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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[545]

No. 33.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Vineta.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Die Bewohner von Altenhof hatten eine Woche von Angst und Sorge durchlebt. Als Herr Witold an jenem Abend zurückkam, fand er das ganze Haus in Aufruhr. Doctor Fabian lag blutend und noch immer bewußtlos in seinem Zimmer, während Waldemar, mit einem Gesichte, das den Pflegevater fast noch mehr erschreckte, als das Aussehen des Verwundeten, sich bemühte, das Blut zu stillen. Von ihm war nichts weiter herauszubringen, als daß er die Schuld an dem Unglück trage, und so blieb der Gutsherr größtentheils auf den Bericht der Dienstleute angewiesen. Von ihnen erfuhr er, daß der junge Herr mit einbrechender Dämmerung angelangt war, den Verletzten, den er die ganze Strecke getragen haben mußte, in den Armen, und sofort Boten nach dem zunächst wohnenden Arzte gejagt hatte. Eine Viertelstunde später war auch das Pferd eingetroffen, erschöpft und mit allen Spuren eines heftigen Rittes. Das Thier hatte den wohlbekannten Weg nach Hause zurückgelegt, als es sich von seinem Herrn verlassen sah; weiter wußten die Leute nichts. Der bald darauf eintreffede Arzt machte ein sehr ernstes Gesicht bei der Untersuchung. Die Kopfwunde, die offenbar von einem Hufschlag herrührte, schien bedenklicher Art zu sein, und der starke Blutverlust und die schwächliche Constitution des Verwundeten ließen eine Zeit lang das Schlimmste befürchten. Herr Witold, der bei seiner eigenen und Waldemar’s kerngesunden Natur bisher nie gewußt hatte, was Krankheit und Sorge eigentlich sei, schwor oft genug, daß er für alle Schätze der Welt diese Tage nicht noch einmal durchleben möchte. Heute zum ersten Male zeigte das Gesicht des Gutsherrn wieder seinen gewöhnlichen derb gutmüthigen und unbekümmerten Ausdruck, als er in dem Zimmer des Kranken an dessen Bette saß.

„Also das Schlimmste hätten wir glücklich überstanden,“ sagte er. „Und nun, Doctor, thun Sie mir den Gefallen und setzen Sie dem Waldemar den Kopf zurecht!“ Er zeigte auf seinen Pflegesohn, der am Fenster stand und, die Stirn gegen die Scheiben gedrückt, auf den Hof hinausblickte. „Ich richte nichts mit ihm aus, aber Sie können ja jetzt Alles bei ihm durchsetzen; also bringen Sie ihn zur Vernunft! Der Junge geht mir sonst noch zu Grunde an der unglückseligen Geschichte.“

Doctor Fabian, der eine breite weiße Binde um die Stirn trug, sah noch sehr angegriffen aus, aber er saß doch schon wieder aufrecht, in die Kissen gelehnt, und seine Stimme klang, wenn auch noch etwas matt, doch vollkommen klar, als er fragte: „Was soll denn Waldemar?“

„Vernünftig sein!“ erklärte Witold mit Nachdruck. „Und Gott danken, daß die Geschichte noch so abgelaufen ist; statt dessen plagt er sich damit herum, als hätte er wirklich einen Mord auf dem Gewissen. Ich habe wahrhaftig auch Angst genug ausgestanden während der erste Tage, wo Ihr Leben an einem Haare hing, aber jetzt, wo der Arzt Sie für außer Gefahr erklärt hat, kann man doch wieder aufathmen. Was zu viel ist, ist zu viel, und ich halte es nicht aus, wenn mir der Junge noch länger mit solchem Gesicht herumgeht und stundenlang kein Wort spricht.“

„Aber ich habe es Waldemar ja schon so oft versichert, daß ich allein die Schuld an dem Unfalle trage,“ sagte der Doctor. „Er war ja in vollem Kampfe mit dem Pferde begriffen und konnte es nicht sehen, daß ich so nahe stand. Ich war so unvorsichtig, dem Thiere in die Zügel zu greifen, und da riß es mich nieder.“

„Sie sind dem ‚Normann‘ in die Zügel gefallen?“ rief der Gutsherr starr vor Staunen. „Sie, der Sie jedem Pferde zehn Schritte aus dem Wege gehen und der wilden Bestie vollends niemals zu nahen wagten? Wie kamen Sie denn dazu?“

Fabian sah zu seinem Zöglinge hinüber. „Ich hatte Furcht vor einem Unglücke,“ entgegnete er sanft.

„Das auch ohne Frage erfolgt wäre,“ ergänzte Witold. „Waldemar muß an dem Abende seine fünf Sinne nicht recht beisammen gehabt haben. An der Stelle über den Graben setzen zu wollen, noch dazu mit einem halbtodt gejagten Pferde und bei einbrechender Dämmerung! Ich habe es ihm immer gesagt, er würde noch einmal ein Unglück anrichten mit seiner Wildheit; nun hat er eine Lehre bekommen – freilich, er nimmt sie sich doch etwas gar zu sehr zu Herzen. Also, Doctor, lesen Sie ihm ordentlich den Text – das Sprechen ist Ihnen ja jetzt wieder erlaubt –, und dann reden Sie ihm zu, vernünftig zu sein! Ihnen folgt er jetzt auf’s Wort, das weiß ich.“

Damit stand der Gutsherr auf und verließ das Zimmer.

Die beiden Zurückgebliebenen schwiegen eine Weile; endlich begann der Doctor: „Haben Sie gehört, Waldemar, was mir aufgetragen wurde?“

Der junge Mann, der bisher schweigend und theilnahmlos am Fenster gestanden hatte, als berühre ihn das Gespräch gar nicht, wendete sich sofort um und trat an das Bett. Auf den ersten Blick schien die Besorgniß Witold’s übertrieben; eine Natur wie die Waldemar’s unterlag nicht so leicht seelischen [546] Einflüssen. Er war nur etwas bleicher als sonst; wer ihn aber genauer ansah, der bemerkte doch die Veränderung. Es stand ein fremder Zug in seinem Gesichte, der etwas geradezu Beängstigendes hatte, eine eigenthümliche Starrheit lag darin, in der jede andere Regung erstorben zu sein schien. Vielleicht war es auch nur der Panzer, mit dem eine furchtbar aufgereizte Empfindung sich gegen die Außenwelt abschloß, aber auch die Stimme hatte nicht mehr den vollen kräftigen Klang; sie war matt und tonlos, als er erwiderte:

„Hören Sie doch nicht auf den Onkel! Mir ist ja nichts.“

Doctor Fabian ergriff mit beiden Händen die Rechte seines Zöglings, was dieser widerstandslos geschehen ließ.

„Herr Witold meint, Sie machten sich immer noch Vorwürfe wegen des Unfalls, der mich betroffen. Das können Sie aber doch jetzt nicht mehr, wo jede Gefahr beseitigt ist und die Schmerzen nur noch äußerst gering sind. – Ich fürchte, es handelt sich um etwas ganz Anderes.“

Die Hand des jungen Mannes zuckte in der seines Lehrers. Er wendete das Gesicht ab.

„Ich habe den Punkt noch nicht zu berühren gewagt,“ fuhr Fabian zaghaft fort. „Ich sehe, daß es Ihnen auch jetzt noch Pein verursacht. Soll ich schweigen?“

Ein tiefer Athemzug rang sich aus Waldemar’s Brust empor.

„Nein! Ich muß Ihnen ohnedies noch dafür danken, daß Sie dem Onkel die Wahrheit verschwiegen. Er hätte mich zu Tode gemartert mit seinen Fragen, und ihm hätte ich doch nicht Rede gestanden. Ihnen hat meine Stimmung an jenem Abende beinahe das Leben gekostet; Ihnen kann und will ich nicht ableugnen, was Sie ja doch schon wissen.“

„Ich weiß nichts,“ versetzte der Doctor mit bekümmerter Miene. „Ich hege nur Vermuthungen nach der Scene, die ich mit ansah. Waldemar, um Gotteswillen, was ist damals vorgefallen?“

„Eine Kinderei,“ sagte Waldemar bitter. „Eine bloße Thorheit, die es gar nicht verdient, daß man sie ernst nimmt – so schrieb mir meine Mutter wenigstens vorgestern. Ich habe es aber nun einmal ernst genommen, so furchtbar ernst, daß es mir ein Stück von meinem Leben gekostet hat, das beste vielleicht.“

„Sie lieben die Gräfin Morynska?“ fragte der Doctor leise.

„Ich habe sie geliebt. Das ist vorbei. Ich weiß jetzt, daß sie nur ein erbärmliches Spiel mit mir getrieben hat – jetzt bin ich fertig mit ihr und mit meiner Liebe.“

Fabian schüttelte den Kopf, während sein Blick mit tiefer Besorgniß auf den Zügen des jungen Mannes haftete. „Fertig? Sie sind es noch lange nicht. Ich sehe es nur zu gut, wie schwer Sie noch in diesem Augenblicke unter Ihrer Liebe leiden.“

Waldemar fuhr mit der Hand über die Stirn. „Das wird vorübergehen. Habe ich es ertragen, so werde ich es auch überwinden, und überwinden will ich’s um jede Preis. Nur noch eine Bitte: schweigen Sie auch ferner gegen den Onkel und – gegen mich. Ich werde die Schwäche niederkämpfen, das weiß ich, aber sprechen kann ich nicht darüber, auch mit Ihnen nicht. Lassen Sie mich das mit mir allein ausmachen – um so eher ist es begraben.“

Seine zuckenden Lippen verriethen, welche Qual ihm jede Berührung der Wunde schuf; der Doctor sah, daß er davon abstehen mußte.

„Ich schweige, wie Sie es wünschen,“ versicherte er. „Sie sollen auch in Zukunft nie wieder ein Wort darüber hören.“

„In Zukunft?“ wiederholte Waldemar. „Wollen Sie denn überhaupt noch bei mir bleiben? Ich habe angenommen, Sie würden uns gleich nach Ihrer Genesung verlassen. Ich kann Ihnen doch nicht zumuthen, bei einem Zöglinge auszuhalten, der Ihre Angst und Sorge um ihn damit vergalt, daß er Sie niederritt.“

Der Doctor faßte wieder beschwichtigend die Hände des jungen Mannes. „Als ob ich nicht wüßte, daß Sie an meinem Krankenbette weit mehr ausgestanden haben, als ich selber! Ein Gutes hat die Krankheit doch gehabt: sie hat mir eine Ueberzeugung gegeben, die ich – verzeihen Sie! – bisher nicht hegte. Ich weiß jetzt, daß Sie ein Herz haben.“

Waldemar schien die letzten Worte kaum zu hören; er blickte finster vor sich hin. „In Einem hat der Onkel Recht,“ sagte er plötzlich. „Wie kamen Sie dazu, dem Normann in die Zügel zu fallen, gerade Sie?“

Fabian lächelte. „Sie meinen, weil meine Furchtsamkeit allbekannt ist? Die Angst um Sie war es, die mich auch einmal muthig sein ließ. Ich hatte Sie freilich schon öfter ähnliche Tollkühnheiten ausführen sehen und es doch nie gewagt, einzugreifen, aber ich wußte dann stets, daß Sie der Gefahr gewachsen waren, die Sie bezwingen wollten. An jenem Abende galt es nicht der Gefahr – Sie wollten den Sturz erzwingen, Waldemar. Ich sah, daß Sie ihn herbeiwünschten, sah, daß er Ihnen den Tod bringen würde, wenn ich Sie nicht mit Gewalt zurückhielt – und da vergaß ich selbst meine Furcht und griff in die Zügel.“

Waldemar richtete das Auge groß und erstaunt auf den Sprechenden. „Es war also nicht bloße Unvorsichtigkeit, nicht ein unglücklicher Zufall, daß Sie niedergerissen wurden? Sie kannten die Gefahr, der Sie sich aussetzten? Liegt Ihnen denn überhaupt etwas an meinem Leben? Ich glaubte, es fragte Niemand danach.“

„Niemand! Und Ihr Pflegevater?“

„Onkel Witold – ja, der vielleicht! Er ist aber auch der Einzige.“

„Ich meine Ihnen doch bewiesen zu haben, daß er nicht der Einzige ist,“ sagte der Doctor mit leisem Vorwurfe.

Der junge Mann beugte sich über ihn. „Und ich habe es doch gerade um Sie am wenigsten verdient. Aber glauben Sie mir, Herr Doctor, ich habe eine harte Lehre erhalten, so hart, daß ich sie mein Leben lang nicht wieder vergessen werde. Seit der Stunde, in der ich Sie blutend nach Hause trug, seit den beiden ersten Tagen, in welchen der Arzt Sie verloren gab, weiß ich, wie einem Mörder zu Muthe ist. Wenn Sie wirklich bei mir bleiben wollen, jetzt können Sie es wagen. An Ihrem Schmerzenslager habe ich den wilden Jähzorn abgeschworen, der mich blind macht gegen Alles, was mir in den Weg tritt. Sie sollen nicht mehr über mich klagen.“

Die Worte hatten wohl wieder etwas von der alten Energie, aber Doctor Fabian schaute doch sorgenvoll in das Antlitz seines Zöglings, das sich über ihn neigte. „Ich wollte, Sie sagten mir das mit einem andern Gesichte,“ erwiderte er. „Es ist ja keine Frage, daß ich bei Ihnen bleibe, aber ich ertrüge viel lieber Ihr früheres ungestümes Wesen, als diese dumpfe unheimliche Ruhe. Ihr Auge gefällt mir gar nicht.“

Mit einer raschen Bewegung richtete sich Waldemar empor und entzog sich so der Beobachtung. „Wir wollen nicht immer und ewig nur von mir sprechen. Der Arzt hat Ihnen ja die frische Luft wieder erlaubt – soll ich das Fenster öffnen?“

Der Doctor seufzte; er sah, daß hier nichts auszurichten war; überdies wurde das Gespräch jetzt durch Herrn Witold unterbrochen.

„Da bin ich schon wieder,“ sagte er eintretend. „Waldemar, Du wirst wohl herunterkommen müssen, der junge Fürst Baratowski ist da.“

„Leo?“ fragte Waldemar in sichtlicher Ueberraschung.

„Jawohl, er verlangt Dich zu sprechen, und dabei werde ich wohl überflüssig sein. Geh nur! Ich leiste inzwischen unserem Doctor Gesellschaft.“

Der junge Mann verließ das Zimmer, während Witold seinen früheren Platz am Bette wieder einnahm.

„Die Baratowski haben gewaltige Eile, ihn wieder zu bekommen,“ sprach er mit Bezug auf seinen Pflegesohn. „Schon vor drei Tagen kam ein Brief der gnädigen Frau Mama an – Waldemar hat ihn meines Wissens nicht beantwortet; er war ja überhaupt nicht von Ihrem Krankenbette wegzubringen – und jetzt erscheint der Herr Bruder in eigener Person. Diese junge Polenpflanze ist übrigens ein ganz nettes Gewächs. Ein bildhübscher Junge! Nur leider seiner Mutter wie aus den Augen geschnitten, und das setzt ihn bei mir von vornherein in Mißcredit. Dabei fällt mir ein, ich habe Sie noch gar nicht einmal gefragt, wie es eigentlich mit Ihren Entdeckungen in C. steht. In der Angst um Sie hatte ich die Sache ganz und gar vergessen.“

Doctor Fabian sah vor sich nieder und zupfte verlegen an der Decke. „Ich kann Ihnen darüber leider gar nichts berichten, Herr Witold,“ erwiderte er, „Mein Aufenthalt in C. war doch zu [547] kurz und flüchtig, und ich sagte es Ihnen ja vorher, daß ich“ – er lächelte wehmüthig – „weder Geschick noch Glück zum Diplomaten habe.“

„Sie meinen das Loch in Ihrem Kopfe?“ fragte der Gutsherr. „Nun, das hing doch eigentlich mit der Geschichte gar nicht zusammen, aber ich will Sie künftig doch nicht mehr mit solchen Aufträgen plagen. Also Sie haben nichts herausbekommen, schade! Und wie steht es mit Waldemar? Haben Sie ihm einen tüchtigen Sermon gehalten?“

„Er hat mir versprochen, sich das Geschehene aus dem Sinne zu schlagen.“

„Gott sei Dank! Ich sage es ja, Sie können jetzt Alles mit ihm ausrichten. Uebrigens, Doctor, haben wir dem Jungen Beide Unrecht gethan, wenn wir meinten, er hätte überhaupt kein Gefühl. Ich dachte nie, daß ihm die Geschichte so zu Herzen gehen würde.“

„Ich auch nicht,“ sagte der Doctor mit einem Seufzer und mit einer Beziehung, die Herrn Witold natürlich ganz entging. –

Waldemar fand beim Eintritte in das Eckzimmer den Bruder seiner harrend. Der junge Fürst, dem schon bei seiner Ankunft das alterthümliche, etwas niedrige Wohnhaus und die entsprechenden Hofgebäude aufgefallen waren, musterte jetzt mit äußerstem Befremden die einfache Einrichtung des Gemaches, in das man ihn gewiesen. Er war seit frühester Jugend an vornehme und elegante Umgebungen gewöhnt und begriff nicht, wie sein Bruder, dessen Reichthum er ja kannte, hier überhaupt ausdauern konnte. Der Salon der Miethwohnung in C., der ihm und der Fürstin erbärmlich schien, war ja prachtvoll zu nennen gegen dieses Empfangszimmer von Altenhof.

