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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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Quelle: commons
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[279]

No. 17.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Im Hause des Commerzienrathes.


Von E. Marlitt.


(Fortsetzung.)


Käthe wollte Bruck’s Antwort nicht hören, denn es war ihr schrecklich, stets unfreiwillige Zeugin der Scenen zwischen den Verlobten zu sein – Bruck mußte sie zuletzt hassen. Aber sie war namenlos empört über die abermalige Komödie, die sich eben wieder vor ihren Augen abgespielt. Das abgegriffene, wandermüde Manuscript, das aus seinen „Zickzackwegen durch die Welt“ von competenter Seite wiederholt als nicht brauchbar zurückgeschickt worden war, es hatte die Rolle eines thränenwerthen Opfers spielen müssen, das die Seelengröße, die hehre Selbstüberwindung eines hochbegabten, sich und ihren Genius verleugnenden Weibes dem strengen Herrn und Gebieter brachte.

Es wurde drüben gesprochen. Käthe hörte durch die Melodie, welche ihre Hände energischer als sonst den Tasten entlockten, die ernste, unbewegte Stimme des Doctors, aber sie verstand zu ihrer eigenen Beruhigung kein Wort, und als sie schloß, da kam auch Flora schon wieder herüber, um in das Balconzimmer zurückzukehren. Diesmal hing sie nicht an Bruck’s Arm; sie hielt das Bouquet der Fürstin in der Hand und ging neben dem Doctor her, verdrossen wie ein gescholtenes Kind, das aber nicht zu widersprechen wagt – Flora hatte ihren Herrn und Meister gefunden. … Ein zorniger Seitenblick streifte die am Flügel sitzende Schwester, die eben die Hände von den Tasten sinken ließ. „Gott sei Dank, daß Du fertig bist, Käthe!“ sagte sie stehen bleibend. „Du lärmst ja auf dem Instrument, daß man sein eigenes Wort nicht versteht. Schau, Deine eigenen Sachen spielst Du ja ganz nett – das sind eben harmlose Kindermelodien ohne alle Tiefe – an Schubert und Liszt aber solltest Du Dich nicht wagen; dazu fehlt Dir das Verständniß und vor Allem die Fertigkeit.“

„Henriette hat die Pièce zu hören gewünscht,“ entgegnete Käthe gelassen und schloß den Flügel. „Für eine fertige Clavierspielerin habe ich mich nie ausgegeben –“

„Nein, Herzenskäthe, das hast Du niemals gethan, bist auch keine Virtuosin, die Bockssprünge mit ihren Fingern macht,“ fiel Henriette ein; sie stand plötzlich, wie hingeweht, auf der Schwelle des Musiksalons, „aber das Mädchengemüth möchte ich kennen, das Schubert inniger aufzusagen vermöchte, als Du – oder meint Schwester Flora, die Thränen, die Einem dabei in die Augen treten, weine und heuchle man aus purer Gefälligkeit?“

„Kranke Nerven, Kindchen – weiter nichts!“ lachte Flora und folgte dem Doctor in den Salon, von wo die Präsidentin ihn gerufen hatte.

Die alte Dame saß drüben mit etwas echauffirtem Gesicht, in der einen Hand die Lorgnette, in der anderen einen Brief, den ein Bedienter eben gebracht hatte. „Ach, liebster, bester Hofrath,“ – sie gebrauchte diesen Titel, so oft er sich anbringen ließ; denn er schmeichelte ihrem Ohre trotz alledem und alledem – „da schreibt mir eben meine Freundin, die Baronin Steiner, daß sie in den nächsten Tagen hierher kommen will, um Rath und Hülfe bei Ihnen zu suchen. Sie ist ganz trostlos über ihren kleinen Enkel, den Stammhalter der alten Familie von Brandau – der Junge hinkt seit einiger Zeit ein wenig, und die tüchtigsten Aerzte tappen im Dunkeln über den Ursprung des Leidens. Wollen Sie das Kind untersuchen und in Behandlung nehmen?“

„Sehr gern, vorausgesetzt, daß die Dame nicht allzu große Ansprüche an meine Zeit macht.“ Er kannte schon diese hocharistokratisch sich geberdenden Damen, die gar zu gern „warten lassen“ und einen angehenden Schnupfen wie eine Todeskrankheit respectirt sehen wollen.

Die Präsidentin war sichtlich verletzt durch die gleichgültige Art und Weise, mit welcher ihre Bitte aufgenommen wurde; sie antwortete nicht.

„Die Baronin ist sehr pikirt über meinen neulichen Absagebrief,“ wandte sie sich an Flora, „der Zettel da“ – sie tippte mit der Lorgnette auf das Briefblatt – „strotzt von Anzüglichkeiten, und wenn nicht Sorge und Angst an sie heranträten, würde sie mir wohl nie wieder geschrieben haben; wie mich das schmerzt, kann ich kaum sagen. Sie will nun im ersten besten Hôtel wohnen, von wo aus unser Hofrath am ersten zu erreichen ist, und bittet mich wenigstens um die Gefälligkeit, ihr eine Wohnung von fünf Zimmern auszumachen.“ Jetzt zuckte ein wahrhaft vernichtender Blick unter den breiten Lidern hervor nach dem jungen Mädchen im weißen Kleide, das ihr gegenüber hinter einem Stuhle stand und, die Hände auf die Lehne desselben gelegt, mit niedergeschlagenen Augen den Verhandlungen zuhörte, wobei abwechselnd Erröthen und Blaßwerden über das liebliche Gesicht hinflogen – war doch jedes Wort ein Vorwurf für sie.

„Mein Gott, es ließe sich ja schließlich in der Beletage einrichten, wenn die gute Steiner nicht à tout prix fünf Zimmer haben müßte,“ fuhr die Präsidentin fort. „Aber sie braucht doch nothwendig einen Salon für sich und ihre Tochter Marie, ein Wohnzimmer für den kleinen Job von Brandau und seine Gouvernante, und allermindestens drei Schlafzimmer – die Jungfer kommt ja auch mit.“ Sie stützte sorgenschwer und tief verstimmt den Kopf in die Hand.

[280] „Das will Alles in Allem sagen, daß Käthe für die Besuchszeit dieser wildfremden und anmaßenden Frau Baronin im Wege ist,“ fuhr Henriette scharf und zornig heraus.

„Ich habe mich bereits erboten, in die Mühle zu gehen,“ sagte die junge Schwester ohne eine Spur von Empfindlichkeit und strich beschwichtigend mit der Hand über Henriettens Haar.

„O nein, da weiß ich etwas Besseres, Käthe – wenn Du denn einmal weichen mußt,“ rief die Kranke mit aufleuchtenden Augen. „Wir bitten die Tante Diakonus um das liebe, traute Fremdenzimmer für Dich; ich weiß, sie wird ganz glücklich sein, Dich drüben zu haben, denn Du bist ja ihr Augapfel. … Dein Flügel wird hinübergeschafft, und da darf ich dann auch kommen, so oft ich will“ – sie verstummte plötzlich mit einem Blicke auf den Doctor. Dieser hatte sich zuerst abgewendet und durch das Fenster gesehen, und jetzt kehrte er ihr das tiefverfinsterte Gesicht zu, und das, was sie aus seinen Augen ansprühte, war heftiger, zürnender Widerspruch; sie traute ihren Sinnen kaum – er war gar nicht mehr er selbst.

„Ich finde es praktischer und schlage deshalb vor, daß der Knabe mit seiner Erzieherin in meinem Hause einquartiert wird,“ sagte er kalt und gezwungen.

Die Präsidentin rückte und zupfte verlegen an der Schleierwolke unter ihrem Kinn, auch konnte sie ein flüchtiges, ironisches Lächeln kaum unterdrücken. „Das wird sich schwerlich arrangiren lassen, bester Hofrath,“ versetzte sie. „Meine alte Freundin wird sich um keinen Preis von Job trennen wollen, und dann – Sie haben keinen Begriff davon, wie entsetzlich verwöhnt der Junge ist. Unser kleiner, lieber Erbprinz ist nicht so exquisit logirt, wie dieser einzige und letzte Sproß der Brandau’s; das dürre, häßliche Kerlchen schläft unter Atlasdecken und seidensammtenen Vorhängen. Mein Gott ja, die Familie kann das, und findet solch eine luxuriöse Umgebung selbstverständlich. Unsereins kommt aber in Verlegenheit, wenn es gilt, sie zu logiren.“

„Und weshalb ziehst Du es vor, das kleine Scheusälchen – dieser gefeierte letzte Sproß der Brandau ist nämlich der ungezogenste, nichtsnutzigste Bengel, den die Welt hat – der armen Tante Diakonus in’s Haus zu bringen, Leo?“ fragte Henriette heftig und gereizt den Doctor; sie war urplötzlich in jene krankhafte Aufregung verfallen, welche sie öfter Dinge sagen ließ, die sie nachher bitter bereute. „Was hat Dir denn Käthe gethan? Ich sehe es längst mit Ingrimm, wie ungerecht und vorurtheilsvoll Du gegen sie bist, ist sie Dir nicht vornehm genug, weil der Schloßmüller ihr Großvater war? Nie fällt es Dir ein, sie auch nur anzureden, und das ist doch geradezu lächerlich, denn sie ist und bleibt Flora’s Schwester, so gut wie ich. Unter uns Allen waltet das trauliche ‚Du‘ – nur sie ist die Ausgestoßene.“

„Mein lieber Schatz, dieses ‚Du‘ ist mir längst ein Dorn im Auge, und wenn es auf mich allein ankäme, dann dürftest Du es so wenig gebrauchen, wie Käthe auch,“ fiel Flora ein. „Aufrichtig gestanden, ich gönne keiner Anderen auch nur das Iota von einem Vorrechte, das mir allein zusteht. In Bezug auf Dich will ich Gnade für Recht ergehen lassen – mag es dabei bleiben, von Käthe’s Seite aber würde ich mir eine solche Vertraulichkeit zu Leo ganz ernstlich und energisch verbitten.“ Sie schlang ihren Arm um die Schulter des Doctors und schmiegte sich mit einem zärtlichen Aufblicke eng an seine hohe Gestalt.

Machte es diese Berührung in Gegenwart der Anderen, oder war er innerlich so bestürzt und empört über Henriettens rücksichtslose Vorwürfe – der Doctor fuhr empor, als halte ihn eine Schlange und nicht ein schöner, weicher Mädchenarm umschlungen, und sein Gesicht war weiß und blutlos wie der Tod.

Käthe wandte sich ab und wollte das Zimmer verlassen – sie hätte laut aufweinen mögen, so entsetzlich wehe hatte man ihr gethan, aber sie verbiß standhaft die Qual und bemühte sich, ihre äußere Haltung zu behaupten; da wurde die Thür geöffnet, auf die sie zuschritt, und der Commerzienrath trat herein. Wunderlich, sie vergaß in diesem Augenblicke völlig die Abneigung, die sich ihr während der letzten Zeit in das Herz geschlichen; sie dachte nur daran, daß er ihr Vormund sei, Vaterstelle bei ihr vertreten und sie schützen müsse, und in Folge dieses Antriebes trat sie neben ihn und legte die Hand auf seinen Arm.

Er sah sie überrascht, aber froh lächelnd an und drückte ihre Hand unter schalkhaftem Augenblinzeln mit seinem Arme fest an das Herz. Die Hände hatte er nicht frei; er trug eine kleine Kiste, die er auf den Tisch stellte, hinter welchem die Präsidentin saß. Sein Eintreten unterbrach eine unsäglich peinliche Scene und Henriette, die sie herbeigeführt, hätte ihm jetzt um den Hals fallen mögen für den heiteren, frohmüthigen Ton, den er in seiner Unbefangenheit anschlug.

