menschliche Wohnung außerhalb des Schlosses nicht aufzutreiben war. Wie hätte es denn auch anders sein sollen! Der verstorbene Nordeck hatte nichts weiter gethan als jagen und sich mit seiner Frau Gemahlin zanken, und Herr Witold that überhaupt gar nichts. Es setzte zwar regelmäßig einige Donnerwetter, wenn er herkam, aber im Uebrigen ließ er sich an der Nase herumführen, und das wußte man auf der ganzen Herrschaft nur zu gut. Wenn die Rechnung nur schwarz und weiß auf dem Papiere stand und die Zahlen stimmten, dann war die Sache in Ordnung, ob die Ausgaben auch wirklich gemacht waren, danach fragte er nicht. Was habe ich im Anfange für Summen fordern müssen, um nur einigermaßen Ordnung zu schaffen! Sie wurden mir anstandslos bewilligt; daß ich sie nun auch wirklich auf das Gut wandte, anstatt sie, wie meine Herren Collegen, in die eigene Tasche zu stecken, das war ein Ausnahmefall. Uebrigens hatte der alte Herr doch eine Ahnung davon, daß ich der einzig Ehrliche unter der [564] ganzen Gesellschaft war, denn er erhöhte mir schon nach den ersten Jahren Gehalt und Tantième in einer Weise, daß ich mit der Ehrlichkeit gerade so gut fuhr, wie die Anderen mit ihren Diebereien und wäre er am Leben geblieben, so hätte ich Wilicza nicht verlassen, trotz aller Chicanen der Fürstin. Sie wagte sich auch wohlweislich nicht an mich; sie wußte, daß, wenn ich einmal nach Altenhof schrieb und Herrn Witold reinen Wein einschenkte, es eine Explosion geben würde. So viel Einfluß besaß er denn doch noch auf seinen Pflegesohn, mir hier freie Bahn zu schaffen. Bei seinen Lebzeiten hatte ich Ruhe, aber als er starb, war es aus damit. Was hilft es, daß mein Contract mir die Selbstständigkeit meiner Stellung garantirt? Wenn die fortwährenden Eingriffe vom Schlosse aus geschehen und es die Mutter meines Gutsherrn ist, die sie anbefiehlt, dann heißt es entweder ertragen oder gehen, und ich habe lange genug ertragen – ich gehe jetzt.“

„Aber das ist ein Unglück für Wilicza,“ fiel der Assessor ein. „Sie waren noch der Einzige, der es wagte, der Fürstin einigermaßen die Spitze zu bieten, vor dessen scharfen Augen man eine heilsame Furcht hatte. Wenn Sie gehen, sind den geheimen Umtrieben hier Thür und Thor geöffnet. Wir von der Regierung“ – er legte jedesmal einen Nachdruck auf das Wort – „wissen am besten, was es heißen will, wenn die Nordeck’schen Güter mit ihrer riesigen Ausdehnung und ihrer verwünschten Lage so dicht an der Grenze unter dem Regimente einer Baratowska stehen.“

„Ja, sie hat es in den vier Jahren ziemlich weit gebracht,“ sagte der Administrator bitter. „Das ging vom ersten Tage an vorwärts, langsam, Schritt für Schritt, aber unverrückt auf das Ziel los, mit einer Energie, die man trotz alledem bewundern muß. Als vor Jahr und Tag die Pachtcontracte abliefen, da wußte sie es durchzusetzen, daß die Pachtgüter sämmtlich in die Hände ihrer Landsleute geriethen; sie bewarben sich darum und sie bekamen sie. Herr Nordeck erfuhr wahrscheinlich gar nicht, daß überhaupt noch andere Bewerber da waren. Aus der Forstverwaltung ist nach und nach jedes deutsche Element verdrängt worden; das ganze Personal besteht nur noch aus gehorsamen Dienern der Fürstin, und wie oft habe ich alle Energie aufbieten müssen, um meine deutschen Inspectoren und Aufseher in ihren Stellungen zu schützen. Aber es half zuletzt auch nichts mehr. Sie gingen freiwillig, weil sie die Widerspänstigkeit der Leute nicht mehr ertragen konnten. Wir wissen recht gut, von welcher Seite das Dienstvolk unaufhörlich aufgehetzt und gestachelt wird. – Meinen Nachfolger im Amte glaube ich auch schon zu kennen; er ist ein Trunkenbold, der so gut wie nichts von der Landwirthschaft versteht und Wilicza zu Grunde richten wird, wie die Pächter und Förster eben daran sind, es mit den anderen Gütern und den Waldungen zu thun, aber er ist ein Nationaler vom reinsten Wasser, und das entscheidet bei der Fürstin – der Posten ist ihm gewiß.“

„Wenn Herr Nordeck sich nur einmal entschließen wollte, hierher zu kommen,“ meinte der Assessor. „Er hat sicher keine Ahnung davon, wie es auf seinen Gütern zugeht.“

Frank zuckte die Achseln. „Unser junger Herr? Als ob der sich jemals um sein Wilicza gekümmert hätte! Seit zehn Jahren hat er es mit keinem Fuße betreten; er treibt sich lieber draußen in der Welt herum. Ich hoffte, er würde nach erlangter Mündigkeit endlich einmal auf längere Zeit kommen, und es hieß ja anfangs auch so, aber er blieb fort und schickte uns seine Frau Mutter her, die denn auch nicht säumte, das Regiment an sich zu reißen. Keiner von den Beamten verkehrt ja direct mit ihm – wir sind mit unseren Rechnungslagen, Einzahlungen, Anforderungen ausschließlich an den Justizrath in L. gewiesen. Uebrigens habe ich, ehe ich mich zum Gehen entschloß, noch das letzte Mittel versucht und an Herrn Nordeck selbst geschrieben. Ich wußte bereits, daß meine Stellung unhaltbar war, und da hielt ich es nach zwanzigjährigen Diensten denn doch für Pflicht, ihm die Wirthschaft hier auf seinen Gütern aufzudecken und ihm gerade heraus zu sagen, daß, wenn das so weiter ginge, auch sein Vermögen nicht mehr Stand halten würde. Vor vier Wochen sandte ich den Brief ab – glauben Sie, daß ich auch nur eine Antwort darauf erhalten habe? Nein, von der Seite ist nichts zu hoffen. – Aber über dem Aerger vergesse ich ganz, daß wir jetzt vollständig im Finstern sitzen. Ich begreife nicht, weshalb Gretchen nicht wie sonst die Lampe hereinbringt. Sie weiß wahrscheinlich nicht, daß Sie hier sind.“

„O doch!“ sagte der Assessor etwas pikirt. „Fräulein Margaretha stand im Hausflur, als ich auf den Hof fuhr, aber sie ließ mir nicht einmal Zeit zu grüßen, sondern lief in größter Eile die Treppe hinauf bis zur Bodenkammer.“

In Frank’s Gesicht zeigte sich eine leichte Verlegenheit. „Nicht doch, Sie täuschen sich wohl.“

„Die ganze Treppe hinauf bis zur Bodenkammer!“ wiederholte der kleine Herr mit Nachdruck, indem er die Augenbrauen in die Höhe zog und den Administrator ansah, als verlange er, dieser solle in seine Entrüstung einstimmen, aber Frank lachte nur.

„Das thut mir leid, aber da kann ich Ihnen beim besten Willen nicht helfen.“

„Sie können mir sehr viel helfen,“ rief der Assessor lebhaft. „Die Autorität des Vaters ist eine unbeschränkte, wenn Sie Ihrer Tochter sagen, daß es Ihr Wunsch und Wille ist –“

„Das thue ich unter keiner Bedingung,“ unterbrach ihn Frank mit ruhiger Bestimmtheit. „Sie wissen, ich lege Ihrer Bewerbung nichts in den Weg, denn ich glaube, daß Sie mein Kind aufrichtig lieben, und habe gegen Ihre Persönlichkeit und Verhältnisse nichts einzuwenden; sich das Jawort des Mädchens zu holen ist aber Ihre Sache, darein mische ich mich nicht. Sagt sie aus freien Stücken Ja, so sind Sie mir als Schwiegersohn willkommen, mir scheint freilich, Sie haben wenig Aussicht dazu.“

„Da täuschen Sie sich, Herr Frank,“ sagte der Assessor zuversichtlich, „da täuschen Sie sich ganz entschieden. Es ist wahr, Fräulein Margarethe behandelt mich bisweilen ganz eigenthümlich, sozusagen rücksichtslos, aber das ist nur die gewöhnliche Sprödigkeit junger Mädchen. Sie wollen gesucht, umworben sein, wollen durch ihre Zurückhaltung den Preis begehrenswerther machen. O, ich verstehe mich ganz ausgezeichnet auf dergleichen. Seien Sie unbesorgt – ich erreiche sicher mein Ziel.“

„Soll mich freuen,“ erwiderte der Administrator kurz abbrechend, da der Gegenstand des Gespräches mit der Lampe in der Hand soeben eintrat.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Ahasver der Kunst.

Das Jahr weiß ich nicht mehr anzugeben, aber an einem Wintervormittage in der ersten Hälfte der vierziger Jahre war es, als zu früher Stunde ein Fremder in meine noch halbstudentische Berliner Garçonwohnung trat, nachdem er vorher lebhaft und unter freundlichem Zunicken seinen Kopf durch die von ihm geöffnete Thür gesteckt und mir zugerufen hatte, daß er der Franz Wallner sei. Schon am Tage vorher hatte ich den Namen auf dem Zettel des Königstädtischen Theaters, den Gast selbst aber früher mehrfach mit ganz besonderem Ergötzen auf den Brettern dieser Bühne gesehen. Im Uebrigen wußte ich, daß wir hier und dort gemeinsame Freunde hatten, von denen er mir denn auch mündliche und schriftliche Grüße brachte.

Wallner stand damals in der Mitte der Dreißiger und war um ein Beträchtliches älter als der jugendliche Schriftsteller, den er durch seinen Besuch erfreut hatte. Schon sein Aeußeres mußte für ihn einnehmen. Er war von hohem Wuchse, und mit der bequem und doch elegant gekleideten, breitschultrig-stattlichen und doch geschmeidigen und schlanken Gestalt vereinigten sich die regelmäßigen Formen und feingeschwungenen Züge des etwas breiten und bleichfarbigen, von kurzgeschnittenem dunkelglänzendem Haar beschatteten Gesichts zu einem Ganzen von interessanter und anziehender Wirkung, besonders wenn der zuweilen etwas strenge und finstere Blick des beweglichen Auges unter den Eindrücken der Unterhaltung einem freundlichen Aufleuchten zu weichen begann. Wie die Außenseite, so zeigten auch Haltung und Benehmen, bei aller treuherzigen Ungezwungenheit, den [565] Menschen von sorgfältiger Erziehung und weltmännischer Bildung, die unverkennbaren Gewohnheiten der guten Gesellschaft. Niemals auch hat die schalkhafte und harmlose Naivetät dieses Schauspielers selbst in frivol gearteten Kreisen zu einem respectlosen Verhalten gegen seine Person geführt, weil man sehr bald herausfühlte, daß jene Eigenschaft bei ihm keine affectirte und erkünstelte war, daß dahinter ein solider Grund tüchtiger und ehrenhafter Gesinnung, viel kluge Lebenskenntniß und gesunder Verstand, vor Allem aber eine echte Wärme des Herzens lag, die in dem Charakter Wallner’s durch den Reiz der Liebenswürdigkeit ersetzte, was ihm an geistiger Bedeutung und Tiefe vielleicht gemangelt hat.


Franz Wallner.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.


Im Laufe der Unterhaltung ließ er gar herzige Späße und charakteristische Anekdoten durch seine meistens pikanten Urtheile und scharfen Bemerkungen über Literatur und Kunst, über Personen und Zustände aller möglichen Orte und Gegenden blitzen, und dies Alles in dem urwüchsig behäbigen wienerischen Dialect, der in jener Zeit der unaufgerührten politischen Differenzen einen noch viel bestrickenderen Zauber für das norddeutsche Ohr hatte, als jetzt.

Diese Sprechweise seiner Heimath gehörte zu den unverwüstlichen Merkmalen Wallner’s, ungerecht aber wäre es, seine einstmaligen Bühnenerfolge etwa allein auf Rechnung des Dialects zu setzen. In der ganzen Erscheinung der von ihm geschaffenen und künstlerisch durchgearbeiteten Gestalten hatte sich vielmehr die gemüthvolle Komik, der poesiereiche Humor des vormärzlichen Wien zu drastischem Leben verkörpert. Das war es , womit er die Herzen ergriff, wodurch er die Zuschauer bald in stille Rührung versetzte, bald zu stürmisch ausbrechendem Gelächter fortriß, sodaß bei seinem Auftreten die Häuser immer von Neuem bis auf den letzten Platz sich füllten. Wer Wallner einmal auf der Bühne gesehen und z. B. nur seinen meisterhaften Vortrag der Lieder aus den Wiener Volksstücken gehört, namentlich das bekannte „Hobellied“ Valentin’s im „Verschwender“, der wird ihn sicher lieb gewonnen und nicht wieder vergessen haben. Wie ein alter Bekannter war er zu mir eingetreten; wie längst vertraute Freunde schieden wir von einander, als er mich nach einer Stunde wieder verließ, um seine Besuchswanderungen in der weitläufigen Hauptstadt nach der Angabe einer großen Liste fortzusetzen, auf die er hin und wieder einen Blick geworfen hatte.

Ueber seine Vergangenheit, obwohl er derselben sich nicht zu schämen brauchte, hat er nur den Vertrautesten einen kargen Aufschluß gegeben. Auch für ihn waren die ersten Schritte auf der künstlerischen Laufbahn keine rosigen gewesen. Wider den Willen seiner kaufmännischen Familie war er im zwanzigsten Lebensjahre seiner unbezwinglichen Leidenschaft für das Theater gefolgt, und einige Jahre hindurch hatte nun der in häuslichem Behagen erzogene großstädtische Jüngling bei verschiedenen in Oesterreich umherziehenden kleinen Reisetruppen mit der Romantik eines solchen Wanderlebens auch alles Elend und [566] alle schroffen Glückswechsel desselben durchkosten müssen. Er bestand diese Prüfungen mit dem herrlichen Muthe der ersten Jugendfrische, brachte aber natürlich weder Geld noch Ruhm heim, als er endlich von dem abenteuernden Umherschweifen wieder in die Vaterstadt Wien zurückgeworfen wurde. Beides jedoch sollte ihm hier bald reichlich zu Theil werden.