Doch all diese Erwägungen verschwanden beim Erscheinen Waldemar’s. Leo ging ihm entgegen und sagte hastig, als wolle er sich so rasch wie möglich einer unangenehmen Nothwendigkeit entledigen: „Mein Kommen befremdet Dich? Du hast aber seit acht Tagen unser Haus nicht betreten und nicht einmal den Brief der Mama beantwortet; da blieb mir wohl nichts Anderes übrig, als Dich aufzusuchen.“

Es war nicht schwer, zu sehen, daß der junge Mann bei diesem Besuche nicht aus eigenem Antriebe handelte; sein Gruß und seine Haltung hatten etwas entschieden Gezwungenes; er schien dem Bruder die Hand reichen zu wollen, aber so weit konnte er sich offenbar nicht überwinden; es blieb bei dem bloßen Versuche dazu.

Waldemar bemerkte das nicht oder wollte es nicht bemerken. „Du kommst auf Befehl der Mutter?“ fragte er.

Leo erröthete. Er wußte am besten, welchen Kampf es der Fürstin gekostet hatte, ehe sie diesen Besuch erzwang, für den sie schließlich ihre ganze Autorität einsetzen mußte.

„Ja,“ entgegnete er endlich.

„Es thut mir leid, Leo, daß Du zu etwas veranlaßt worden bist, was Du nothwendig als eine Demüthigung empfinden mußt. Ich hätte es Dir unbedingt erspart, wenn ich davon gewußt hätte.“

Leo blickte überrascht auf; der Ton war ihm so neu wie die Rücksichtnahme auf seine Empfindungen von dieser Seite.

„Die Mama behauptet, Du seist in unserm Hause beleidigt worden,“ nahm er wieder das Wort. „Durch mich beleidigt, und deshalb müßte ich den ersten Schritt zur Versöhnung thun. Ich habe eingesehen, daß sie Recht hat. Du glaubst mir doch, Waldemar“ – seine Stimme nahm einen erregten Ton an – „daß ich ohne diese Ueberzeugung den Schritt nie gethan hätte, niemals?“

„Ich glaube Dir,“ war die kurze, aber bestimmte Antwort.

„Nun, so mache mir die Abbitte auch nicht so schwer!“ rief Leo, indem er jetzt wirklich die Hand ausstreckte, doch der Bruder wies sie zurück.

„Ich kann Deine Abbitte nicht annehmen. Weder die Mutter noch Du bist schuld an der Beleidigung, die mir in Eurem Hause widerfuhr. Sie ist übrigens bereits vergessen worden. Sprechen wir nicht mehr davon!“

Leo’s Erstaunen wuchs mit jeder Minute; er konnte sich in diese kühle Ruhe nicht finden, die er so gar nicht erwartet hatte. War er doch selbst Zeuge der furchtbaren Aufregung Waldemar’s gewesen, und jetzt lagen kaum acht Tage dazwischen.

„Ich glaubte nicht, daß Du so schnell vergessen könntest,“ erwiderte er mit unverstellter Betroffenheit.

„Wo ich verachten muß – allerdings!“

„Waldemar, das ist zu hart,“ fuhr Leo auf. „Du thust Wanda Unrecht; sie hat mir eigens aufgetragen, Dir –“

„Willst Du es mir nicht lieber ersparen, die Botschaft der Gräfin Morynska zu hören?“ schnitt ihm der Bruder das Wort ab. „Es handelt sich hier doch wohl um meine Auffassung der Sache, und die weicht durchaus von der Eurigen ab. Doch lassen wir das! – Die Mutter erwartet wohl nicht, daß ich ihr persönlich Lebewohl sage. Sie wird es begreifen, daß ich für jetzt noch ihr Haus meide und auch in diesem Herbste nicht nach Wilicza komme, wie wir ausgemacht hatten. Vielleicht im nächsten Jahre.“

Der junge Fürst trat mit finsterer Miene einen Schritt zurück. „Du wirst doch nicht etwa meinen, daß wir nach diesem Zerwürfnisse, nach dieser eiskalten Abweisung, die ich von Dir erfahren muß, noch Deine Gäste sein können?“ fragte er gereizt.

Waldemar kreuzte die Arme und lehnte sich an das Schreibpult. „Du irrst; von einem Zerwürfnisse zwischen uns ist keine Rede. Die Mutter hat jenen Vorfall in ihrem Briefe an mich auf das Entschiedenste mißbilligt. Du hast es durch Dein Einschreiten noch mehr gethan, und wenn mir noch eine formelle Genugthuung fehlte, so giebst Du sie mir jetzt durch Dein Kommen. Was hat denn überhaupt die ganze Sache mit Eurem Aufenthalt auf meinen Gütern zu thun? Du hast freilich dem Plane von jeher widerstrebt – ich weiß es. Weshalb?“

„Weil er mich demüthigt. Und was mir früher peinlich war, ist mir jetzt vollends unmöglich geworden. Mag die Mama beschließen, was sie für gut findet, ich setze keinen Fuß –“

Waldemar legte begütigend die Hand auf seinen Arm. „Sprich das nicht aus, Leo! Das übereilte Wort könnte Dir später einen Zwang auferlegen. Um Dich handelt es sich hier ganz und gar nicht. Ich habe meiner Mutter den Wohnsitz in Wilicza angeboten, und sie hat ihn angenommen. Es war das, wie die Verhältnisse nun einmal liegen, einfach meine Pflicht; ich kann und darf ihren dauernden Aufenthalt bei Fremden nicht zugeben, ohne mich selbst zu beschämen; es bleibt also bei dem Plane. Du gehst ja übrigens zur Universität und kommst höchstens in den Ferien nach Wilicza, um die Mutter zu sehen, und was sie mit ihrem Stolze vereinbar findet, wirst Du wohl auch ertragen können.“

„Aber ich weiß, daß es sich dabei um unsere ganze Existenz handelt,“ brach Leo aus. „Ich habe Dich beleidigt; ich sehe es jetzt ein, und da kannst Du doch nicht verlangen, daß ich alles aus Deiner Hand nehmen soll.“

„Du hast mich nicht beleidigt,“ sagte Waldemar ernst. „Im Gegentheil, Du allein bist wahr gegen mich gewesen, und wenn mich das im Augenblicke auch kränkte, jetzt danke ich es Dir. Du hättest nur früher sprechen sollen, aber freilich, ich konnte von Dir nicht fordern, den Denuncianten zu machen, und begreife, daß nur die Leidenschaft des Augenblicks Dich zu der Eröffnung fortreißen konnte. Dein Dazwischentreten hat ein Netz zerrissen, in welchem ich gefangen lag, und Du glaubst doch nicht, daß ich Schwächling genug bin, das zu beklagen? – Zwischen uns Beiden hat alle Feindschaft ein Ende.“

Leo kämpfte zwischen Trotz und Beschämung. Er wußte recht gut, daß nur seine eigene Eifersucht ihn angetrieben hatte, und fühlte seine Mitschuld um so tiefer, je mehr man ihn davon entlasten wollte. Er hatte sich auf eine heftige Scene mit dem Bruder gefaßt gemacht, dessen Ungestüm er hinlänglich kannte; jetzt stand er ihm völlig fassungslos gegenüber. Der junge Fürst war noch zu wenig Menschenkenner, um zu sehen oder auch nur zu ahnen, was sich hinter dieser unbegreiflichen Ruhe Waldemar’s barg und was sie diesem kostete; er nahm sie für Wahrheit. Was er aber klar empfand, war das Bemühen des Bruders, ihn und die Fürstin das Vorgefallene nicht büßen zu lassen, ihnen trotz alledem den Aufenthalt auf seinen Gütern zu ermöglichen. Leo wäre unter ähnlichen Umständen einer gleichen Großmuth vielleicht nicht fähig gewesen, aber eben deshalb fühlte er sie in ihrem ganzen Umfange.

[548] „Waldemar, es thut mir leid, was geschehen ist,“ sagte er, ihm freimüthig die Hand hinstreckend, und diesmal hatte die Bewegung nichts Gezwungenes mehr; sie kam aus vollem Herzen – diesmal ergriff der Bruder aber auch die dargebotene Rechte.

„Versprich mir, die Mutter nach Wilicza zu begleiten! Ich bitte Dich darum,“ fuhr er ernster fort, als Leo widersprechen wollte, „und wenn Du wirklich glaubst, mich beleidigt zu haben, so fordere ich von Dir diesen Dienst als Preis der Versöhnung.“

Leo senkte das Haupt; er gab den Widerstand auf. „Du willst also der Mutter nicht selbst Lebewohl sagen?“ fragte er nach einer Pause. „Das wird sie schmerzen.“

Ein unendlich bitteres Lächeln schwebte um Waldemar’s Mund, als er erwiderte: „Sie wird es zu ertragen wissen. Leb’ wohl, Leo! Es freut mich, daß ich wenigstens Dich noch einmal gesehen habe.“

Der junge Fürst blickte eine Secunde lang in das Gesicht seines Bruders, dann legte er wie in plötzlicher Aufwallung die Arme um seinen Hals. Waldemar duldete die Umarmung schweigend, aber er erwiderte sie nicht, und doch war es die erste zwischen ihnen.

„Lebe wohl!“ sagte Leo erkältet, indem er die Arme wieder sinken ließ.

Einige Minuten später rollte der Wagen, der den jungen Baratowski gebracht hatte, wieder aus dem Hofe, und Waldemar kehrte in das Zimmer zurück. Wer ihn jetzt sah, mit diesen zuckenden Lippen, mit den qualvoll gespannten Zügen und dem starren, düstern Blicke, der wußte, welche Bewandtniß es mit der Ruhe und Kälte hatte, die er während der ganzen Unterredung gezeigt. Sein tödtlich verwundeter Stolz hatte sich aufgerafft; Leo durfte nicht sehen, daß er litt, durfte am allerwenigsten das in C. berichten, jetzt aber bedurfte es der Selbstbeherrschung nicht mehr; jetzt blutete die Wunde wieder. Stürmisch und gewaltsam, wie der ganze Charakter Waldemar’s, war auch seine Liebe gewesen, das erste Gefühl, das sich in dem vereinsamten, verwilderten Jünglinge regte. Er hatte Wanda mit der vollen Gluth der Leidenschaft geliebt, aber auch mit der ganzen Anbetung der ersten reinsten Neigung, und wenn er auch nicht zu Grunde ging an dem Bewußtsein, sich verhöhnt zu wissen, die Stunde, in der sein Jugendideal ihm zertrümmert wurde, kostete ihn doch manches Andere – die Jugend selbst und das Vertrauen zu den Menschen.


Schloß Wilicza, das der ganzen zu ihm gehörigen Herrschaft seinen Namen lieh, bildete, wie schon erwähnt, den Mittelpunkt eines großen Gütercomplexes, der nicht weit von der Grenze des Landes lag. Wohl selten mochte sich ein so ausgedehntes Besitzthum in den Händen eines Einzelnen befinden, und noch seltener mochte es vorkommen, daß der Besitzer sich so wenig darum kümmerte, wie es hier der Fall war. Wilicza hatte von jeher der einheitlichen und einsichtsvollen Leitung entbehrt; der verstorbene Nordeck war eben nur Speculant und hatte als solcher sein Vermögen erworben. Den Großgrundbesitzer zu spielen verstand er weder in gesellschaftlicher noch in praktischer Hinsicht; er war fast gänzlich von seinen Beamten abhängig. Der Sorge für die einzelnen Güter und Vorwerke wußte er sich durch Verpachtung derselben zu entledigen; sie befanden sich noch jetzt in den Händen verschiedener Pächter, nur Wilicza selbst, sein eigener Wohnsitz, wurde davon ausgenommen und der Verwaltung eines Administrators übergeben. Der Hauptreichthum der Güter aber bestand in den ausgedehnten Forsten, die fast zwei Drittel der ganzen Herrschaft einnahmen und ein ganzes Heer von Forstleuten zur Aufsicht nöthig hatten. Sie bildeten einen eigenen Verwaltungszweig für sich, und aus ihnen hauptsächlich stammten die riesigen Einnahmen, die dem Besitzer zuflossen.

Der Vormund des minderjährigen Erben, der nach dem Tode Nordeck’s an dessen Stelle trat, hatte die sämmtlichen früheren Einrichtungen bestehen lassen, theils aus Pietät für den Verstorbenen, theils weil er sie für durchaus zweckmäßig hielt. Herr Witold war ein ganz vortrefflicher Landwirth für das nicht sehr bedeutende Altenhof, das er selbst bewirthschaftete und wo alle Details durch seine Hände gingen; den großartigen Verhältnissen Wiliczas zeigte er sich in keiner Weise gewachsen; ihm fehlte jeder Ueberblick, jeder Maßstab dafür. Er glaubte seiner Pflicht in vollstem Maße nachzukommen, wenn er die vorgelegten Rechnungen und Belege, die er natürlich auf Treue und Glauben hinnehmen mußte, möglichst sorgfältig prüfte, die eingehender Summen gewissenhaft im Interesse seines Mündels anlegte und im Uebrigen die Beamten schalten und walten ließ, wie es ihnen beliebte. Einen andern Besitzer hätte diese Art der Bewirthschaftung vielleicht ruinirt, dem Nordeck’schen Vermögen konnte sie keinen allzu großen Schaden zufügen, denn wenn dabei auch Tausende zu Grunde gingen, so blieben immer noch Hunderttausende übrig, und die großen Einkünfte der Herrschaft, von deren der junge Erbe nur zum kleinsten Theile Gebrauch machen konnte, deckten nicht allein jeden etwaigen Ausfall, sondern ließen auch das Vermögen selbst immer mehr anschwellen. Daß die Güter unter solchen Verhältnissen nicht das werden konnten, was sie in tüchtigen Händen geworden wären, stand fest, aber danach fragte der Vormund wenig und der junge Nordeck that es noch weniger. Er war sogleich nach seiner Mündigkeitserklärung auf die Universität und später auf Reisen gegangen und hatte Wilicza, das er überhaupt nicht zu lieben schien, seit Jahren nicht betreten.

Das Schloß selbst stand im schönsten Gegensatz zu den meisten Edelsitzen der Nachbarschaft, die mit wenigen Ausnahmen kaum den Namen von Schlössern verdienten, und wo oft genug ein gewisser äußerer Glanz, der man um jeden Preis festhalten wollte, den Verfall und die Verkommenheit nicht zu decken vermochte. Wilicza verleugnete auch in seiner äußeren Erscheinung nicht den alten Fürsten- und Grafensitz, der fast zwei Jahrhunderte überdauert hatte. Es stammte noch aus der Glanzepoche des Landes, wo die Allmacht des Adels mit seinem Reichthum Hand in Hand ging und seine Wohnsitze die Schauplätze einer Pracht und Ueppigkeit waren, wie sie unsere Zeit kaum mehr kennt. Das Schloß konnte nicht eigentlich für schön gelten und hätte vor einem künstlerischen Auge schwerlich Gnade gefunden. Der Geschmack, der es schuf, war unleugbar ein roher gewesen, aber es imponirte doch durch die Massigkeit seiner Formen und die Großartigkeit der ganzen Anlage. Trotz all’ der Veränderungen, die es im Laufe der Jahre erfahren hatte, war ihm doch sein ursprünglicher Charakter erhalten geblieben, und der mächtige Bau mit seinen langen Fensterreihen, mit dem weiten rasenbedeckten Vorplatz und dem großen waldartigen Parke hob sich, etwas düster zwar, aber doch imposant aus dem Kranze der prachtvollen Wälder, die ihn umgaben.