„Nun bin ich getröstet; da ist endlich mein Angebinde für Dich eingetroffen, Flörchen,“ sagte er. „Mein Berliner Agent entschuldigt sein Zögern mit der Umständlichkeit der Fabrikanten.“ Er lüftete den Deckel. „Apropos, ich habe auch noch eine Geburtstagsfreude für Dich,“ unterbrach er sich in leichtfertig scherzendem Tone. „Eben sagt man mir, daß Du gerächt bist; heute Morgen ist die Hauptheldin des Attentates im Stadtforste, die mit den gefahrdrohenden Nägeln, verurtheilt und ihr eine ganz bedeutende Gefängnißstrafe zuerkannt worden; die Anderen, entweder noch sehr jung oder zu der Missethat von der Anstifterin verführt, wie sich herausgestellt hat, sind meist mit einem blauen Auge davon gekommen.“

„Ich will nicht hoffen, daß Flora diese Nachricht wirklich als Geburtstagsfreude aufnimmt,“ rief Henriette. „Allerdings, Strafe muß sein, und der großen, wilden Megäre kann es nicht schaden, wenn sie durch Stillsitzen ein wenig zahm gemacht wird, allein für uns selbst hat in jenem entsetzlichen Auftritt etwas so namenlos Beschämendes und Niederschlagendes gelegen – es ist schrecklich, sich so verhaßt und verwünscht zu wissen, und die Verhaßteste von uns Allen ist Flora – daß Du besser gethan hättest, Moritz, gerade heute darüber zu schweigen.“

„Meinst Du?“ lachte Flora. „Moritz kennt mich besser; er weiß, daß ich hoch über der sogenannten Volksstimme stehe und, um populär zu werden, nie einen Finger rühre. Und Du hast früher nicht anders gedacht, Henriette. Ich möchte wissen, was Du noch vor acht Monaten gesagt haben würdest, wenn irgend Jemand die Volksinteressen in unseren Salons betont und vertreten hätte – das waren Dir ‚böhmische Dörfer‘. Aber seit Käthe da ist, sind diese Fragen in unserer Beletage so über alle Gebühr an der Tagesordnung, daß Einem angst und bange wird vor so viel spartanischer Tugend und unfehlbarer Mädchenweisheit. Es sollte mich sehr wundern, wenn unsere Jüngste nicht bereits in ihrem Kochbuch Braten und Suppen aufgeschlagen hätte, die nothwendig sind, um die Büßende bei Kräften zu erhalten.“

„Das nicht,“ entgegnete Käthe muthig und ernsthaft in das vor Spott und Sarkasmus zuckende schöne Gesicht der impertinenten Schwester hinein; „aber nach ihren Familienverhältnissen habe ich mich erkundigt – sie hat vier kleine Kinder, und ihr unverheiratheter Bruder, der in Moritzens Spinnerei beschäftigt war und für die halbverwaiste Kleine mitgesorgt hat, liegt schon längere Zeit krank danieder. Es versteht sich von selbst, daß diese fünf hülflosen Menschen unter der nothwendigen Strafe nicht mitleiden dürfen, und da will ich lieber gleich sagen, daß ich die Verpflegung in die Hand genommen habe, bis die zwei Versorger wieder arbeitsfähig sind.“

Der Commerzienrath fuhr herum – er schien denn doch einen Widerspruch auf den Lippen zu haben. „Ja, Moritz,“ sagte das junge Mädchen rasch mit einem ausdrucksvollen Blick, „das sind so Momente, wo mir vor dem Geldschrank meines Großvaters weniger graut.“

Die Präsidentin rückte ungeduldig auf ihrem Lehnstuhl hin und her – diese crasse Sentimentalität ging ihr über den Spaß. „Das sind ja recht hübsche Eröffnungen! Wie wunderlich und verdreht sich doch solch ein Kindskopf die Welt malt! In gefährlichere Hände kann der Reichthum gar nicht kommen,“ rief sie tiefgeärgert. „Ja, nicht wahr, bester Bruck, da stehen Sie nun auch und sehen sich nachdenklich die Hand an, die sich so hülfsbedürftig an Moritzens Arm anklammert und dabei doch so willkürlich und eigenmächtig das Geld zum Fenster hinauswirft, das er mit mehr Strenge verwalten sollte?“

Käthe zog augenblicklich die Hand zurück. Sie sah noch, wie die Augen des Doctors unverwandt und finster auf ihren Fingerspitzen hafteten und dann erschrocken über die gegenüberliegende Wand hinstreiften.

„Ach, Großmama, ein Blick der Mißbilligung ist das ganz [281] sicher nicht gewesen,“ rief Flora scharf; sie trat mit einer ungestümen Geberde ein wenig zurück und beobachtete argwöhnisch den Farbenwechsel auf dem schönen Gesichte des Verlobten. „Bruck war ja selbst immer so eine Art Enthusiast für das sogenannte Volkswohl –“

„Aber jetzt doch nicht mehr, mein Kind – jetzt, wo er bei Hofe verkehrt und die Gnade des Fürsten besitzt, wie kaum ein Anderer?“

„Und weshalb sollte ich diesem Verkehre meine Grundsätze unterordnen?“ fragte der Doctor anscheinend ruhig, allein seine Stimme klang unsicher und bewegt, als habe er noch mit inneren Stürmen zu kämpfen.

„Mein Gott, Sie werden doch nicht mit diesen Umsturzmenschen, diesen Socialdemokraten, gehen wollen?“ rief die Präsidentin ganz bestürzt und alterirt.

„Ich glaube, schon einige Male ausgesprochen zu haben, daß ich gar keiner dieser heftig streitenden Parteien angehöre, eben aus Humanität. Ich bemühe mich, den klaren Ueberblick zu behalten, den der Parteihaß stets trübt und welcher doch so nothwendig ist, wenn man zum wahren Menschenwohle wirken will.“

Währenddem hatte der Commerzienrath geschäftig die Kiste ausgepackt. Ihm war es stets höchst fatal, wenn das Gespräch auf ein Gebiet hinüberspielte, wo die Meinungsdifferenzen ihm das häusliche Behagen, wenn auch nur für einen Moment, störten. Er entfaltete maisgelben Atlas und veilchenfarbenen Seidensammet. „Zwei Toiletten zu Deinem ersten Debüt als Frau Professorin auf dem Balle und in der Soirée,“ sagte er unmittelbar nach Bruck’s Ausspruche zu Flora.

Er hatte seinen Zweck erreicht – der Glanz, den er hinbreitete, war zu verführerisch für Damenaugen; selbst Henriette vergaß momentan ihren Groll, als auch noch elegante Fächer und Cartons mit Pariser Blumen und Federn das reiche Geburtstagsgeschenk vervollständigten. Aber noch war der Inhalt der Kiste nicht erschöpft. „Die anderen Damen meines Hauses dürfen nicht leer ausgehen, um so weniger, als ich einstweilen eine Reise nicht in Aussicht und mithin für die nächste Zeit nicht die Gelegenheit habe, Etwas mitbringen zu dürfen,“ fuhr der Commerzienrath fort.

Die Präsidentin nahm mit süßem Lächeln einen kostbaren Spitzenshawl in Empfang, und Henriette erhielt eine weiße Taffetrobe, in Käthe’s widerstrebende Hand aber drückte der Commerzienrath mit einem eigenthümlich verständnißvollen, vielsagenden Blicke ein ziemlich umfangreiches Etui.

Dieser eine Blick rief blitzschnell in der Seele des jungen Mädchens einen wahren Sturm der widerwärtigen Empfindungen wach, die sie in der letzten Zeit zu ihrem eigenen Befremden so sehr gegen den Schwager und Vormund eingenommen. Nein, und abermals nein! So seltsam feurig und so innig vertraut, als gelte es ein Geheimniß, um das nur sie Beide wüßten, durfte und sollte er sie nicht anblicken – sie wollte sich das ein- für allemal verbitten. Scham, Abneigung und der fast unbezwingliche Drang, ihren Widerwillen gleich jetzt, vor Aller Ohren, unverhohlen auszusprechen, das Alles kämpfte in ihr und mochte sich wohl auf ihrem Gesicht spiegeln, wenn es auch mißverstanden wurde.

„Nun, Käthe, ist es Dir so etwas Neues, beschenkt zu werden?“ fragte Flora. „Was hat Dir denn Moritz zugesteckt? Einmal müssen wir es doch erfahren, das süße Geheimniß – gieb nur her, Kind!“ – Sie fing das Etui auf, das eben im Begriff war, auf die Erde zu fallen, und drückte auf die Feder. Ein blaßrothes Feuer entströmte den Steinen, die, als Halsband aneinandergereiht, auf schwarzem Sammet lagen.

Die Präsidentin nahm die Lorgnette vor die Augen. „Superbe gefaßt! Eigentlich zu künstlerisch, zu antik für die Imitation, wenn sie auch modern und selbst von hochgestellten Damen augenblicklich sanctionirt wird. … Der Glasfluß ist merkwürdig rein und feurig.“ Sie blinzelte angestrengt hinüber und streckte nachlässig die Hand aus, um sich das Etui zur näheren Besichtigung auszubitten.

„Glasfluß?“ wiederholte der Commerzienrath beleidigt. „Aber, Großmama, wie können Sie mich denn für so entsetzlich unnobel halten? Ist denn auch nur ein Faden hier unecht?“ – Er fuhr mit der Hand durch die knisternden Stoffe. „Ich kaufe grundsätzlich nie Imitation – das sollten Sie doch aus Erfahrung wissen.“

Die Präsidentin biß sich auf die Lippen. „Das weiß ich, Moritz – ich bin nur ganz consternirt der Thatsache gegenüber; das sind Rubinen-Exemplare, wie sie, meines Wissens, unsere liebe Fürstin nicht einmal aufzuweisen hat.“

„Dann thut mir der Fürst leid, daß ihm die Mittel dazu fehlen,“ rief der Commerzienrath unter übermüthigem Lachen. „Uebrigens müßte ich mich schämen, gerade Käthe etwas Werthloses zu schenken, Käthe, dem Goldkind, das in zwei Jahren aus dem eigenen Besitze jedes beliebige Capital entnehmen und sich Juwelen anschaffen kann, so viel sie Lust hat. Wie würde sie dann die Imitation als eine Beleidigung verächtlich in die Ecke werfen!“

„Ich glaube das selbst,“ fiel die Präsidentin mit kühler Ironie ein; „Käthe hat eine merkwürdige Passion für alles Schwere, in welchem recht viel Geld steckt – das beweisen ihre ewigen Taffettoiletten. Aber, mein Kind“ – sie heftete die Augen scharf auf das junge Mädchen, das die bebenden Hände wieder auf der Stuhllehne gefaltet und keine Miene gemacht hatte, das Geschmeide zurückzunehmen – „auch die Art, sich zu kleiden, muß vom Tactgefühle, vom guten Ton ausgehen, wenn man denn einmal gern zur feinen Welt gehören möchte. Achtzehn Jahre und Brillanten passen nicht zusammen – an einen Mädchenhals gehört ein schlichtes Kreuz oder Medaillon am Sammetbande, allerhöchstes eine einfache Perlen- oder Korallenschnur.“

„Ich bitte Dich, Großmama, Käthe bleibt doch nicht immer achtzehn Jahre und auch nicht immer ein Mädchen,“ rief Flora mit frivolem Muthwillen. „Das weiß ich am besten, gelt, Käthe?“

Die Augen des Mädchens flammten auf vor beleidigter Scham und vor Unwillen; sie wandte sich stolz ab, ohne auch nur mit einer Silbe zu antworten.

„Schau, wie sie erhaben aussehen kann, die Kleine!“ lachte Flora gezwungen auf – es gelang ihr nicht, ein Gemisch von Aerger und Verlegenheit ganz zu verbergen. „Thut sie doch, als hätte ich an das strengste Amtsgeheimniß mit meiner unschuldigen Ausplauderei gerührt! Ist’s denn ein Verbrechen, wenn man den Wunsch hat, sich zu verheirathen? Geh’, kleine Prüde! Was man in einem vertraulichen Augenblicke bekennt, das muß man auch öffentlich nicht verleugnen.“ Sie schob die schneeweißen Finger spielend unter die funkelnden Rubinen und sah schelmisch und vielsagend blinzelnd den Commerzienrath von der Seite an. „Wahr ist’s, Moritz – das ist in der That ein Collier – wie es nur die Frau eines Millionärs tragen kann.“

Bei diesen Worten erhob sich die Präsidentin. Sie raffte mit ungewohnter Hast und unsicheren Fingern Brief und Lorgnette auf und raffte die Mantille über die Schultern, um zu gehen. „Magst Du auch immer streng auf Echtheit halten, bester Moritz,“ sagte sie vornehm gelassen; „der Champagner, den wir Mittags auf Flora’s Wohl getrunken haben, war es nicht; er macht mir unerträgliches Kopfweh. Ich muß mich für einige Stunden niederlegen.“

Inmitten des Salons wandte sie sich noch einmal zurück. „Wenn ich mich erholt haben werde, möchte ich Dich um eine Entscheidung bitten,“ setzte sie hinzu, indem sie dem Commerzienrath den Brief hinhielt. „Lies ihn – Du wirst finden müssen, daß die Baronin nicht zum zweiten Mal zurückgewiesen und beleidigt werden darf. Ich habe mich neulich gefügt um des lieben Friedens willen, aber nun bin ich nicht mehr in der Lage, so unverantwortlich nachzugeben. Leute unseres Standes lassen sich denn doch nicht wie Marionetten, je nach Gefallen, dirigiren und wohl gar als unbequem abschütteln. Das bedenke wohl, Moritz!“

Mit kalter Strenge in den Zügen und einem hochmüthigen Kopfnicken ging sie hinaus.