Es war im Jahre 1836, und die Wiener sahen sich in die schmerzlichste Trauer versetzt durch den plötzlich unter so tragischen Umständen erfolgten Tod ihres geliebten dramatischen Dichters und Darstellers Raimund. Wie sehr mußten sie daher überrascht und ergriffen sein, als ihnen unerwartet auf den Brettern der Geist des unvergeßlichen Todten in der anmuthigen Gestalt eines unbekannten jungen Schauspielers erschien, der sofort in der ganzen Art seiner Rollendurchführung bekundete, daß er keineswegs ein blos mechanischer Nachäffer des Meisters sei, nicht etwa blos ein paar äußerliche Handgriffe ihm abgelauscht, sondern verständnißvoll die Poesie seiner Schöpfungen in sich aufgenommen und mit selbstständiger Kraft aus sich wiedergeboren hatte. In den kleinen Städten und Marktflecken, die bisher seine künstlerischen Thaten gesehen, hatte Wallner, jedenfalls komisch genug, noch als Held und Liebhaber sich aufgespielt. Erst nach der Rückkehr auf heimischen Boden, unter den lebendig sich aufdrängenden Erinnerungen an begeisternde Jugendeindrücke war seine wahre Begabung zum Durchbruch gekommen; der naturwahre Humorist, der volksthümliche, empfindungs- und stimmungsvolle Komiker erwachte in ihm und fand seinen Weg in die Herzen des Publicums, zu dessen gefeiertem Liebling er binnen wenigen Monaten sich aufschwang.

Es erging ihm gut in Wien, aber es war das nicht die Lage, welche ihn zufrieden stimmte. Er fühlte sich gedrückt und beengt, als er in Wien schnell zu Ansehen, Ehre und guten Einnahmen gelangt war. Dieses undramatische Einerlei der Annehmlichkeiten trieb ihn als rechten theatralischen Zugvogel der nun entschwundenen Art von dannen, und Deutschland, namentlich das seiner ruhigen Verständigkeit zusagende nördliche Deutschland wurde und blieb nun der weite Tummelplatz seiner bewegungslustigen Persönlichkeit.

Durch alle Nationen Europas ging in jenen ersten vierziger Jahren eine vielfach noch ganz dunkle, aber schwungvolle Ahnung von dem allmählichen Emporsteigen des gedrückten und niedergetretenen Volkes auf die weltgeschichtliche Bühne. Neben anderen Erscheinungen der Literatur und Dichtung war auch das Wiener Volksstück durch dramatische Vergegenwärtigung der sogenannten niederen Volksclassen und ihrer Freuden und Leiden ein unbewußter Ausdruck der in den Gemüthern gährenden Ahnung, und Wallner ist auf den norddeutschen Bühnen ein edel gearteter und wahrhaft sympathisch begrüßter Repräsentant dieser volksthümlichen Richtung dramatischer Kunst gewesen. Dabei verkehrte er, namentlich auch in Berlin, wo er mit besonderer Vorliebe weilte, vorzugsweise mit den bewegten Kreisen der jungaufstrebenden Literatur. Zu diesen fühlte er sich hingezogen, weil in ihm selber von Jugend an ein starker literarischer Zug lebte. Schon in jenen Tagen war er ein gewandter schriftstellerischer Plauderer, und manche seiner interessanten, mit Eleganz und Empfindung geschriebenen Erinnerungen und Stimmungsbilder aus dem Theaterleben waren in Journalen mit Vergnügen gelesen worden. Schriftsteller und Dichter betrachteten ihn als einen Collegen und sahen ihn gern.

Nur Wenige leben noch von der großen Reihe älterer und jüngerer Berufsgenossen, die allabendlich damals in der „Goldenen Kugel“, einer Weinstube der Berliner Poststraße, noch in später Stunde sich zusammenfanden. In dieser geistig sehr erregten Gesellschaft, wo lebhaft debattirt wurde, hatte auch Wallner bei seinen Anwesenheiten in Berlin das volle Gastrecht, und dort sprach er sogar vor, wenn er auf der Durchreise nur ein paar Stunden in der Hauptstadt war. Ich erinnere mich, daß wir gern halbe Nächte hindurch den originellen Mittheilungen und mit Schwänken gemischten Erzählungen des rastlosen Touristen lauschten. Wo man ihm auch begegnen mochte, immer wehte aus seiner Erscheinung und seinen Mittheilungen der frische Duft des Reiselebens und der Landstraße, der anregende Hauch aus dem wechselreichen Verkehr mit interessanten, literarisch oder künstlerisch hervorragenden Persönlichkeiten der verschiedensten Länder, die er erst vorgestern oder in der vergangenen Woche oder vor einigen Monaten gesehen und gesprochen hatte. Und wie mit den Menschen, so blieb er auch mit den Erzeugnissen der auf das Belletristische gerichteten Literatur in einem lebendigen Zusammenhange. Bis zu seinem Ende las er gewohnheitsmäßig mit einer wahren Leidenschaft, und die Leihbibliotheken und Buchhändler zahlreicher Städte haben wohl selten einen so guten Kunden gehabt wie ihn.

Einmal hatte ich ihn wohl anderthalb Jahre nicht gesehen und auch nichts von ihm gehört. Da fand ich ihn eines Abends auf meinem Nachhauseweg gegen Mitternacht auf dem Alexanderplatze vor dem Königstädtischen Theater. Dort stand er und sah sich das Haus an, hatte mich aber von fern schon erkannt und wartete, bis ich näher gekommen war. Dann stieß er mich mit jener eigenthümlichen lebhaften Ellenbogenbewegung in die Seite, welche bei ihm stets die Ankündigung einer besonders zutraulichen oder wichtigen Eröffnung war, und sagte gleichzeitig: „Schofft mir dös Haus, Ihr Leut’! a Sünd’ un a Schand’ is es, daß da drinnen kei rechter Kerl regiert un aus dem Haus moacht, was es sein könnt’. Schofft mir dös Haus! Ihr hebbt den gepfefferten Witz; i gieß Euch wianerisch G’müth un G’spaß hinein, un es wird a Tränkl geb’n, daß ganz Berlin vor lauter Plaisir sich auf den Kopf stelle soll.“ Erst gegen Abend war er in Berlin angekommen, und erzählte mir nun im Weitergehen, daß er sich nächstens verheirathen werde. Die schöne Agnes Kretschmar, eine Pflegetochter Robert Blum’s, von diesem für die Kunst erzogen und damals schon eine namhafte Bühnenkünstlerin, war die verlobte Braut Wallner’s geworden. Es war rührend, mit welcher schwärmerischen Innigkeit der immerhin nicht mehr jugendliche Mann von dem Glücke seiner Liebe und von den liebenswürdigen Eigenschaften des hochbegabten jungen Weibes sprach, das er auf seinem unstäten Lebensgange sich erobert hatte.

Unstät war allerdings dieses Leben bisher in ausreichendem Maße gewesen, aber aus jenem nächtlichen Herzenserguß auf dem Alexanderplatze in Berlin sprach doch schon ein Gefühl des Ueberdrusses an der ruhelosen Beweglichkeit, die Sehnsucht nach einer consolidirten Existenz. Wallner trug sich bereits mit Wünschen und Plänen zur Gründung oder Leitung eines eigenen Theaters. Zwar ging er mit der jungen Gattin noch in ein Engagement nach Petersburg, aber schon nach einigen Jahren hörte man, daß er auf eigene Hand eine Wirksamkeit als Theaterdirector in kleineren Städten Süddeutschlands eröffnet habe und von dort sodann für dieselbe Stellung nach Posen berufen worden sei. Es gestalteten sich diese Anfänge mitunter ganz erträglich, aber zu einer Blüthe sind jene stets mit künstlerischer Sorgfalt und geschäftlicher Solidität geleiteten Unternehmungen niemals gediehen. Er selber erzählte mir später, daß nach pünktlicher Auszahlung der Gagen und nach Bestreitung der Kosten für glänzende Vorstellungen er oft genug mit den Seinigen sich habe einschränken müssen und eine sorgenreiche finanzielle Bedrängniß seinem Hause nicht fremd geblieben sei. Aber der nun einmal über der Bahn dieses leichtlebig-frischen und frohmuthigen Menschen einherziehende Glücksstern brach immer wieder aus zeitweiliger Verdunkelung hervor und winkte plötzlich aus Berlin, wenn auch mit einem sehr zweifelhaften Glanze. Wallner jedoch verstand den Wink und folgte ihm; ein seit lange gehegter Wunsch sollte ihm ja unerwartet in Erfüllung gehen.

Das altberühmte Königstädtische Theater war zwar von den Reactionsstürmen nach 1848 für immer hinweggeweht, die Concession aber war erblich in der Familie Cerf und auf geheimnißvollem Wege in den Besitz eines ungebildeten, unangenehmen und übel beleumundeten Sprossen dieser Familie gekommen. Dieser Mensch hatte das vielbeneidete und damals kaum zu erlangende Recht, in Berlin ein Theater zu errichten, aber es fehlten ihm dazu alle Geldmittel, und er machte nun den Berlinern in einer eben von Kunstreitern verlassenen Circusbude die lächerlichsten Bühnenexperimente vor, bis er einen mitleidigen Baumeister fand, der ihm in einem bedenklichen Winkel der abgelegenen und damals noch sehr uneleganten Blumenstraße, mitten im sogenannten „Gärtner- und Weberviertel“ ein Theaterchen herstellte, das durch seine schmucklose und zwerghafte Niedlichkeit unstreitig zu den wunderlichsten Theaterbauten gehörte, die es jemals gegeben hat. Auf diesen Brettern spielte nun ein aus dem Abhub der kleinen märkischen Reisetruppen zusammengerafftes Personal so erbärmlich, daß selbst die Schusterjungen der Umgebung ihre Sonntagsgroschen nicht dafür ausgeben wollten. Die Sache ging nicht; Cerf gerieth in so schwere Verlegenheiten, [567] daß er sich genöthigt sah, das Nipptischtheater zur Verpachtung auszubieten.

Nur Wenige hätten wohl den außerordentlichen Muth gehabt, in einer derartigen Stadtgegend, auf einem so ungemein beschränkten Raume die Erbschaft eines so verrufenen Instituts anzutreten, dem die Feuilletonisten der Hauptstadt bereits von einem dicht nebenanliegenden Vergnügungslocale sehr ungezwungener Art den Spottnamen „Die grüne Neune“ gegeben hatten. Wallner besaß diesen Muth, weil in ihm ein energischer Thätigkeitsdrang und ein begründetes Selbstvertrauen lebte. Im Uebrigen brachte er aus Posen einen schon geschulten Stamm tüchtiger Schauspieler mit, unter denen sich als eine zugkräftige Künstlerin ersten Ranges auch seine Gattin befand, Frau Agnes Wallner. Er selber spielte nur noch äußerst selten, seitdem er Director geworden, sondern widmete sich mit hingebendem Eifer der Leitung des Ganzen. Man spricht jetzt viel von dem Erfordernisse eines guten Ensemble und rühmt das treffliche Zusammenspiel der Meininger. Mit einem fein und künstlerisch durchgeführten, von anmuthigem Leben durchhauchten Ensemble hatte aber Wallner schon vor fünfundzwanzig Jahren durchschlagende Wirkungen erzielt, und es war das eine Frucht seines ausdauernden Mühens, seiner umsichtigen Fachkenntniß und guten Geschmacksbildung. So zeigten sich seine Leute nun auch in Berlin, aber vor äußerst dünn und von einem untergeordneten Zufallspublicum besetzten Bänken. Seit einer Reihe von Jahren war er in der jetzt politisch erregten Hauptstadt verschollen; seine alten journalistischen Freunde waren entweder gestorben oder durch das Revolutionsjahr in alle Winde zerstreut – er stand ganz allein, ohne jede kräftige Förderung in einem obscuren oder als unfashionable verpönten Winkel der Hauptstadt. Es waren das schwere und schmerzliche, oft bis zur Trostlosigkeit bange Wochen und Monate. Aber mit der Zeit kam doch hier und da ein müßiger Durchwanderer der Vorstädte herein, oder es folgte ein alter Bekannter den wiederholten Einladungen, sodaß endlich in den Gesellschaften und in der Presse Bemerkungen laut wurden, es habe in der That da draußen ein neues Kunstwunder von überraschendem Eindrucke sich aufgethan. Zuerst kam nun die spott- und zweifelsüchtige Neugier, aber sie kam doch und schied mit Gefühlen des Respect; das Haus füllte sich mehr und mehr, und binnen Kurzem sah allabendlich die öde Blumenstraße ein bisher niemals von ihr erlebtes Schauspiel in den wimmelnden Schaaren, den zahlreich daherbrausenden Equipagen und Droschken, deren Ziel das winzige Theater neben der „Grünen Neune“ war. Durch Beharrlichkeit war der Sieg über alle Widerwärtigkeiten mißlicher Verhältnisse mit einem Male errungen. Es ging bergauf mit täglich sich steigerndem Erfolge, der zu einem in der Theatergeschichte wohl beispiellos dastehenden Glanze, einer wahrhaften Elektrisirung der gesammten Bevölkerung sich gestaltete, als der anregende Schöpfer des jungen Instituts für die jahrelang in ihm lebende Idee einer echten Berliner Volksposse in David Kalisch den rechten Dichter, in seinen berühmt gewordenen Komikern Helmerding, Reusche und Anna Schramm Darsteller von durchschlagendster Wirkung gefunden hatte. Nur ungern verließ er die bescheidene Stätte seines Glückes. Aber die Verhältnisse drängten ihn bald schon hinweg und zwangen ihn zur Erbauung des großartigen Wallner-Theaters, das sich noch heute im Besitze seiner Familie befindet und nach welchem die Straße, in welcher es steht, den Namen Wallner-Theater-Straße führt.

In verhältnißmäßig sehr kurzer Zeit war also der fahrende Wiener Komiker von ehemals ein seßhaft-behäbiger Bürger der norddeutschen Hauptstadt und ein sehr reicher Mann geworden; er erhielt den Titel eines königlichen Commissionsrathes, und es trieb nun die Sorglosigkeit seiner Lage auch manche unschädliche kleine Schwäche in ihm hervor, wie es z. B. die harmlose Freude an einem auszeichnenden Schmuck seiner Knopflöcher war. Im Ganzen aber blieb er unverändert der alte bescheidene, gut- und warmherzige Gesell, Freund eines geschmackvollen Comfort und eines gastlichen und heiteren Lebensgenusses, aber abhold aller unhäuslichen Wüstheit, nüchtern und mäßig, wie er es immer gewesen war. Seine Neigungen waren edleren Gebieten zugewendet und durchaus origineller Art. Noch immer lag er in seinen Mußestunden einer bunten, nicht immer sorgfältig gewählten Lectüre, sowie einer fleißigen schriftstellerischen Thätigkeit ob, die er mit bewunderungswürdig schnellfertiger Leichtigkeit übte. Der „Gartenlaube“ war er gerade in diesen Jahren ein besonders geschätzter Mitarbeiter, der durch seine frischen, immer unterhaltenden und aus dem Leben gegriffenen Artikel sehr viele Freunde im Publicum erwarb. Seine Aufsätze gab er mitunter gesammelt in Buchform heraus, und bezeichnend auch war es für ihn, daß ihm die einlaufenden Journalhonorare eine wahrhaft kindliche Freude, und zwar eine viel größere bereiteten, als die reichen Einnahmen seines Theaters. Er verwendete dieses Geld häufig zur Unterstützung Hülfsbedürftiger, vielfach aber auch zum Ankauf neuer Romanliteratur, von der sich große Massen in seinem Nachlaß gefunden haben müssen.