Nach dem Tode des früheren Besitzers hatte das Schloß lange Jahre hindurch einsam und verödet gestanden. Der junge Erbe kam nur äußerst selten in Begleitung seines Vormundes dorthin und blieb stets nur wenige Wochen da. Die Einsamkeit nahm erst ein Ende, als die ehemalige Herrin von Wilicza, die jetzige verwittwete Fürstin Baratowska, wieder dort einzog. Jetzt endlich wurden die so lange verschlossenen Räume wieder geöffnet, und die äußerst kostbare Einrichtung, mit welcher Nordeck bei seiner Vermählung Zimmer und Säle ausgestattet hatte, wurde erneuert und in ihrem ganzen früheren Glanze wieder hergestellt. Der jetzige Besitzer hatte seiner Mutter die sämmtlichen Einkünfte des Schloßgutes zugewiesen, für ihn ein nur unbedeutender Theil seines Einkommens und doch hinreichend, der Fürstin und ihrem jüngsten Sohne eine standesgemäße Existenz zu sichern, so weit sie auch den Begriff „standesgemäß“ auffassen mochte. Sie machte denn auch vollständigen Gebrauch von den Summen, die zu ihrer Verfügung standen, und ihre Umgebung und Lebensweise wurde auf einen ähnlichen Fuß eingerichtet, wie zu jener Zeit, wo die junge Gräfin Morynska als Gebieterin in Wilicza einzog und ihr Gemahl es noch liebte, vor ihr und ihren Verwandten seinen Reichthum zur Schau zu tragen.

Es war im Anfang des October; der Herbstwind strich schon rauh über die Wälder hin, deren Laub sich allmählich zu färben begann, und die Sonne kämpfte sich oft mühsam durch die dichten Nebel, welche die Landschaft einhüllten. Auch heute war es erst gegen Mittag klar geworden, und jetzt schien die Sonne hell in den Salon, der unmittelbar an das Arbeitscabinet der Fürstin stieß und den sie gewöhnlich bewohnte. Es war ein großes Gemach, hoch und etwas düster, wie die sämmtlichen Räume des Schlosses, mit tiefen Fensternischen und einem mächtigen Kamin, in dem bei der herbstlichen Kühle schon ein

[549]

„Ja, Bauer, das ist ganz was andres.“
Originalzeichnung von C. Beckmann in München.




Feuer loderte. Die schweren dunkelgrünen Vorhänge waren weit zurückgeschlagen, und das voll hereindringende Tageslicht zeigte die gediegene Pracht der Einrichtung, in der gleichfalls das dunkle Grün vorherrschte. Augenblicklich befanden sich nur die Fürstin und Graf Morynski dort. Der Graf kam mit seiner Tochter sehr oft von Rakowicz herüber, um dann auf Tage und Wochen Gast der Schwester zu sein, auch heute war er zu einem längeren Besuche eingetroffen. Man sah es ihm doch an, daß er um mehrere Jahre älter geworden war; das Haar zeigte sich stärker ergraut, und in die Stirn gruben sich noch einige Linien mehr, sonst hatte das ernste charakteristische Gesicht seinen früheren Ausdruck behalten. An der Fürstin dagegen war kaum eine

[550] Veränderung zu bemerken; die Züge der noch immer schönen Frau waren genau so kalt und stolz, die Haltung ebenso unnahbar wie früher. Obgleich sie schon nach Jahresfrist die tiefe Trauer um den verstorbenen Gemahl abgelegt hatte, trug sie doch stets noch schwarze Kleidung, und der dunkle, aber äußerst reiche Anzug kleidete die hohe Gestalt sehr vortheilhaft. Sie war in lebhaftem Gespräche mit ihrem Bruder begriffen.

„Ich begreife nicht, wie Dich diese Nachricht so überraschen kann,“ sagte sie. „Wir mußten längst darauf gefaßt sein. Mich wenigstens hat es stets befremdet, daß Waldemar seinen Gütern so lange und so consequent fern blieb.“

„Eben deshalb!“ fiel der Graf ein. „Er hat Wilicza bisher in beinahe auffallender Weise vermieden; weshalb kommt er jetzt auf einmal so plötzlich, ohne jede vorherige Andeutung? Was kann er hier wollen?“

(Fortsetzung folgt.)




Neue Indianerkämpfe.
1. Das Blutbad am Kleinen „Big-Horn“-Flusse.

Seit den wildromantischen Kämpfen gegen die Modocs in ihrer unzugänglichen Felsenburg inmitten der Bergwildnisse Oregons, die mit der völligen Vernichtung des Stammes und der Gefangennehmung ihres Häuptlings, Capitain Jack, endeten, schien sich die Lust zu größeren, organisirten Aufständen gegen die Regierung der Republik bei den Rothhäuten einigermaßen gelegt zu haben. Wenngleich einige Male ein Indianerkrieg drohte, so genügte doch die Entfaltung einer mäßigen Militärmacht, jedesmal das Feuer zu ersticken, ehe es weiter um sich greifen konnte; es blieb bei den alten Ruhestörungen, bei Ueberfällen einsamer Grenzbewohner, Ermordung schwacher Reisegesellschaften und gelegentlichen Scharmützeln mit kleinen Truppendetachements, alles Vorfälle, die, obwohl entsetzlich genug für die Betreffenden, dennoch zu alltägliche Ereignisse waren, als daß sie die Sympathie des großen Publicums tiefgehend zu erregen vermocht hätten. Erst im Laufe dieses Jahres zeigten sich, in Folge des Blackhill-Goldfiebers, schwerere Kriegswolken am westlichen Himmel, so daß im Frühjahr ein Feldzug gegen die Siouxstämme von Montana und Dakota vorbereitet und vor etwa einem Monate begonnen wurde. Das Alles absorbirende Interesse indessen, welches der Osten mit seiner Weltausstellung forderte, ließ es die Meisten fast vergessen, daß in den Wildnissen des fernen Westens eine brave, todesmuthige Schaar im grausamsten aller Kriege ihr Leben für die Civilisation und für den Frieden ihrer Mitbürger in die Schanze schlagen mußte, und als am vergangenen hundertjährigen Geburtstage der Republik froher Jubel das ganze Land erfüllte, da ahnte es wohl Niemand, daß unmittelbar nach dem Nationalfesttage die Kunde von einer Blutthat das Land erschüttern würde, welche in der langen Geschichte der Indianerkämpfe ihres Gleichen nicht gehabt hatte. Am 6. Juli blitzte der Telegraph die grause Nachricht nach allen Theilen der Republik, daß General Custer mit seinem ganzen Commando, über dreihundert Mann stark, in einem blutigen Treffen von den Sioux niedergemetzelt sei. Nicht ein Mann war entronnen, um die Nachricht von dieser Schreckensthat zu überbringen; erst die nachrückenden Truppen fanden die Leichen der Gemordeten, beraubt, scalpirt und scheußlich verstümmelt; nur aus der Beschaffenheit des Schlachtfeldes, der Gruppirung der Todten und aus ergänzenden Muthmaßungen vermochten sie die Geschichte der grausigen Tragödie zusammenzustellen, deren genauere Details kein Lebendiger jemals verrathen wird. Ein düsterer, häßlicher Schlagschatten auf den hellen Jubel des 4. Juli!

Es wird den Lesern der „Gartenlaube“ nicht entgangen sein, daß, seit im vorigen Jahre die Expedition der Regierung nach den Black Hills das Vorhandensein edler Metalle in jenen Bergen bestätigte, ein neues, unsinniges Goldfieber ausbrach, welches Tausende nach dieser von Indianern sehr unsicher gemachten Gegend trieb. Die „Schwarzen Berge“ waren uraltes Eigenthum der Rothhäute, der heilig gehaltene Begräbnißplatz mächtiger Stämme seit unvordenklichen Zeiten. Man erwartete folglich blutigen Widerstand gegen die Eindringlinge in ein Gebiet, das bis dahin noch nie von eines Weißen Fuß betreten worden war. Die Regierung beabsichtigte auch die Wilden in ihren Rechten zu schützen und verbot die Einwanderung von Goldgräbern, aber das Verbot wurde wenig beachtet. Die Folge waren blutige Schlächtereien, ein Guerillakrieg, in welchem die Weißen natürlich den Kürzeren zogen. Dies bewog die Regierung, Unterhandlungen mit den Häuptlingen der umwohnenden Stämme anzuknüpfen, indem die wachsende Aufregung derselben ernstere Conflicte befürchten ließ. Ein Vertrag mit „Sitting Bull“, dem großen Häuptling der mächtigen Siouxstämme, kam zu Stande, kraft dessen er sich verpflichtete, mit seinen Leuten nach der ihnen am oberen Missouri angewiesenen Reservation auszuwandern. Dies sollte bis bis spätestens Ende Januar dieses Jahres geschehen sein. Es geschah indeß nicht; im Gegentheil verband sich Sitting Bull mit mehreren Siouxstämmen, zog andere Indianer aus Wyoming und Colorado mit in das Bündniß und sammelte ein Heer wohlbewaffneter und gutberittener Krieger, dessen Stärke von Wohlunterrichteten auf mindestens viertausend Mann geschätzt wurde.

Zunächst um diesen Häuptling wegen Verletzung seines Vertrages zu züchtigen, wurde die Expedition dieses Frühjahr ausgerüstet. Sie war in drei Divisionen getheilt, deren eine von General Terry und unter ihm von den Generalen Custer und Gibbons befehligt wurde. Terry’s Operationsplan war in kurzem folgender: Das Lager der Indianer befand sich Ende Juni im südlichen Montana zwischen dem Big-Horn- und Rosebud-Flusse, die sich beide parallellaufend von Süden her in den Yellow-Stone-Fluß ergießen. Dieses sollte umzingelt und dann womöglich vernichtet werden. Gibbons’ Abtheilung, bei welcher Terry selbst sich befand, sollte an der Mündung des Big-Horn landen, dem Laufe desselben folgen und sich dann ostwärts gegen die Indianer wenden; Custer hatte Ordre, von der Mündung des Rosebud stromaufwärts zu marschiren, dann sich ostwärts gegen die Indianer zu wenden und nach seiner Vereinigung mit Gibbons, die am 27. Juni erfolgen sollte, das Lager mit der ganzen ungefähr tausend Mann starken Truppenmacht anzugreifen. Der Plan war derart, daß man diesmal mit Recht hoffen durfte, den Rothhäuten einen empfindlichen Schlag zu versetzen. Die Soldaten und ihre Führer ließen nichts zu wünschen übrig. In jahrelangem Grenzdienste hatten sie die Ränke und Schliche der Wilden gründlich kennen gelernt, und niemals marschirten bravere Männer gegen einen grausameren und heimtückischeren Feind.

In besonderem Maße galt dies von dem erst siebenunddreißig Jahre alten General Custer. Er hatte die Kriegsschule in Westpoint kaum absolvirt, als die Rebellion ausbrach, welche er von Anfang bis zum Ende durchmachte. In nicht weniger als sechszig Schlachten und Gefechten kämpfte er für die Union, stieg vom Range eines Secondelieutenants bis zu dem eines Generalmajors und war, als der Friede geschlossen wurde, einer der gefeiertsten Reiterführer der Armee, von seinen Soldaten vergöttert und wegen seiner todesverachtenden Kühnheit im ganzen Lande gefeiert.

Wie mit dem Schwerte, so war Custer auch mit der Feder ausgezeichnet. Seine Schilderungen des Kriegslebens auf den westlichen Prairien, das er im Grenzdienste gründlich kennen lernte, wurden stets mit Vergnügen von den Lesern der Magazine aufgenommen, deren Mitarbeiter er jahrelang war.

Am 22. Juni zu Mittag brach Custer mit seinem ganzen Regimente, aus zwölf erlesenen Veteranencompagnien bestehend, von der Mündung des Rosebud-Flusses auf, begleitet von einer Abtheilung indianischer Kundschafter. Er marschirte etwa zwanzig Meilen stromaufwvärts, das heißt südlich, bis er auf einen stark betretenen Indianerpfad traf, der genauer Recognoscirung zufolge westwärts nach dem Kleinen Big-Horn-Flusse führte, einem Nebenflüßchen des Big-Horn, der, von Südosten kommend, sich westwärts in denselben ergießt. Er schlug den Pfad ein und stieß nach einiger Zeit auf ein Indianerdorf oder Lager von ganz ungewöhnlicher Größe, das sich in einer Ausdehnung von drei Meilen am linken oder südlichen Ufer des Kleinen Big-Horn hinzog. Trotz der Größe des Lagers und der wahrscheinlichen bedeutenden Uebermacht [551] des Feindes beschloß der überkühne General den Angriff. Es war am Morgen des 25. Juni, also zwei Tage vor der verabredeten Vereinigung mit Terry und Gibbons. Custer selbst wollte mit fünf Compagnien drei Meilen stromabwärts am Ende des Dorfes dasselbe in der rechten Flanke fassen, während Major Reno mit drei Compagnien den Fluß überschreiten und auf dem linken Ufer den Feind angreifen sollte. Die übrigen vier Compagnien hatten sich letzterem bei ihrer Ankunft anzuschließen. Reno setzte durch das seichte Wasser und begann mit seinen tapfern Reitern den blutigen Gang. Im Galopp sprengten die Reiter in’s Lager hinein, und bald hatten sie, was sie suchten.

Wie Ameisen aus ihrem aufgewühlten Baue hervorstürzen, so wimmelte es im Nu von wilden rothen Gestalten, meist zu Pferd und gut bewaffnet, um das dem Verderben geweihte Häuflein. Löwenmuthig fechtend, häuften die Tapferen Leichen und Verwundete um sich her, aber auch die Kugeln der Wilden trafen nur zu gut. Es war nutzlose Arbeit. Einer nach dem andern sank todt oder verwundet nieder; die Zahl der Angreifer wuchs von Minute zu Minute; in kurzer Zeit mußten sie von der Uebermacht erdrückt werden. Da befahl Reno den Rückzug. Fechtend wurde das Buschwerk am Ufer des Flusses erreicht und der Uebergang begonnen. In diesem Momente trafen die drei Reservecompagnien auf dem Kampfplatze ein, und wohl sehend, daß jede Erneuerung des Angriffes Wahnsinn sein würde, schlossen sie sich Reno an und deckten seinen Rückzug. Am rechten Ufer, welches, hoch und steil abfallend, das linke weit überragt, wieder angelangt, befahl Reno Halt zu machen und ließ die Truppen absitzen, um in aller Eile eine nothdürftige Verschanzung auf einer der höchsten Stellen aufzuwerfen. Hier stieß die letzte noch zurückgebliebene Compagnie mit der Bagage zu ihm. Diese sieben schon arg decimirten Compagnien waren bald von einer zwischen ein- bis zweitausend Krieger zählenden Feindesschaar umgeben, die mehrere Punkte besetzt hatten, welche die von den Weißen eingenommene Stellung völlig beherrschten. Vor halb zwei Uhr Nachmittags des 25. bis zum Abend des 26. wurde der ungleiche Kampf fortgesetzt, der mit der totalen Vernichtung der Truppen geendet haben würde, wenn nicht noch rechtzeitig Hülfe eingetroffen wäre, durch welche die Indianer zum Abzuge bewogen wurden.

Wo war unterdeß Custer geblieben? Reno wußte nichts von ihm, die Entsatztruppen ebenso wenig. – Ehe sein Schicksal berichtet wird, mögen die Leser einige Tage zurückgehen, um den Bewegungen der Generale Terry und Gibbons zu folgen. – Am Abend des 24. Juni befand sich Gibbons’ Commando, aus fünf Compagnien Infanterie, vier Compagnien Cavallerie und drei Geschützen bestehend, auf der Südseite des Yellow-Stone-Flusses, nicht weit von der Mündung des Big-Horn in denselben. Terry, der dieses Commando selbst begleitete, befahl sofort den Marsch, der, bis die Nacht anbrach, fortgesetzt wurde. Am 25. marschirte die Colonne fünfundzwanzig Meilen den Big-Horn aufwärts über ein überaus schwieriges, ermüdendes Terrain, sodaß sie am Abend völlig erschöpft ein Lager bezog. Obwohl erst der 27. als Angriffstag bestimmt war, ließ es Terry keine Ruhe im Lager; er stellte sich selbst an die Spitze der Cavallerie und Artillerie und ritt noch in der Nacht mit seinen Getreuen dreizehn Meilen weiter bis an die Mündung des Kleinen Big-Horn, in dessen Nähe man die Indianer vermuthete. Hier wurde um Mitternacht Halt gemacht. Bei Tagesgrauen brachten die Kundschafter drei Indianer in’s Lager, die sich indessen als freundlich gesinnte Crows erwiesen; durch diese erhielt Terry die erste Nachricht von der unglücklichen Schlacht, ohne ihr jedoch rechten Glauben zu schenken; man konnte und wollte das Entsetzliche nicht glauben. Sobald die Infanterie, welche sehr früh aufbrach, eingetroffen war, setzte sich die ganze Colonne wieder in Bewegung, indem sie am linken oder südlichen Ufer des Kleinen Big-Horn hinaufmarschirte. Ohne Rast zogen die Soldaten den ganzen Tag durch das zerrissene, unwegsame Terrain; die Sorge um die Cameraden ließ ihnen keine Ruhe und machte sie die eigene Erschöpfung vergessen. Am südöstlichen Horizonte lag eine Rauchwolke; jedes Auge war unverwandt auf dieselbe gerichtet; man hoffte, sie sei ein Zeichen, daß Custer doch noch erfolgreich gewesen sei und das Dorf in Brand gesteckt habe. Kundschafter wurden vorausgeschickt, um sich mit Custer in Verbindung zu setzen, aber Indianerhaufen, die sich in immer größerer Anzahl vor der Front der anrückenden Colonne herumtrieben, zwangen sie zur Umkehr.