19.


„Da wirst Du einen schweren Stand haben, Moritz,“ sagte Flora nach der Richtung zeigend, wo die Präsidentin verschwunden war. „Die Großmama ist gerüstet und bewehrt bis an die Zähne –“

Der Commerzienrath lachte hell auf.

„Nun, Du sollst sehen, sie wird nicht einen Zoll breit von [282] dem Terrain, das Du ihr allzu bereitwillig und unumschränkt eingeräumt hast, an eine Andere abtreten wollen. Ich habe Dich oft genug gewarnt, sieh Du nun auch zu, wie Du mit ihr fertig wirst!“ Sie unterbrach sich plötzlich und erfaßte besorgt Bruck’s Hand. „Sage mir nur um des Himmels willen, was mit Dir ist, Leo?“ rief sie leidenschaftlich erregt. „Du kämpfst mit einem inneren Schmerze, den Du mir verbergen möchtest. Magst Du auch Andere täuschen, das Auge der Liebe täuschest Du nicht. Hier und hier“ – sie fuhr mit ihren weißen Fingern über seine Stirn, die bis an die Haarwurzeln erröthete – „sehe ich Linien, die mich ängstigen. Du strengst Dich offenbar zu sehr an. Weißt Du, daß ich mir die Freiheit nehmen und von heute an einen unserer Diener in Deine Stadtwohnung beordern werde, um diese lästigen Spießbürger unerbittlich zurückzuweisen, die Dein ärztliches Wirken kaum noch mit Steinen beworfen haben und nun Dich zu Grunde richten mit ihrer Zudringlichkeit?“

Henriette starrte die zuversichtliche Sprecherin wie fassungslos an, und der Commerzienrath räusperte sich und strich wiederholt mit der Hand über sein feines Bärtchen, um einen moquanten Ausdruck zu verbergen, über das Gesicht des Doctors aber, das vorhin allerdings eine unerklärliche, erschreckende Starrheit angenommen hatte, ging jetzt schattenhaft ein schneidendes, bitterverächtliches Lächeln hin. „Das wirst Du nicht thun, Flora,“ sagte er rauh und sehr gebieterisch. „Jede unbefugte Einmischung in meine Praxis muß ich mir entschieden verbitten – heute und immer. Ich habe übrigens im Interesse eines Schwerkranken, den heftige Gemüthsbewegungen geistig und körperlich gebrochen, ein Wort mit Dir zu reden,“ wandte er sich an den Commerzienrath. „Möchtest Du mir wohl eine Besprechung unter vier Augen gestatten?“

„Eines Schwerkranken?“ wiederholte der Commerzienrath nachsinnend. Er runzelte gleich darauf finster die Brauen, und ein harter, widerwilliger Zug entstellte seinen Mund. „Ach ja, ich weiß schon,“ sagte er mit einer wegwerfenden Handbewegung; „es ist der wagehalsige Mosje, der Kaufmann Lenz. Der Mensch hat auf die unvernünftigste Weise in’s Blaue hinein speculirt und möchte sich nun mit einem tiefen Griffe in meinen Seckel retten; ich bedanke mich.“

„Willst Du mir dergleichen nicht lieber drüben aussprechen?“ fragte der Doctor mit starkem Nachdrucke. „Wir Beide sind heute noch die Einzigen, die der Mann in seine furchtbare Lage eingeweiht hat; nicht einmal seine Frau weiß darum –“

„Nun meinetwegen; ich werde ja hören, inwiefern er Dich zum Vermittler gemacht hat, glaube aber schwerlich, daß ich ihm auch nur eine Fingerspitze reichen werde. Es ist eine total verlorene Sache, sag’ ich Dir.“ Er zuckte kalt die Achseln; den einst wirklich gutherzigen Mann hatten Glück und Geld unempfindlich gemacht – er war völlig unfähig geworden, sich in eine von qualvollen Sorgen hin- und hergepeitschte Menschenseele hineinzudenken. „Im Uebrigen hast Du am allerwenigsten Ursache, Dich seiner anzunehmen, er hat[WS 1] auch einen Stein aufgehoben, um Dich zu bewerfen.“

„Soll das wirklich maßgebend für mich sein?“ fragte Bruck ernst über die Schulter, während er sich anschickte, dem Commerzienrathe in das anstoßende Zimmer voranzugehen. – Der Mann der Wissenschaft erschien in diesem Augenblicke hochherrlich und imponirend neben dem jäh erröthenden Geldmenschen.

Die drei Schwestern blieben allein. Flora schellte übelgelaunt nach ihrer Jungfer, damit sie die Geschenke des Commerzienrathes wegräume, und Käthe griff nach ihrem Sonnenschirme.

„Willst Du in’s Freie, Käthe?“ fragte Henriette, die sich wieder in ihren Schaukelstuhl gekauert hatte.

„Es ist heute Arbeitsstunde bei der Tante Diakonus; ich habe mich schon verspätet und muß eilen –“ das junge Mädchen verstummte unwillkürlich; Schwester Flora warf einen Carton mit Blumen so heftig in die Korbwanne, welche die Kammerjungfer herbeigeholt hatte, daß ein ganzer Regen zarter, weißer Blüthenglocken über die Stoffe hinflog.

„Wie mich dieses Thun und Treiben anekelt, kann ich gar nicht sagen,“ rief sie ergrimmt. „Diese Tante, dieses personificirte Pflichtgefühl, hat meinte heutige Einladung zum Kaffee abgelehnt, weil die kleinen Damen aus unserem verrufensten Stadtviertel beileibe nicht unverrichteter Dinge fortgeschickt werden dürfen, und Fräulein Käthe beeilt sich selbstverständlich aus demselben Grunde, zu der Farce eine ernsthafte Miene voll Pflicht und Tugend zu machen.“

Sie biß sich auf die Lippen und wartete, bis sich die Jungfer entfernt hatte, dann aber erfaßte sie Käthe, die eben schweigend das Zimmer verlassen wollte, am Arm und hielt sie zurück. „Nur einen Augenblick Geduld! Ich muß Dir sagen, daß Du mich durch Dein Gebahren in eine Rolle drängst, die ich auf die Dauer unmöglich durchführen kann – bis zum September ist eine lange Zeit. Was liegt näher, als daß die Tante von der Braut ihres Neffen dieselbe heroische Selbstüberwindung verlangt, wie sie das Muster von Schwester an den Tag legt? – Ich soll die ungewaschenen Kinderfinger zwischen die meinen nehmen und lammgeduldig Masche um Masche von den Nadeln heben, bis solch ein vernagelter Taglöhnerkopf die Manipulation des Strickens begriffen hat. Ich soll nöthigenfalls schmutzige Gesichter waschen, wirre Zöpfe strählen und stundenlang mit den unappetitlichen Menschenkindern Ringelreihe spielen – ich hab’s versucht – brr! Und wenn ich darauf hin mein Mitwirken unterlasse, da geschieht es, daß ich durch die Ohrenbläsereien der guten Tante in Bruck’s Augen zu einem wahren Ungeheuer gestempelt werde, das – unweiblich und herzlos – die süße Kinderwelt nicht liebt. Aus diesem Grunde verbiete ich Dir nochmals, ein- für allemal diese Art Verkehr im Hause meines Bräutigams, kraft meines guten Rechtes – hörst Du?“

„Ich höre, werde aber nichts destoweniger thun, was mir mein eigenes Gewissen nicht verbietet,“ versetzte Käthe fest und ruhig und schob mit einer energischen Geberde die Hand der Schwester von ihrem Arm. „Deinem guten Recht, das Du übrigens selbst mißachtet und in meiner Gegenwart als überlästig ausgeboten hast –“

„Ja wohl, ja wohl!“ rief Henriette dazwischen – sie stand plötzlich neben Käthe, und ihre Augen funkelten in unversöhnlichem Haß die übermüthige Schwester an.

„Also diesem Recht trete ich in keiner Weise nahe, dessen bin ich mir bewußt,“ fuhr Käthe fort. „Schlimm aber steht es um Dich, wenn Du in jeder menschenwürdigen Handlung Anderer ein feindliches Element siehst, das Deine Stellung gefährdet –“

„Gefährdet?“ wiederholte Flora unter spöttischem Gelächter die Hände zusammenschlagend. „Liebste, weiseste aller Moralpredigerinnen, das ist ein kleiner Irrthum. Eine Liebesleidenschaft, die sich das Alles bieten läßt, was ich mit gutem Vorbedacht als Feuerprobe über Bruck verhängt hatte, kann durch nichts mehr auf Erden gefährdet werden.“


(Fortsetzung folgt.)




Menschenaffen.


Von Brehm.


III.[WS 2] Gefangenleben.


Auf einer seiner Jagden von Dajaks herbeigerufen, sah der bekannte Forscher Wallace einen großen Orang-Utan auf einem Baume sitzen und erlegte ihn mit drei Schüssen. Während die Leute ihn zurüsteten, um ihn nach Hause zu tragen, bemerkte man noch ein Junges von höchstens Fußlänge, welches mit seinem Kopfe im Sumpfe lag und augenscheinlich am Halse seiner Mutter gehangen hatte, als sie vom Baume herabfiel. Glücklicher Weise schien es nicht verwundet, vielmehr sehr kräftig und lebhaft zu sein, begann auch, nachdem ihm der Mund vom Schlamme gesäubert worden war, laut zu schreien. Noch besaß es keinen einzigen Zahn, und erst einige Tage später kamen die beiden unteren Vorderzähne zum Vorscheine. Unglücklicher Weise vermochte Wallace nicht, Milch zu verschaffen, da weder Malaien, noch Chinesen, noch Dajaks dieses Nahrungsmittel verwenden,

[283] 

Orang-Utans.
Eine Studie nach der Natur von G. Mützel.

[284] und vergeblich bemühte er sich, eine thierische Amme zu gewinnen, sah sich daher genöthigt, dem Kleinen Reiswasser aus der Saugflasche zu geben. Bei so magerer Kost gedieh dieses erklärlicher Weise nicht, und wenn auch gelegentlich Zucker und Kokosmilch hinzugefügt wurde, um die Aetzung nahrhafter zu machen, fehlte doch immer die für dieses Alter unersetzliche Muttermilch. Steckte man dem jungen Orang-Utan einen Finger in den Mund, so saugte er mit größter Kraft, als glaube er durch Anstrengung etwas Milch herauszupressen, und erst nachdem er sich von der Vergeblichkeit seiner Bemühungen überzeugt hatte, unterließ er mißmuthig weitere und begann, ganz wie ein Kind unter ähnlichen Umständen, kläglich zu schreien. Liebkoste und wartete man ihn, so war er ruhig und ersichtlich zufrieden; legte man ihn weg, so schrie er laut auf.

Nach längerer Zeit gewöhnte er sich an einen ihm zur Wiege dienenden Kasten. Obwohl man denselben täglich mit neuer Unterlage versah und reinigte, wurde es doch sehr bald nöthig, auch ihn selbst zu waschen. Und diese Behandlung gefiel ihm, nachdem er dieselbe einige Male ausgehalten hatte, in so hohem Grade, daß er seinen Pfleger durch Schreien auf die Nothwendigkeit der Reinigung aufmerksam machte und sich erst befriedigte, wenn man ihn nach dem Brunnen trug. Hier strampelte er beim ersten kalten Wasserstrahle allerdings etwas, beruhigte sich aber doch sofort wieder, weil er das Abwaschen und mehr noch das Drücken, Reiben und Kämmen oder Bürsten seines Haares schätzen lernte. Wenn ihm das Haar gebürstet wurde, lag er ganz still und streckte Arme und Beine behaglich von sich.