An Kampf, Sorge und Verdruß hatte es natürlich, trotz Allem, seiner Directionsführung nicht gefehlt. Schon wenige Jahre nach der Erbauung des neuen Theaters ergriff ein starkes Gefühl des Ermattens den strebsamen Mann. „Wie der Schauspieler,“ sagt er, „so hat auch der Director genau darauf zu achten, daß er im rechten Augenblicke aufzuhören sucht. Ehe es ein Anderer merkt, muß er selber wissen, daß er die Zeit nicht mehr versteht und nahe daran ist, aus der Mode zu kommen.“ Im Jahre 1868 entsagte also Wallner plötzlich der Führung seines glänzend situirten Theaters und verpachtete dasselbe an den verdienten Schauspieler und Theaterdirector Lebrun. Nun war für den Reichgesegneten die Zeit gekommen, wo er hätte ausruhen, wo er seines Glückes in ungetrübtestem Behagen sich hätte freuen können. Für solch’ ein Dasein aber war seine Natur nicht geschaffen. In demselben Augenblicke, wo er sich geschäftslos und nicht mehr durch Pflichten an den Ort gebunden sah, erwachte auch mit voller Gewalt der unruhige Trieb seiner Jugend in ihm; es brannte ihm der Boden unter den Füßen, und der unbezwingliche Durst nach dem Wechsel neuer Eindrücke ließ ihn nicht mehr Rast finden bei dem traulichen Leuchten des heimischen Herdes. Dazu kam, daß auch ein ernsthaft sich meldendes Krankheitsleiden den Aufenthalt in südlichen Klimaten räthlich erscheinen ließ. Franz Wallner wurde in vorgerücktem Lebensalter wiederum der alte Tourist, nur daß der Tummelplatz seiner Reiseleidenschaft nicht mehr durch den Umkreis der deutschen Bühne begrenzt war.

Beinahe acht Jahre hindurch hat er einsam, ohne jede Begleitung, dem Zauber dieser Ungebundenheit sich hingegeben; die Welt war seine Heimath, das Hôtel seine Wohnung geworden. Nur im Sommer, wenn er alljährlich die Cur in Karlsbad gebraucht hatte, kehrte er auf eine Reihe von Wochen bei den Seinigen ein, an denen er mit aller Liebe eines zärtlichen Gatten und Vaters hing. Mit dem Herbste aber zog er wieder hinaus, und um sich einen Begriff von der Buntheit seiner Fahrten und von den großen Entfernungen zu machen, die der kränkelnde und oft unterwegs schwer erkrankende Mann durchmessen hat, braucht man nur ein paar Jahrgänge seiner immer anmuthigen Briefe, und nur einen Theil der zahlreichen Reiseschilderungen zu überblicken, die er in dieser Zeit für die „Gartenlaube“ und die verschiedensten Journale geschrieben hat. Bald sind sie aus Paris oder aus Rom, aus Neapel und von den Höhen des Vesuvs, bald von den Ufern des Nils oder aus der Sahara, bald aus dem südlichen Frankreich oder aus Nizza, aus Spanien oder aus den scandinavischen Ländern etc. datirt. In allen diesen Gegenden oder Städten hat er sich meist lange und wiederholt aufgehalten und überall zeigt er, wenn auch nicht von gelehrter Bildung unterstützt, eine angestrengte Wißbegierde, einen offenen Blick für Land und Leute und für alles Merkwürdige der Natur wie der Cultur und Geschichte.

Auf seinen Aus- und Rückfahrten sprach er auch alljährlich ein paar Mal bei uns in Leipzig vor. Wir fanden ihn alsdann zwar gealtert und leidend in seinem Aussehen, in seinem Wesen und Bewegen aber immer frisch, ungebrochen und aufrecht. So hatte er sich auch im Herbste 1875 wieder auf die Tour begeben, aber um Weihnachten schrieb er aus Nizza, es habe ihn ein namenloses Heimweh so gewaltig ergriffen, daß er zurückkehren werde. Aus solcher Anwandlung konnte bei ihm nur das Gefühl tiefster Erschöpfung sprechen; der unerschrockene Wanderer konnte sich nicht mehr verhehlen, daß er müde geworden, und es wurde ihm bange in seiner freiwilligen Vereinsamung. Leider war die Sehnsucht zu spät erwacht. Schon nach wenigen Tagen warf ihn in Nizza ein schwerer Krankheitsanfall nieder und nach einigen Wochen schmerzenreichen Leidens ist er auf fremdem Boden, etwa fünfundsechszig Jahre alt, [568] in den Armen des herbeigeeilten Sohnes verschieden. Weithin, in zahlreichen Kreisen Deutschlands und Oesterreichs erregte die schnell herüberdringende Trauerkunde eine aufrichtige Theilnahme. Durch Wallner’s Hinscheiden ist eine empfindliche Lücke an allen den Stellen gerissen worden, wo er gestanden und sich bewegt hat.

In der Geschichte des deutschen Theaters wird seine der künstlerisch schönen und effectreichen Herausgestaltung des modernen, volksthümlichen Genres zugewendete Bühnenwirksamkeit einen ehrenvollen Platz behaupten. So lange aber noch alte Freude und Bekannte Franz Wallner’s leben – und er hat deren aller Orten sehr viele gehabt – werden sie ihn schmerzlich vermissen und stets mit Wehmuth dieses begabten Künstlers und Kunstleiters gedenken, dieser eigenartig ausgeprägten und immer anregenden Persönlichkeit, dieses liebenswürdigen Cameraden und wirklich guten Menschen, der gar Manchen in der Welt sich zu herzlichem Danke verpflichtet hat. Auf dem Georgenkirchhofe in Berlin ist er von seinen trauernden Lieben gebettet worden, und bei der feierlichen Bestattung haben zahlreiche Freude erschüttert an seinem Grabe gestanden. Seine zu seltenem Glück und Glanz aufsteigende Laufbahn ist reich gewesen auch an Kampf und Wehe, an inneren und äußeren Stürmen, aber sanft ist sie verklungen, wie jener letzte Vers in Valentin’s wehmüthig-heiterem „Hobellied“, mit dem er früher so unzählige Male ein ergriffenes Publicum zu enthusiastischem Beifalle hingerissen hat:

„Da leg’ ich meinen Hobel hin
Und sag’ der Welt Ade!“

A. Fr.




Bayreuther Festtagebuch.
Nr. 1. Vom 10.–13. August.


Bayreuth, 10. August.     

Nach einer durchrüttelnden Eisenbahnnachtfahrt und einem zweistündigen Aufenthalte auf der Station Neumarken, wo der Kellner chronisch finstere Gesichter schneidet, weil er schon um sechs Uhr Morgens seine reisenden Mitmenschen bedienen muß, langte ich in Bayreuth, der vielgenannten Stadt, an, vielgenannt im vorigen Jahrhunderte wegen ihrer glanzvollen markgräflichen Miniaturtyrannen, vielgenannt heute als Sitz des Kunstreformtyrannen Richard Wagner, als Schauplatz von dessen in’s Leben tretendem Traum eines Theaters der Zukunft. Wahrheit oder Irrthum – wenn nach einem dreißigjährigen Kriege mit dem Leben, mit der Welt und ihren Urtheilen und Vorurtheilen ein Ideal erreicht worden ist, so muß ihm eine culturgeschichtliche Bedeutung zugesprochen werden.

Der blaue Himmel lachte über der mit Festflaggen und Guirlanden geschmückten Stadt, welche zum 12. August den deutschen Kaiser erwartete, der ja auch zugleich „Patronatsherr“ des Wagner-Theaters ist, wie hier mit Wohlbehagen betont wird, und welcher wenigstens den ersten Festabend, die Aufführung des „Rheingold“, mit seiner Anwesenheit beehren wird. Der Hauptprotector des Unternehmens, König Ludwig von Baiern, war am 8. August schon wieder abgereist, nachdem er mit unsichtbarer Theilnahme einer Generalprobe beigewohnt und den „Meister“ als Zeichen der Anerkennung umarmt hatte, wie erzählt wird. Eine Galerie von Kaisern und Fürsten steht zum 13. August bevor, denn auch der Kaiser von Brasilien wird erwartet. Ja, lebte Abdul-Azis noch (ebenfalls Patronatsherr), ließe es die Lage der orientalischen Frage zu, wir würden auch einen türkischen Sultan und einen Khedive von Aegypten (denn auch Letzterer ist Patronatsherr) in Bayreuth sehen. Aber Weimar, Coburg, Meiningen etc. etc. werden dynastisch vertreten sein, wie sie und die ganze Welt artistisch vertreten sind.

Die Scene, welche sich in Bayreuth abspielt, ist wirklich eine Scene aus dem großen Schauspiele des Daseins aller Dinge, welches Culturgeschichte heißt. Wenn die Gemüther sich erst wieder gesammelt haben, wird vielleicht Mancher über die eigene Rolle lächeln, die er in diesem lebenden Stimmungsbilde gespielt hat. Keiner aber möchte die so völlig exceptionellen Eindrücke, die er hier empfangen, nicht erlebt haben. Und so bin ich denn auf den Gedanken gekommen, für diese Mittheilungen aus der Wagnerstadt die Form des Tagebuches zu wählen, weil sie mir im Hinblicke auf das durch die große Auflage der „Gartenlaube“ unvermeidliche späte Erscheinen meiner Berichte als die zwangloseste und anspruchloseste erscheint, um den Lesern ein anschauliches Bild über das Ereigniß zu geben, das hier in’s Leben trat.

Nachdem diese meine Wenigkeit, welche „Ich“ heißt, also den Waggon verlassen hatte, trat ich mit der vollen Zuversicht eines routinirten Touristen mein erstes allerwichtigstes Amt, das des Selbstquartiermachens, an, obschon meine Nachbarn im Coupé, darunter der Referent der „Vossischen Zeitung“, Professor Engel, mir große Schwierigkeiten prophezeiten, ein Quartier zu finden, welches rationellen Ansprüchen genügen würde. Die Jägerstraße entlang schlendernd, dann die Maximilianstraße bis zum Markte verfolgend, klopfte ich unterwegs wohl an ein halbes Dutzend Thüren, und überall waren noch Zimmer frei. Die Bayreuther hatten auf eine kleine Völkerwanderung gerechnet und vergessen, daß ein ganzer Patronatsherr dreihundert Thaler wiegt, ein Drittel desselben hundert Thaler, und daß fünfundzwanzig Thaler dazu gehören, um nur einen Abend im Theater zubringen zu können. Im „Bayreuther Tageblatt“ las ich wenigstens ein Dutzend Offerten von Eintrittskarten zur ersten Vorstellung, die wahrscheinlich von speculativen Billetverkäufern angekauft waren. Allerdings waren die Miethforderungen im Anfange meiner Wanderung etwas naiv geschraubt, allein die Statistik der vacanten Quartiere, die ich den Herren Quartiergebern darlegen konnte, stimmte ihre Forderungen herab, und für einen Thaler pro Tag ward ein allerliebstes Parterre-Zimmer in der Nähe des Marktes mein, und zwar inclusive Frühstück und Bedienung. Ich hatte also das Glück, schon am ersten Tage von meinen Bekannten beneidet zu sein, die sich durch Zeitungsreclamen zu Gunsten der Hauswirthe hatten einschüchtern lassen und doppelte und dreifache Preise zahlen mußten.

Weniger gut ging’s mit dem Essen. Die Küche in Bayreuth ist herzlich billig und herzlich schlecht. Weshalb sollte es auch anders sein? Die Bayreuther hatten die Illusion einer Völkerwanderung gehegt, keine Umstände gemacht für Leute, die ja unter allen Bedingungen kommen mußten, und vergessen, daß das Hauptcontingent aus Künstler- und Schriftstellerkreisen, oder den Gesellschaftssphären, welche diesen nahe stehen, sich bildete. Und in Wahrheit, es klimperte; es fiedelte; es trompetete aus unzähligen offen stehenden Fenstern. Mir gegenüber wohnt gottlob keine Posaune, sondern eine Harfe, und ich kam davon mit den Sätzen dieses Instruments bei „Brunhildens Erwachen“ im „Siegfried“, welche der Künstler gar eifrig repetirte. Es waren ja Erholungstage, die Generalproben vorüber. Aber noch vor acht Tagen soll die Stadt ein wahres Mosaikbild von Tönen des Gesanges und der Instrumente abgegeben haben. Jetzt schonen Sänger und Musiker ihre Kräfte für die vier großen Schlachttage vom 13. bis 16., denen man allseitig mit einer Spannung entgegensieht, die auch auf den Phlegmatischen ansteckend wirken muß, die aber auch die größten Wagner-Enthusiasten aus dem Zustand der Ueberschwänglichkeit herausgebracht hat. Ich habe mich gewundert, mit welcher Ruhe über die Sache discutirt wird, mit welcher Herzlichkeit hier Bekanntschaften geschlossen werden, wo ich sicher glaubte, daß man einander gegenseitig erst scharf auf den Zahn fühlen würde, ob der Glaube an Richard Wagner auch jeder Feuer- und Wasserprobe gewachsen wäre, ehe man mit einem neuen Bekannten eine Wein- und Bierprobe riskirte.

Meine armen Collegen von den großen Zeitungen, namentlich die Engländer und Amerikaner, haben es herzlich sauer, denn sie telegraphiren oft stündlich den Inhalt des Bayreuther Tageblättchens, so weit derselbe nur entfernt mit dem Wagner-Theater in Beziehung steht.