Von Custer und seinen Leuten zeigte sich keine Spur; die Unruhe Terry’s und der Seinen stieg von Stunde zu Stunde. Und abermals senkte die Nacht sich auf die todmüden Truppen herab, und nochmals mußten sie sich nach einem Tagesmarsche von dreißig Meilen durch die pfadlose Wildniß mit den Waffen in der Hand zu kurzer Rast niederlegen. Das Tageslicht mußte erwartet werden; wußte man doch nicht, wie nahe und in welcher Anzahl der tückische Feind sie bedrohte. Als am frühen Morgen des 27. der Marsch wieder aufgenommen wurde, begannen die Zeichen des stattgefundenen Kampfes sich zu zeigen und bei jedem Schritte sich zu mehren. Man erreichte eine Ebene, die sich etwa eine halbe Meile breit am linken Ufer des Kleinen Big-Horn hinzog. Hier hatte ein ungeheures Indianerdorf gestanden, mindestens drei Meilen lang; jetzt war es völlig verlassen. Mehrere Begräbnißplätze zeigten noch die Spuren der Ceremonie. Geschlachtete Pferde lagen um dieselben; in einer Loge wurden die Leichen von neun Häuptlingen gefunden. Der Boden war allenthalben mit Pferdecadavern, Monturstücken, Büffelhäuten und Provisionen, mit Waffen und Lagergeräthschaften aller Art bedeckt. Hier hatte der wilde Kampf getobt; man begann an die Nachrichten des vorigen Tages zu glauben. Bald stieß man auf mehrere Leichen, die trotz ihrer Verstümmelungen sofort als die von Officieren des Custer’schen Regiments erkannt wurden. Da sprengten Kundschafter auf schaumbedeckten Pferden mit der Meldung heran, daß Major Reno mit dem Reste des siebenten Cavallerie-Regimentes auf einer Höhe des rechten Ufers verschanzt sei und nach sechsunddreißigstündigem blutigem Kampfe auf Entsatz sehnlichst warte. Im Schnellschritte ging es vorwärts; bald war man der Stelle gegenüber, wo die kleine Heldenschaar erschöpft und blutend lag. Von Indianern war nichts mehr zu sehen; sie hatten sich schon am Abend des 26., wahrscheinlich durch Terry’s Anrücken erschreckt, mit Allem, was sie mitschleppen konnten, aus dem Staube gemacht. Terry sprengte sogleich mit einigen Officieren in den Fluß, und bald begrüßten sich Retter und Gerettete unter dem stürmischen Jubelgeschrei der Truppen. Vom Flusse bis zur Verschanzung waren alle Abhänge mit Menschenleichen und todten Pferden besäet; mitten unter ihnen fand man Reno mit zwölf Officieren und dem Reste von sieben Compagnien. Einige fünfzig Schwerverwundete hatte man in einer Vertiefung in der Mitte der Schanze, so gut es eben ging, gegen die Kugeln der Wilden und gegen die sengenden Sonnenstrahlen zu schützen gesucht.

Aber wo war Custer? Reno wußte nichts, und auch Terry und Gibbons hatten keine Spur außer einigen Leichen von seinen Cameraden gefunden. Man machte sich auf, ihn und seine Leute zu suchen. Sein Plan war gewesen, drei Meilen am nördlichen Ufer stromabwärts zu reiten, dann überzusetzen und das Dorf am westlichen Ende anzugreifen. Man zog also flußabwärts, und bald bot sich ein Anblick dar, der das Blut der an Gräuelscenen aller Art gewöhnten harten Grenzer fast gerinnen machte. Custer hatte offenbar versucht, den Uebergang über den Fluß zu erzwingen, war aber dabei von einer überwältigenden Macht angegriffen und auf die steilen Höhen des rechten Ufers zurückgedrängt worden. Zugleich mußte ihm der Rückzug und die Verbindung mit Reno abgeschnitten worden sein, sodaß den Umzingelten nichts übrig blieb, als ihr Leben so theuer wie möglich zu verkaufen, denn von einer Uebergabe im Sinne civilisirter Kriegsführung war hier selbstverständlich keine Rede. Die hart an’s Ufer herantretenden Höhen sind von tiefen Schluchten und Rissen durchfurcht, und hier lagen die Erschlagenen in Reih und Glied, wie sie gestanden und gefochten hatten, jede günstige Stelle zur Vertheidigung benutzend, bis kein Mann mehr übrig geblieben war, um Büchse und Säbel zu führen. In den engen Schluchten lagen Menschen und Pferde aufeinander geschichtet, die ersteren meist scalpirt und sonst gräßlich verstümmelt. Eine Compagnie nach der andern hatte sich vor den anstürmenden Feind geworfen und war bis auf den letzten Mann vernichtet worden. So hatte sich der Kampf immer höher hinaufgezogen, bis auf den höchsten Punkt des Ufers. Dort lag Custer selbst, umgeben von seinen zwei Brüdern, einem Neffen, den Obersten Yates und Cooke und Capitain Smith, Alle nur wenige Schritte voneinander, ihre todten Pferde an ihrer Seite. [552] Hier, hinter der letzten gefallenen Compagnie des Obersten Yates, hatte der brave General mit den letzten übrig gebliebenen Officieren seines Regiments noch einmal Stand gemacht, bis einer nach dem andern unter den Händen der wüthenden Wilden verblutet war.

Nicht eine Seele war entronnen, um die Geschichte dieser Blutthat zu erzählen, aber deutlicher und glühender, als es mit Menschenhand beschrieben werden kann, stand es auf den kahlen, felsigen Uferhöhen zu lesen, welch neues Opfer die nimmersatte Mordgier der rothen Teufel gefordert hatte, und beredter, als Menschenworte es aussprechen können, schrie das Blut der Gemordeten, das den Boden röthete, nach Rache. Zweihunderteinundsechszig Leichen wurden gefunden und am blutgetränkten Ufer des Kleinen Big-Horn begraben; die einundfünfzig Schwerverwundeten von Reno’s Commando schaffte man auf Tragbahren bis zur Mündung des Flusses, wo sie von einem zur Expedition gehörenden Dampfer aufgenonnnen und nach Fort Lincoln geschafft wurden.

Obwohl die Hauptmasse der Indianer, welche nach der Schätzung der Officiere sich auf drei- bis viertausend belaufen hatte, südwestlich nach den Big-Horn-Bergen gezogen war, schwärmte doch die ganze Gegend von Banden, welche die Bewegungen der Truppen beobachteten, um bei der geringsten Nachlässigkeit derselben den Angriff zu erneuern. Gibbons’ Cavallerie folgte den Wilden eine Strecke von zehn Meilen, bis sie sich von ihrem einstweiligen Abzuge überzeugt hatte. Die Zahl der todten Rothhäute war schwer zu ermitteln, da sie, wenn irgend möglich, ihre Gefallenen stets mitschleppen; doch dürfte ihr Verlust kaum geringer als derjenige der Truppen gewesen sein. Nur wenige Todte wurden in den Schluchten versteckt gefunden, unter diesen mehrere Arapahoes und Cheyennes, ein Beweis, daß auch weiter südlich wohnende Stämme sich Sitting Bull und seinen Sioux angeschlossen hatten.

Was die eigentliche Ursache dieser grauenvollen Katastrophe war, wird wahrscheinlich nie völlig aufgeklärt werden. Daß der Angriff Custer’s mit seinen fünf- bis sechshundert Mann gegen einen sechsfach überlegenen Feind verfrüht war, steht fest, denn die Ordre Terry’s lautete, bis zur Vereinigung mit Gibbons, die frühestens am 27. erfolgen konnte, zu warten. Vielleicht fürchtete Custer, die Indianer würden ihm entschlüpfen, wenn er wartete, vielleicht waren Umstände vorhanden, die ihm einen Angriff nothwendig erscheinen ließen. Seine bekannte Kühnheit ließ ihn dabei wohl die Kriegstüchtigkeit der Sioux unterschätzen, und gewiß war die Hoffnung, durch einen entscheidenden glorreichen Sieg dem wilden Kriege ein schnelles Ende zu machen, für einen Mann, dem kriegerischer Ruhm und Ehre das Höchste war, eine starke Versuchung. Sei dem wie ihm wolle: sein Mund ist stumm wie der seiner tapferen Genossen. Hat er einen Fehler begangen, so hat er ihn schwer gebüßt und mit seinem Herzblute gesühnt; das Volk der Republik, dem er so treu gedient, wird seiner nur gedenken als des braven Soldaten und Patrioten; ihm so wie seinen gefallenen Kampfgenossen wird willig und dankbar ein Platz unter den Helden der Republik eingeräumt werden.

In Washington verursachte die Kunde eine große Sensation. Eine Conferenz des Präsidenten mit dem Kriegsminister und dem General der Armee Sherman wurde augenblicklich berufen, da ein allgemeiner Indianerkrieg fast unausbleiblich scheint. Zu gleicher Zeit wurde eine Bill im Senat eingebracht, welche den Präsidenten autorisirt, fünf Regimenter Freiwillige aus den Grenzern der westlichen Staaten und Territorien auszuheben, um die regulären Truppen zu verstärken. Einstweilen wird General Terry’s Truppenmacht durch verschiedene Detachements auf zweitausend Mann gebracht werden, mit welchen er für’s Erste im Stande sein dürfte den Feind zu verfolgen oder wenigstens im Schach zu halten. Die Aufregung und Erbitterung namentlich im Westen ist selbstverständlich groß, und das Verlangen allgemein und dringend, daß die Regierung doch endlich einmal ihre gefährliche, verderbenbringende Indianerpolitik aufgeben und diejenigen Stämme wenigstens, welche sich der Cultur und den Gesetzen durchaus nicht beugen wollen, der Controlle des unseligen Indianerbureaus entziehen und dem Kriegsdepartement zur Züchtigung übergeben möge. Dies Letztere dürfte gleichbedeutend mit Ausrottung sein; die Truppen werden wenig Umstände mit den Mördern ihrer Cameraden machen, wenn ihnen nur freie Hand gelassen wird. Und wehe den Rothhäuten, die in die Hände der ergrimmten Grenzregimenter fallen! Es wird dann heißen: Auge um Auge und Zahn um Zahn; die Abrechnung wird eine blutige werden.

Welche Hindernisse der Armee bisher von der Regierung selbst in den Weg gelegt worden sind, zeigt eine Aeußerung General Sherman’s, welche er bei Gelegenheit dieser letzten Metzelei machte: „Ich habe,“ sagte er, „jeden Mann, den ich entbehren konnte, nach Montana geschickt; die Regierung aber beurtheilt die Verhältnisse in jenen Gegenden nach ihrer eigenen Weisheit. Sie befiehlt eine Expedition, und wir thun das Aeußerste mit dem Material, das sie uns giebt. Wir sind nicht in der Lage, mit demselben das auszuführen, was von uns gefordert wird.“ Hätte General Sherman statt des „Hofkriegsraths“ in Washington unumschränkte Vollmacht, Freiwillige auszuheben und auszurüsten, dann würde mit Sitting Bull und seinen Banden ein schnelles Ende gemacht werden. Und mit ihm würde die Gefahr eines allgemeinen Indianerkriegs beseitigt sein, denn wie er seit Jahren die Seele und der Mittelpunkt aller Indianerunruhen und -Aufstände gewesen ist, so ist er auch jetzt der Leiter der weitverzweigten Verschwörung gegen den Frieden der westlichen Territorien. Sein Tod oder seine Gefangennehmung würde der ganzen Bewegung die Einheit und den Zusammenhalt nehmen und eine schleunige Unterwerfung der einzelnen Stämme wahrscheinlich zur Folge haben.

Das erste Jahrhundert der Republik hat mit einer Katastrophe geschlossen, wie sie die Jahrbücher dieser blutigen Kämpfe bisher nicht aufzuweisen gehabt haben. Möchte es doch eine der ersten Arbeiten der Republik im zweiten Jahrhundert ihrer Existenz sein, das Land von der Indianerpest zu reinigen, die schon so viele Millionen verschlungen und so viele Tausende kostbarer Menschenleben zum Opfer gefordert hat! Denn erst wenn dies geschehen, wird es dem Pionier des Westens möglich sein, in Ruhe und Sicherheit unter dem Schutze der Gesetze der Republik zu leben.




Kaisertage der Mainau.
Von Georg Horn.

„Die Welt ist vollkommen überall, wohin der Engländer und Amerikaner nicht kommt mit seiner Qual,“ rief ich parodirend aus, als ich mich nach einer kurzen Tour in der Schweiz wieder auf deutschem Boden fühlte. Die Angehörigen der zwei genannten Nationen hatten mich aus dem Paradiese vertrieben. Ich athmete wieder auf, als die langen Füße der Engländerinnen, die schlechten kleineren der Amerikaner mein ästhetisches Gefühl nicht mehr beleidigten, das „O Yes – very nice!“ mich nicht mehr in convulsivische Aufregung versetzte. Ich suchte im „Hecht“ in Constanz ein Plätzchen zum Ausruhen, mit vieler Mühe. Die Reise-Saison war im Schwunge – das alte wohlbekannte Gasthaus gefüllt. Man hörte kein Englisch, aber dafür desto mehr Französisch, und an der Table d’hôte sowohl wie vor dem Hause sah man Gestalten, wie man sie sonst nur auf den Boulevards in Paris zu sehen gewohnt ist, Herren mit dem üblichen Napoleonischen Schnurr- und Knebelbarte, mit dem rothen Bouton der Ehrenlegion im Rocke von Gayteuil oder Dufantry – das Fremdenbuch war mit Namen von französischen Vicomtes, Barons und Generalen gefüllt.

„Wie kommt es, daß so viele Franzosen hier sind?“ fragte ich den Wirth.

„Die Kaiserin Eugenie ist in Arenenberg,“ wurde mir zur Antwort. „Die Herren sind Bonapartisten, die hierher kommen, um ihr die Huldigungen ihrer Treue und Ergebenheit darzubringen. Die Herren kommen jedes Jahr um diese Zeit.“

So gingen die Anhänger der Stuarts von England einst [553] nach Saint Germain zu ihrem vertriebenen Könige Jakob dem Zweiten; so wandern die Legitimisten heutigen Tages nach Frohsdorf zu Henri dem Fünften; so ist das Ziel der Bonapartisten Arenenberg, wo Eugenie, wie einst ihre Schwiegermutter, die Königin Hortense, spätere Herzogin von Saint Leu, ihrer frühern Herrlichkeit nachweint. Ich ließ mich durch die Bonapartisten in meiner Constanzer Ruhe nicht stören. Ich sah mir das alte Kaufhaus an, in dessen Saale das Kostnitzer Concil war abgehalten worden, die Fresken, die dasselbe darstellen. Auf einer derselben, die den Einzug des Papstes in Constanz versinnbildlicht, geht Friedrich von Hohenzollern neben dem Pferde des Papstes her und führt dasselbe am Zügel.


Die Riesentropfsteinsäule in Letmathe bei Iserlohn.


Als Kaiser Wilhelm vor mehreren Jahren den Saal besuchte, soll er, wie die Fama berichtet, mit Hinweis auf seinen Vorfahren bemerkt haben: „Heutzutage thät’ er es nicht mehr.“ Nicht weit entfernt von dem Kaufhause ist die Stelle, von wo aus der große Weg des Hauses Hohenzollern in die Weltgeschichte beginnt. Doch da die Gartenlaube schon mehrmals und erst noch jüngst über den Act der Belehnung des Burggrafen Friedrich von Nürnberg mit der Mark und Kur Brandenburg, ebenso über das Concil und die Kerker- und Todesleiden des Huß genügend berichtet hat, so dürfen wir an diesen Geschichtsdenkwürdigkeiten der Stadt und auch an des edlen, ebenfalls schon gefeierten Wessenberg Amtswohn- und Sterbehaus jetzt vorübergehen, um uns ganz der Gegenwart hinzugeben.

Wie können hier, im Angesichte der wunderbarsten Natur – ruft man unwillkürlich aus – wie können andere Gedanken als die des Friedens, der Milde, der Liebe und Erhebung die Menschenseele erfüllen, beherrschen und leiten? Dieser See, hingestreckt in das fruchtbarste, üppigste Land – auf der einen Seite die ewige Alpenwelt, auf der anderen lachende Ufer – Gelände voll Obst und Wein, reiche Dörfer und Städte, alte Burgen, prächtige Landsitze! Wer kann es den Herren von der Clerisei verdenken, daß sie sich zur Betrachtung der himmlischen Dinge auf Erden die wonnigsten Plätzchen aussuchten, wer den Fürsten der Gegenwart, daß sie die alten Klosterpaläste und Capitelshäuser in ihre Residenzen umwandeln?