Nach wenigen Tagen wurde in ihm kindliche Spiellust rege. Zuerst klammerte er sich mit allen Vieren an Alles, was er packen konnte, sodaß man den Bart sorgfältig vor ihm in Acht nehmen mußte, weil er sich mit den krummen Fingern fest in denselben einhäkelte, auch nicht losließ und die Hülfe eines Zweiten erforderlich machte. Bald aber beschäftigte er sich mit anderen Dingen, wirthschaftete mit den Händen in der Luft umher und versuchte irgend etwas zu ergreifen. Gelang es ihm, einen Lappen mit zwei Händen oder mit diesen und einem Fuße zu erfassen, so schien er glücklich zu sein; in Ermangelung eines anderen Gegenstandes ergriff er seine eigenen Füße, und nach einiger Zeit kreuzte er fast beständig die Arme und packte mit jeder Hand das lange Haar der entgegengesetzten Schulter. Eine ihm gereichte Leiter gewährte später erwünschte Beschäftigung; doch war er durch die mangelhafte Ernährung bereits so abgeschwächt, daß er von ihr oft zum Boden herabfiel.

Da Wallace sah, daß er Haare so gern hatte, schnürte er ein Stück Büffelhaut in ein Bündel zusammen und stellte dieses seinem Pfleglinge zur Verfügung. Zuerst schien ihm diese künstliche Mutter aus dem Grunde außerordentlich zu gefallen, weil er mit seinen Beinen nach Belieben umherzappeln konnte und immer etwas Haar zum Festhalten fand, bald aber erinnerte er sich seiner verlorenen wirklichen Mutter und begann nach der Saugwarze zu suchen, bekam jedoch immer nur den Mund voll Haare, wurde verdrießlich, schrie heftig und ließ nach zwei oder drei vergeblichen Versuchen gänzlich von seinem Vorhaben ab. Nach der ersten Woche fand Wallace, daß sich sein Pflegling leichter mit dem Löffel als mit der Saugflasche ernähren lasse, und man ihm dadurch mehr abwechselnde und nahrhaftere Kost reichen könne, mischte daher Zwieback mit Ei und Zucker, süßen Kartoffeln und dergleichen und freute sich an den drolligen Grimassen desselben, welche Billigung oder Mißfallen über die gereichte Nahrung ausdrückten. Im ersteren Fälle beleckte er die Lippen, zog die Backen ein und verdrehte die Augen mit dem Ausdrucke der größten Befriedigung, im letzteren drehte er den Bissen kurze Zeit mit der Zunge im Munde herum, als ob er versuchen wollte, ihm dadurch Wohlgeschmack abzugewinnen, und spie ihn, wenn er ihn nicht wohlschmeckend fand, regelmäßig wieder aus. Gab man ihm dieselbe Nahrung noch ein anderes Mal, so schrie er und schlug heftig um sich.

Als Wallace einen jungen, vielleicht kaum älteren Makaken erhielt, wurde die Hülflosigkeit des Orang-Utan besonders ersichtlich. Er benahm sich ganz wie ein kleines Menschenkind, lag hülflos auf dem Rücken, rollte sich langsam hin und her, streckte alle Viere in die Luft, in der Hoffnung etwas zu erfassen, war aber noch kaum im Stande seine Finger nach einem bestimmten Gegenstande hinzubringen, öffnete, wenn er unzufrieden war, seinen fast zahnlosen Mund und drückte seine Wünsche durch ein sehr kindliches Schreien aus; der Makak hingegen war in beständiger Bewegung, lief und sprang umher, wann und wo es ihm Vergnügen gewährte, untersuchte Alles, ergriff mit der größten Sicherheit die kleinsten Dinge, kletterte, turnte, setzte sich in Besitz von allem Eßbaren, was ihm in den Weg kam; kurz man konnte einen größeren Gegensatz sich nicht denken: der Orang-Utan erschien neben seinem Verwandten noch mehr als ein kleines Kind. Beide Affen wurden sogleich die besten Freunde und keiner fürchtete sich vor dem andern; der Makak behandelte aber den viel größeren Säugling, entsprechend der Hülflosigkeit desselben, bald mit dem allen Affen eigenen Uebermuthe, setzte sich ohne die mindeste Rücksicht auf dessen Leib, selbst auf dessen Gesicht, leckte die Speisereste von seinen Lippen und riß ihm schließlich das Maul auf, um zu sehen, ob etwas darin sei. Alles dies ertrug der Orang-Utan mit beispielloser Geduld; denn er schien froh zu sein, überhaupt etwas Warmes in seiner Nähe oder einen Gegenstand zu seiner Verfügung zu haben, um welchen er zärtlich seine Arme schlingen konnte.

Nach etwa Monatsfrist hatte er sich soweit entwickelt, daß er die ersten Bewegungsversuche anstellen konnte. Wenn er im Kasten lag, pflegte er sich am Rande gerade aufzurichten, und es gelang ihm das auch ein- oder zweimal, oft überstürzte er sich aber und kam so schwerfällig vorwärts. Weiter brachte er es überhaupt nicht; denn in den zwei Monaten, während welcher er unter der ungenügenden Pflege gelitten hatte, war er nicht im geringsten gewachsen und nur geistig etwas weiter vorgeschritten, hatte wenigstens gelernt, seine Wünsche durch rechtzeitiges Schreien kund zu geben; er beruhigte sich, wenn Niemand da war, und schrie um so ärger, wenn er Schritte eines Vorübergehenden vernahm.

Ob die übrigen Menschenaffen sich ebenso langsam entwickeln wie der Orang-Utan, weiß ich nicht, glaube es jedoch annehmen zu dürfen. In ihrem Betragen dagegen unterscheiden sich älter gewordene Schimpansen und Tschegos wesentlich von jenem. Der Orang-Utan macht unter allen Umständen den Eindruck eines schwerfälligen, traurigen Gesellen, dessen Gesicht gleichsam eine beredte Klage über die Erbärmlichkeit des irdischen Jammerthales ist. Er erscheint stets etwas gedrückt, unselbstständig, willenlos, bekundet wenig Achtsamkeit auf das, was um ihn her vorgeht, in seltenen Fälle schwache, ich möchte sagen, verschleierte Theilnahme für seine Umgebung, für Orts- und Zeitverhältnisse, und nur dann eine etwas gehobenere Stimmung, wenn es sich um das Essen handelt. Auch er liebt menschliche Gesellschaft und unterscheidet, so lange er jung ist, nur zwischen denen, welche sich am meisten mit ihm beschäftigen, und denen, welche sich nicht um ihn kümmern, nicht aber zwischen Mann und Frau oder dem Erwachsenen und dem Kinde. Leckereien sagen ihm zu; mehr als alles Uebrige aber befriedigen ihn Wärme und Bequemlichkeit: die strahlende Sonne wie der geheizte Ofen oder das Feuer im Kamin, ein Tuch oder eine Decke, welche er als Kleid um sich schlägt, ein ohne Mühe zu erreichender Sitz oder endlich ein weiches und warmes Lager. Um sich einen Sitz zu sichern, rafft er sich sogar zur Thätigkeit auf. Wenn er im Garten auf einen Baum geklettert ist und sich hier auf einem nach eigenem Behagen gewählten Aste niederläßt, ihm aber Jemand nachsteigt, schüttelt er die Aeste aus allen Kräften, um den Nachfolgenden abzuschrecken. Wenn er sich einmal an ein bestimmtes Lager gewöhnt hat, bettet er sich nie, ohne vorher das Heu des Lagers zurechtgelegt und ein besonderes Bündel für den Kopf gestaltet zu haben, deckt sich sodann sorgfältig zu und wickelt sich förmlich in die Decke, worauf er sich mit ersichtlicher Wonne dem Schlafe hingiebt. Seine geistige Befähigung scheint kaum geringer zu sein, als die eines Schimpanse, drückt sich aber durchaus verschieden aus. Was er thut, geschieht mit demselben ewig sich gleichbleibenden Ernste, mit derselben Lässigkeit und Theilnahmlosigkeit, welche sein ganzes Wesen kennzeichnen. Auch er lernt, läßt sich unterrichten und unterrichtet sich selbst, ahmt nach, erfindet auch wohl, besitzt aber nicht entfernt die Gewecktheit und Schnelligkeit der Auffassung wie die afrikanischen Menschenaffen, insbesondere der Schimpanse. Sein Temperament ist, um einmal Kunstausdrücke zu gebrauchen, ein phlegmatisches oder ein [285] melancholisches, während das des Schimpansen als sanguinisch und das des Gorilla als cholerisch bezeichnet werden kann.

Ueber letzteren berichtet Du Chaillu, aber freilich wiederum in seiner Alles übertreibenden Weise. Von ihm ausgesandte Jäger brachten ihm, wie er erzählt, einen jungen, etwa zwei- bis dreijährigen Gorilla, welchen sie, nicht ohne Gefahr, von der Mutter angegriffen und von dem Jungen gebissen zu werden, eingefangen, nämlich mit einem ihm über den Kopf geworfenen Tuche zugedeckt und nach landesüblicher Art gefesselt, indem sie seinen Hals in eine vorn verschlossene Holzgabel mit langem Stiele gesteckt und mit Hülfe dieser Gabel unterwegs mehr fortgestoßen als geleitet hatten. Nach Du Chaillu’s Schilderung brüllte und bellte der Gefangene, als er in das Dorf gelangte, schaute aus seinen bösen Augen wild um sich, stürzte auf Jeden los, der sich ihm nahte, versuchte den Gegner zu beschädigen, zerriß ihm die Kleider, kratzte, biß, war mit einem Worte unnahbar. Außerordentlich scheu, wollte er nicht eher essen und trinken, als bis sich die Beschauer in eine gewisse Entfernung zurückgezogen hatten. Am zweiten Tage schien er zwar noch wüthender zu sein als am ersten, begann jedoch zu fressen; am dritten Tage zeigte er sich noch mürrischer und ungeberdiger, bellte Jeden an und zog sich entweder in den fernsten Winkel seines Gefängnisses zurück oder stürzte angreifend vor. Als es ihm einmal gelungen war, aus dem Käfige, nicht aber auch aus dem Hause zu entkommen, geberdete er sich beim Erscheinen der Leute wie ein Rasender; seine Augen glänzten und der ganze Leib bebte vor Zorn. Mit Hülfe eines Netzes, welches man ihm wiederum glücklich über den Kopf schleuderte, wurde er zum zweiten Male gefesselt, brüllte, als er sich gefangen sah, entsetzlich und wüthete und tobte unter den Fesseln so, daß sich Du Chaillu auf seinen Nacken werfen mußte, um seinen Gehülfen zu ermöglichen, ihn an Armen und Beinen zu packen. Zwei Männer faßten hierauf seine Arme, zwei seine Füße und trugen ihn so, nicht ohne bedeutende Anstrengung, nach seinem Käfige zurück. Du Chaillu versichert, niemals ein so wüthendes Thier wie diesen Affen gesehen zu haben, und spricht ihm ein durch und durch boshaftes Gemüth zu, bemerkt auch, daß derselbe zehn Tage später nur deshalb gestorben sei, weil er trotz alles Widerstrebens in Ketten gelegt worden war.

Es ist möglich, daß ein älterer Gorilla in ähnlicher Weise sich beträgt, es unterliegt für mich aber keinem Zweifel, daß ein jung eingefangener sich wenig anders gebaren wird wie der Schimpanse. Meine Ansicht stützt sich auf das Benehmen des Dresdener Tschego, welches in allen wesentlichen Stücken dem gefangener Schimpansen entsprach. Diese habe ich so eingehend beobachtet wie keinen andern Affen; mit ihnen habe ich alle mir irgendwie einfallenden Versuche angestellt, um ihr geistiges Wesen zu ergründen, sie auf dasselbe zu prüfen: sie glaube ich, wenn nicht besser, so doch ebenso gut zu kennen, als irgend Jemand. Ein solcher Schimpanse ist, wenn er seine Aengstlichkeit verloren, dem Menschen sich angeschlossen, Zucht, Lehre und Sitte angenommen hat, ein bewunderungswürdiges Wesen, weil er eine geistige Beweglichkeit entfaltet, welche Jedermann in Erstaunen setzt. Ich muß noch einmal zu meinem bis jetzt ja noch nicht erschienenen „Thierleben“ zurückgreifen, um mich sachgemäß auszudrücken; denn ich glaube nicht, daß ich bessere Worte zur Schilderung des geistigen Lebens dieses Thieres werde finden können als die nachfolgenden, von denen jedes einzelne wohl überlegt ist und seiner vollen Bedeutung nach von mir verbürgt wird:

Einen Schimpanse kann man nicht wie ein Thier behandeln, sondern mit ihm nur wie mit einem Menschen verkehren. Ungeachtet aller Eigenthümlichkeiten, welche er bekundet, zeigt er so außerordentlich viel Menschliches, daß man das Thier beinahe vergißt. Sein Leib ist der eines Thieres; sein Verstand steht um dem eines rohen Menschen fast auf einer und derselben Stufe. Es würde abgeschmackt sein, wollte man die Handlungen und Streiche eines so hoch stehenden Geschöpfes einzig und allein auf Rechnung einer urtheilslosen Nachahmung stellen, wie man es hin und wieder gethan hat. Allerdings ahmt der Schimpanse nach; es geschieht dies aber genau in derselben Weise, in welcher ein Menschenkind Erwachsenen etwas nachthut, also mit Verständniß und Urtheil. Er läßt sich belehren und lernt. Wäre seine Hand ebenso willig oder gebrauchsfähig wie die Menschenhand, er würde noch ganz anders nachahmen, noch ganz anders lernen. Er thut eben, so viel er zu thun vermag, führt das aus, was er ausführen kann, was er aber auch thut, geschieht mit Bewußtsein, mit entschiedener Ueberlegung. Er versteht, was ihm gesagt wird, und wir verstehen auch ihn, weil er zu sprechen weiß, nicht mit Worten allerdings, aber mit so ausdrucksvoll betonten Lauten und Silben, daß wir uns über sein Begehren nicht täuschen. Er erkennt sich und seine Umgebung und ist sich seiner Stellung bewußt.