Der „Meister“ – diesen Titel führt Wagner hier jetzt officiell, officiös und im gewöhnlichen Leben – ist für die profane Welt unsichtbar, denn er hat alle Hände voll zu thun, und die Arbeitskraft des dreiundsechszigjährigen Mannes ist wahrhaft staunenerregend. Auch soll er einige nicht allzu angenehme Erfahrungen [569] mit Personen gemacht haben, die zu der zahlreichen und widerwärtigen Classe der Aufdringlichen gehören und die für berühmte Leute eine wahre Plage sind. Die nachstehende kleine Anekdote gehört zu dem Culturbilde der Festtage in Bayreuth. Ein Herr So und So, Banquier seines Glaubens und ostensibler Kunstmäcen, hatte sich dermaßen an- und aufgedrängt, daß er Zutritt in die „Villa Wahnfried“ (Wagner’s bekanntes Haus) erhielt. Gleich am ersten Empfangsabende glaubte er mit dem Meister musikalische Conversation pflegen zu müssen und – sprach über Meyerbeer. Meister Richard quälte sich, den essigsauren Ausdruck seines Gesichtes zu verbergen. Der „Mäcen“ aber ließ nicht nach und schloß mit den „Donnerworten“ für Wagner:

„Gott! wenn Meyerbeer noch lebte und Sie, Meister Wagner, hätten mit ihm zusammen gearbeitet, was hätten Sie Beide mit vereinten Kräften Großes leisten können!!“

Seit jener Zeit ist man in Villa Wahnfried menschenscheuer geworden und fürchtet vielleicht gar den Vorschlag einer Compagnieschaft mit Jakob Offenbach.

Jeder Eisenbahnzug bringt neue „Völker“, um Theil zu nehmen an dem „großen Ereignisse“ und ein herrliches Künstlerleben in dem freundlichen Städtchen zu führen. Das ist ein zwangloses Begrüßen und Händeschütteln, frei von jedem Ceremoniell, wie es sonst wohl auf Sänger- und Schützenfesten herrscht. Wirklich, außer im unvergeßlichen Italien, habe ich unter Künstlern und Schriftstellern nie einen so frohen, humanen Ton gefunden, wie hier in Bayreuth.

Eine „unvermeidliche“ Kneipe, eine Art Kunstbörse für Alle, bildete sich auch hier. Angermann’s Bierlocal ist etwas besser als eine Anzahl Spelunken, aber nicht viel. In zerstreut liegenden niedrigen Zimmern, auf primitiven Stühlen und bei wunderbar saumseliger Bedienung herrscht ein fröhlicher Meinungsaustausch, und das summt durcheinander wie in einem Bienenkorbe. Damen und Herren, nirgends ein individuelles Hervordrängen, Touristentoiletten und – sehr viel Tabaksrauch, vor dem die Sänger und Sängerinnen natürlich sich scheuen müssen, ebenso die „Mannen“ und „Manninnen“. (Meinen verehrten Leserinnen klingen diese Ausdrücke etwas fremd. Aber sie gehören zur Sprachtechnik der Tage, und der Humor acceptirt sie. „Mannen“ heißen nämlich die Inhaber der männlichen Nebenrollen „Manninnen“ die der weiblichen, und ich rede ein paar talentirte junge Sängerinnen, Töchter eines alten Freundes in Hamburg Namens Kalmann, nie anders an als: Mannin „Ida“ und Mannin „Meta“.) Für die Musiker sind die Tage bis zum 13. wirkliche Erholungstage, und sie haben Recht, Theil zu nehmen an der glücklich situirten Majorität der Fremden, denn es stehen ihnen saure Tage bevor.


11. August.     

Ein artistischer Calvarienberg! Ich konnte mit dem besten Willen diesen Ausruf nicht unterdrücken, als ich heute bei zweiundzwanzig Grad Réaumur schon um zehn Uhr Morgens nach einer Fußtour von einer halben Stunde die Anhöhe erreicht, auf welcher das Wagner-Theater erbaut ist.

Ich kann mir nicht helfen und muß es, so sehr ich mit Wagner sympathisire, aussprechen: die Wahl der Stelle des Theaters ist ein Fehlgriff. Die Aussicht von dem Hügelplateau ist reizend. Das Plateau selbst ist kahl und schattenlos wie die Felsen von Brunhilde. Droschken giebt es in Bayreuth etwa vierzig, und die Herren Kutscher verweisen den Tarif in die Zeit der Götterdämmerung. Diesen Spaziergang muß Jeder in voller Sonnengluth machen, denn die Vorstellungen beginnen um fünf Uhr Nachmittags, und in Schweiß gebadet erreicht er die Anhöhe. – Aber man denke sich jetzt einen solennen Platzregen oder einen soliden Landregen! Durchnäßt bis auf die Haut – das ist alsdann die Kehrseite der Medaille. Das thut nichts. O nein, gewiß nicht, aber ich möchte doch behaupten, es übt einen sehr bedenklichen Einfluß auf die Stimmung der Zuschauer aus. Zwei große schöne Restaurationslocale sind vorhanden, aber es sitzt der Mensch bei schönem Wetter doch gern im Freien, zumal die Zwischenpausen über eine Stunde dauern sollen, und es ist nicht angenehm, mit nassen Kleidern in der Restauration oder im Theater zu sitzen. Die Idee, das Theater contemplativ und fern vom Geräusche der Straße zu bauen, ist wohl schön, aber ohne Rücksicht auf den Stand des Barometers ausgeführt. Es stempelt das Theater selber zu einem Privilegium für Equipagenbesitzer. So wird man also gezwungen sein, auf dem „Kunstcalvarienberge“ gleichsam zu bivouakiren, um von den Extremen der Witterung nicht niedergedrückt zu werden.

Der bekannte Bau ist einfach, aber stylvoll gehalten. Die Einrichtungen des Zuschauerraumes sind eine Beschämung für der Bau unserer modernen Theater, und würden in den amphitheatralisch aufsteigenden Sitzreihen einige Ecksitze wegfallen, von denen aus man nur die Hälfte der Bühne sieht, so wäre ein vollendetes Meisterstück des Praktischen und Bequemen geschaffen. An jeder Seite führen von dem weiten Foyer sehr bequeme Eingänge zu den Prosceniumssitzen. In zehn Minuten kann der ganze Zuschauerraum sich leeren, und die Bauart ist ganz geeignet, uns einen Ruf der Bewunderung zu entlocken. Kein Kronleuchter! Kein störendes Licht sticht unsere Augen; keine Seitenlogen lenken unsere Blicke ab. Die „Fürstengallerie“ befindet sich ganz oben nach hinten. – Ueber die Bühne und das unsichtbare Orchester kann ich erst ein Urtheil abgeben, nachdem ich einer Vorstellung beigewohnt habe. Das Wenige, was ich in den Verwandlungsnummern gesehen, welche auf der Bühne probirt wurden, geschah ohne Beleuchtung und hatte mehr technische Uebungen zum Zweck.

Zurück zur Stadt bei noch zwei Grad mehr Wärme! Nachmittags nahm ich eine Einladung zu einer Fahrt nach Schloß „Fantaisie“ an und erfrischte meine Nerven an dem wundervollen landschaftlichen Stimmungsbild des herrlichen Waldparkes. Die Copien antiker Bildwerke übten auf mich keinen Reiz aus, desto mehr die trauliche Landschaft und der Rückweg im Waldthale, den wir zu Fuß machten.

Der Tag schloß mit einer freudigen Ueberraschung. Kaum betraten wir die Angermann’sche Unvermeidlichkeit, als ich von allen Seiten meinen Namen rufen hörte. Meine Speciallandsleute, Künstler und Collegen und einige mir befreundete Kaufleute, waren angelangt. In den andern Zimmern ging’s nicht minder laut her. Die Abendzüge hatten Neuangekommene aus allen Theilen Deutschlands herbeigeführt, aber auch aus England, der Schweiz, Italien und selbst Frankreich, und die Sprachen und Dialekte wirbelten durcheinander, wie ein conversationelles Charivari.

Der morgende Tag wird uns zwei Kaiser bringen. Deutschlands und Brasiliens Herrscher.

12. August.     

„Dieser Tag gehört dem Kaiser“ – das war die Parole, und selbst die „Beckmesser“ – verbalinjuriöse Schmeichelei, welche die Wagnerianer der äußersten Linken den Gegnern von der äußersten Rechten machen – also selbst die „Beckmesser“ machten ein Sonntagsgesicht und bildeten – aus „Patriotismus“ – Spalier, als Seine Majestät um fünf Uhr seinen Einzug in die Stadt hielt, die „vor Flaggen und Kränzen kaum zu sehen war“, wie ein patriotischer Berliner in einer Stimmung von + 30 Grad Réaumur sich ausdrückte.

Das übliche und längst sprüchwörtlich gewordene „Kaiserwetter“ that auch heute seine Schuldigkeit. Der Himmel lächelte große Gala, und die Menschen drängten sich auf den Straßen wie bei den respectiven Siegeseinzügen von 1871, als die Kanonen donnerten, welche die Ankunft des Zuges verkündeten, der den Kaiser brachte. Mit dem Kaiser trafen auch die „Civilisten“ ein, das heißt derjenige Theil des Publicums, welcher weder zu den Künstler- noch Schriftstellerkreisen gehört, und – – die Herren Taschendiebe. Einer Dame, welche leichtlebiger Weise ihre Baarschaft in einer sogenannten „Gretchentasche“ trug, wurde dieses allzu sichtbare Portemonnaie abgeschnitten, und neunhundert Mark empfahlen sich auf Nimmerwiedersehen. Dem Sänger Dr. Gunz aus Hannover wurde eine kostbare goldene Uhr nebst Kette unsichtbar. Dem Dichter Mosenthal gönnten die Pickpockets weder die Tantièmen, noch seine Patronatskarte. Diese und fünfhundert Mark trennten sich von ihrem Besitzer. Das geschah Alles auf dem Perron des Bahnhofes oder auf dem Wege zur Stadt.

Eine Stunde vor dem Kaiser war der Großherzog von Weimar eingetroffen. Diesem wurden die artistischen Empfangshonneurs durch Franz Liszt gemacht, der den großherzoglichen Zug in die Stadt, allein in seiner Equipage, wie ein Kunstfürst beschloß, nach rechts und links mit freundlicher Würde den Acclamationen des Publicums dankend. Der Kaiser wurde von [570] den Spitzen der Behörden und vom Imperator Richard Wagner empfangen, und dann zog die lange Wagenreihe durch die Stadt nach dem Schlosse Eremitage hinaus, woselbst Abends noch ein Fackelzug stattfand. Der Kaiser war in Civil. Sein Aussehen erregte geradezu Staunen. In der That und ohne jegliche höfische Schmeichelei: wenn von dem Verjünger des deutschen Reiches behauptet würde, er besäße das Lebenselixir des Grafen Saint Germain, man könnte es glauben. Das offene frische Gesicht, noch mehr aber die männlichfeste und doch leichte Haltung des alten Herrn spotteten seiner Jahre, denen Kriegsstrapazen, Klima und Wetter nichts anhaben konnten. Jeder stimmte in den Jubel ein; es war ja nicht nur ein Held und Kaiser, es war ein rechtschaffener deutscher Mann, wie es deren wenige gegeben hat auf den Thronen und wie sie auch im Alltagsleben nicht gerade allzu dick gesäet sind, dem ein brausendes „Willkommen!“ entgegenschallte.

Die Stimmung erwärmte sich heute Abend mächtig. Es war wie ein Rausch. Das Künstlervolk, die Bürger von Bayreuth, Alles fraternisirte, und im Carneval von Venedig geht es nicht lustiger zu, als am Abend dieses Tages auf den Straßen. Wenn ich für jeden Menschen und für jede Berühmtheit, deren Bekanntschaft ich heute in den hochgehenden Wogen des Enthusiasmus machte, einen Thaler zahlen sollte – ich wäre ruinirt. Die Menschen waren wie die Kinder geworden. Neid und Mißgunst verstummten. Schade, daß so Etwas selten von langer Dauer ist! – –

13. August.     

Heute war denn also der „erste Schlachttag“. Eine Gluthhitze wie bei Waterloo und Sedan, und die Gastwirthe erhöhten zur Feier des Tages ihre Preise um fünfundzwanzig bis dreißig Procent. In dichten Schaaren strömte die Bevölkerung der Umgegend in die Stadt. Es gab ja so Viel zu sehen. Der deutsche Kaiser war gestern angekommen, und der Kaiser von Brasilien kam heute um fünf Uhr Nachmittags an. Mit Rücksicht auf diesen überseeischen Cäsar wurde der Anfang der Vorstellung im Wagnertheater von fünf Uhr Nachmittags, wie es anfangs bestimmt war, auf sieben Uhr Abends hinausgeschoben, und diese Anordnung durch Plakate bekannt gemacht. Schon um vier Uhr Nachmittags aber traten wir die Wallfahrt nach dem „artistischen Calvarienberg“ an, wo das Theater aus der Mitte einer hocheleganten Volksversammlung hervorragte. Die „schwarzen Fracks“, welche man als obligatorisch in der Presse angekündigt hatte, waren freilich, und gottlob, ein Märchen. Aber daß die Toiletten elegant waren, versteht sich von selbst; daß sie zwanglos und bequem waren und ungespreizt, gebot schon die Hitze. Das Plateau, auf welchem das Theater gebaut ist, bot einen hochinteressanten Anblick dar. Zu Tausenden waren die Leute dort versammelt, und bis in die Stadt hinein war der Weg mit Wagen und Fußgängern bedeckt. Die „Auffahrt“ geschah sehr langsam. Der letzte, aber der pünktlichste Ankömmling war der deutsche Kaiser, denn mit dem Glockenschlage Sieben trat er in die „Fürstengallerie“ ein, empfangen vom Jubel des Publicums.

Da saß nun Alles auf seinem Platze. Der amphitheatralische Zuschauerraum von beiden Seiten aus wohlthuend mild beleuchtet. Vor uns die Bühne ohne Souffleurkasten, dann das unterirdische und unsichtbare Orchester. Zwischen diesem und dem Publicum der „mystische Abgrund“. – Eine Fanfare, die aus der Erde zu kommen schien, gebot Sammlung. Eine zweite signalisirte den Beginn der Aufführung; eine Stille, in welcher man das Athemholen hören konnte, trat ein.