Die Insel Mainau ist ein solcher Fürstensitz geworden.

Bis zur Aufhebung aller geistlichen Ritterorden war sie eine Commende des deutschen Ordens, der hier „im festen Haus“ einen Comthur sitzen hatte; dann befand sie sich einige Zeit im Privatbesitze, bis sie im Jahre 1853 in die Hände des damaligen Regenten, des Prinzen Friedrich, jetzigen Großherzogs von Baden, überging. Ueber dem Thorwege, der zum inneren Schloßhofe führt, hat er sein Wappen in die Mauer einfügen lassen, nicht das seiner fürstlichen[WS 1] Gewalt, sondern das eines einfachen Ritters, der hier entfernt von Geräusch und Prunk der Welt im Anschauen und Genuß der Natur, sich Herz und Geist erfrischen, als ein Bürger unter den Bürgern seines Landes wohnen will.

„Im Juli kommt der Großherzog mit der Großherzogin und den Kindern, dann werden die Zimmer im zweiten Stocke neben dem großen Saale hergerichtet, und die Großherzogin rückt wohl selbst die Stühle und gießt die Tinte in das große Schreibzeug auf dem geschnitzten eichenen Schreibtische, und dann fährt sie mit ihren Manne nach Constanz und holt den Herrn Vater vom Bahnhofe ab und dann – nachher sind sie eben sehr gut und gemüthlich beisammen auf der Mainau. Ja, Herr, unser Schwiegervater ist der deutsche Kaiser.“

So erzählte mir ein Bürger aus Constanz, mit dem ich den Weg nach der Mainau ging. Wir wanderten durch einen prächtigen Wald, der Stäck genannt, der die Grenzscheide zwischen dem Unter- und dem Ueberlingersee bildet, der sich auch der Bodmansee nennt. Beim Heraustreten aus dem Forste hat man die Insel von der Südseite vor sich. Doch kann man nicht sagen, daß sie hier ihr schönstes Bild bietet; sie flacht sich nach der westlichen Seite ab; man sieht Gärten und Weinberge, auch einzelne Wirthschaftsgebäude aus den Baumwipfeln aufsteigen, rechts und links den blauen See, der hier vor uns die Insel durch einen schmalen Seearm vom Lande abtrennt. Ehe wir jedoch die stattliche Brücke betreten, die nach der Insel hinüberführt und in deren Mitte ein metallenes Kreuz mit den beiden Schächern – eine Arbeit des sechszehnten Jahrhunderts – sich erhebt, ist es vielleicht am Ort, daran zu erinnern, daß wir hier an dem Seeufer uns auf der äußersten Grenze des deutschen Reiches nach Süden zu befinden. Denn vor den Thoren von Constanz ist die Grenze zwischen der Schweiz und Deutschland.

Die ganze Insel Mainau hat nach der sorgfältigen Monographie des Dr. Meners in Constanz einen Flächeninhalt von hundertzehn badischen Morgen; der Umfang mag eine halbe Stunde betragen. Man kann nach diesen Zahlen also nicht wohl behaupten, daß der Großherzog damals einen schlechten Kauf gemacht habe. Wenn man im Vorübergehen auch nur einen flüchtigen Blick auf die Cultur des Bodens wirft, muß man die Ueberzeugung gewinnen, daß der jetzige Eigenthümer sich auf die rationelle Bewirthschaftung desselben sehr wohl versteht. Der Großherzog scheint den größeren Theil der Mainau zu einem landwirthschaftlichen Versuchsfelde im Kleinen bestimmt zu haben. Dadurch wird man, ich muß es gestehen, beim Betreten der Insel etwas enttäuscht; man hat von hohen landschaftlichen Reizen gehört; mein Begleiter hatte noch dazu meine Illusionen durch seine Schilderungen verstärkt, und nun sieht man rechts [554] und links und vor sich auf dem sanft ansteigenden Wege Stücke von Feldern und Wiesen, von Gärten und Weinbergen, was allerdings für einen Oekonomen recht hübsch und lohnend ist, wenn man eben nicht mit der Prätension käme, einen schönen fürstlichen Landsitz zu sehen, einen großartigen Ueberblick über den See zu haben.

Allerdings sollte ich beschämt werden.

Durch einen gewölbten Thorweg trat ich im Verfolgen meines Weges auf ein weites Plateau, das von drei Seiten von prachtvollen Gartenanlagen umgeben ist; nach Osten hin schließt es ein imposanter Schloßbau ab, der aus einem Mittelbau und zwei Seitenflügeln besteht; daneben ist die Kirche gelegen. Die Gebäude sind von röthlichem Sandstein in jenem Magnificenzstyle aufgeführt, den die Jahreszahl 1746 andeutet. Ueber dem Erdgeschosse bauen sich zwei Etagen auf; im zweiten Stocke befindet sich ein Balcon, und oberhalb desselben begrüßen wir die Wappen der Bauherren, des Hochmeisters des deutschen Ordens, des Herzogs Clemens August von Bayern, Kurfürsten von Köln, des Landcomthurs Grafen von Froberg und des Comthurs in der Mainau, des Freiherrn von Baden; das ist die nach dem Schloßhofe gehende Seite. Man ist mit dem Schlosse indeß bald fertig; der Blick geht auf die entzückenden Blumenbosquets zurück, die sich um das Schloß gruppiren. Das Grün und die Blumen erscheinen hier in erhöhter Farbenpracht; vielleicht ist es die Seeluft – die Luftwelle rings ist Duft und Aroma. Als ich mit meinem Begleiter den Schloßhof betrat, war im Schlosse eine gewisse Bewegung; die Lakaien rannten von einem Schloßflügel zum andern. Vor dem Eingange des Südflügels war ein Teppich die Stufen hinab bis auf den Boden gelegt, und ab und zu erschien ein Bediensteter des Hofes, den Blick forschend nach dem Thorwege richtend. Ein Herr von kräftiger Statur, wenn auch nicht sehr groß, mit blondem Vollbart, in schwarzem Frack und hellen Beinkleidern, erschien in der Thür und sprach mit einem ältern Herrn von hagerer Gestalt, der eine Brille trug.

„Der mit dem Vollbart ist unser Großherzog,“ flüsterte mir mein Begleiter, der mich auf kurze Zeit verlassen hatte, zu, „und der andere, das ist der Gemmingen, der Hofmarschall. Ich hab’ mich bei einem Lakaien erkundigt. Wissen Sie, was los ist? Die französische Kaiserin, die Eugenie, kommt von Arenenberg, drüben vom thurgauischen Ufer, zum Besuch.“

„Ah, das ist ja sehr interessant.“

„Sehen Sie, und die Dame, die jetzt zu unserem Großherzog tritt, das ist unsere Großherzogin.“

Er fragte mich, ob das nicht noch „ä schee Frauche“ wäre?

Ich kannte die hohe, edle Gestalt der Großherzogin mit dem milden anmuthigen Gesichte von Berlin her. Sie trug ein schwarzseidenes Kleid, das mit gelblichen Spitzen garnirt war. In demselben Augenblicke rollte eine Equipage durch den Thorweg auf den Schloßhof, auf den Eingang zum Schlosse zu. Der Hofmarschall trat auf die unterste Stufe; das großherzogliche Paar stand vor dem Eingange, die beiden Kinder, Prinzessin Victoria und Prinz Victor, zur Seite. Im Vestibule sah man Herren und Damen des Hofes. Die Equipage war dunkelgrau; Kutscher und Diener auf dem Bocke waren ganz in Schwarz gekleidet. Aus dem Wagen stieg eine Dame, von Kopf bis zu Fuß in schwarze Wolle und schwarzen Krepp gehüllt. Der Großherzog und die Großherzogin gingen ihr entgegen und begrüßten sie. Es war die Wittwe Napoleon’s des Dritten; sie trug um den Gatten noch die tiefe Trauer, ebenso wie ihre Begleitung, eine Hofdame und jener bekannte Corsicaner Pietri, erst Cabinetschef, dann Polizeipräfect unter dem Kaiserreiche und nun dienstthuender Kämmerer der Wittwe seines früheren Herrn. Ich hatte vorher die Kaiserin nie gesehen; ich hatte mir in ihr eine imposante Erscheinung vorgestellt und sah nun vor mir eine kleine Frau, aber sie war von einer unendlichen Grazie in den Bewegungen. Ich hatte so sehr gewünscht, ihr Gesicht zu sehen, aber leider schlug sie den Schleier nicht zurück.

Der Zug setzte sich die Treppe hinauf, in die Gemächer des großherzoglichen Paares in Bewegung. Das Treppenhaus, die Corridore sind mit alten Gobelins aus dem neuen Schlosse von Meersburg, mit alten Schränken, Truhen, Gefäßen, Bildern in der reizvollsten Weise decorirt. Die Kaisern, in der Mitte des großherzoglichen Paares gehend, warf ab und zu einen Blick auf dieselben und machte anerkennende Bemerkungen in Französisch, das sie mit sehr hoher Stimme sprach. Dann schlossen sich hinter den drei hohen Persönlichkeiten die Thüren der Privatwohnung des großherzoglichen Paares. Nach etwa einer halben Stunde kamen die Herrschaften wieder zum Vorschein – die Kaiserin immer verschleiert –, um sich in den eine Treppe höher gelegenen Ordenssaal zu begeben. Dort, wo sie von ihrer Begleitung erwartet wurden, war ein Imbiß aus Wein, Früchten, Eis und Kuchen servirt. Die Kaiserin nahm davon Einiges, trat auf den Balcon, der einen Blick auf den See gewährt, bewunderte die Aussicht, den Saal, der eben restaurirt war, ließ sich mehrere Persönlichkeiten des badischen Hofes, die sie noch nicht kannte, vorstellen und gab sich unbefangen und lebhaft. Von dem tragischen Schicksale, das hinter ihr lag, sprachen nur diese schwarzen Gewänder und die wenn auch nur leisen Furchen ihres Gesichts.

Sie hatte hier im Saale den Schleier auf kurze Zeit zurückgeschlagen. Endlich! Das Gesicht hatte seine schönen Linien noch nicht verloren. Wenn mich im ersten Augenblicke etwas störte, so war es das in die Stirn hängende, abgeschnittene Haar, wie es unsere jungen Damen tragen. Aber diese haben es, wie mir später erklärt wurde, der Kaiserin nachgeahmt, diese trug es zuerst als Trauer, als Wittwentracht, unsere weibliche Jugend hat eine Coquetterie daraus gemacht. Nach eingenommenem Imbiß machten die Herrschaften mit ihrer Begleitung noch einen Spaziergang durch die Gärten am Schlosse, dann fuhr der Wagen wieder vor. Der Großherzog überreichte seinem Besuche ein Bouquet von Rosen, die Kaiserin umarmte die beiden Kinder des fürstlichen Paares, verneigte sich gegen den ganzen Hof mit einer Grazie, die nur einer Spanierin eigen ist, und nun rollte der Wagen wieder davon, dem Schweizerufer zu. Es war Napoleon’s Campagnewagen von Sedan.

Die Ostseite des Schlosses macht den Reiz dieses Patmos des Bodensees aus. Die Hauptfronte des Schlosses geht nach dem See hinaus; über dem hohen Balcon sieht man noch das schwarze weißgeränderte Kreuz der Deutschordensherren, dasselbe Kreuz, welches in den Jahren 1813 und 1870 in dem eisernen Kreuze wieder erstanden ist. Unmittelbar vor dem Schlosse fällt die Insel in einem schroffen, jähen Abhang in den See hinab. Auf wohlgepflegten Wegen, durch lauschige Gänge von Laubholz und Tannen steigt man bis hinab an den Rand der Insel, bis an den Hafen, in dem einst die Parade-Gondel des Comthurs mit dem schwarz-weißen Baldachine lag. Welch buntes Farbenspiel mag das einst gewesen sein, wenn die Pavillons und Baldachine aller der kleinen Seesouveräne auf Spazierfahrten sich begegneten! Es waren nicht wenige und meistens geistliche Fürsten, die wohl zu schätzen wußten, wo gut Wein und Korn wächst. An schönen, linden Sommerabenden, wenn die blaue Welle des Sees sich im leichten Spiele kräuselt und schmeichelnd an den Nachen sich drängt, fährt von hier nicht selten ebenfalls eine stattliche Barke hinaus in den See; die Wimpel flattern im Winde, die gelbrothen des Zähringer Stammes und von Baden, und über diesen, stolz in den Lüften sich blähend und bauschend, die deutsche Kaiserflagge. Das Schifflein, das auf ruhiger Bahn dahingleitet, trägt den Kaiser, und mit größerem Rechte als jener stolze Römer kann dieser sagen: du trägst den Cäsar und sein Glück. Denn das Glück, das hier auf dem engsten Raume, im trautesten Familienzusammensein sich vereint findet, hat jener Cäsar, von dem das Wort stammt, nicht gekannt. Wenn man eine Insel still verborgenen Glückes schildern, schaffen wollte, man müßte das Abbild von dieser nehmen. Welche wunderbaren, stillen, heimischen, von Laub umhegten, überwölbten, von Moos und Epheu überwucherten Plätzchen! Ueberall Feld, Wald, Wasser. Der äußerste Rand der Insel bildet einen Weg um dieselbe – der entzückendste Spaziergang, grünes Laubdunkel, die Welle, die den Fuß des Gehenden fast bespült, dann plötzlich ein Glitzern von Silberstreifen durch das grüne Gehege, eine Oeffnung, ein Bild auf Dörfer, Städte, Schlösser und Berge! Steigt man höher, wieder zum Schlosse zurück, dringt Einem der üppigste Blumenduft entgegen; die Terrassen um das Schloß sind in Blumenparterres, in Blüthengehege verwandelt, aus denen weiße Marmorstatuen und Vasen sich erheben; man glaubt sich nach Ischia, nach Isola Bella versetzt, und diese kennen zudem den deutschen Wald nicht – die Mainau ist weit schöner als diese. Nicht weit vom [555] Schlosse ist ein rings wie in ein Geheimniß eingeschlossenes Plätzchen, still, wie eine befriedigte Seele, und poetisch, als wäre es aus einem tiefen Frauengemüth entstanden: eine Ruhebank von Stein und Moos und zur Seite auf einer Marmorsäule die Erzbüste desjenigen, dem die Schloßherrin das Plätzchen geweiht hat. Die Büste stellt den Kaiser Wilhelm dar, den Vater der Großherzogin.

Von der einstigen prächtigen inneren Einrichtung des Schlosses ist nicht viel mehr übrig. Nach dem Todte des letzten Comthurs (1819) hatte sich Alles zerstreut. Man weiß in solchen Fällen nie recht, wie das geschieht; man sieht nur endlich, daß nichts mehr da ist. Die ganze Einrichtung des Schlosses ist neu. Es befinden sich, namentlich auf den weiten Corridoren des ersten und zweiten Stockwerkes, recht viele alterthümliche Gegenstände, alte Wandteppiche aus dem neuen Schlosse von Meersburg, Bilder, Uhren, Schränke, Waffen, Geschirr in jeder Form und aus jedem Stoffe, aber das war Alles erst, wie man mir sagte, durch die Großherzogin zusammengebracht worden. Derartige Sachen sind ihre Passion, und sie ist unablässig bemüht, diese Sammlung zu vervollständigen und ihr Inselschloß damit zu schmücken. Der Räume, welche das großherzogliche Paar bewohnt, sind sehr wenige, etwa vier oder fünf, darunter zwei größere Salons, welche der Großherzog mit der Großherzogin theilt; die Schreib- und Arbeitstische des fürstlichen Paares befinden sich in einem derselben hart nebeneinander. Man sieht daraus, daß dasselbe in wahrhaft bürgerlicher Weise zusammenwohnt. Dem entspricht auch die Einrichtung; sie ist bequem, elegant, aber ohne jeden Luxus; man sieht viele Bücher und Zeitungen. Für Verhandlungen in Landessachen und für Geschäftsvorträge hat der Großherzog einen abgesonderten Raum, der an diese Zimmer stößt. Für gesellige Vereinigung dient des Abend die in englischem Geschmacke eingerichtete Halle; diese nimmt einen Theil des Erdgeschosses des Mittelgebäudes ein; aus ihr tritt man unmittelbar hinaus in das Freie.