Im Umgange mit dem Menschen ordnet er sich höherer Begabung und Fähigkeit unter, im Umgange mit Thieren bekundet er ein ähnliches Selbstbewußtsein wie der Mensch. Er hält sich für besser, für höher stehend als andere Thiere, namentlich als andere Affen. Sehr wohl unterscheidet er zwischen erwachsenen Menschen und Kindern, erstere achtet, letztere liebt er, vorausgesetzt, daß es sich nicht um Knaben handelt, welche ihn necken oder sonstwie beunruhigen. Er hat witzige Einfälle und erlaubt sich Späße, nicht blos Thieren, sondern auch Menschen gegenüber. Er zeigt Theilnahme für Gegenstände, welche mit seinen natürlichen Bedürfnissen keinen Zusammenhang haben, für Thiere, welche ihn sozusagen nichts angehen, mit denen er weder Freundschaft anknüpfen, noch in irgend ein anderes Verhältniß treten kann. Er ist nicht blos neugierig, sondern förmlich wißbegierig. Ein Gegenstand, welcher seine Aufmerksamkeit erregte, gewinnt an Werth für ihn, wenn er gelernt hat, ihn zu benutzen. Er versteht Schlüsse zu ziehen, von dem einen auf etwas anderes zu folgern, gewisse Erfahrungen zweckentsprechend auf ihm neue Verhältnisse zu übertragen. Er ist listig, sogar verschmitzt, eigenwillig, jedoch nicht störrisch; er verlangt, was ihm zukommt, ohne rechthaberisch zu sein; er hat Launen und Stimmungen, ist heute lustig und aufgeräumt, morgen traurig und mürrisch. Er unterhält sich in dieser und langweilt sich in jener Gesellschaft, geht auf passende Scherze ein und weist unpassende von sich.

Seine Gefühle drückt er aus wie ein Mensch. In heiterer Stimmung lacht er freilich nicht, aber er schmunzelt doch wenigstens, das heißt verzieht sein Gesicht und nimmt den unverkennbaren Ausdruck der Heiterkeit an. Trübe Stimmungen dagegen verkündet er ganz in derselben Weise wie ein Mensch, nicht allein durch seine Mienen, sondern auch durch klägliche Laute, welche Jedermann verstehen muß, weil sie menschlichen mindestens in demselben Grade ähneln wie thierischen. Wohlwollen erwidert er durch die gleiche Gesinnung, Uebelwollen womöglich in eben derselben Weise. Bei Kränkungen geberdet er sich wie ein Verzweifelter, wirft sich mit dem Rücken auf den Boden, verzerrt sein Gesicht, schlägt mit Händen und Füßen um sich, kreischt und rauft sich sein Haar. Andere Affen bekunden ähnliche Geistesfähigkeiten, beim Schimpanse aber erscheint jede Aeußerung des Geistes klarer, verständlicher, weil sie dem, was wir beim Menschen sehen, entschieden ähnlicher ist als die Verstandesäußerung jener Thiere.

Es würde mir leicht sein, noch ganze Spalten mit Berichten über einzelne Handlungen des Schimpansen zu füllen, glaubte ich nicht, in vorstehenden sowie in früheren von mir in der Gartenlaube gegebenen Berichten schon vollständig genug gesagt zu haben. Nur eins will ich noch hinzufügen, zugleich auch zur Ergänzung des Freilebens der Menschenaffen. Sie sind die einzigen Säugethiere, sogar die einzigen Affen, welche Musik machen. Dies geschieht von den Freilebenden ebensowohl wie von den Gefangenen, allerdings in einer rohen Weise, aber doch in der unverkennbaren Absicht, sich besonders zu vergnügen. Ein Werkzeug hierzu verschaffen sie sich freilich nicht, benutzen aber entsprechende Gegenstände. Ihr Tonwerkzeug ist in Ermangelung einer Trommel ein leicht in Schwingungen zu versetzendes tönendes Holz, im Freien jeder in dieser Beziehung sich eignende hohle Baumstamm, in Gefangenschaft jedes hohlliegende tönende Brett. Der zuverlässige Reade erzählt, daß sich mehrere Schimpansen zusammenfinden und dann beim Spielen zeitweilig auch mit den Händen an hohle Bäume klopfen, um so einen auf weithin den Wald durchschallenden Ton zu erzeugen. Ich glaube die buchstäbliche Wahrheit dieser Angabe deshalb verbürgen zu können, weil gefangene Schimpansen genau dasselbe thun, sobald sie einen tönenden Gegenstand gefunden haben, und zwar indem sie mit den Händen und Füßen klopfen. Je lauter, je heller das Holz [286] tönt, um so größer ist ihre Freude. Der Beachtung werth erscheint es mir, daß die Trommel in irgend welcher Gestalt bei fast sämmtlichen auf tiefer Entwickelungsstufe stehenden Menschenstämmen sich befindet, also jedenfalls zu den ursprünglichsten Tonwerkzeugen gezählt werden muß.

Bei innigem Umgange mit einem wohlerzogenen, um nicht zu sagen gesitteten Schimpansen, kann es wohl geschehen, daß man das Thier in ihm, wenn nicht beständig, so doch für Augenblicke vergißt. Ein solcher Affe lebt sich nach und nach in der Familie ein, nimmt menschliche Sitten und Gewohnheiten an, geberdet sich in vieler Beziehung einem Menschen täuschend ähnlich, lernt beständig Neues und wird mit jedem Jahre verständiger und geistig reifer. Ob sich dies für alle Altersstufen des Menschenaffen sagen läßt, steht dahin. Wenn man den Schädel eines alten Gorilla betrachtet, ist man geneigt, es zu bezweifeln, ob man aber wirklich dazu ein Recht hat, läßt sich schwer sagen. Ein stichhaltiger Grund für ein geistiges Zurückgehen der Menschenaffen mit zunehmendem Alter läßt sich nicht anführen, und die Beobachtung anderer Affen gestattet in keiner Weise eine daraus hinausgehende Schlußfolgerung. Makaken und Paviane, welche wir viele Jahre pflegen und beobachten konnten, von denen wir bestimmt wissen, daß wir alte, ja zum Theil greisenhafte Thiere vor uns haben, nehmen mit dem Alter unbedingt an Verstand zu, und gut erzogene Affen vervollkommnen sich auch in denjenigen Beziehungen, welche wir, vom Menschen sprechend, sittliche nennen: sie verbessern, sie veredeln sich, soweit der alte Adam in ihnen es gestattet. Warum sollte dies bei Menschenaffen anders sein? Warum sollten sie, hinderte die böse Lungenschwindsucht, welche sie bei uns ausnahmslos dahinrafft, ihr Gedeihen nicht, unter Pflege, Obhut, Lehre und Unterricht des Menschen nicht eben dasselbe werden können, was der Hund geworden ist, dessen Ahnen Wolf und Schakal, Alpenwolf und Buansu waren und wie sie sonst alle heißen mögen, die wilden Kläffer, welche wahrhaft herzlich wenig gemein haben mit unserem treuesten Diener, unserem allzeit bereiten Gehülfen, unserem demüthigen Genossen, unserem Freunde, unserem Geschöpfe!?

Bis hierher darf wohl auch derjenige Naturforscher gehen, welcher einzig und allein die strenge Beobachtung des Thatsächlichen anerkennt und sich nicht verleiten läßt zu Schlußfolgerungen, für welche die Beobachtung keinen Anhalt gewährt. Und somit darf ich vielleicht mit folgenden Worten schließen: Menschen sind sie nicht, die Menschenaffen; ob sie unsere Vorgänger waren, ob unsere Vorfahren ihnen glichen, wissen wir einstweilen noch nicht, aber als eines thierischen Stammes mit uns, als unsere nächsten Verwandten werden sie jederzeit und von jedem Thierkundigen aufgefaßt werden müssen. Denn unsere nächsten Verwandten sind sie und werden sie sein und bleiben. Ob durch diese Wahrheit das Bewußtsein des Menschen in irgend einer Weise geschädigt wird, ob es nöthig erscheint, in ingrimmigen Zorn zu gerathen, wenn über Affen geschrieben oder gesprochen wird, ob der Abscheu vor der Verwandtschaft in thierkundlichem Sinne gerechtfertigt oder nicht: dies zu entscheiden überlasse ich nach Vorstehendem dem Urtheile aller vernünftigen Leser.[1]




Marbach und die Enthüllung des Schiller-Denkmals.


Von E. Vely.


I.


„Muntre Dörfer bekränzen den Strom, in Gebüschen verschwinden
Andre, vom Rücken des Bergs stürzen sie jäh dort herab.
Nachbarlich wohnet der Mensch noch mit dem Acker zusammen – –“

Fernab vom Weltgetriebe liegt das Städtchen, von welchem aus ein Stern aufging, der seine Strahlen über den ganzen Erdkreis sandte – das kleine Marbach, genannt und bekannt, soweit deutscher Sinn reicht und deutsche Zunge klingt.

Von Ludwigsburg, dem einstigen „schwäbischen Versailles“ zur Zeit seiner Rococopracht unter den Herzögen Eberhard Ludwig und Karl Eugen und dem heutigen „württembergischen Potsdam“, sind es noch fast zwei Stunden bis zu Schiller’s Geburtsort, aber ein anmuthiger, abwechselungsreicher Weg ist es, theilweise am Neckar entlang, der silberblitzend sich durch die Fluren windet, von Weinbergen und sanften Hügeln begrenzt. Malerisch senkt sich das Dorf Neckarweihingen an das Flußufer hinab, dann weicht die Fahrstraße ab vom freundlichen Strome, bis sie endlich, eine große Biegung machend, wieder an ihn hinan tritt. Noch ragen im Hintergrunde die Thürme von Ludwigsburg empor, aber vor uns auf der Höhe winkt bereits Marbach; seine kleinen, bescheidenen Häuser ziehen sich hinunter bis zum Neckar, als wollten sie sich in seinem klaren Spiegel betrachten.

Obwohl mauerumfriedigt und als Stadt geltend, bietet Marbach doch einen ganz ländlichen Anblick, aber der alte Ort hat mehr Geschichte, als man beim flüchtigen Schauen glaubt. Mauerreste deuten auf römische Niederlassungen; mehrere Straßen zweigten sich von hier aus ab. Im zehnten Jahrhundert war „Villa Markbach“ als Grenzort im Besitze eines Bischofs von Speier, und im dreizehnten kam es an Württemberg.

Vielfach hat der Schlachtenlärm um Marbach getobt, im Bauernkriege, im schmalkaldischen und im dreißigjährigen, und endlich fiel die Stadt 1693 der Habgier der Franzosen anheim, welche sie ausplünderten, die Einwohner vertrieben und dann die Häuser niederbrannten.

Nur allgemach erstand das Städtchen auf’s Neue, und kaum im Aufblühen litt es schon wieder unter den Einquartierungen und Truppendurchzügen des siebenjährigen Krieges. Mit diesem beginnt die Geschichte der Schiller’schen Familie in Marbach. Am 14. März 1749 wanderte Schiller’s Vater in die Neckarstadt als Regiments-Chirurgus ein.