Man brauchte kein Enthusiast zu sein und mußte doch die Wirkung jenes unterirdischen Orchesters mächtig ergreifend finden, als da der langgehaltene Ton auf Es das Vorspiel einleitete. Es waren nicht instrumentale Individualitäten, wie wir sie in unseren Theatern gewohnt sind, es war wie eine einheitliche Interpretation und Begleitung, in deren Ganzem die einzelnen Instrumente aufgingen und wo der Totaleindruck der Wirkung einer Orgel noch am nächsten kam. Absolut kein instrumentaler Lärm und Spectakel. Kein Moment im Verlaufe des ganzen Abends, wo die Stimmen und die Sprache der Darsteller nicht zur vollsten Geltung kamen. In dieser Hinsicht, glaube ich, hat Wagner etwas noch nicht Dagewesenes hergestellt und Recht behalten, als er auf den Vorwurf des „Zu viel Blech“ antwortete, die Schuld läge an der Anlage der Orchester in unserm modernen Theater. Ein unbefangener, parteiloser Zuhörer konnte sich dem überwältigenden Eindrucke, den die die Handlung begleitende Instrumentation machte, gar nicht entziehen. Und als der Vorhang auseinander ging (denn die Gardine theilt sich im Wagner-Theater) und die Rheintöchter (die Damen Lilli und Marie Lehmann und Minna Lammert) das so ominös gewordene „Wogela-Weia!“ anstimmten, ging ein Hauch des Staunens durch das ganze Haus ob der wirklich wunderbaren und zugleich melodiösen und charakteristischen Musik und des herrlich ausgeführten Gesanges der Nixen. Franz Liszt hat diese Stelle für den Glanzpunkt gesanglicher Leistung erklärt und behauptet, daß gerade diese vielbespöttelten Wortbildungen einen so mächtigen Eindruck hervorbrächten.

Ich will über die Wahl des Sujets, den Bankerott der alten Götter und seine starken Freiheiten in der Handlung nicht reden. Die Ansichten hierüber gehen auseinander und werden stets auseinander gehen, wo die Menschen auf der Bühne sich mythologische Liturgie herausnehmen, wie es z. B. in der „Walküre“ geschieht. In dieser Beziehung darf und muß ich auf den Text der Dichtung selbst verweisen. Aber ich darf sagen, daß schon in „Rheingold“ eine gesangliche und dramatische Vollendung bei den Darstellern in die Erscheinung trat, wie ich sie nie zuvor gesehen und gehört habe. Was ein Gura (Donner), Betz (Wotan), Vogel (Loge), Hill (Alberich), Schlosser (Mime), Eilers und Reichenberg (Fasolt und Fafner) leisteten, zeigt, daß hier nicht blos zahllose Proben, sondern auch Vertiefungen in den Stoff, Discussionen und Vorträge stattgefunden haben, in Folge welcher die Darsteller sich in ihre Charaktere hineingelebt haben. Und so war es auch. Die Assembleen bei Wagner glichen solchen belehrenden Conversationsabenden, und der Enthusiasmus in diesen Kreisen wurde so groß, daß sich die Herrschaften unter einander bei ihren Bühnennamen anredeten.

Nicht wahr, Richard Wagner wird glücklich gewesen sein ob seines Erfolges? –

Nein. Und zwar leider nicht mit Unrecht, denn wenn ich weit entfernt davon bin, an dieser Stelle eine Parteimeinung über die Richtung Wagner’s zu äußern, so darf ich doch nicht verschweigen, daß die decorative Inscenesetzung, auf welche der Meister einen so starken Accent legt („höchste Täuschung durch Kunst“), manches, ja – Vieles zu wünschen übrig läßt. Mögen die Aufgaben, die er sich in den Verwandlungen gestellt hat, zu groß sein, – die Maschinerie des Ganzen ging matt und zerstückelt von Statten, und geradezu störend wirkten einzelne Dinge, wie das Erscheinen der Schlange, in die sich Alberich verwandelt, die einen komischen Eindruck machte, und ebenso der seltsam placirte und recht häßliche Farbentöne zeigende Regenbogen, auf welchem die „Götter“ am Schlusse nach Walhall wandeln. Mit einem Worte, es „haperte“ oft sehr bedenklich im decorativen Theil der Inscenirung, und der grandiose äußere Erfolg ist der Musik, der Instrumentation und den Darstellern zu verdanken.

Die Stimmung in den artistischen Kreisen war denn auch nach der Vorstellung sehr wenig exclusiv mehr. Wir sprachen auch von anderen Dingen, als von den Nibelungen. Es war ein gedrücktes Gefühl, und mehr als einmal gab man sich den Alltagstrost: „Niemand kann für Malheur,“ wo Alles oft von der Nachlässigkeit oder von einem Fehlgriff eines Theaterarbeiters abhängig ist.

Als man Wagner am Schlusse herausrief, erschien er nicht. Der Hervorruf wuchs orkanartig an; er dauerte mehr als zehn Minuten – zwei Kaiser und diverse andere Monarchen und Notabilitäten warteten in der „Fürstengallerie“ auf das Erscheinen des Meisters. Aber Richard Wagner kam nicht. War es, weil er es als gegen die Etiquette in seinem Theater erachtete? Dann hätte man auf das Unzulässige der Demonstrationen aufmerksam machen müssen. Ich glaube, es war Mißmuth über die Nachlässigkeit, welche die decorativen Momente zeigten.

Fasse ich die Eindrücke dieses Abends zusammen, so mache ich aus meiner Bewunderung des Musikdramas kein Hehl, aber die erwähnten Schnitzer der Inscenirung machten uns Alle gedrückter Stimmung, denn sie beeinträchtigten sogar die Kraft des Urtheils, und ich kann mich lebhaft in die Stimmung eines [571] so heißblütigen Mannes, wie Wagner, hineindenken, der als musikalischer und dichterischer Triumphator eine so starke Verlustliste bei der decorativen Waffengattung zu registriren hat.

Ganz Bayreuth war bis Mitternacht glänzend und geschmackvoll illuminirt. Ein funkelnder Sternenbaldachin wölbte sich über die Landschaft. Raketen stiegen zur Feier des Tages in die Höhe, und vom Himmel wurde das Feuerwerk mit zahlreichen fallenden „Sternschnuppen“ beantwortet. Die Blumen dufteten aus den Gärten lieblich. Es war eine „Götternacht“, und „Wotan“ konnte sich freuen. Wotan-Wagner aber, der dreißig Jahre seines Lebens an das Werden dieser Götternacht gesetzt hatte, konnte wohl mürrisch und verstimmt sein, wo die alten nordischen Götter von – Theaterarbeitern um ihre Illusionskraft gebracht werden können.
Wilhelm Marr.




Am Nilmesser und im Harem.

Kein Land verdient wohl mehr den Namen eines Wunderlandes als Aegypten; kein Fluß eignet sich mehr dazu, der Abgott eines Volkes zu werden, als der Nil. Wer dem wundersamen Spiel seines Steigens und seiner Ueberfluthung zugesehen, kann nicht umhin, dieses maßvolle, regelmäßige, innerhalb der gezogenen Schranken sich emsig fortbewegende Walten, mit einem Worte: die allmächtige Kraft der Natur zu bestaunen.

„In Lebensfluthen, im Thatensturm
Wall’ ich auf und ab,
Webe hin und her.
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben.
So schaff’ ich am sausenden Webstuhl der Zeit
Und webe der Gottheit lebendiges Kleid.“

Haben wohl von den zwanzig Millionen, die diesen Donnerspruch des Erdgeistes in „Faust“ gelesen, zwanzig Erdensöhne den Sinn desselben gefaßt? Wenn diese scheinbar so compacte Erde am Ende nichts Anderes als ein Luftbild, die Natur mit ihrer tausendfachen Erzeugung und Zerstörung blos der Wiederschein unserer inneren Kraft, die Phantasie unserer Träume oder das lebende, sichtbare Gewand Gottes wäre, wie es Goethe’s Erdgeist nennt!

Ich stand auf der Brücke von Ghesireh, als diese Gedanken in meinem Gehirn kreuzten – unter mir rollten die gelben Fluthen des Nils langsam dem Meere entgegen. Wahrlich, es waren seltsame Gedanken für ein atheistisches Kind dieser jetzt so atheistischen Welt. Indeß ist das Wunder der jährlichen Ueberfluthung des Nils so groß, es entfaltet sich so still, so majestätisch, so ohne alle menschliche Hülfe, daß der Mensch vor dieser unsichtbaren allmächtigen Triebfeder fast die Kniee beugen möchte und sich einer gewissen Scham über sein eigenes so winziges Schaffen nicht erwehren kann. Davon überzeuge sich der Leser durch Nachstehendes selbst!

Nicht die labyrinthischen Mumienkatakomben, wo ganze Geschlechter in ewigem Schlafe ruhen, nicht die großartigen Tempel, nicht die im Schutte noch majestätischen Paläste der Pharaonen, die Pyramiden im Todtenfelde von Memphis bilden das größte Wunder dieses Wunderlandes. Diese Ruinen sind sämmtlich von einem geheimnißvollen Schleier umhüllt, der zwar auf jedes poetische Gemüth einen großen Zauber ausüben muß, aber dennoch dem weit nachsteht, den der alte heilige Nil, der Schöpfer, Erhalter und Ernährer Aegyptens besitzt, ja Schöpfer, denn das Nildelta wurde einzig und allein durch die allbefruchtenden Anschwemmungen des Nil gebildet, der die einstige weite Bucht zwischen den Hügelzügen der Libyschen und den Bergen der arabischen Wüste mit culturfähigem Schlamm ausfüllte, diese Ausfüllung noch fortwährend vergrößert und gegen das Mittelmeer hin ausdehnt. Die jährlichen im Hochlande Abessiniens, sowie in den Tropengegenden des inneren Afrika niedergehenden periodischen Regen bedingen ein Steigen des Stromes in seinem ganzen Laufe bis zum Meere. In Kairo wird das erste Steigen des Nil erst zu Anfang Juli bemerkbar. Von dieser Zeit an beschäftigt sich das ganze Land mit dem Flusse, denn durch ihn und mit ihm lebt Aegypten; er ist die Lebensader des Landes, deren Pulsschläge nur ein klein wenig zu stark oder zu schwach zu sein brauchen, um eine ganze Bevölkerung in Noth und Elend zu versetzen.

Bei so bewandten Umständen kann es uns nicht wundern, daß die alten Aegypter dem Flusse die höchste Vergötterung zollten, daß Sie alljährlich den ihnen als Vorbote der Ueberschwemmung geltenden Stern Sirius mit großer Bangigkeit beobachteten, daß sie die zu Ehren der Flußgottheit abgehaltenen religiösen Feste mit zaghafter Genauigkeit innehielten, im Glauben, die geringste Vergessenheit könnte den Gott erzürnen und ein Ausbleiben des Steigens der Gewässer mit sich führen. Was Wunder, wenn die Aegypter in der Verehrung des heiligen Flusses so weit gingen, daß sie ihm das kostbarste der Opfer, ein Menschenleben, weihten und alljährlich eine mit Geschmeide und werthvollen Gewändern geschmückte Jungfrau in seinen Wellen begruben.

Das in alten Zeiten mit so vieler Feierlichkeit begangene Fest des Nilsteigens ist zwar im Laufe der Zeit sehr heruntergekommen, aber es ist noch immer das größte nationale Fest Aegyptens, welches sich von den übrigen arabischen Volksfesten darin unterscheidet, daß es von der ganzen Bevölkerung, ohne Religionsunterschied, von Mohamedanern, Kopten und Juden mit gleich großer Freude gefeiert wird.

Das erste Fest fällt auf den 17. Juni. Es ist wohl kaum nöthig zu erwähnen, daß das Steigen des Nils trotz aller Regelmäßigkeit nicht jedes Jahr am nämlichen Tage, zur nämlichen Stunde bemerkbar ist; doch die Araber glauben, daß der Fluß mittelst eines vom Himmel fallenden wunderthätigen Tropfens Wasser alljährlich in der Nacht des 17. Juni zu steigen beginne. Die Einwohner Kairos und die der benachbarten Ortschaften pflegen diese Nacht am Ufer des Nils, entweder in den längs dem Flusse stehenden Häusern, oder unter Gottes freiem Himmel zu verbringen, und zwar unter Spielen, Kaffeetrinken und Geschichten-Erzählen. Der mohamedanische Theil der Einwohnerschaft macht gewöhnlich in dieser Nacht einen Abstecher nach dem Bulak gegenüberliegenden Dorfe Imbabi, wo einer der heiligsten Heiligen Kairos, nach welchem der Ort genannt ist, nämlich Ismail Imbabi, begraben liegt, an dessen Todestag, der mit der Lelet-en-Noctu (Nacht des Tropfens) zusammentrifft, Koranlesungen und religiöse Gebete und Tänze abgehalten werden.

In dieser Nacht pflegen die Aegypter, namentlich die Aegypterinnen, ein Stück Teig in eine Schüssel voll Wasser zu legen und diese außerhalb des Fensters zu stellen. Hat der Teig am nächsten Morgen Sprünge, so prophezeit man ein günstiges Steigen des Nils, hat er aber keine, so wird das Entgegengesetzte angenommen.

Von Anfang Juli an wird die Höhe des Nil täglich in allen Zeitungen veröffentlicht; alle Ministerien und Gouvernementsbureaus werden jeden Morgen von dem Wasserstand in Kenntniß gesetzt. Privatleuten wird die Nilhöhe durch eigens dazu angestellte Ausrufer verkündet, welche jeden Morgen auf den Gassen und in den Höfen der Vornehmeren den Stand des Wassers proclamiren. Diese Ausrufer werden Muneddi-en-Nil genannt. Der Muneddi, der alle Morgen in meinen Hof zu kommen pflegte, war ein stattlicher Aegypter, schön gebaut, mit edlen Gesichtszügen, in die schöne ägyptische Tracht gekleidet. Weil er blind war, stützte er sich auf die Schulter des ihn begleitenden Knaben. Es machte mir stets Freude, ihn in seiner königlichen stolzen Haltung durch den Thorweg schreiten zu sehen und seinen gewohnten monotonen und dennoch nicht reizlosen Singsang zu hören. Jeder Muneddi hat einen kleinen Knaben bei sich, der mit ihm den üblichen eigentümlichen Zwiegesang absingt.

Die Verkündigungen der Muneddi dauern gegen fünf Wochen. Wenn der Nilmesser sechszehn Pikken zeigt, so zieht der Muneddi mit einer Anzahl kleiner Knaben in seinem Viertel herum. Sie tragen farbige Fähnchen in den Händen und verkünden singend die Wisa-en-Nil (die Vollendung des Nil), das heißt: daß der Nil die Höhe erreicht hat, bei welcher die Regierung den [572] Canal des Kalg durchstechen läßt, um das Nilwasser durch die Stadt zu leiten.

Die Muneddis erfahren den Wasserstand vom Scheich des Nilometers, zu dem sie sich jeden Morgen begeben, bevor sie ihre Wanderungen durch die Stadt beginnen. Selbstverständlich erhaltet sie für ihre Mittheilung ein kleines Trinkgeld; doch von den mittleren und niedrigen Classen bekommen sie meistens nur ein Stück Brod.