In den letzten Jahren sind für Frühstück und Thee einige Zimmer im Geschmacke des vorigen Jahrhunderts restaurirt und eingerichtet worden; die Wände sind in weißem Lack mit Arabesken und Füllungen von stumpfen, gebrochenen Farben gehalten, Vorhänge und Möbel von elsässischem Kattun; an den Wänden sieht man Figurengruppen von altem Porcellan. Zur fürstlichen Repräsentation ist der hohe, weite Ordenssaal gemacht, in welchem einst der Ordenscomthur den Hochmeister oder seine Gäste empfing und in welchem die Wittwe Napoleon’s des Dritten die Erfrischungen einnahm. Der Saal ist ebenfalls vor einigen Jahren im Geschmacke der Zeit seiner Erbauung wieder hergestellt worden. Die Wände sind weiß, die Verzierungen in Gold; mitten in dieser Einfachheit sind die leuchtenden Farben der Möbel und zweier lichtblauen Blumentruhen von englischem Porcellan von brillantem Effecte. Dieser Raum dient als Speisesaal. An ihn reihen sich die Zimmer für die fürstlichen Gäste an; rechts davon liegen die Gemächer, die der Kaiser alljährlich zu bewohnen pflegt, über denen der Großherzogin. Der Kaiser pflegt zwischen der vollendeten Cur in Ems und der beginnenden von Gastein hier in der Mitte der Seinigen einen Ruhepunkt zu machen. Er kommt nur mit kleiner Umgebung; einige Flügeladjutanten, der Geheime Cabinetsrath, der Arzt und die Leibbedienung machen das ganze Gefolge aus. Frau Etiquette wird nicht mit nach der Insel genommen. Des Kaisers Schreibtisch steht am Fenster, und wenn er das Schreibzeug in der Stellung, wenn er das Papier, alle Utensilien in der Ordnung vorfindet, wie er das gewöhnt ist, dann weiß er schon, welche Hand hier sorgend, liebend gewaltet hat.

Wenn der Kaiser, vom Arbeiten vielleicht ermüdet, den Blick hinaus wendet, dann gleitet derselbe über die weite, von Schiffen und Fahrzeugen belebte, blaue Fläche des Sees hinweg. Links legt sich behaglich wie eine alte Reichsstadt die Stadt Ueberlingen aus. Dort am Ende des Ueberlingersees lag die königliche Pfalz Bodman; weiter steigen die Mauern von Montfort aus dem Wasser; dahinter kommen die altersgrauen Ueberreste der alten Königsresidenz der Meersburg zum Vorschein – überall bieten sich dem Blicke Städte, Dörfer, Wald und Flur zum köstlichsten Bilde, und im Hintergrunde steigt die Alpenwelt in ihrer ganzen wunderbaren Kette schnee- und eisbeglänzt in den Himmel empor. Wo kann es ein herrlicheres Plätzchen deutscher Erde geben, als hier an des deutschen Reiches Grenze? Keine andere Empfindung kann ein Herrscher über dasselbe in dessen Anschauen und Fühlen haben, als sie an einer Stelle im Parke durch den Spruch ausgedrückt ist:

Deutsches Haus, deutsches Land
Schirme Gott mit starker Hand!




Die Mainau hat, als geweihte Heimstätte fürstlicher Familienliebe, in jüngster Zeit ein Fest erlebt, das eine schmückende Erinnerung der Insel bleiben wird und über das deshalb dem vorstehenden Artikel eine Kunde angefügt werden muß.

Auch in diesem Jahre flog das Schifflein von Mainau über den See, um den Enkeln ihren Großvater herüberzutragen. Während Kaiser Wilhelm die schönen Tage seines stillen Glücks genoß, war es eine eifrige Sorge der Officiere der in Constanz garnisonirenden Bataillone, ihren Kriegsherrn mit einer militärischen Huldigung zu überraschen. Da es dem Kaiser galt, so waltete auch über ihrem Wunsche – das „Kaiserglück“. Zwei Dichter am Bodensee, Scheffel und Gustav von Meyern-Hohenberg, jener in Radolfzell, dieser in Constanz, entwarfen den Plan zu einer dramatischen Scene, welche der Letztere (jahrelang Intendant des Hoftheaters von Coburg-Gotha und selbst trefflicher Dramendichter, dessen geschichtliche Schauspiele „Heinrich von Schwerin“, „Das Haus der Posa“ und „Die Malteser“ gerechte Anerkennung theils gefunden haben, theils verdienen) poetisch und praktisch aus- und durchführte. Wir erzählen nun, was am Spätabende des 14. Juli dieses Jahres auf der Mainau sich ereignete, ohne vorher den üblichen Inhalt eines Theaterzettels zu verrathen.

Es wollte eben Nacht werden, als dem Großherzog von seinem Adjutanten gemeldet wurde: die Dienerschaft sei beunruhigt durch geisterhafte Erscheinungen, man wolle gesehen haben, daß die alten todten Ordensritter an ihrer ehemaligen Lieblingsstätte in dem Dunkel der Bäume umgingen. Der Großherzog benachrichtigte seinen kaiserlichen Gast von dieser seltsamen Meldung, und beide hohen Herren beschlossen, zur Beruhigung der Leute der Sache auf den Grund zu gehen. Wirklich gewahrten sie unter der großen Linde unweit des Schlosses Gestalten in weißen Mänteln um eine Tafel sitzen, die plötzlich in heller Beleuchtung vor ihnen stand. Die Fürsten und ihr Gefolge erkannten, bei ihrer Kenntniß der Geschichte der Insel, auf den ersten Blick an dem schwarzen Kreuz auf den Mänteln, daß sie eine Versammlung der Ordens-Comthure und zwar vom ersten bis zum letzten (1272 bis 1805) vor sich sahen. Bald sollte dies zur Gewißheit werden. Hatten bis jetzt alle Ritter um die schwarzbehangene und mit Crucifixen geschmückte Tafel und auf schwarzen Bänken mit gesenkten und gestützten Häuptern wie schlafend gesessen, so erhob sich nun der älteste der Comthure, Arnold von Langenstein, und wendete sein Wort in tiefem, vollem, geisterhaftem Tone an die Genossen. Er stellte ihnen vor die Seele, wie Großes der Orden „seit dem ruhmvoll bösen Tag von Akkon“ geleistet, aber auch wie schwer er gesündigt habe und daß sie darum von der göttlichen Gerechtigkeit alljährlich zu einem Bußconvent verdammt seien, bis ein neuer höherer deutscher Orden sie erlöse. „Diese Erlösung,“ verkündete er ihnen, „ist vollbracht.“

„Ja, hört und staunt! Die Welt ist anders worden,
Der Arbeit Segen hat mit Gold gewuchert.
Der freie Geist trug Riesenfrucht; er trug sie,
Seit weise Schulung ihm die Kraft gestählt
Und feste Zucht an’s Vaterland ihn bannte – –
Ein Vaterland, das war’s was Euch gefehlt – – –
– Ein Vaterland! Als dieser Ruf erscholl,
Da strömte neues Blut in’s Herz des Reiches,
Da sah die Welt, wie nie zuvor ein Gleiches,
Sah ‚deutsche Ritter‘, wie sie nie gezogen,
Sah deutschen Adler, wie er nie geflogen,
Einköpfig wieder, wie er weiland war,
Doch mächt’ger noch, als einst der Staufenaar.“

Und wie nun Alle beglückt die Hände erhoben und Einer fragte, wie der neue Orden sich nenne, rief Langenstein begeistert aus:

     „Er heißt: ein Volk in Waffen!
Ein Volk, das tüchtig, weil es Tücht’ges lernte,
Erstarkt in Kriegerzucht, regiert vom Geist,
Das ganze Volk ein einz’ger großer Orden,
Sein Ordens-Kreuz ein schwarz-weiß-eisernes –:
So flog’s von Sieg zu Sieg, so trug’s den Namen
‚Deutschland‘ zu ew’gem Ruhm – ein Volk des Friedens,
Und doch ein Heldenbund, denn wißt, des Bundes
Hochmeister ist sein Kaiser.“

[556] „Wie? Sein Kaiser?“ fragten nun Alle – aber schon leuchteten bengalische Flammen über der Scene, kriegerische Musik erscholl und heran marschirte „ein Fähnlein der neuen Ritter“; unter dem Klange der „Wacht am Rhein“ rückten die bis dahin verdeckt gestandenen Bataillone von Constanz vor; auf des Commandirenden Hochruf erbrauste ein dreimaliges Hurrah der Truppen für den Kaiser – und nachdem Langenstein feierlich gesprochen:

„Heil Ihm! Wir sind erlöst durch Ihn
Und ewig schlafen mag der alte Orden!“

sank ein schwarzer Vorhang über die Gruppe; die Musik spielte „Heil Dir im Siegerkranz“ und die Truppen schwenkten so, daß sie zwischen den Kaiser und die Comthure zu stehen kamen. Letztere warfen eiligst Rüstung und Mäntel ab und standen plötzlich als Officiercorps neben der Musik, während hinter ihnen Tafel und Bänke verschwanden. Und als nun unter bengalischer Beleuchtung der Insel und des Gestades, nach feierlicher Serenade die Truppen mit großem Zapfenstreich abzogen, erschien es wohl, als sei der ganze Geisterspuk in den Boden versunken. – In allen Herzen aber blieb ein schönes Bild zurück.

Das war das Kaiserfestspiel auf der Mainau. –




M-pungu.[1]
Von Dr. Falkenstein.


Wer hätte in den letzten Jahren nicht vielfach über Menschenaffen reden hören? Wer hätte nicht selbst vielfach darüber mitgesprochen? Wen hätte nicht die Nachricht, daß der König der Anthropoiden endlich lebenskräftig Europa erreicht, im höchsten Grade interessirt? Wem wäre nicht die Gewißheit erwünscht, daß bezüglich der Untersuchung der Natur dieses Affen der Boden der unbegrenzten Phantasie nunmehr verlassen und das Reich der exacten Beobachtung betreten werden muß?

Allen, auch Denjenigen, welche naturwissenschaftlichen Fragen sonst ferner stehen, dürfte es angemessen erscheinen, über Natur und Vergangenheit des zu uns übergesiedelten Fremdlings nunmehr nähere Aufschlüsse zu erhalten.

Im ehemaligen Königreiche Loanga geboren, verlebte M-pungu sein erstes Lebensjahr unter mütterlicher Obhut. Sorglos durfte er sich in den wilden Schluchten seiner bergigen Heimath unter fruchtbeladenen Riesen tummeln und die starren Ranken der Mansombe (einer wuchernden Blattpflanze) zum duftigen Lager zusammentragen, oder in erwachender Kraft spielend zerstören. Sorglos durfte er den Pfaden des Flußpferdes folgen und die Spur seiner Kinderhand neben die des fast vorweltlichen Unthiers dem lehmigen Grund des immer feuchten Urwaldes eindrücken. Ahnungslos beugte er sich nieder zu den trüben Wassern des schwellenden Bergbaches, um nach erhitzenden Spielen Erfrischung zu suchen, als das primitive Geschoß des geräuschlos schleichenden Negers die Mutter neben ihm traf und ihn so hülflos den Händen der Civilisation überlieferte. Nach Ponte Negra verkauft, empfand er hier bei unzureichender, ungewohnter Nahrung die ersten Leiden seiner bis dahin freudereichen Jugend. An die Brückenwage eines Magazins gefesselt, stellte er Vergleiche mit der schmerzlich verlorenen Freiheit an und schwand sichtlich dahin. –

Von einer erinnerungs- und erfolgreichen Reise in das Kuilu-Gebiet mit dem Herrn Dr. Pechuel-Loesche heimkehrend, fand ich M-pungu hier am 2. October 1875, von welchem Tage ab uns seine weitere Lebensgeschichte klar vorliegt, da sein damaliger Besitzer, der Portugiese Laurentino Antonio dos Santos, mit der allen Romanen angeborenen Liebenswürdigkeit ihn mir zum Geschenk bot.

M-pungu mochte damals ein und ein Viertel Jahr alt sein. In stummer Resignation den Kopf gegen mich hebend, machte er einen bedauernswerthen Eindruck. Aufleuchtend schien das kluge dunkle Auge sich bitter über die unwürdige Situation zu beklagen, dann glitt es matt und interesselos zu den umherliegenden Waldfrüchten. Mechanisch langten die kurzen schwarzen Finger danach, um sich, ohne ihr Ziel erreicht zu haben, wieder zurückzuziehen; müde legte er sich auf den harten Boden nieder, mit der linken Hand den Kopf stützend, während die rechte auf dem Herzen ruhte, und kraftlos fielen die Augen zu, doch ließen ihn sichtlich bange Träume nicht die Erholung finden, deren er so sehr bedurfte. Damals, wenige Tage nach seiner Ankunft in Chinchoxo, schrieb ich in einem kurzen Bericht, daß er theilnahmlos, faul und unliebenswürdig genannt werden müsse, daß seine Hauptbeschäftigung ein ruhiger ungestörter Schlaf sei, daß weder Musik ihn zu fesseln, noch sein Spiegelbild ihn aus dem träumerischen Zustande zu wecken vermöge, ebenso eine zur Gespielin beigegebene Meerkatze ihn mehr incommodire als erfreue.

Wer möchte in dem geistig so regen, ausgelassen tollen Burschen, der jetzt täglich immer übermüthigere Capriolen macht, den brütenden Hypochonder von damals wieder erkennen? Wer könnte glauben, daß im Februar dieses Jahres eine fünfwöchentliche schwere Krankheit uns jede Hoffnung an seinem Aufkommen nahm und uns in die tiefste Niedergeschlagenheit versetzte? Sorgenvoll umstanden wir damals sein Schmerzenslager. Wir pflegten ihn, wuschen ihn, rieben ihn mit Medicamenten ein und gaben innerlich die bei gleichen Symptomen bewährtesten Kindermittel. Ja, als er in der Nacht, die ich für seine letzte hielt, in zum Herzen sprechenden Jammertönen seinen Leiden Ausdruck gab, nahm ich ihn zu mir, um ihm wenigstens in diesen Stunden Ruhe vor den Mosquitos zu gewähren. Die unmittelbare menschliche Nähe wirkte Wunder. Als ob er mit den kühnsten Träumern der Vergangenheit und Gegenwart an eine mittheilbare magnetische Kraft glaubte, umklammerte er meinen Arm und erwachte bei dem geringsten Versuch meinerseits, eine bequemere Lage einzunehmen. Doch der anfangs leise Schlummer wurde tiefer, stärkender. Von Tag zu Tage fast konnte man den Einfluß des erquickenden Schlafes spüren. Wie groß war der Jubel, als er zum ersten Mal wieder nach Nahrung verlangte, zum ersten Mal nach Wochen banger Erwartung sichtbare Beweise einer regelrechten Verdauung gab! So rein war die innige Freude, daß selbst die bis zu uns dringenden Wolken des in Dresden aufgewirbelten Staubes sie nicht zu trüben vermochten. Schwarz und Weiß, Alt und Jung auf der Station und in entfernten Factoreien bewies lebhafte Theilnahme, als das liebenswürdige „Kind von Chinchoxo“ wieder gedieh und bei immer steigendem Appetite die geschwundenen Fettpolster unter dem faltigen Fell wieder ausfüllte.

Bald klatschte M-pungu wieder in fast menschlicher Empfindung wohligen Vergnügens in die Hände, nahm auch wohl, um dem Uebermaß Ausdruck zu geben, die Füße zur Hülfe, überkugelte sich, drehte sich um seine Längsachse, trommelte mit den Fäusten auf die Brust oder mit den flachen Händen gegen irgend welche tönende Gegenstände, spielte im Sande, baute mit drolligem Ernste und Eifer Nester von Gras, Stricken, Papier etc. um sich, haschte im Galopp nach Negerkindern, kurz, benahm sich in einer Weise, daß er manchmal in den Verdacht der Trunkenheit kam.

Er fand wieder Gefallen am Bade und suchte sich eventuell selbst zu helfen, wenn ich mit Schwamm und Seife nicht rechtzeitig zur Stelle war. Daß sich das Badewasser in wenigen Augenblicken außerhalb des Beckens befand, störte ihn nicht in seinem Eifer. Er patschte dann mit allen Vieren in der Nässe umher, wie unsere Negerjungen draußen während eines Tropengewitters. War der Kobold endlich rein und sauber abgetrocknet, so hielt er es für an der Zeit, seinem alten Gespielen, Mohr (Cercocebus fuliginosus), der leider hinter Lagos über Bord ging, nachdem ein Unbefugter seinen Käfig geöffnet, dem langschwänzigen schwarzen Gesellen, die erste Visite zu machen, wobei es allerdings wenig förmlich zuging und seine drollige Unbehülflichkeit der

[557] 

Der Gorilla des Berliner Aquariums.
Nach der Natur skizzirt von H. Leutemann.