Herrn Johann Caspar, dessen Biographie wir hier nur in Bezug auf Marbach in kurzen Strichen wiedergeben, da sie als bekannt vorausgesetzt werden darf, hatte es weidlich in der Welt umgetrieben, auch in ihm steckte ein großer Theil jenes bekannten Wandermuthes der Schwaben, welcher schon im dreizehnten Jahrhunderte in einer Wiener Handschrift erwähnt wird:

„Wenn der Schwab’ das Licht erblickt,
Wird er auf ein Sieb gedrückt,
Spricht zu ihm das Mütterlein
Und der Vater hinterdrein:
So viel Löcher als da sind
In dem Siebe, liebes Kind,
So viel Länder sollst Du sehen,
Dann magst Du zu Grunde gehen.“

In Bittenfeld bei Waiblingen geboren, hatte Caspar Schiller sich der Heilkunde zugewandt und war als Chirurg gewandert. In Nördlingen trat er in ein Husarenregiment, das unter den Kaiserlichen in Holland gegen Frankreich kämpfen sollte. Ueber drei Jahre, bis zum Aachener Friedensschluß, blieb er als Regimentsscheer unter dem lustigen Soldatenvolke, sah Haag und Amsterdam, machte einen Abstecher nach London und zog dann endlich wieder der Heimath zu.

In dem kleinen Marbach wohnte eine Schwester Caspar Schiller’s; sie zu besuchen, kam er nach dort und fand – die Lebensgefährtin. Dem hübschen Wirthstöchterlein vom „Goldenen Löwen“, Elisabeth Dorothea Kodweis gelang es, den wanderlustigen Kriegsmann zu fesseln, sodaß er nichts anderes wünschte, als sich ein behaglich Nestchen in Marbach einzurichten.

Noch heute steht unweit des ehemaligen Niklas-Thores die „Herberge zum goldenen Löwen“, damals ein stattliches Besitzthum; neben dem Gewerbe als Gastwirth trieb der Eigenthümer desselben das Bäckergeschäft (Wirth und Bäcker in einer Person findet man auch jetzt noch überall in Schwaben) und war zugleich herzoglicher Holzinspector beim Floßwesen.

Nicht lange durfte der stramme, weitgereiste Regimentsfeldscheer [287] um die Tochter des Löwenwirthes werben. Schon nach fünf Monaten wurde das Paar „durch priesterliche Hand ehelich getraut“. Caspar Schiller hatte in Ludwigsburg ein Examen bestanden und war Bürger in Marbach geworden, um daselbst seine Heilkunst zu betreiben. Das Verzeichniß der beiderseitig in den Ehestand eingebrachten Sachen ist erhalten. Dreihundertdreißig Gulden sechsundfünfzig Kreuzer betrug die Habe des Mannes; den größten Theil davon bildeten seine Ersparnisse an baarem Gelde; von Werthsachen sind besonders angeführt „ein mit Silber beschlagener Stock, ein silbern Halßschloß, ein silbern Pettschaft“. Die Bibliothek bestand aus sechs medicinischen Büchern, einer Schrift mit dem Titel „Erkenntniß sein selbst“ und einem „württembergischen Gesangbüchle“.

Jungfer Kodweisin brachte „Liegenschaften“ ein und nöthigen Hausrath. Das Verzeichniß ihrer Garderobe ist nicht unbedeutend und zeigt, daß sie nach Kräften der Mode huldigte; sogar „ein Paar Beltz-Handschuh“ und „ein Beltzschluppfer“ (Muff) fehlten der jungen Marbacherin nicht. Der Bräutigam hatte auch in einigen Geschenken seiner Huldigung

Das Schiller-Haus in Marbach.

Ausdruck verliehen: „Ein goldener Ring vom Marito verehret“ findet sich verzeichnet, wie „ein Schwarz Daffeten Küttele“. Die erste Anschaffung im jungen Hausstande war für Frau Schillerin „ein schwarz und weiß Cottonener Schurtz, gemeinschaftlich erkauft“. Unter dem Schreinwerke sollte nach gut altdeutscher Sitte auch nicht „ein Hang-Wiegen samt dem Bank“ – fehlen. Dieselbe ist notirt, aber mit dem Zusatze: „so noch anzuschaffen“.

Vier Jahre lebte das Paar friedlich in Marbach, da trat ein Ereigniß ein, welches die Eheleute für längere Zeit trennen und den reiselustigen Wundarzt wieder in das Kriegsleben treiben sollte. Vater Kodweis hatte, wie sein Schwiegersohn in dem „Curriculum vitae meum“ selber berichtet, sich „durch unvorsichtige Handlungen einen solchen Rest in seinen Holzrechnungen zugezogen, daß sein ganzes Vermögen kaum hinreichend war, solchen zu tilgen“. Die Ersparnisse des Schwiegersohnes wurden mit verwendet und demselben dafür die Hälfte von der „Herberge zum Löwen“ zugeschrieben.

Dieser Vorfall machte den Regimentsfeldscheer unmuthig; er wünschte sich von Marbach fort und ließ sich 1753 als Fourier in ein schwäbisches Regiment einreihen. Seine Frau blieb bei den Eltern zurück. Die Trennung war vorläufig keine eigentliche, weil ja das Regiment im Lande blieb und Johann Caspar auf Urlaub kommen konnte; schmerzlicher wurde sie, als Herzog Karl seinen Feldzug gegen Friedrich den Großen begann und Schiller, der inzwischen Fähnrich und Adjutant geworden war, nach Schlesien abmarschiren mußte. Frau Elisabeth Dorothea hatte indessen einen Zeitvertreib erhalten; kurz vor des Gatten Abmarsch in’s Feld war die „Hang-Wiegen“ in ihr Recht gekommen. In derselben schaukelte sie ihr erstes Kind, Christophine. Freud’ und Leid dicht bei einander! – Jetzt aber, obgleich nach langjähriger Ehe zum ersten Male freundliche Kinderaugen Caspar Schiller entgegen lachten, hätte er doch wohl nicht länger wieder in Marbach weilen mögen. Selbst mit den von ihm gebrachten Opfern war die Habe des Schwiegervaters nicht zu erhalten gewesen. Der alte Löwenwirth hatte sein Haus verlassen und mit der Tochter eine Miethwohnung beziehen müssen. So sah sich Johann Caspar doppelt verpflichtet, seinen Erwerb draußen zu suchen. Während das kleine Töchterlein unter der Pflege der sinnigen, poetisch angelegten Mutter gedieh, umtobte den Vater das Kampfgewühl.

In der Schlacht bei Leuthen war er in großer Lebensgefahr. Sein Muth wurde durch die Ernennung zum Lieutenant belohnt, und im April 1758 war er wieder in der Heimath. Jetzt brachte er viele Zeit bei Gattin und Kind zu, theils länger in Marbach anwesend, theils in der Nähe im Quartier. Die Seinigen hatten inzwischen die erste Miethwohnung verlassen und das Häuschen bezogen, in welchem Friedrich Schiller das Licht der Welt erblicken sollte – das „Schölkopfische“. Dasselbe gehörte einem Sekler, welcher der Schillerin die untere Stube eingeräumt hatte. Während Lieutenant Schiller in Würzburg lag, wurde ihm der Sohn geboren, der deutschen Nation ihr herrlichster Dichter.

Wie eng das Gemach, zu welchem vom Hausflur aus zwei Stufen hinauf führen! – Hier hatte nur wenig Platz neben der „gut gehimmelten Bettlade“ der Schillerin und dem riesigen Kachelofen. Die Wände sind holzgetäfelt, die Fensterscheiben rund und bleigefaßt; nur gedämpftes Licht dringt bis zum Hintergrunde. Von der Wand hernieder blickt das Schiller’sche Ehepaar; jene bekannten, guten Bilder, der Vater in Uniform, die Mutter mit der Haube, zieren den geweihten Raum. Das kleine Spinnrad dort sollen die fleißigen Hände Elisabeth Dorotheens gedreht haben, und jener lehnenlose Polsterschemel wird als „Schiller’s, des Karlsschülers, Erkerle“ bezeichnet.

In diesem kleinen Zimmer sind die ersten Gehversuche des Knaben gemacht, der als Mann mit seinem riesigen Geiste Welten umschritt – dort im Hausflur wird er mit der Schwester die ersten kindlichen Spiele getrieben haben. Jetzt leuchtet dem Eintretenden daselbst mit stiller Hoheit die Dannecker’sche Kolossalbüste aus dem Halbdunkel entgegen. „Gedenke, wer Du bist!“

Das Haus hatte im Laufe der Jahre viel bauliche Veränderungen erfahren, je nach dem Gewerbe, das darin betrieben wurde; zuletzt besaß es ein Bäcker, welcher den Eingang auf die Seite verlegt hatte. Nach noch vorhandenen Plänen wurde Alles wieder in seiner ursprünglichen Gestalt hergestellt und zum hundertjährigen Geburtstage Schiller’s eingeweiht. Wie ehemals führt die große Thür, über welcher jetzt die Gedenktafel angebracht ist, von der vor dem Hause sich fast zu einem freien Platze erweiternden Straße, dem Brunnen mit „dem wilden Mann“ gegenüber, in das Schiller-Haus.

Bis zum Jahre 1764 hat Marbach die Schiller’sche Familie in ihren Mauern beherbergt, dann wurde Lorch am Fuße des Hohenstaufen, wohin der „Hauptmann Schiller“ inzwischen versetzt war, diese Ehre zu Theil. Im oberen Stock des Schiller-Hauses ist in zwei Zimmerchen angehäuft, was man bisher als Reliquien hat sammeln können, Geschenke der noch lebenden Familienmitglieder, Bilder, Bücher und Originalbriefe.

Lange hat man des Dichters Geburtshaus nicht beachtet. Erst 1812 wurden von dem Gürtlermeister Franke in Marbach die ersten Schritte gethan, um dasselbe zu constatiren; fünfzehn Zeitgenossen Schiller’s wurden vernommen. Ihre Aussagen bestätigten die Richtigkeit der Annahme, daß Schiller in dem Schölkopf’schen Hause geboren worden sei. Zugleich wurde auch der Gedanke rege, dem großen Dichter in seiner Vaterstadt ein Denkmal zu errichten. Aber viele, viele Kämpfe gab’s, ehe diese Idee sich völlig Bahn brach; Stuttgart, „Schiller’s geistige Wiege“, rivalisirte mit Marbach, welches das „natürliche Recht“ für sich in Anspruch nehmen wollte; die Hauptstadt Württembergs enthüllte am 8. Mai 1839 ihr Schiller-Denkmal – Marbach hatte bis dahin nichts erreicht, als die Anpflanzung der Schiller-Höhe.

Dieselbe liegt südlich vom Orte und war ehedem ein Kalkbruch, das „Schelmengrüble“ genannt. Die Marbacher arbeiteten unentgeltlich an der Herstellung der Anlagen; der König von Württemberg sandte von Hohenheim, wo der Karlsschüler Schiller oft geweilt, Bäume und Sträucher. Der Platz für [288] ein „Nationaldenkmal“ wurde würdig hergestellt, aber damit waren auch alle Mittel erschöpft. Bis zum Jahre 1858 blieb es bei allen guten Wünschen, dann wandte sich das Comité wieder an ganz Deutschland – man sammelte vorerst zum Ankaufe des Geburtshauses. Der Erfolg gab genügende Mittel zur Erwerbung und Wiederherstellung desselben, wie zur Grundsteinlegung des Denkmals auf der Schillerhöhe, welche am 11. November 1859 feierlichst stattfand. – Endlich, nach einer so langen Frist, wird nun die Enthüllung des Ehrendenkmals, das nach einem Modelle des verstorbenen Bildhauers Rau von Professor Döllinger ausgeführt und von Pelargus gegossen worden ist, am 9. Mai dieses Jahres stattfinden.

Der hundertjährige Dichtergeburtstag gab Anregung zu verschiedenen Stiftungen für Marbach. Die Hanauer Gymnasiasten hatten ein kleines Capital gesammelt, von dessen Zinsen jährlich zu Schiller’s Geburtstage ein frischer Lorbeerkranz gespendet wird, welcher die Büste schmückt. Der Wiener Schiller-Verein „Glocke“ beschenkt seit 1867 an eben diesem Tage einen Marbacher Schiller mit Schiller’s Gedichten und einem Goldstücke. Das sinnigste und größte Geschenk aber gaben die Deutschen in Moskau, indem sie für die Alexander-Kirche eine Glocke stifteten. Seit dem 10. November 1860 tönt am Geburts- und Sterbetage Schiller’s der Klang der „Concordia“ über den Neckargau dahin, sein Andenken feiernd mit ehernem Schalle.

Das Schiller-Denkmal selbst zu Marbach und die bei seiner Enthüllung stattfindenden Feierlichkeiten werden den Gegenstand eines demnächst folgenden zweiten Artikels bilden.