Der Nilmesser, auf arabisch Mikjas, der schon auf hieroglyphischen Denkmälern häufig in den Händen der Gottheiten als Symbol naturgemäßer Eintheilung und Abstufung erscheint, ist für Aegypten das wichtigste Maß, weil derselbe die fetten und mageren Jahre verkündet. Er steht auf Rodha, jener Insel des Nil, die gleich nach der Eroberung Aegyptens durch die Araber die Aufmerksamkeit der Statthalter der Khalifen durch den Reiz ihrer Fruchtbarkeit und schönen Lage auf sich zog. Schon im vierundfünfzigsten Jahre der Hedschra ward hier ein Arsenal für Schiffe gebaut, das älteste aller Arsenale, die von demselben ihren Namen empfangen haben. Hier erbauten die Khalifen Paläste für ihre Lieblingsweiber; hier legten sie die herrlichsten Gärten an, deren Ruhm nicht nur in Aegypten, sondern bis Irak erscholl. Berühmter als durch Paläste, Moscheen und Gärten ward Rodha durch die von Melek Saleh, dem siebenten und vorletzten Fürsten des Hauses Cjub, hier angelegte Festung, deren Bewachung seinen Mameluken anvertraut wurde. – Von diesen Merkwürdigkeiten ist heute keine Spur mehr vorhanden, aber noch besteht aus der Mitte des neunten Jahrhunderts die Säule, welche den Nil mißt, von Sultan Selim dem Ersten neu überwölbt. Wenn der Nilmesser unter Vierzehn zeigt, das ist wenn die Fluth nicht vierzehn Ellen hoch steigt, so plagt Hunger das Land; fünfzehn Ellen und zehn Zoll sind das Maß, bei dessen Erreichung die Eröffnung des Canals des Nil, welcher Kairo durchschneidet, als ein öffentliches Dankfest mit Jubel gefeiert wird; gewöhnlich erreicht der Nil die Höhe von sechszehn Ellen; die größte Höhe, deren die Geschichte erwähnt, war achtzehn Ellen und zehn Zoll, die kleinste zwölf Ellen und neun Zoll, jene das Jahr des größten Ueberflusses, diese der schrecklichsten Hungersnoth Aegyptens.

Gegenwärtig gehört der den Nilmesser umgebende Grund Hassan Pascha, dessen Palast an der äußersten Spitze der Insel steht. Touristen bleibt der Eingang in diesen reizenden Erdenfleck nicht verschlossen. Ich bin oft auf Rodha gewesen, wo man die schönste Aussicht der Welt genießt. Indeß war ich noch nie im Sommer, das heißt bei hohem Wasserstande dort gewesen, und da ich auch diesen sehen wollte, begab ich mich am Tage vor der Fülle des Nil nach Alt-Kairo, mit der Absicht, dem Nilometer einen Besuch abzustatten.

Es wird heute just ein Jahr, als mich ein schöner arabischer Knabe in seinem alterthümlichen Boote übersetzte. Ich traf auf der Insel mehrere mir bekannte Damen. Vereint schritten wir nach dem Palaste. Als wir vor demselben standen, sprangen zwei schreckliche Eunuchen hervor, wie aus dem Erdboden kommend und gleich Besessenen schreiend: „Fih Harem guwa (es ist ein Harem drinnen).“ Dabei bedeuteten sie uns, daß ich, der einzige Mann unter den Damen, nicht eintreten dürfe.

„Herr der Schöpfung!“ spottete eine meiner Begleiterinnen. „Diesmal gilt es zu gehorchen, diesmal sind die Götter dem armen maltraitirten schwachen Geschlechte günstig. Auf Wiedersehen!“

Damit wollte sie fortgehen.

„Mit nichten!“ rief ich. „Ich lasse Sie nur mit der Bedingung durch, daß Sie mir morgen genauen Bericht über das Gesehene erstatten. Fügen Sie sich der Bedingung, sonst sage ich dem Eunuchen, daß Sie ein verkleideter Herr sind.“

„Ich füge mich; ich füge mich,“ rief mir die Dame zu und verschwand dann mit ihren Gefährtinnen hinter dem festen Haremsthore. Wäre ich kein so gewissenhafter Berichterstatter, ich thäte, was schon so viele Correspondenten gethan, die ihre Unwissenheit orientalischer Verhältnisse durch die Behauptung documentiren, daß man ganz leicht in die Harems kommen könne, und ich erzählte ein pikantes Haremsabenteuer, doch ich bin gewissenhaft und bleibe daher bei der Wahrheit.

Es ist fürwahr ein Glück für solche Correspondenten, daß ihre Leser all die von Eunuchen und Dienern bewachten Vorhöfe, Vortreppen und Vorsäle nicht sehen können, durch welche man dringen müßte, um zu den Haremschönen zu kommen; sie würden sonst jedes Haremsabenteuer bezweifeln.

Am folgenden Tage erhielt ich von meiner Freundin einen Brief, den ich hier in seiner ganzen Damenhaftigkeit wiedergebe.

„Mein lieber Freund!

Obgleich ein unter der Spitze eines Messers gegebenes Versprechen – war die Drohung, mich vor den Eunuchen für einen verkleideten Herrn auszugeben, nicht schlimmer als tausend Messerspitzen? – obwohl ein solches Versprechen gar keinen Werth hat, will ich mich dennoch um das Himmelreich verdient machen und Ihnen erzählen, was uns gestern hinter jenem Thore passirte, auf das Sie so sehnsüchtige Blicke fallen ließen. Dieses Thor führt in den Garten des Palastes. Wir hatten noch keine zwei Schritte gethan, als uns eine Schaar hellgekleideter Frauen entgegensprang; hinter ihnen trabte ein kolossaler, häßlicher Eunuche her.

Ich erfuhr heute, daß besagte Damen dem Harem der Prinzen angehören. Die uns entgegenkommenden Frauen waren sämmtlich in Kattun gekleidet; nirgends eine Spur von Geschmeide, und bei mancher steckten die nackten kleinen Füße in rothen Pantoffeln. ‚Sclavinnen der abwesenden Herrin,‘ flüsterten wir einander zu, und gingen leicht grüßend an ihnen vorüber. Ich drückte den Wunsch aus, den Nilmesser zu sehen.

Die Damen lachten laut auf, wahrscheinlich ob meines unarabischen Accents, und stoben auseinander wie verscheuchte Vögel. Wir schritten durch jenen Laubgang, der zu dem Mikjas führt. Apropos, was wollten Sie denn dem Nilometer absehen? Der Nilometer ist noch immer ein achteckiger Pfeiler und steht noch immer inmitten des unter der Erdfläche ausgegrabenen Raumes, und das Wasser erreicht jetzt fast den auf dem Pfeiler ruhenden Querbalken; die kufische Schrift rings herum ist noch immer kufisch. Waren Sie vielleicht darüber im Zweifel?

Wir wurden nun von der Kalsa, das heißt der Gouvernante des Harems, eingeholt. Sie trug rothe Pantoffel, weite, sehr weite Beinkleider, die sie im Gehen zu hemmen schienen, darüber ein faltenreiches Kleid aus blauem Kattun. Sie war ziemlich hübsch, hatte aber einen lässigen Zug um dem Mund, als wäre sie über all dem Wachehalten versauert; ihren Kopf bedeckte ein schneeweißer Turban.

Sie ließ uns das Pförtchen öffnen, das die zu dem Nilmesser hinunterführende Treppe verschließt, und führte uns hernach in dem Garten herum. Dabei fragte sie uns recht gehörig über unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus. Sie kennen den Balcon, der um das Erdgeschoß des Palais herumläuft. Die Aussicht, die man von hier genießt, ist immer schön, doch gegenwärtig ist sie es über alle Maßen.

Die Wassermasse ist jetzt fürwahr imposant. Der Nil, von der Insel in zwei Arme getheilt, trennt sich hier zu Füßen des Palastes; er fluthet so mächtig gegen Norden, als wolle er die Insel mit fortschwemmen, und dennoch brechen sich seine Fluthen schäumend und gurgelnd an dem massiven Gesteine des Gebäudes. Links ragen die Pyramiden von Gizeh, Sakkarah und Abusir über den reizendsten Palmenhain empor, und rechts glüht der rothe Mokattam im Scheine der sinkenden Sonne, welche die nadelfeinen Minarets der Citadelle und auch die Segel eines einsamen auf der Fläche des Wassers hingleitenden Schiffleins goldig färbt.

‚Es ist sehr schön, nicht wahr?‘ fragte plötzlich eine Frauenstimme auf arabisch.

Die Sprechende war eine der Damen. Sie hatten sich Alle unbemerkt herangeschlichen, während wir im Anblicke der sinkenden Sonne versunken waren. Wahrlich, eine herrliche Erscheinung, dieses Mädchen aus dem Harem! Sie trug ein schneeweißes Gewand, ihr wunderschönes schwarzes Haar fiel in zwei langen Flechten vom stolz gebogenen Nacken herab und war vorn durch ein goldgelbes Atlasband nach hinten gebunden. Hände und Füße waren winzig, und das Gesicht war so schön und fein, daß ich in meinem Inneren die Harems segnete, die diese orientalischen Schönen verhüllen, denn wenn solche Schönheit in Eure Mitte träte, Ihr Männer, so müßten wir gar bald abdanken und den Orientalinnen das Scepter überlassen.

Die übrigen Damen waren ziemlich alt, einige Backfischchen ausgenommen, die reizende Mädchen zu werden versprachen. Alle standen um uns herum und beschauten unsere Toiletten mit

[573]

Sommerlust und Mutterlust.
Nach seinem Oelbilde auf Holz gezeichnet von Pr. Benezur in München.

[574] jener allen türkischen und arabischen Frauen eigenen Neugierde. Ich lobte die Aussicht, und somit war das Eis gebrochen. Sie stürmten an uns heran und überhäuften uns mit Fragen. Die Eine wollte wissen, ob meine fliegenden Aermel neumodisch seien, die Andere, zu was mein Lorgnon gehöre, eine Dritte, ob ich in Paris gewesen, und die erwähnte Schöne bedauerte mich, weil mich mein Gatte so unverschleiert ausgehen lasse. Als ich fragte, was daran zu bedauern wäre, erklärte sie mir, daß dies ein Beweis seiner Gleichgültigkeit sei, und sie setzte hinzu, sie müßte sterben, wenn ihr Pascha sie nicht einschlösse, wenn er sie unverschleiert ausgehen ließe, da sie daraus ersehen würde, daß ihm nicht viel an ihr gelegen sei.

Eine harte Arbeit war es, den neugierigen Damen auseinanderzusetzen, was für Dienste ein Lorgnon leistet. Ich meinte es recht hübsch erklärt zu haben, da brachen sie aber Alle in Beileidsbezeigungen aus, die meiner vermeinten Blindheit galten. Ich erklärte ihnen den Zweck des Lorgnons von Neuem, worauf sie recht kluge Gesichter machten, die mich erkennen ließen, daß sie meine Kurzsichtigkeit für Affectation hielten.

Sie reichten uns die Blumen, die sie in Haar und Gürtel trugen; die Backfische verfertigten einige ‚Fullehs‘ für uns. Es sind dies Jasminblüthen, die in gewissen Mustern auf Strohhalmen angefädelt werden. Zuletzt wurde uns der beste Mokka in reizenden, mit Diamanten bespickten goldenen Schalen gereicht, und dann nahmen wir Abschied von diesen liebenswürdigen Damen, nachdem wir das Versprechen hatten abgeben müssen, recht bald wiederzukommen.

Wer weiß, ob ich Ihnen nicht auch über den zweiten Besuch Bericht erstatte! Wir werden ja sehen.

Die Ihrige
Ch. v. M.“

Unterdessen hatte der Nil die Höhe erreicht, die den Durchstich des Canals in Altkairo erfordert, um zu verhindern, daß der Fluß den an der Mündung des Canals errichteten Damm, der um die Zeit des Nilsteigens aufgeworfen wird, nicht von selbst durchbreche und Verheerungen aller Art anrichte.

Die Vorbereitungen für das Fest waren schon getroffen. Auf der rechten Seite des Canals, etwa zwölf Meter oberhalb des Dammes, standen die Zelte der Regierung, und links, also diesen gegenüber, waren all die Feuerwerke aufgestellt, mit denen man dieses ägyptische Nationalfest zu feiern pflegt.

Gegen neun Uhr wurde die erste Rakete losgelassen.

In den Zelten der Regierung, die mit wahrer orientalischer Pracht ausgestattet waren, befand sich eine zahlreiche Versammlung eleganter Damen und uniformirter Herren. Zuweilen flammte plötzlich ein bengalisches Feuer auf, das mehr als ein schönes syrianisches Antlitz, mehr als ein classisches griechisches Profil hell erleuchtete, um gleich wieder Alles in geheimnißvollem Halbdunkel erscheinen zu lassen.

Schön war es, wenn dieses rothe Feuer auf die auf dem gegenüberliegenden Plane stehende Menschenmenge fiel, auf die zahllosen herrlichen dunklen Gesichter, auf die farbenreichen malerischen Trachten dieses so schönen Volkes.

Unter uns lag der Damm des Canals. Nach der Seite hin, wo der Nil sich gegen denselben bricht, waren hohe Palmenwedel aufgestellt; auf dem Damme selbst befand sich eine fröhliche Schaar Aegypter und Araber, die sich in der ihnen angeborenen harmlosen Weise unterhielten. Einer ging im Kreise herum und schenkte den Umherliegenden Kaffee aus, während eine Art Gaukler ihnen jenen Tanz vortanzte, der hier zu Lande so viel Gefallen findet. Der Tänzer hält ein langes Rohr über das Haupt und dann über die rechte oder linke Schulter, hebt ein Bein in die Höhe und schaut mit so viel Wohlgefallen um sich her, als habe er ein äußerst schweres Kunststück vollbracht. Dabei nicken die Zuschauer einander zu, und Jeder ist fest überzeugt, daß nur ein Diener Allahs so Etwas zu Stande bringen kann. Auf der andern Seite des Dammes standen in einer langen Reihe Arbeiter, die mit der Hacke unermüdlich die Erde des Dammes weglösten, während eine große Anzahl kleiner Knaben diese Erde in Körben wegschaffte.

Bei dieser Gelegenheit hat es sich wieder einmal erwiesen, wie muthig Fatalisten sind.