[558] Behendigkeit jenes gegenüber ihn stets zu dem Geständniß zwang: „bald lag er oben, bald lag ich unten.“

Hatte er sich hier sattsam getummelt, so suchte er rückwärts zu entkommen, doch gelang dies selten ohne mannigfache Niederlagen, da Mohr die Absicht schon im Entstehen bemerkte. Nun machte er meinem Nachbar Pechuel-Loesche seine Aufwartung, erholte sich ein Weilchen auf einem Stuhle, sich der Länge lang unaufgefordert ausstreckend, und begann dann immer von Neuem den Inhalt der Blechkästen, die er zu öffnen verstand, zu durchmustern. Er ruhte nicht eher, bis der Boden erreicht war, und thürmte alles rund um sich auf, die Haltbarkeit der einzelnen Gegenstände mit den Zähnen prüfend. Endlich bewies mir ein durch die Loango-Wand[2] zu mir dringendes kräftiges Wörtlein, daß die kindlichen Spiele entdeckt seien, und M-pungu’s Eile, in den Garten zu kommen, zeigte seinerseits das Bewußtsein, Strafe verdient zu haben. Er glaubte sich auch nicht eher in Sicherheit, bis er das schützende Dickicht der zwölf und mehr Fuß hohen Negerhirse und des Maises erreicht hatte. Zufrieden, auf kurze Zeit der Aufsicht enthoben zu sein, ließen wir ihn in den Plantagen, wenn auch das Rauschen und Brechen und die sich zur Erde biegenden Halme keinen segensreichen Einfluß auf das Gedeihen der Pflanzen bekundeten. Hatte er dann Blätter und Blumen durchsucht, hier und da ein wenig genascht und namentlich die eben hervorsprossenden Bananenblätter gepflückt, so fiel ihm plötzlich ein, daß im Eßzimmer sich wohl Niemand befinden werde und es sich daher lohnen dürfe, nach dem Zucker- und Fruchtschrank zu sehen. Sich vor allem über unseren und unserer kleinen schwarzen Dienerschaft Aufenthalt orientirend, vorsichtig auslugend, um die Ecken der Hütten schauend, steuerte er endlich direct auf sein Ziel los und entfloh, wenn auf der That ertappt, zwar bittende Töne ausstoßend, aber gewiß nie, ohne mit sicherem Griffe die Beute in beiden Händen mit fort zu führen.

Ein durchtriebener Schalk, überlistete er jeden Versuch, ihn in besonnene Bahnen zu lenken oder ihm Begriffe des Unerlaubten beizubringen. Einschmeichelnd, um etwas zu erlangen, schmollend, wenn ihm etwas versagt wurde, aufmerksam beobachtend, was er nie gesehen, neugierig untersuchend, was ihm unverständlich, tapfer angreifend, wo keine Gefahr, behutsam retirirend, wenn Vorsicht rathsam, war er ein Unterhalter und Genosse, wie man keinen besseren wünschen konnte. Wie ein übermüthiges Kind trieb er sich frei auf dem Gehöft umher, immer bedacht, seinen Pflegern nahe zu bleiben, und wenn er sie aus den Augen verlor oder nicht am gewohnten Platze arbeitend fand, so suchte er, erst ängstlich bittend, dann in lautes Kreischen ausbrechend, eifrig an allen Orten und umklammerte den Gefundenen so fest am Bein, als wolle er ihn nimmer wieder loslassen, oder langte bittend mit den Armen empor, um geliebkost zu werden.

Bei gesunder Bewegung und völlig menschlicher Kost nahm er an Stärke, Gewicht und Lebendigkeit dauernd so zu, daß wir bei unserer Einschiffung am 5. Mai dem Capitain des Dampfers „Loanda“, Mr. Clancy, zuversichtlich vorhersagen konnten, der M-pungu würde gesund und kräftig Europa erreichen, wenn er ihm seine Nachsicht und Fürsorge angedeihen lassen würde. M-pungu hat Europa erreicht mit einer Lebenskraft und Fülle, welche die kühnsten Hoffnungen bei Weitem übertrafen. Aber in wie freundlicher Weise hat nicht Capitain Clancy seine Aufgabe erfüllt, wie selbstlos hat er sich und sein Quarterdeck geopfert! Er ließ M-pungu zum ersten Cajüten-Passagier avanciren, lauschte auf alle seine Wünsche, ganz gleich, ob sie sich auf ein starkes Tau zu Turnübungen oder auf ein Flaggentuch zum Schutz gegen eine Nordbriese richteten. Irgend bewegliche schwere Gegenstände, die durch Fall Gefahr drohten, ließ er fest binden oder schrauben; Quarter-Masters, Stewards und Küchenjungen mußten in gleicher Weise des Winkes M-pungu’s gewärtig sein. Zum Diner durfte er im Salon erscheinen, und als ob er sich des höchsten Schutzes bewußt wäre, trieb er seine Possen um so toller, je größere Freiheit ihm gestattet wurde. Aber Niemand war ihm gram deswegen; Jedermann verzog und liebkoste ihn, ja, ein kleines englisches Kind trieb seine Zärtlichkeit so weit, ihn, mit den Händen nach ihm langend, Papa zu tituliren. Die ganze Reise glich einem Triumphzuge; an allen Küstenplätzen strömten die Neger in Canoes herzu, um ihren Bruder, wie er scherzweise genannt wurde, in Augenschein zu nehmen. Die Rückkehrenden brachten die Nachricht von dem Gesehenen an’s Land, und immer neue Canoes sah man abstoßen, das Wunder zu schauen. M-pungu nahm die Huldigungen als selbstverständlich hin. Weit entfernt, sich genirt zu fühlen, gab er unaufgefordert die besten Vorstellungen, wenn die meisten Gäste versammelt waren.

Wie wohl thaten uns die Ausrufe, ungeheuchelten Erstaunens, wie angenehm berührte uns das mit der nahenden Heimath wachsende Interesse des Publicums! Aber je näher wir England kamen, um so ängstlicher hüteten wir auch den Schatz in unseren Händen; er gehörte eigentlich schon längst nicht mehr uns, sondern wir gehörten ihm. – Endlich am 29. Juni wurde Liverpool und damit der Glanzpunkt in M-pungu’s bisherigem Leben erreicht. Die ganze ungeheure Stadt war in Aufregung. Unter den Fenstern unseres Hotels wogten schwarze Massen auf und ab, während die besser Situirten, darunter die Spitzen der Stadt und die ersten Gelehrten, uns persönlich ihre Aufwartung machten und der greise Darwin brieflich seinen Glückwunsch übermittelte.

Auf die Bitte des Curators des Museums, Mr. Moore, stellten M-pungu einem seiner Vorfahren, einem alten ausgestopften Gorilla, vor, da möglicher Weise eine höchst interessante Erkennungsscene erwartet werden konnte. Er ließ aber uns und den Alten in komischer Enttäuschung stehen, mit dem Zeigefinger Ohren und Nase eines jungen Chimpanse befühlend, als wollte er sagen: „Wie kann man mich mit dir verwechseln!“

Etwas ermüdet, aber stolz auf unsern Schatz, verließen wir die Stadt und vertrauten M-pungu wenige Tage später den wohlbewährten Händen des Dr. Hermes an. Möge es ihm gelingen, M-pungu so lange am Leben zu erhalten, bis die Behauptung der Neger geprüft werden kann, welche erzählen, daß alte Gorillas ganz weiß behaart seien.[3]




„Der Kaiser und der Abt“.
Zur Geschichte der Bürger’schen Ballade.


Schon ehe Herder mit seinen „Stimmen der Völker“ dem deutschen Publicum die Quellen nationaler Volkspoesie vermittelte, hatte G. A. Bürger mehrere der in Percy’s „Reliques of ancient English Poetry“ enthaltenen Schätze altenglischer und schottischer Balladen künstlerisch zu verwerthen gewußt. Die schottische Ballade von „Sweet William’s Ghost“, welche ihm die Anregung zu seiner „Lenore“ gab, ist seit Herder’s Uebersetzung ziemlich bekannt geworden, und die Kenntniß dieser dürftigen Quelle muß unsere Bewunderung für die schöpferische Kraft des deutschen Dichters noch steigern. Auch für andere Bürger’sche Dichtungen, wie „Frau Schnips“ und „Die Entführung“, haben wir die Quellen in jener englischen Balladensammlung zu suchen, und in diesen ist er seinen Vorbildern mehr gefolgt, als in seiner „Lenore“. Die auffallendste Treue aber in der Nachbildung des gegebenen Stoffes zeigt uns dasjenige von Bürger’s Gedichten, welches wohl nächst „Lenore“ als das populärste bezeichnet werden kann, nämlich seine schnurrige Geschichte vom Kaiser und Abt. Sie stimmt mit der englischen Ballade „König Johann und der Abt von Canterbury“ nicht nur im Inhalte Zug für Zug, sondern selbst in der metrischen Form überein. Der Anfang des englischen Originals lautet[WS 2] in möglichst treuer Uebersetzung:

Ein altes Märchen jetzt künd’ ich euch an:
War ein stattlicher Fürst, genannt König Johann;
Er herrschte in England allmächtig und schlecht,
That Unrecht gar viel und versäumte manch’ Recht.

Und ich will euch erzählen ein Märchen, so lustig, etc. etc.

Hier, im Anfang der zweiten Strophe, ist Bürger, der jedoch [559] bekanntlich seine Dichtung damit beginnt, mit dem Original im Wortlaut übereinstimmend –

And I’ll tell you a story, a story so merry etc.

Eine genaue Uebersetzung dieses ganzen Verspaares, in welchem für merry das Wort Canterbury das Reimwort bildet, ist nicht gut zu geben. Auch wollen wir darauf verzichten, die Vergleichung der Bürger’schen Ballade mit dem Original Zug für Zug fortzusetzen. Es möge hier genügen, da das englische Gedicht überdies durch Percy’s Sammlung bekannt ist, auf den Kernpunkt des Ganzen einzugehen: auf die drei Fragen. Auch diese Fragen lauten im Englischen übereinstimmend. „Erstens: wenn ich in meinem Staate, die goldene Krone auf dem Haupt, unter meinen Vasallen stehe, so sage mir, wie viel ich bis auf den Penny werth bin? Zum Zweiten sage mir, mit zweifelloser Genauigkeit, wie bald ich rund um die Welt reiten möge? Und drittens sage mir wahrhaft, was ich denke.“ Nur für die dritte dieser Fragen hat der deutsche Dichter den sinnreichen Zusatz gemacht, daß dieser Gedanke zugleich ein falscher sein solle.

Auch im Englischen wird dem bedrängten Abte die Rettung durch seinen Schäfer zu Theil, und die Antworten auf die drei Fragen lauten ebenso wie in unserm deutschen Gedichte. Bürger’s Verdienst ist dabei, daß er für den fremden Stoff einen echt deutschen und nur ihm zu Gebote stehenden wahrhaft volksthümlichen Ton fand; daß er auch sonst der Form der Erzählung noch mancherlei Ausschmückung gab, kann man schon daraus entnehmen, daß das Bürger’sche Gedicht zwölf Strophen mehr enthält, als das Original.

Es ist nicht der Zweck dieser Mittheilung, auf diese eigentliche Quelle der Bürger’schen Ballade hinzuweisen, da dieselbe, wie gesagt, längst bekannt ist. Weniger bekannt ist es aber, daß auch der englische Balladendichter seinen Stoff nicht erfunden hat, sondern daß er die Idee des Gedichts der italienischen Novellen-Literatur des vierzehnten Jahrhunderts entlehnte. Der italienische Novellist Franco Sacchetti berichtet seine Geschichte aus Mailand, dessen Herr, Messer Bernabo, einen reichen Abt wegen einer Vernachlässigung zu einer hohen Geldbuße verurtheilt hatte. Da der Abt um Gnade bat, versprach der Herzog, ihm die Buße zu erlassen, wenn er ihm vier Fragen beantworten würde. Von den drei Fragen der englischen und der Bürger’schen Ballade ist in der alten italienischen Erzählung nur eine enthalten, während die anderen drei unbenutzt geblieben und durch zwei andere ersetzt worden sind. Die vier Fragen des italienischen Erzählers lauten nämlich:

Wie weit ist es von hier bis zum Himmel? Wie viel Wasser ist im Meere? Was geschieht in der Hölle? Und wie viel ist meine (des Herzogs) Person werth?

Auch schon beim Italiener übernimmt der pfiffige Müller die Lösung der Fragen, indem er sich als Abt verkleidet.

Die Beantwortung der vier Fragen geben wir hier im Wortlaute nach der italienischen Quelle wieder:

„Ihr fragt mich, Herr, wie weit es von hier bis zum Himmel ist? Nachdem ich nun Alles wohl ermessen, so ist es von hier bis da oben sechsunddreißig Millionen achthundertvierundfünfzigtausendzweiundsiebenzig und eine halbe Meile und zweiundzwanzig Schritte.“

Der Herr sprach: „Du hast es sehr genau angesehen. Aber wie beweisest Du das?“

„Laßt es ausmessen,“ antwortete er; „und wenn dem nicht so ist, so hängt mich an den Galgen! Zum Andern fragt Ihr mich, wie viel Wasser das Meer enthält? Dies ist mir sehr sauer geworden, herauszubringen, denn es steht nicht fest und es kommt immer neues hinzu. Aber ich habe doch ermittelt, daß im Meere fünfundzwanzigtausendneunhundertzweiundachtzig Millionen Fuder, sieben Eimer, zwölf Imi, zwei Maß sind.“

Da sprach der Herr: „Wie beweisest Du das?“

Er antwortete: „Ich habe es nach bestem Vermögen untersucht. Wenn Ihr es nicht glaubt, so laßt Eimer holen und es nachmessen! Befindet Ihr es anders, so laßt mich viertheilen! Drittens fragtet Ihr mich, was sie in der Hölle machen? In der Hölle köpfen, viertheilen, zwicken und hängen sie nicht mehr und nicht minder, als Ihr hier auf der Erde thut.“

„Welchen Beweis hast Du dafür?“

Er antwortete: „Ich habe einmal Einen gesprochen, der dagewesen war, und von dem hatte der Florentiner Dante, was er über die Dinge in der Hölle geschrieben. Aber jetzt ist er todt. Wenn Ihr es also nicht glauben wollt, so schickt hin und laßt nachsehen. Viertens endlich fragtet Ihr mich, wieviel Ihr wert seid? Und ich sage: neunundzwanzig Silberlinge.“

Als Messer Bernabo dies hörte, wandte er sich von Wuth zu ihm und sagte:

„Daß Dich der Donner und das Wetter! Bin ich nicht mehr wert, als ein Topf?“

Der Müller gab nicht ohne große Furcht zur Antwort:

„Gnädiger Herr, vernehmet den Grund! Ihr wißt, daß unser Herr Jesus Christus um dreißig Silberlinge verkauft wurde; ich rechne, daß Ihr einen Silberling weniger wert seid, als er.“

So weit die italienische Geschichte, insofern sie die vier Fragen und ihre Beantwortung betrifft. Man wird zugestehen müssen, daß dieser Kernpunkt des Ganzen durch den englischen Balladendichter eine Verbesserung erfahren hat. Denn wenn auch bei dem Italiener die Antworten auf die drei ersten Fragen ganz spaßhaft sind, so kommt es doch bei allen auf dieselbe Pointe hinaus: daß nämlich etwas behauptet wird, wofür ein Gegenbeweis nicht aufzubringen ist. Im Uebrigen ist, trotz der Variationen, welche die Geschichte im Laufe der Zeit erfahren hat, doch über vier Jahrhunderte hindurch die eigentliche Tendenz des Ganzen unverändert geblieben: daß der weltliche Herr einmal an dem Pfaffen sein Müthchen kühlt. Auffallend muß dabei der in allen drei Berichten ebenfalls unverändert gebliebene Umstand sein, daß die so sprüchwörtlich gewordene pfäffische Schlauheit hier gänzlich mangelt, und daß der Schäfer der Klügere ist. Daß der englische Balladendichter an Stelle des mailändischen Herzogs den König Johann gesetzt hat, ist hinreichend begründet. Bürger gab es in seiner Darstellung ganz auf, in dem weltlichen Herrscher eine bestimmte Persönlichkeit zu bezeichnen, und er begnügte sich, dem genußsüchtigen und unwissenden Abte ganz im Allgemeinen die Person eines kriegsgeübten und mannhaften Kaisers entgegenzustellen, und auch dies spricht wieder für Bürger’s so starkes Gefühl für das wahrhaft Volksthümliche.

Nach dieser Behandlung des Stoffes durch unsern deutschen Dichter dürfte die Geschichte wohl kaum eine weitere Umgestaltung oder Erneuerung der Form zu erwarten haben. Könnte dies aber dennoch der Fall sein, so müßten heute die drei Fragen ganz anders lauten, etwa so:

„Wie weit ist es nach Canossa?“ – „Was ist die Infallibilität werth?“ Und drittens: „Wer, denkst Du, wird der nächste Papst sein?“

Aber auf Vexirantworten würde es hierbei nicht abgesehen sein, und also auch der „Spaß“ dabei aufhören.