Bis zur Schwelle des Pfarramts.
Von Heinrich Lang in Zürich.
IV. 5. Die „Tübinger Schule“.


Trotz der vielfachen Ungunst der Zeit, von welcher damals die theologischen Studien gedrückt wurden, ist mir doch Ein Glück widerfahren, das ich nicht aufhören werde, dankbar zu rühmen: ich hatte Ferdinand Christian Baur zum Lehrer und zwar gerade in der Zeit, da er im frischen Zuge seiner epochemachenden Entdeckungen war.

Ich sehe noch die hohe ehrwürdige Gestalt mit dem feinen, charaktervollen Kopfe, mit der hochgewölbten Stirn, mit den krausen Haaren, die schon in das Grau des Alters spielten – er stand in der Mitte der Fünfziger – wie er Morgens acht Uhr von der Hölle her – so nannte man seine Wohnung wegen ihrer tiefen Lage; die Orthodoxen dachten sich dabei noch ganz andere Beziehungen – gegen das Colleg schritt, nachdem er schon vier Stunden angestrengter Arbeit hinter sich hatte; er stand Sommers und Winters um vier Uhr am Pulte, im Winter einige Stunden in der ungeheizten Stube, um die Mägde zu schonen. Ich sehe ihn noch, wie er gegen Abend langsamen Schrittes, gedankenvoll seinen regelmäßigen Spaziergang die Neckarstraße hinunter über den Wörth machte, eine ehrfurchtgebietende Erscheinung. Ich habe Niemand gehört, der über diesen Mann Uebles gesprochen hätte. Natürlich verfluchte man ihn Land auf und ab als den großen Heiden und Ungläubigen, der das Gift der Gottes- und Christusleugnung in die Herzen der künftigen Diener der Kirche aus voller Schale gieße, und die Träger der kirchlichen Reaction reizten oft und auf alle Weise die Regierung zum Einschreiten. Aber nicht blos erkannte Jedermann Baur’s enormes Wissen und seine selbstlose Hingebung an die Aufgabe der Wissenschaft bereitwillig an, sondern es wagte auch Niemand, den großen und reinen Charakter anzutasten. Denn die Tugenden der reinsten Humanität, ein Adel der Gesinnung und eine Kindlichkeit des Herzens im schönsten Sinne des Wortes, eine Anspruchslosigkeit, Bescheidenheit, Schlichtheit des Wesens bei allem berechtigten Selbstgefühle, ein offenes Auge und ein warmes Interesse für alles Menschliche bei aller Concentration auf sein Fach, eine wohlwollende Milde und Lindigkeit bei aller Schärfe eines ausgeprägten Charakters, ein freundlich eingehendes Verständniß für fremde Art und Ueberzeugung, sobald sie nicht fanatisch war, leuchteten Jedem aus diesem großen Gelehrtenleben entgegen.

Viele meinten, der Mann sei ausschließlich Kopf, gleichsam der verkörperte kritische Verstand, und Solche, welche auf Geistreichheit oder fromme Empfindsamkeit reisten und des Wunders halber bei ihm einkehrten, fanden sich wenig angesprochen von der ruhigen Sachlichkeit seiner Rede und seines Wesens und posaunten dann in die Welt hinaus, bei Baur sei Alles, was sonst ein Menschenherz erfülle, verschlungen von einem einseitigen Intellectualismus. Sie maßen die Größe nach ihrer Kleinheit. Baur hielt, wie Lessing, viel auf reinliche Sonderung der Gebiete: Gott, was Gottes, dem Kaiser, was des Kaisers – dem Verstande was des Verstandes, und dem Gemüthe, was des Gemüthes ist. Nie mischte er in Fragen, welche der Verstand zu entscheiden hat, sogenannte Bedürfnisse des Glaubens oder des Gemüthes. Das vierte Evangelium z. B. war seinem tiefsinnigen Geiste in seiner Art ebenso sympathisch wie einem Schleiermacher, aber diese Sympathie verhinderte seinen Verstand nicht, das Buch genau so zu erkennen, wie es ist, und gestützt auf diese kaltblütige Untersuchung zu erklären, daß es ein verhältnißmäßig spätes Erzeugniß sei, daß es nicht herrühre von „dem Jünger, den der Herr lieb hatte“, daß sein Christus weder der Jesus der Geschichte, noch der Christus des eigenen Glaubens sei. Darum waren die Lösungen der wissenschaftlichen Aufgaben bei Baur so klar, so durchschlagend, so fruchtbar und fördernd. Aber das treffende Wort Schelling’s: „das Gemüth ist schön, wenn es im Grunde bleibt“, verstand er sehr wohl. Er trug eine seltene Fülle und Tiefe des Gemüthes in sich nicht blos für den Hausgebrauch des täglichen Lebens, sondern gerade auch für die Behandlung der großen Aufgaben der Religion, in welchen sein Lebensberuf lag. Seine ganze Weltbetrachtung war eine tiefreligiöse, und nur wer die Thatsache der Religion so warm und lebendig in sich erfahren hatte, konnte alle diese dogmatischen und historischen Fragen, die zum Wesen der Religion nicht gehörten, so ruhig kritisch behandeln in der Ueberzeugung, daß die Frömmigkeit dabei nicht verliere, sondern gewinne.

Es war eben in den vierziger Jahren, in welche meine Studienzeit fiel, daß Baur nach langen, mühseligen Vorarbeiten seine epochemachenden Werke veröffentlichte, seine für die ganze Evangelienfrage grundlegende Abhandlung über das vierte Evangelium, sein umfassendes Werk „Paulus, der Apostel Jesu Christi“, das in drei Abtheilungen das Leben, die Schriften, die Lehre des Heidenapostels behandelte, und seine „Kritischen Untersuchungen über die canonischen Evangelien“.

Ich kann auf jene Zeit nur mit Neid und Wehmuth zurücksehen. So viel Neues lernt man später kaum im ganzen Leben wieder, als man damals in einem Jahre lernen konnte. All diese reifen köstlichen Früchte genoß man gleichsam frisch vom Baume weg; es war Einem, als hätte man sie schütteln geholfen. Die Wahrheit war wie ein flammendes Feuer, das einen ganzen Wald angelernter Vorurtheile in Brand setzte und weithin Licht verbreitete. Die „Decke Mosis“ fiel von den Augen und mit aufgedecktem Angesichte sah man die alten Zeiten, die wichtigsten Zeiten, von welchen der Strom unserer tiefsten Bildung ausging, in ihrer natürlichen und ursprünglichen Beleuchtung aufsteigen. Das Unverstandene und dumpf Angestaunte schloß sich auf; das Starre kam in Fluß; das Abgerissene wurde eingereiht in den Zusammenhang der natürlichen und begreifliche Geschichte. Wer mit der Freude und Unbefangenheit eines jugendlich strebenden Geistes sich diesen Entdeckungen der Wissenschaft hingab, der wußte es ein für alle Mal, daß die Erkenntniß der höchste Genuß ist.

Die Anhänger der kirchlichen Ueberlieferung erheben den hartnäckigen Vorwurf, daß Baur ein negativer, das heißt nur ein auflösender und verneinender Theologe gewesen sei. Nur die Beschränktheit kann so urtheilen. Baur ist im wahren Sinne des Wortes der positivste Theologe des Jahrhunderts. Er hat die verschütteten Anfänge des Christenthums wieder entdeckt und an der Stelle des conventionellen, aber unmöglichen das wahre [289] Geschichtsbild der ersten christlichen Jahrhunderte aufgerollt. Das Christenthum war in seinen Urkunden als ein Wunder überliefert und achtzehn Jahrhunderte hindurch als ein solches geglaubt. Aber seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts gingen alle Bewegungen dahin, das Wunder für unglaubwürdig zu halten. Goethe hat im Sinne aller Träger der fortschreitenden Geistesbildung, selbst eines Jacobi, des berufenen Schutzredners der Religion des Christenthums, an Lavater geschrieben: „Du hältst das Evangelium, wie es steht, für die göttlichste Wahrheit; mich würde eine vernehmliche Stimme vom Himmel nicht überzeugen, daß das Wasser brennt und das Feuer löscht, daß ein Weib ohne Mann gebärt und daß die Todten auferstehen; vielmehr halte ich dies für Lästerungen gegen den großen Gott und seine Offenbarung in der Natur.“ Dieses Goethe-Wort war gleichsam die Losung, um welcher ein junger Repetent im Tübinger Stift seinen Feldzug gegen die vier Evangelien begann: Strauß gab 1835 sein „Leben Jesu“ heraus; er zerrieb mit umfassender Gelehrsamkeit und meisterhafter Kunst die vier Berichte theils an einander, theils an den Thatsachen der allgemeinen Erfahrung und den Gesetzen des menschlichen Denkens, und sein Ergebniß war: dieses Leben Jesu ist Mythus.

Die Kirche gerieth in einen panischen Schrecken. Alles von der frevelhaften Hand des kalten Unglaubens niedergerissen, was bisher das Gemüth der Völker gefüllt hatte, was für das Herz Trost im Leben und Sterben gewesen war! Weg mit dieser ungläubigen Wissenschaft! Weg mit der bösen Philosophie! Weg mit der schrecklichen Kritik! Die Katheder füllten sich mit „gläubigen“ Professoren; auf den Kanzeln wurde die Vernunft wieder lutherisch behandelt, und es begann jene kirchliche Reaction der vierziger und fünfziger Jahre, an deren Folgen wir heute noch leiden.

Aber auch die Wissenschaft ihrerseits war nicht befriedigt. Sie liebt das Licht, aber der Straußische Feldzug hatte auf dem weiten Wege der ersten christlichen Jahrhunderte fast alle Lichter ausgelöscht, fast alle Wegweiser und Zaunpfähle ausgerissen und eine unwirthliche Oede zurückgelassen. Sie beruht auf dem Grundsatze vom zureichenden Grunde, aber wo war der zureichende Grund für diese weltgeschichtlichen Wirkungen des Christenthums? Daß das Leben Jesu nach den vier Evangelien ein Mythus sei, das war unzweifelhaft, aber welches Leben Jesu war dann die Wahrheit? Daß es so nicht hergegangen sein kann, war klar, aber wie war es denn hergegangen? Die Antwort auf diese Fragen, das Werk der aufbauenden Kritik, ist Baur’s unvergängliches Verdienst. Baur hat zu dem Werke seines glänzenden Schülers mehrere Jahre geschwiegen, was ihm dieser, für Lob und Dank außerordentlich empfindlich, wie er war, niemals verziehen hat, weil er dahinter Menschenfurcht oder Aerger, sich überholt zu sehen, gewittert hat. Aber mit großem Unrecht. Niederreißen geht schneller, als aufbauen, und Baur war eine tiefgründige, stetig, aber langsam vorschreitende, echt positive Natur; er war der Bohrer, der mit seinem Stahl in den Felsen drang, jede Steinschicht, durch die er drang, untersuchte und notirte und mit seinem Funde erst vor die Oeffentlichkeit trat, wenn er auf den Erzgrund gestoßen war. Immer näher und näher hatte er die feste Stelle umschrieben, von der aus er operiren konnte, und plötzlich stand er mitten inne. Es waren die bekannten vier paulinischen Briefe, das einzig Sichere und Unangefochtene auf dem schwankenden, von der Kritik unterhöhlten Boden der neutestamentlichen Literatur. Hier setzte er den Fuß auf; Auge und Ohr vorläufig gegen alles Uebrige nach rückwärts und vorwärts verschlossen, sah und hörte er nur, was auf diesem Punkte zu sehen und zu hören war; von hier schritt er mit langsam abgemessenen Schritte, jedes weitere Fleckchen Erde genau untersuchend, vorwärts bis zur Consolidirung der christlichen Kirche um die Mitte des zweiten Jahrhunderts. Als hier der Weg geebnet war, als er klar sah, was zur Zeit des Paulus und nach ihm gewesen ist, fragte er: Was muß vor Paulus gewesen sein? Worin muß die entscheidende That Jesu selber bestanden haben? Was Baur auf diesem Wege fand, das kann die Geschichtschreibung im Wesentlichen in ihre Bücher eintragen. Das Christenthum war erklärt und begriffen als eine natürliche Frucht der religiösen Entwickelung des menschlichen Geistes; wo vorher Wunder, Zufall, Unbegreiflichkeit geherrscht hatte, war jetzt innerer Zusammenhang, organische Entwickelung, eine menschlich natürliche Geschichte.