Man weiß, daß Mohamed seinen Gläubigen die Lehre der Vorherbestimmung einprägte. Der Mohamedaner verweilt mit der größten Gleichgültigkeit in Städten, wo eine Epidemie wüthet; er geht ohne Sorge und Befürchtungen ruhig wie immer seinen Geschäften nach und läßt sich nicht durch die Zukunft beunruhigen, da doch schon Alles vorausbestimmt ist. So schritten auch neulich die Araber unbekümmert an den Feuerrädern vorüber und wichen dem glühenden Sprühregen mit bewunderungswerther Ruhe aus. Selbst die Kinder, welche die Erde des Dammes fortschafften, von denen keines mehr als acht Jahre alt war, ließen sich durch einen auf sie herabfallenden Regen glühender Funken in ihrer Arbeit nicht stören.

Auf dem Flusse glitten zahllose kleinere und größere Boote hin, sämmtlich ausgeschmückt mit farbigen Fahnen und Lämpchen und besetzt von heiteren Menschen, die singend und spielend sich ihres Lebens freuten.

Dem Canal gegenüber ankerte ein großes, mit grellen Farben bemaltes und mit bunten Fähnchen und Laternen verziertes Schiff, auf dessen Verdeck ein viereckiges, mit rothen und gelben Draperien verhängtes Häuschen stand, um das ein kleiner Balcon lief. Es wird dieses Schiff vom Volke Aarus-en-Nil, das ist die Braut des Nil, genannt, und es soll einstens, als Aegypten noch nicht den Arabern gehörte, zur Beförderung der dem Flußgotte zum Opfer gebrachten Jungsfrau gedient haben.

Amr-Ibn-el-Asi, der Eroberer Aegyptens, schaffte diesen barbarischen Brauch als eine dem Gotte des Islam widrige Handlung ab, und seitdem begnügte sich der Aegypter mit dem bloßen Symbol der Braut des Nil, nämlich mit dem Schiffe.

Die Araber erzählen, daß der Nil in dem Jahre der Abschaffung des Menschenopfers zu steigen sich weigerte. Drei Monate waren schon seit der Nacht des Tropfens vergangen, und der Fluß hatte noch immer dieselbe Höhe, worüber das Volk außerordentlich bestürzt war, weil es meinte, es würde von der Hungersnoth heimgesucht werden. Da meldete Amr-Ibn-el-Asi dem Chalifen Omar in Medina, daß er das jährliche Menschenopfer abgeschafft und daß nun das Land vom größten Elende bedroht sei.

Der Fürst der Gläubigen lobte seinen Feldherrn für diese That und sandte ihm ein Schreiben mit der Weisung, dasselbe in den Nil zu werfen. Dieser Brief enthielt folgende Worte: „Von Abd-Allah-Omar, Fürst der Gläubigen, an den Nil von Aegypten! Fließest du aus eigenem Willen, dann fließe nicht; ist es aber Gott der Einzige, der Allmächtige, der dich fließen heißt, so bitten wir Gott, den Einzigen, Allmächtigen, er möge dich fließen lassen.“

Amr-Ibn-el-Asi leistete dem Befehl seines Fürsten Folge, und darauf hin soll der Nil in einer Nacht seine höchste Höhe erreicht haben.

Interessanter und schöner als die Feier des Vorabends ist das Fest der Eröffnung des Canals, vielleicht weil bei diesem die Sonne mit ihrer magischen Beleuchtung mitspielt. Es flatterten die bunten Fahnen so lustig; das Grün der Bäume auf Rodha leuchtete wie lauter Smaragden, die Menschen, die das Ufer des Canals bedeckten, prangten in einer so farbenreichen Tracht, daß jede auch noch so gut geschriebene Schilderung des Festes nur ein schwaches farbloses Schattenbild wäre.

Unter wiederholten Salven wurden die den Damm zierenden Palmenwedel in den Nil geworfen; gurgelnd leckte der verrätherische Fluß an dem nur noch einen Fuß breiten Damm, als habe er nicht übel Lust, denselben von selbst zu durchbrechen. Hierauf traten etwa zwanzig Arbeiter an den engen Erdstreifen hin, um denselben einzuhauen, die eine Hälfte im Trocknen, die andere im Wasser stehend. Von dem abfälligen Ufer des Canals stürzte sich ein Araber nach dem anderen in das Wasser, manche angekleidet, die meisten baar jeder Kleidung, schwimmenden Meerungeheuern gleich, die brüllend und keuchend ihr Opfer zu verlangen schienen. Furchtbar war das Getöse, als das gelbe, chocoladenartige Nilwasser die letzten Ueberreste des Dammes durchbrach und von dem Canale Besitz nahm.

Die Meeresungeheuer traten jetzt an’s Land und führten vor dem Zelte des Sultans von Zanzibar einen so tollen Tanz auf, daß man sie fürwahr für die wildesten Wilden halten konnte. Dies geschah nämlich, um dem Sultan die Goldstücke zu entlocken, welche die Vicekönige ihnen früher in den Canal hinabwarfen und die sie durch Tauchen erhaschten. Es war aber schon vor dem Beginn der Ceremonie eine beträchtliche Summe unter [575] das Volk vertheilt worden, denn man wirft das dem Volke gebührende Trinkgeld seit zwei Jahren nicht mehr in die Fluth, weil dies jedes Jahr mehrere Menschenleben zu kosten pflegte.

Somit war die Feier zu Ende. Der Sultan von Zanzibar, sowie die Behörde kehrte nach der Stadt zurück, die Araber blieben aber noch lange am Fleck. Keiner von ihnen geht an diesem Tage davon, ohne sich in dem Canal gebadet oder zum Mindesten gewaschen und einen Trunk aus dem wunderthätigen Flusse gethan zu haben. Viele füllen das Wasser, welches an diesem Tage Glück bringen soll, in Gefäße und tragen es mit nach Hause. Ich sah auch, daß sie die Palmenwedel, welche den Damm schmückten, wie Reliquien fortschleppten.

Herzlich lachen mußte ich, als ich im Nachhausefahren einem pudelnassen sogenannten orientalischen Heiligen begegnete, der mit zerzausten Haaren, triefenden Gewändern und verzückten Mienen baarhäuptig durch die Straßen wandelte, hinter ihm eine Art Meßner, der einen hellgrünen Sonnenschirm über ihn hielt.

Der Nil steigt zur Stunde fortwährend, bis er seine höchste Höhe erreicht, was zwischen dem 20. und 30. September eintritt. Auf seinem höchsten Stande verweilt er etwa vierzehn Tage, wonach das Sinken beginnt, sodaß er Mitte November wieder auf die halbe Höhe seines Steigens gesunken ist und zwar auf die Höhe, die er jetzt hat.

Die dem Nil am nächsten liegenden Felder sind bereits überschwemmt, was dem Flusse eine wahrhaft imposante Breite verleiht. Bald werden auch die entfernteren Gründe mittels der Canäle von dem befruchtenden Wasser bedeckt sein. Das ganze Land wird aber nicht ein See sein; selbst wenn der Nil den höchsten Punkt seines Steigens erreicht hat, steht nicht, wie eine häufig gebrauchte Redensart lautet, ganz Aegypten unter Wasser; denn obgleich einzelne Landstriche ganz davon bedeckt sind, so sind doch die Fluthen überall durch Dämme eingeengt und zertheilt, sodaß selbst der Verkehr zwischen den Dörfern selten ganz gehemmt ist. Dies ist nur der Fall, wenn die segensreiche Ueberfluthung zur verheerenden Ueberschwemmung wird – was Gott verhüten möge!




Blätter und Blüthen.


Für Mütter. Mit welchem Unverstand die jugendlichen Mütter der Neuzeit vielfach das Leben ihres Kindes auf’s Spiel setzen, zeigt folgender Fall. Ich wurde zur Besichtigung eines dreivierteljährigen Kindes gerufen, welches innerhalb weniger Stunden dem Brechdurchfall zum Opfer gefallen war. Trotz des eingehendsten Examens ließ sich anfangs keine Ursache finden, welche dieses plötzliche Ende herbeigeführt haben konnte, bis endlich nach langem Zögern die achtzehnjährige Mutter gestand, sie habe einige Zeit zuvor dem Kinde etwas Wurst und Bier verabreicht. Schon der gesunde Menschenverstand lehrt, welche Folgen jeder Diätfehler bei einem Kinde nach sich zieht, und wenigstens zwei Drittel aller Brechdurchfälle, die im Sommer und Herbst die Kindersterblichkeit in einem so schrecklichen Grade vermehren, sind einzig und allein auf diese Ursache zurückzuführen; Zahnung und Erkältung bilden erst die zweitwichtigsten Momente. Jeder Erwachsene kennt die Grundregel für eine gute Verdauung, den Bissen so klein wie möglich zerkaut in den Magen hinunterzuschlucken, damit der Magensaft sofort von allen Seiten denselben durchdringen kann, die wenigsten Mütter aber überlegen, daß ihrem Kinde in dem ersten Jahre die Backzähne gänzlich fehlen, und selbst bei dem Vorhandensein derselben die Kleinen anfänglich die sorgfältige Nutzanwendung davon unterlassen. Die unmittelbare Folge ist, daß, wenn jede in Form von festeren Stückchen dem Kinde gereichte Nahrung nicht vollständig zerkleinert in den Magen gelangt, solche hier erst längere Zeit liegen bleiben muß, bis nach und nach die Säfte die Auflösung ermöglicht haben.

Diese längere Dauer der Verdauung bringt aber einestheils eine größere Reizung der Magendarmwände hervor, andererseits begünstigt sie die Zersetzungsvorgänge, besonders im Sommer, wo die Darmmuskulatur erschlafft und das hierdurch langsamer in den Därmen circulirende Blut die Verdauungssäfte an und für sich in geringerer Menge ausscheidet. Diese Vorgänge werden selbstverständlich noch mehr gesteigert, wenn das Kind sehr schwer oder nicht zu verdauende Stoffe, wie Kartoffeln, Obst, frische Schoten, zugeführt erhält. Eine in den Früchten vorzugsweise befindliche Substanz kann von dem Kindermagen absolut nicht verdaut werden; sie dient also nur dazu, den langen Darmweg, welcher durchschnittlich fünf Mal so lang ist wie das betreffende Kind, in einen entzündlichen Zustand zu versetzen. Der gereizte Verdauungscanal sucht sich so schnell wie möglich der aufgedrungenen Speisen zu entledigen; die regelmäßigen Darmbewegungen geschehen schneller; die verdaulichen Bestandtheile werden hierdurch nicht genügend verdaut; der wässerige Inhalt wird nicht aufgesogen, vielmehr später sogar Flüssigkeit aus dem Blute in den Darm ausgeschieden; es entsteht Diarrhöe, an welche sich bei stärkerer Erkrankung Magenkatarrh und Brechen anschließt. Kein Krankheitsproceß aber entkräftet den kindlichen Körper schneller als der Brechdurchfall. Die Haut verliert durch den starken Flüssigkeitsverlust ihre feste, straffe Spannung, wird welk; die Augen sinken mehr und mehr zurück; das Blut rinnt spärlicher in den Adern, bis endlich das Herz die vermehrte Arbeit nicht ferner zu leisten vermag und der Tod erfolgt. –

Wie aber soll die Mutter diesen ärgsten Kinderfeind bekämpfen? Die erste Pflicht ist die sorgfältige Verhütung jedes Diätfehlers in der Zeit des Sommers und des Herbstesanfanges. Man verbleibe bei der gewohnten Milchnahrung oder dem eingeführten Surrogat; höchstens kann etwas eingeweichter Zwieback unbedenklich verabreicht werden. Jede andere Substanz dagegen betrachte man für das Kind als nicht vorhanden. Auf die gleiche Weise müssen Erkältungsursachen vermieden werden, und sind besonders die Kindermädchen streng darauf anzuweisen, das Wechseln der Windeln nur an zugfreien Stellen sowohl zu Hause wie im Freien vorzunehmen. Beginnt aber das Kind dünn auszuleeren, so ist sofort energisch einzuschreiten; man begünstige nicht die beliebte Ammenmarotte, welche die Diarrhöe als ein erfreuliches Zeichen des Zahndurchbruches betrachtet! Um die in Gährung übergegangenen Massen aus den Verdauungsorganen des Kindes herauszubefördern, dient am besten im Anfange ein gewöhnliches lauwarmes Wasserklystir, an welches sich später einige laue Klystire von gekochter Stärke anschließen. Falls das Kind nicht gestillt wird, verdünne man die Milch zur Hälfte mit Hafergrützschleim! Bei Fortdauer der Diarrhöe muß die Milchnahrung dem Kinde gänzlich entzogen werden. An Stelle derselben trete dünner Hafergrützschleim oder dünne Kalbsbrühe mit Gries und mehrmals täglich ein Theelöffel Rothwein! Diese einfachen Regeln genügen fast ausnahmslos, um eine gewöhnliche Diarrhöe zum Stillstande zu bringen. Tritt aber eine stärkere Magenbetheiligung hinzu, so ist baldige ärztliche Hülfe erforderlich. Das Kind bleibt bis dahin am besten ohne jede Nahrung, erhält nur zweistündlich einen Löffel Rothwein, an die Füße eine Wärmflasche und jede Stunde ein in kaltes Wasser getauchtes, dann ausgerungenes Handtuch, welches man mit einem wollenen Tuche dicht bedeckt, rings um den Leib gelegt. Später beginnt man wieder dem kleinen Patienten nach und nach dünne Hafergrütze oder Griessuppe von Kalbsbrühe einzuflößen. Dringend aber rathen wir jeder jungen Mutter die Rathschläge guter Nachbarinnen auf das Sorgfältigste zu prüfen. Mit der größten Rücksichtslosigkeit pflegen derartige Sibyllen, auf angebliche Erfahrung pochend, ihren Rath aufzudringen, um durch verschiedene Theesorten und warme Umschläge nur eine größere Reizung des Magens hervorzurufen. Sie selbst haben allerdings nichts zu verlieren, aber mögen wohl überlegen, was für die Mütter auf dem Spiele steht – das Leben ihres Kindes!
Dr. – a –

Photographirte Musik. Daß man die Menschen im Laufschritte, den Vogel im Fluge, die schaumbedeckten Meereswellen im Sturme photographisch festhalten kann, davon können wir uns in jeder Kunsthandlung durch die sogenannten Augenblicksbilder überzeugen. Wir sehen die dahineilenden Time-is-money-Bekenner, die jagenden Fuhrwerke der Straßen und Plätze Londons, Mensch und Thier mit aufgehobenen Beinen, hutabziehend, schimpfend, drohend, feilschend, als hätte ein Medusenhaupt das ganze Gewimmel plötzlich versteinert. Aber auch um die Bewegung selbst zu fixiren, hat man die große Erfindung Daguerre’s benutzt; der Arzt läßt sich von ihr die Bewegung des Pulses, der Meteorologe die Schwankungen von Barometer, Thermometer, ja die Veränderungen aller seiner Instrumente, auf einem fortlaufenden Papierstreifen aufzeichnen. Warum sollte man nicht ebenso diejenigen Wellen der Luft photographiren können, die unser Ohr bald angenehm als classische Musik, bald Unwohlsein erregend als sogenannte Zukunftsmusik umspülen?