Rudolph Genée.




Blätter und Blüthen.


Das Testament eines Millionärs. In Paris starb vor wenigen Jahren Herr Dupont, ein liebenswürdiger alter Herr, dessen Baarvermögen auf mindestens zwei Millionen Franken geschätzt wurde, und welchem außerdem eine elegante Villa in Passy gehörte, die auf’s Reizendste mit Kunstgegenständen aller Art ausgestattet war. Da Herr Dupont seine Gattin schon vor langer Zeit verloren hatte und weder Kinder noch nahe Verwandte besaß, so waren seine zahlreichen Freunde auf den Inhalt seines Testaments sehr gespannt. Diese Spannung war noch dadurch erhöht worden, daß Herr Dupont in den letzten Monaten vor seinem Tode zu lieben Freunden, sowie zu entfernten Verwandten die Aeußerung gemacht hatte: sie würden dereinst erkennen, wie ängstlich er danach gestrebt habe, sich für eine ihm bewiesene wahre Zuneigung dankbar zu beweisen.

Herr Dupont war stets gastfrei gewesen und hatte für seine Freunde und Verwandten – in Fällen wirklicher, unverschuldeter Bedrängniß – jeder Zeit bereitwillig und auf’s Großmüthigste gesorgt. –

Vierzig Personen, Damen und Herren verschiedenen Alters, erhielten bald nach dem Heimgange des Herrn Dupont von dem Notar L., dessen vieljährigem Rechtsbeistande, die Einladung, sich zu ihm zu begeben, um, dem Wunsche des Testators gemäß, den Inhalt seines letzten Willens zu vernehmen. Nach dem letzteren waren die Armen der Stadt Paris Universalerbe geworden, und sie hatten, nach den in dem Testamente enthaltenen Bestimmungen, mehr als eine Million baar und den Erlös aus den zu verkaufenden Mobilien, so weit nicht darüber von dem Testator durch Errichtung von Legaten verfügt worden, zu erwarten.

[560] Sämmtliche vierzig Personen nun, mit welchen Herr Dupont in freundschaftlicher Verbindung gestanden, waren von ihm durch Legate reich bedacht worden, und der alte Herr hatte bei der Wahl seiner Gaben die Neigungen, den Geschmack und die Bedürfnisse seiner Freunde sorgsam in Betracht gezogen.

Einer Dame, welche oftmals Herrn Dupont’s Sammlung geschnittener Steine bewundert hatte, waren mehrere prächtige Cameen nebst einer entsprechenden Summe, um dieselben zu reichen Schmuckgegenständen verarbeiten zu lassen, vermacht worden. Ein junger Maler empfing sechstausend Franken zu einer Reise nach Italien, ein Kunstliebhaber ein Gemälde und herrliche venetianische Glasgefäße, ein entfernter Verwandter von Herrn Dupont, welcher ein kleines Gut besaß, Wagen und Pferde des Verstorbenen; die Wittwe eines Obristen – ebenfalls eine Seitenverwandte des alten Herrn und in bescheidenen Verhältnissen lebend – erhielt das Mobiliar zu drei Zimmern und deren siebenzehnjährige Tochter Madeleine sechstausend Franken, um sich zur Musiklehrerin ausbilden zu können.

Alle Legatare waren, in Bezug auf den Werth der erhaltenen Geschenke, beinahe gleichgestellt worden, und die vierzig Spenden repräsentirten einen Werth von 240,000 Franken.

In dem Testamente hatte Herr Dupont seinen Freunden und Verwandten noch voll Herzlichkeit für die liebevollen Gesinnungen gedankt, welche sie oft gegen ihn ausgesprochen, und die Bitte hinzugefügt, sie möchten ihm ein freundliches Andenken bewahren. Daß für die Dienerschaft ansehnliche Pensionen ausgeworfen worden waren, durfte bei den stets bewiesenen humanen Gesinnungen des alten Herrn nicht Wunder nehmen. – Nachdem das Verzeichniß der Legate verlesen war, erfuhren die Anwesenden aus einem neuen Paragraphen des Testaments, daß Herr Dupont auch noch bei der Bank von Frankreich ein Kästchen niedergelegt habe, welches eine Million Franken enthielte, und sämmtliche Legatare wurden aufgefordert, sich nach Jahresfrist – am 10. December – wiederum bei dem Notar einzufinden. Derselbe werde alsdann das Kästchen öffnen und sie erfahren, wem von ihnen der reiche Inhalt zugedacht worden sei.

Betroffen schauten die Legatare einander an. Wer unter ihnen mochte wohl der Glückliche sein? Aus dem Wortlaute des Testamentes war auch nicht die geringste Andeutung hierfür zu entnehmen, und mit verschiedenen Empfindungen verließen sie das Zimmer des Notars. Einige unter den reich Bedachten waren Herrn Dupont aufrichtig dankbar für diesen neuen Beweis seiner liebevollen Gesinnung. Andere vermeinten ein Anrecht auf viel beträchtlichere Gaben zu besitzen und verfügten sich grollend nach Hause. Wie sonderbar fanden diese das Verlangen des Testators, nochmals bei dem Notar erscheinen zu sollen, um vielleicht auf’s Neue einen Aerger hinnehmen zu müssen, falls ein Anderer ihnen vorgezogen wäre! Wenn aber eine noch unbekannte Klausel des Testaments auf dieses pünktliche Erscheinen besonderen Werth legte? Man würde dennoch – wohl oder übel – sich fügen müssen, um nicht einen möglichen großen Gewinn auf’s Spiel zu setzen.

Am beglücktesten fühlte sich Madeleine, das junge Mädchen, welcher sechstausend Franken zugefallen waren, um sich zur Musiklehrerin ausbilden zu können. Ihre Mutter hatte stets mit Sorgen kämpfen müssen, um mit der geringen Pension, welche sie erhielt, den einfachen Haushalt in anständiger Weise zu führen, und obwohl sie mit Herrn Dupont entfernt verwandt war, hatte Zartgefühl sie stets zurückgehalten, den reichen Mann um eine Unterstützung anzugehen. Beträchtliche Geschenke zum neuen Jahre waren das Einzige gewesen, was sie von ihm erhalten hatte. Das junge Mädchen, welches eine schöne biegsame Stimme besaß, hatte einmal, nachdem sie Herrn Dupont ein Lied vorgesungen, flüchtig geäußert, wie glücklich sie sein würde, wenn es ihr möglich werden sollte, ihre musikalischen Anlagen auszubilden und sich eine selbstständige Existenz zu gründen. Das war dem menschenfreundlichen Herrn im Gedächtnisse geblieben, und Madeleine dankte es ihm mit warmem Herzen, nicht nur in dem Augenblicke, in dem sie von dem Legate erfuhr, sondern an jedem Tage, wo sie freudig ihr Wissen vermehren, dem erstrebten Ziele sich nähern konnte.

Es war nur ein natürlicher Act der Pietät, daß sie an dem ersten heitern Sonntagmorgen, einen schönen Strauß in der Hand, auf den Kirchhof eilte, um das Grab ihres Wohlthäters damit zu schmücken. Wie erstaunte das Mädchen, als sie das Grab des reichen Mannes in einem Zustande fand, der deutlich zeigte, daß seit dem Tage der Beerdigung auch nicht die mindeste Sorgfalt darauf verwendet worden.

Sie fragte den Kirchhofsdiener, welcher mit der Beaufsichtigung der Gräber betraut war, ob niemand sich um die Erhaltung der letzten Ruhestätte des Entschlafenen kümmere? Er vermochte nichts darüber zu sagen; ihm selbst war keinerlei Auftrag dazu geworden.

Madeleine ging zu dem Notar, der ihr das Legat ausgezahlt hatte, und machte ihm Mittheilung von der traurigen Verfassung des Grabhügels. Der Herr erwiderte achselzuckend und mit einer Miene des Bedauerns, daß Herr Dupont in seinem Testamente jede künftige Ausgabe auf das Sorgsamste vorgesehen und die nöthigen Summen dafür bestimmt habe. Für die Pflege seines Grabes sei nichts ausgeworfen, auch keinerlei Fond dazu vorhanden.

Die Augen des jungen Mädchens füllten sich mit Thränen. „Nein, so soll der Mann nicht ruhen, welcher so Vielen Freude bereitet, so vieles Elend gelindert hat; mein Amt wird es bleiben, seinen Grabhügel zu schmücken und zu pflegen.“

Das liebe Mädchen hielt Wort. Ein einfaches Kreuz mit dem Namen des Dahingeschiedenen zierte bald den Hügel, und Veilchen, Immergrün und Rosen sproßten weiterhin daraus hervor. Madeleine und ihre Mutter gingen oftmals zu der ihnen liebgewordenen Stätte und säuberten und schmückten das einsame Grab.

Nach Jahresfrist wurde das bei der Bank deponirte Kästchen, enthaltend eine Million Franken, in Gegenwart aller Legatare geöffnet und man fand darin auch eine schriftliche Anordnung von Herrn Dupont’s eigener Hand; sie lautete:

„Wohl zehnmal habe ich mein Testament geändert und mir niemals dabei Genüge gethan. Wem ein großes Vermögen anvertraut worden ist, der hat auch moralische Verpflichtungen schwerwiegender Art. Ich hielt es für geboten, einen bedeutenden Theil meines Besitzes edeln Händen anzuvertrauen und nach Kräften dafür zu sorgen, daß auch ferner segensreich damit gewaltet werde. So mancher freundliche Mund hat Worte innigster Zuneigung für mich ausgesprochen und die menschenfreundlichsten Gesinnungen zu erkennen gegeben. Aber Gott nur siehet das Herz, und ich fühlte mich von Zweifeln hin- und hergeworfen. Von allen Tugenden schien mir stets die Dankbarkeit eine der reinsten und seltensten zu sein; möge man daher nicht lächeln, wenn ich nur einem dankbaren Herzen den Theil meines Vermögens hinterlassen will, welchen ich persönlich, durch redlichen Fleiß und von Gottes Gnade beschirmt, erworben habe. Alle, welche mir nahe standen, habe ich zu erfreuen gestrebt; ich durfte daher die Hoffnung hegen, daß in Denjenigen, welche oft zu mir kamen und stets liebevoll empfangen wurden, auch einmal der Wunsch sich regen würde, den Grabhügel zu besuchen, der einen treuen Freund in sich schließt.

Nach der getroffenen Anordnung wird mein Grab ungepflegt bleiben und einem baldigen Verfall entgegengehen, wenn Niemand aus freiem Antriebe sich desselben annimmt. Den Freunden nun, welche mein Andenken dadurch ehren möchten, daß sie der einsamen Ruhestätte Pflege angedeihen ließen, ihnen gedachte ich einen besonderen Beweis meines Vertrauens und meiner Dankbarkeit zu geben. Ich bestimme daher, daß, wenn mehrere unter ihnen sich vereint haben, mein Grab unter ihre Obhut zu nehmen, die noch vorhandene Million Franken zu gleichen Theilen ihnen zufallen, und wenn nur ein Einziger in dieser Weise meiner gedacht, dieser allein die ganze Summe erhalten solle. Würde aber Niemand unter den Legataren zu einem solchen Liebesdienst – binnen Jahresfrist nach meinem Tode – sich angeschickt haben, so soll auch diese Million meinen Erben, den Armen der Stadt Paris, zufallen.“

Die arme, brave Madeleine hatte zu ihrem Erstaunen das nicht zu bestreitende alleinige Anrecht auf die Million Franken erlangt. Und sie zeigte sich würdig, die Erbin eines so großmüthigen, gewissenhaften Mannes geworden zu sein. Das Gold in ihrer Hand blieb kein todtes Metall, sondern spendete Segen nach allen Seiten hin.
E. Rudorff.

Die Riesentropfsteinsäule. (Mit Abbildung Seite 553.) Zu den schönsten Naturseltenheiten gehört unstreitig die jetzt bekannt gewordene Riesentropfsteinsäule. Dieselbe wurde im Jahre 1875, Ende August, in dem Kalksteinbruche des Herrn D. Bohe in Letmathe bei Iserlohn entdeckt. Sie stand in einer geräumigen Höhle, mit der Spitze an den Boden derselben stoßend. Nachdem die Säule am Sockel durchsägt und von etwa zwanzig Arbeitern niedergelegt, mußte sie durch einen engen Eingang, kaum breit genug, um einen Mann durchkriechen zu lassen, sechszig Fuß weit geschleift und so an’s Tageslicht befördert worden; von da ab wurde sie einen steilen Abhang von zwanzig Fuß hinuntergeschafft, was unter den größten Schwierigkeiten bewerkstelligt wurde. Die in einer gelblich-weißen Farbe brillant schimmernde Säule hat einen Umfang von zwei Fuß; sie läuft von der Mitte ab kegelförmig zu bis zur Spitze, hat eine Höhe von zehn und einem halben Fuße, wiegt circa tausendvierhundert Pfund und läßt beim Anschlagen mit dem Finger einen hellen Ton vernehmen. Sie steht in dem Hause des Herrn Schuchard in Letmathe, fünfzehn Schritte vom Bahnhofe entfernt, zur Ansicht (ohne Eintrittsgeld) und wird vielfach von Reisenden besucht.


Berichtigung. In dem Artikel „Die wildeste Dampffahrt des Jahrhunderts“ (in unserer Nr. 29) hat sich leider ein Irrthum einschlichen, indem die Schnelligkeit der „Stages“ und „Pony-Expreß“ früherer Jahre, wie sich nachträglich herausstellt, nicht ganz correct angegeben wurde. Der Autor des Artikels, Theodor Kirchhoff in San Francisco, läßt uns daher folgende Berichtigung zugehen:

„Emigranten gebrauchten in früheren Jahren vier bis acht Monate, die Ueberland-Postkutschen zwei Wochen (oft jedoch die doppelte Zeit und mehr), um die Reise vom Missouri nach San Francisco zurückzulegen. Wurden einzelne Schnellfahrten von Stages in kürzerer Zeit gemacht. wie z. B. von dem bekannten Ben Holladay, der in zwölf Tagen und zwei Stunden von Atchison am Missouri nach San Francisco fuhr – eine Strecke von circa zweitausend englischen Meilen –, so waren das seltene Ausnahmen. Die Pony-Expreß, eine reitende Schnellpost, welche jedoch nur Briefe beförderte, ging Tag und Nacht, immer im Galopp, und pflegte dieselbe Entfernung in neunmal vierundzwanzig Stunden, zuletzt in acht Tagen und Nächten, zurückzulegen, womit die äußerste Grenze der Schnelligkeit der Fortbewegung mit Pferden erreicht schien. Dann wurde die Pacificbahn vollendet, und Reisende pflegten in den letzten Jahren in sieben Tagen und Nächten von New-York nach San Francisco zu fahren – jetzt in achtzig Stunden, wie neulich geschildert.“



Kleiner Briefkasten.

Fr. S. in A. und J. D. in O. Die Adresse des Herrn Medicinalrath Dr. Schwabe, des Verfassers der mit so vielem Beifall aufgenommenen Artikel „Nervöse Leiden“ in Nr. 25 und 26 unseres Blattes lautet: Villa Emilia bei Blankenburg in Thüringen. Dies zugleich als Erwiderung auf die vielfachen anderen Anfragen gleichen Inhaltes.

O. in D. Für bemittelte „Dichter“, die ihren Namen und ihre poetischen Erzeugnisse gern gedruckt sehen möchten, empfiehlt sich das in Wien erscheinende „Poetische Dilettanten-Album“. Dasselbe druckt eingesandte Verse gegen Erlegung von Aufnahmegebühren bereitwilligst ab und verschafft auf diese Weise heimathlosen Dichtungen das gewünschte Unterkommen – ein gedruckter „Ruhm“, der freilich viel Geld kostet.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Nach einer Mittheilung des Verfassers dieses Artikels, der als Mitglied der afrikanischen Expedition wie als Eigenthümer und Pfleger des Gorilla bekannten Dr. Falkenstein, bedeutet M-pungu in der Sprache der Eingeborenen soviel wie Teufel.
    D. Red.
  2. Loango-Gras, Cyperus papyrus.
  3. Eine am 13. December 1875 vorgenommene Messung ergab: Ganze Länge 56 Centimeter; Gewicht 15 Pfund; Respiration 40 bis 46 in der Minute; Puls 116; Temperatur 38,6 Grad C. Am 28. Juni dagegen: Ganze Länge 69 Centimeter; Rumpflänge 47 Centimeter; Gewicht 31 Pfund; Respiration 24 bis 32 in der Minute; Puls 108; Temperatur 37,7 Grad C.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: fürstlchen
  2. Vorlage: lautes