Als die sogenannten Klangfiguren entdeckt wurden, schlug man ihre eleganten Formen als sinnreiche Muster und Hieroglyphen für die Verzierung der Kleidersäume berühmter Virtuosen vor, allein diese „gefrorne Musik“ war doch eine allzu frostige Idee, um die Herzen zu erwärmen. So brodlos sie sein mag und so wenig „schöne“ Resultate sie verspricht, die Kunst, Klänge und Musik zu photographiren, bietet doch, schon der bloßen Idee nach, einen eigenthümlichen Reiz, und daß sie gar keinen besonderen Schwierigkeiten begegnen würde, hat kürzlich Professor H. Vogel in Berlin, die erste photographische Autorität Deutschlands, in seinem Fachjournale dargelegt. Wie man einerseits singende Gasflammen hat und Concerte mit solchen singenden Flammen veranstalten kann, – auf der Wiener Weltausstellung befand sich ein Clavier mit singenden Flammen, statt der Saiten – so werden die Gasflammen durch verschiedene Töne verschieden, unter Umständen bis zum augenblicklichen Erlöschen, beeinflußt, und man darf nur die eigenthümliche Form einer für Musik entbrannten Flamme photographiren, um in ihrer besonderen Bewegung und Zuspitzung den Ton selbst, wie durch eine Note zu fixiren.

Der Physiker Dr. König in Paris hat vor einigen Jahren gezeigt, daß man die Gasflamme am gefühlvollsten machen kann, wenn man eine offene Stelle des Gasleitungsrohres mit einem zarten Membran überspannt und, letzteres als Trommelfell benützend, der Flamme gleichsam die Töne in’s Ohr haucht. Die von diesem Rohre gespeiste Flamme tanzt nun sozusagen nach der mitgetheilten Musik, und ihre einzelnen Pas lassen sich am besten sondern, wenn man sie in einem gegenüberstehenden, schnell um seine Achse gedrehten Spiegel betrachtet, wobei zuweilen ein angenehmer Rhythmus hervortritt. Wenn man nun eine Flamme anwenden würde, die sehr reich ist an sogenannten chemischen Strahlen, z. B. die Flamme des Cyangases, so würde es keine besonderen [576]

Schwierigkeiten haben, die ganze rhythmische Folge einer gegen ihr Kunstohr gerichteten Musik auf einem durch ein Uhrwerk bewegten Papierstreifen zu photographiren und so dieselbe in einer für ein geübtes Auge wohl entzifferbaren Notenschrift unmittelbar festzubannen. Wir brauchen nicht zu wiederholen, daß die photographirte Musik in der Theorie schöner ausfällt, als sie sich in der Praxis darbieten würde.
C. St.

Fortschritt in der Blumentopffabrikation. Im Anschluß an meine in Nr. 27 d. J. der „Gartenlaube“ gemachte kurze Mittheilung über die kleine dänische Maschine zur Herstellung von Blumentöpfchen, beeile ich mich den verehrten Lesern und Leserinnen der „Gartenlaube“ heute die Nachricht zu überbringen, daß die neuentstandene Kunst, kleine Blumentöpfe herzustellen, durch eine nicht unbedeutende Erfindung bereits einen großen Fortschritt gemacht hat. Ich sagte schon damals, daß der von Dänemark aus bei uns eingeführte kleine Apparat nicht ganz tadellos sei, und es war anzunehmen, daß die Leistungsfähigkeit desselben, sowie das Fabrikat für größere Handelsgärtnereien, Hofgärten etc., wo der Bedarf der sogenannten Stecklingstöpfe, besonders im Frühjahre, nach vielen Tausenden zählt, nicht genügende Resultate liefern werde. Angesichts der schon damals mitgetheilten unverkennbaren Vortheile, welche uns indeß die Einführung der so billigen und zweckmäßigen Töpfchen klar vor Augen stellt, und durch umfassende Versuche von deren praktischem Werthe hinreichend überzeugt, hat nun der Besitzer des unter meiner Leitung stehenden gärtnerischen Etablissements, Herr Charles König hierselbst, in Verbindung mit einem bewährten Mechaniker weder Mühe noch Kosten gescheut, dahin zu gelangen, einen Apparat herzustellen, welcher, das Princip der kleinen dänischen Maschine festhaltend, ein Fabrikat von exacter Form, Festigkeit und Dauerhaftigkeit liefert, wie es besser nicht gewünscht werden kann.

Allen Denen aus dem weiten Leserkreise unserer geschätzten „Gartenlaube“, welche sich in Folge jener ersten Mittheilung aus Nah und Fern an mich wandten und bereits einen dänischen, das heißt hier nach dänischem Muster verfertigten Topfapparat erhielten, habe ich zugleich mit diesem einige Probetöpfchen (der kleinsten Sorte) der neuen Maschine, welche wir kurzweg Topfpresse nennen werden, beigelegt und wird der wesentliche Unterschied der beiden Fabrikate leicht erkannt worden sein!

Die neue, ganz aus Eisen construirte Topfpresse liefert in zehn Arbeitsstunden 1000–1200 Stück durchaus gleicher, fester und widerstandsfähiger Töpfe, welche, an der Sonne getrocknet, schon nach zwölf Stunden zu verwenden sind. Durch einfache Veränderung lassen sich die Töpfe in verschiedener Größe herstellen. Die vortreffliche Eigenschaft, sich im Boden wieder aufzulösen, behalten sie bei, sind aber auf der andern Seite auch fähig, eine junge Pflanze wochenlang außer dem Boden zu beherbergen, und besonders zur Versendung derselben zu empfehlen, da sie, wenn einmal vom Wasser durchzogen, sehr schwer austrocknen und nicht bei einem ungefähren Stoß oder Fall auf der Bahn gleich in Trümmer zergehn.

Die Herstellung respective Zusammensetzung der Masse ist beliebiger Veränderung zugänglich. Je nach dem Bedürfniß der zu culctivirenden Pflanzen, kann man sowohl die Erdart, also etwa: Gartenerde, Lehm-, Haide- und Moorerde, wie auch die Zusätze von Kuhmist, Guano, Knochenmehl, Hornspähne, kurzum beliebige künstliche und natürliche Düngstoffe wählen. Eine Zugabe von Kuhmist wird immer rathsam sein, da dieser dem Ganzen eine gewisse Zähigkeit verleiht. In vorstehender Beziehung wird also unser Topf, falls er mit der Pflanze in den Boden kommt, nicht allein jede schwächende Störung der Wurzeln verhindern, sondern auch, während die Feuchtigkeit ihn langsam zergehen macht, einen großen Theil zur freudigen Entwickelung und Kräftigung der Pflanze beitragen.

     Colmar im Elsaß, im August 1876.
C. H. Wesener, Obergärtner.

Noch einmal die Farbenblindheit. Der Mangel an Farbensinn kann im praktischen Leben sehr schlimme Folgen haben; es ist daher Pflicht, diesen Krankheitszustand nach allen Seiten hin zu beleuchten. Vielleicht dürfte es der guten Sache von Vortheil sein, wenn ein Farbenblinder selbst einmal sich über das Thema ausspricht. Diese Erwägung veranlaßt mich zu folgenden Zeilen.

Mein Vater war farbenblind, ebenso einer meiner Brüder; meine übrigen Geschwister wie auch alle meine Kinder erkennen die Farben. Was durch seinen Lichtreflex auf die Augen meiner Mitmenschen Eindruck macht, das ist auch für mich da. (Nur einmal war dies nicht der Fall. Ein Chemiker wollte mir die Lichterscheinung eines mit rother Farbe verbrennenden Gegenstandes im Spectrum zeigen. Er sah sie, gab mir auch den Ort an, wo er sie sah, ich aber konnte bei aller Anstrengung nichts wahrnehmen.) Dennoch sehe ich nicht wie andere Leute. Ueber das, was vollkommen weiß oder vollkommen schwarz ist, bin ich mit Jedermann einig, auch helles Gelb verwechsele ich nicht mit anderen Farben. Sonst aber giebt es für mich nur zweierlei Farben: auf der einen Seite steht das, was man feuerroth, grün und braun nennt, auf der andern Seite himmelblau, rosenroth, violett, lila.

Ich sehe z. B. den Lack meines Stubenbodens an und will mir über die Farbe klar werden. Nun, er sieht ja aus wie leicht gebrannter Kaffee, ist also braun. Freilich kommt er mir auch vor wie das Gras der Wiesen, dann wäre er grün. Wenn jedoch die Locke eines Rothkopfes darauf läge, würde ich auch keinen Farbenunterschied finden, also kann der Lack roth sein. Summa: ich weiß es nicht.

Oder man macht mich aufmerksam auf einen schönen Kleiderstoff. Ich finde ihn auch schön, spreche aber nicht von seiner Farbe, denke nur: er sieht ja gerade aus wie der wolkenlose Himmel, ist demnach himmelblau, muß aber bald hören, daß er rosa ist. Man hätte mir auch sagen können, er sei lila oder violett, und ich wäre damit einverstanden gewesen.

Schon als Kind merkte ich diese Unfähigkeit, die Farben zu unterscheiden. Wenn ich Umrisse von Figuren ausgemalt hatte, so erregte die Wahl der Farben regelmäßig die Lachmuskeln der Beurtheiler. Und andere Kinder fanden viel leichter und mehr Erdbeeren als ich, der ich sie nur durch ihre Form von ihren dunkeln Blättern zu unterscheiden vermochte. Alle Anstrengungen, den Fehler zu verbessern, waren vergeblich – ich blieb ein Pythagoräer. Zum Mann herangewachsen, konnte ich dem Tuchhändler nicht sagen, von welcher Farbe der Rock sei, den ich schon ein Jahr getragen hatte und der bei mir immer nur „der neue“ hieß. Wenn man mir in einer fremden Stadt sagt, ich solle „in das Haus mit den rothen Läden“ gehen, so weiß ich eben nicht mehr, als vorher. Zum Glück brauchte ich nie einen Fahneneid zu schwören; zum Bahn- oder Weichenwärter wäre ich ganz gewiß total untauglich.

Einen Nutzen habe ich übrigens aus diesem Mangel doch gezogen. Ich bin dadurch tolerant geworden. Tolerant gegen die Ungläubigen: sie haben eben nicht die Fähigkeit, das, was überliefert ist, schon deshalb als Wahrheit in sich aufzunehmen; tolerant auch den Gläubigen gegenüber: es ist ihnen nicht gegeben, einen Unterschied zwischen selbsterkannter und überkommener Wahrheit zu machen. Jeder sieht die Welt nur mit seinen Augen an, und der Mann, der das alte Kirchenlied: „Mitten wir im Leben sind“ gedichtet hat, zeigt in den ziemlich egoistischen Schlußversen: „ich werde ihn mit meinen Augen sehen und kein Fremder, daß er – nicht meine Augen hatte.

     W.
P.

„Die gefiederte Welt“. Eine gute Bezeichnung, die uns sofort sagt, womit wir’s zu thun haben. Nur daß dies der Titel einer Zeit- und zwar einer Wochenschrift ist, welche allen Vogelliebhabern deutscher Zunge und das ist eine große, um die ganze Erde verbreitete Gemeinde – mit allseitiger Belehrung über Wesen und Wartung, Zucht und Abrichtung der Vögel an die Hand geht, und daß der Herausgeber derselben Karl Ruß ist, der erfahrungsreiche und rastlose Forscher und Lehrer auf diesem dankbaren Gebiete, das mag wohl noch nicht allen unseren Lesern bekannt sein. Um so mehr freuen wir uns, sie auf diese treffliche Zeitschrift, welche Gediegenheit mit Billigkeit verbindet, aufmerksam machen zu können. Sie verfolgt seit fünf fahren ernst und sachgemäß ihr Ziel, über den Vogelschutz, die Vogelzüchtung und Vogelpflege nach allen Seiten hin zu belehren, und schließt auch die Geflügelzucht in ihren Kreis ein. Illustrationen giebt sie nur, wo das Verständniß sie erfordert oder wo sie ein besonderes Wort zum Gemüth zu unterstützen haben. Da das Blatt bereits so enge Beziehungen zu seinen Lesern gewonnen hat, daß viele derselben ihre Beobachtungen ihm mittheilen, da ferner die Berichte zahlreicher Vereine ihm zugehen und eine besondere Rubrik „Anfragen und Auskunft“ dem Bedürfniß eines Jeden gerecht zu werden sucht, so kann jedem Freund und Pfleger der „gefiederten Welt“ diese Zeitschrift als eine ebenso nutzreiche wie erquickliche geistige Hausmannskost auf’s Beste empfohlen werden.


Handschriftlich dargestellte Originalbeiträge berühmter Autoren der Gegenwart giebt Karl Böttcher unter dem Titel „Deutsche Dichterhelden“ (Leipzig, Röhl) heraus. Wenn auch der Satz, daß die Handschrift ein wichtiges Moment zur Beurtheilung menschlicher Charaktereigenschaften sei, wohl mit Recht vielfach angezweifelt worden ist, so muß doch die Idee, eine Sammlung von facsimilirten Niederschriften unserer namhaften Autoren in Versen und Prosa zusammenzustellen, als eine glückliche, wenn auch nicht gerade neue bezeichnet werden; ist es doch von allgemeinem Interesse, unseren literarischen Lieblingen, einem Geibel, einem Freiligrath, einem Gutzkow und Laube, einmal im handschriftlichen Gewande zu begegnen. Mögen wir dabei nur in der Einbildung oder thatsächlich psychologischen Studien nachgehen, immerhin ist es fesselnd, die Schriftzüge bedeutender Autoren vor sich zu haben. Wir heißen daher die Böttcher’sche Sammlung freudig willkommen, wenngleich wir gewünscht hätten, daß einige Handschriften von allzu obscuren Schriftstellern aus einer Anthologie ausgeschlossen geblieben wären, die sich selbst „Deutsche Dichterhelden“ nennt.


Berichtigung. In dem Artikel „Der Deutsche des Herrn Dumas“ von Ernst Eckstein in unserer Nr. 30 ist in Folge eines Irrthums der Redaction Alexander Dumas mehrmals als „Romantiker“ bezeichnet worden. Da man nun mit diesem Worte in Beziehung auf die neufranzösische Literatur einen sehr bestimmten Begriff verbindet, könnte diese Bezeichnung leicht mißverstanden werden. Man wolle daher an den betreffenden Stellen statt Romantiker lesen „Romancier“.



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Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.