Aber sollte man zu diesem an den Quellen entdeckten Christenthum nicht sagen: „wir haben Dein Geheimniß errathen; wir wissen jetzt, was hinter Dir steckt; fertig, abgethan! Du bist der Geschichte verfallen und hast der Gegenwart nichts mehr zu sagen noch zu bieten!“? Baur dachte nicht so, und mir schien dieses Christenthum herrlicher, tiefer, gehaltreicher, als alles Christenthum der Kirchen mit seinen Legenden und Dogmen. Mir war es, ich hörte einen Luther, einen Zwingli rufen: „Jetzt endlich ist in Erfüllung gegangen, was wir zu unserer Zeit anstrebten, aber nicht erreichten. Von dem entstellten Kirchenthum wollten wir zurück zum ursprünglichen Christenthum; das war der Nerv unseres reformatorischen Kampfes. Dieses ursprüngliche Christenthum glaubten wir zu haben in den Originalurkunden unserer Religion, in den Schriften des neuen Testaments. Wir nahmen diese unbesehen aus den Händen der katholischen Kirche und unter den Voraussetzungen dieser Kirche auf, daß sie von Aposteln und Apostelschülern, also Augen- und Ohrenzeugen herrühren, daß sie überdies unter unmittelbarer göttlicher Eingebung frei von allen Spuren menschlichen Kämpfens und Irrens entstanden, der einheitliche, widerspruchslose Ausdruck des ursprünglichen Christenthums seien. Nun sehen wir aber, daß diese Schriften nicht von Aposteln oder Apostelschülern herrühren, daß sie vielmehr die Versuche von anderthalb Jahrhunderten darstellen, unter heftigen Kämpfen und Gegensätzen die christliche Wahrheit auf den richtigen Ausdruck zu bringen, daß sie daher selber etwas Abgeleitetes sind und man, um das ursprüngliche Christenthum, das wir suchten, zu finden, noch einen guten Schritt über sie hinaus und zurückmachen muß zu dem religiösen Grundgefühl Jesu selber, das den Anstoß zu dieser ganzen Bewegung gegeben hat. So erst wird das ursprüngliche Evangelium gefunden und unsere Reformation vollendet sein.“

In der That lag hierin Baur’s Leistung. Nachdem er alle diese Schriftwerke auf ihre Entstehung hin und ihrem Inhalte nach untersucht und ein jedes an seinen Ort gestellt hatte, belauschte er den Pulsschlag der Religion im Herzen Jesu selber, so weit er aus diesen Urkunden noch herauszuhören war. Er glaubte ihn noch am deutlichsten und ungetrübtesten aus dem Matthäus-Evangelium zu vernehmen,[WS 3] aus jenen Seligpreisungen der Bergpredigt, aus den herrlichen Gleichnissen, aus den geistvollen und tiefsinnigen Worten über das Wesen und die Bedingungen des Gottesreiches. Er fand die Grundstimmung des Christenthums in einem vom tiefsten Gefühl des Druckes der Endlichkeit durchdrungenen, aber in diesem Gefühle über alles Endliche und Beschränkte weit übergreifenden, unendlich erhabenen religiösen Bewußtsein, in jener Innigkeit und Traulichkeit des religiösen Gefühles, in welchem der Mensch nicht mehr der Knecht, sondern das Kind Gottes ist, in jener Gottes- und Menschenliebe, welche die Erfüllung des Gesetzes und der Propheten ist, in jener Reinheit und Lauterkeit der sittlichen Gesinnung, auf welche Jesus immer wieder zurückkommt, in seinem Kampfe gegen allen kirchlichen Heuchelschein, in jener vollkommenen Gerechtigkeit, bei der es nicht blos auf die That ankommt, sondern auf die Gesinnung, nicht auf den Buchstaben, sondern auf den Geist, in jener Auffassung der Religion überhaupt, nach welcher es keine anderen Bedingungen für den Eintritt in das Gottesreich giebt, als die rein sittlichen, nämlich die Erfüllung des göttlichen Willens.

Auf diese Grundanschauungen, in welchen die Frömmigkeit und die Sittlichkeit sich die Schwesterhände reichen, müsse man, meinte Baur, als auf das ursprünglich und echt Christliche doch immer wieder zurückkommen nach all’ dem Schaden, den die Ueberwucherungen eines einseitigen Confessionalismus und die häßlichen Zänkereien um das Dogma in der Gesellschaft anrichten. Dieselbe Höhe des Christenthums, dieselbe Reinheit und Idealität der sittlichen Lebensauffassung, welche Baur in den drei ersten Evangelien als die Religion Jesu entdeckte, trat ihm auch aus den Briefen des Paulus entgegen, wie gebrechlich er auch die [290] Schläuche fand, in welche dieser erste Philosoph des Christenthums den neuen Wein gefaßt hatte, wie schwach auch die Denkbegriffe und dogmatischen Anschauungen sich erwiesen, durch welche er die Thatsache des Christenthums sich und seiner Zeit zu einem denkenden Verständnisse bringen wollte. Baur’s Sprache legte den trockenen Ton der gelehrten Abhandlung ab und erhob sich zu der Wärme freudiger Begeisterung, so oft er in dem Briefe des großen Apostels auf jene Abschnitte stieß, da dieser vom Standpunkte des Religionsphilosophen aus das Christenthum mit den vorhergehenden Religionen verglich und in seinem innersten Wesen erfaßte als die Religion des mündigen und freien Menschen, der nun, da er die Quelle des Guten, den göttlichen Geist, in sich trägt, keines Zuchtmeisters mehr bedarf und die Herrschaft der sinnlichen Naturmächte, denen die Völker zuvor gedient, von sich geworfen hat, als die Religion des Gotteskindes, das den knechtischen Geist der Furcht ausgezogen hat, weil die Liebe sich in sein Herz ergossen hat – oder so oft er die Feder ansetzte, das Charakterbild jenes seltenen Mannes zu entwerfen, der im Kampfe mit dem Judaismus für die religiöse Freiheit vom Joche aller Menschensatzungen einstand durch sein Flammenwort, wie durch das Martyrium seines Lebens; jenes Mannes, der in dem weltgeschichtlichen Principe des Glaubens die Innerlichkeit des frommen Gemüthes gegenüber der Aeußerlichkeit des Abmachens und Verrichtens verkündigte, der selbstlos sein Leben in den Dienst eines rein geistigen Zweckes stellte, froh in Aengsten und Nöthen, stets im Feuer, als ein Sterbender und doch lebend, unterdrückt und doch nie verzagend, ein Armer, der Viele reich machte. Man kann Baur’s „Paulus“ nicht bei Seite legen, ohne durch alle die gelehrten Untersuchungen die Wärme herausgefühlt zu haben, mit welcher der sittliche und religiöse Gehalt des Christenthums den Verfasser erfüllte.

Baur befriedigte Beides: die Forderungen der Wissenschaft und die Ansprüche des Gemüths. Man lernte bei ihm kritisiren und glauben. Man nahm die biblischen Schriftsteller, wie sie waren; man ließ sie genau sagen, was sie sagten; man hatte kein Interesse, sie zu modernisiren; man gestand sich die ganze Kluft ehrlich ein, welche unsere heutige Anschauung von der ihrigen trennt, aber man behielt den Respect vor dem Christenthume als Religion, vor den ethischen Mächten der Hoffnung, des Glaubens, der Liebe, die es entbunden, vor dem unaussprechlichen Schatze reiner Geistigkeit in den Tiefen des Gemüthes, der in diesem oft steinigten Acker verborgen liegt, vor dieser Wunderwelt der Liebe, welche bald in unvergänglichen Lebensworten, bald in gotterfüllten Persönlichkeiten aufgeschlossen ist. Hier schien gefunden, was Lessing, noch vielfach tastend und unsicher, gesucht hatte: die Religion Jesu im scharfen Unterschiede von der Religion über Jesus; jene, ewig und unvergänglich, rief zur Nachfolge auf, diese, vom Anfange an bis heute wechselnd, sodaß nie zwei Menschen über sie einig waren, forderte die Kritik heraus.

Aber wo war die Kirche für diese Religion? Baur versetzte seine Schüler in die schwersten Conflicte, die es im Leben giebt. Trat der junge Theologe, der zu den Füßen Baur’s gesessen war, in den praktischen Dienst der Kirche, so war das Erste, was man von ihm forderte, daß er eine vor vierthalb Jahrhunderten verfaßte Glaubens- und Bekenntnißschrift, die sogenannte Augsburger Confession, unterschreibe, von welcher doch seine wirkliche Ueberzeugung durch Himmelsweiten getrennt war; kam er dann anfangs als Vicar, später als Pfarrer an eine Gemeinde, so befand er sich fast an jeder Stätte, an welche sein Amt ihn stellte, im Widerspruche mit dem von der kirchlichen Oberbehörde bewachten und geschützten Glauben derselben; diesen Widerspruch zu Tage treten lassen, bedeutete ein Meer von Unbill und Kränkung und Kummer bis zur Absetzung. Was war da zu machen? Man machte es auf alle Weise. Die Einen schützten sich vom Anfange ihres theologischen Studiums an gegen die Pfeile der „ungläubigen“ Wissenschaft durch den breiten massigen Schild, welchen Professor Beck in seinem saftigen biblischen Realismus darbot, oder durch die geschmeidigeren, mit modernem Oele getränkten Waffen, welche der liebenswürdige und weitherzige Vermittler Lauderer so gewandt handhabte. Andere machten sich den altbekannten Unterschied zwischen exoterischer und esoterischer Lehre zu nutze, predigten nach dem Spruche „Wess’ Brod ich ess’, dess’ Lied ich sing’“ den hergebrachten Glauben und behielten ihre Ansichten für sich. Noch Andere schworen die Ketzereien der Universität zur rechten Zeit bald geräuschvoll, bald stiller in die Hände des Consistoriums ab und machten Carrière. Die Besten waren redlich bemüht, die Kluft zwischen der eigenen wissenschaftlichen Ueberzeugung und dem Kirchenglauben durch ein pädagogisches Verfahren auszufüllen, indem sie das Licht des Gedankens langsam, in behutsam abgemessenen Strahlen in die dichte Schicht der kirchlichen Vorstellungen fallen ließen – ein classisches Beispiel für diesen Versuch hat Strauß in seinem „Christian Märklin“ aufgestellt –, oder sie entsagten dem Dienste der Kirche und übernahmen ein Lehramt an einer Lateinschule oder an einem Gymnasium.

Was ich in dieser Lage zu thun hätte, konnte mir nicht zweifelhaft sein. Wie verlockend auch der Traum des Pfarramts war, der von den Tagen der Kindheit her noch so schön vor dem Auge stand, meine Ueberzeugungen unterdrücken oder drehen oder bemänteln konnte ich und wollte ich nicht. Ich entschloß mich, dem Dienste der Kirche zu entsagen. Gegen den Schluß des dritten Studienjahres bat ich um Urlaub für zwei Tage, um zu den Eltern zu reisen. Ich machte ihnen meine Lage klar – meine theologischen Ansichten waren ihnen längst bekannt – und drang in sie, mir die Mittel zum Studium der Rechtsgelehrsamkeit zu bewilligen; ich versprach, durch anhaltenden Fleiß in zwei Jahren damit fertig zu werden. Aber unter heißen Thränen der Mutter beschworen sie mich, das theologische Studium zu absolviren und nur wenigstens das Examen zu machen. Es war nicht blos die ökonomische Rücksicht, was sie leitete; der Austritt aus dem „Stift“ wäre mit einer Rückerstattung der vom vierzehnten Jahre an verwendeten Stipendien verbunden gewesen. Es war noch mehr die stille Hoffnung, welche die guten Eltern nährten, daß Gott, wenn seine Zeit da sei, ihren Sohn wohl noch zum Glauben bekehren werde, wie sie sich ausdrückten. Ich konnte den Thränen und Bitten nicht widerstehen und zog, traurig zwar, in’s „Stift“ zurück, betrieb aber hinfort die theologischen Studien nur so weit, als es zur Ablegung eines erträglichen Examens nöthig war, und warf mich mit aller Kraft theils auf die Erlernung der neueren Sprachen, theils auf meine alten lieben Classiker, in der Absicht, mich auf das Lehrfach vorzubereiten. Nicht wenig bestärkte mich in diesem Fleiße die Hoffnung, die Geliebte der Jugend in wenigen Jahren heimführen zu können, während die Theologen damals ihre zehn, fünfzehn Jahre auf Vicariaten herumgeschupst wurden, ehe sie eine fixe Anstellung erlangten. Aber der Mensch denkt und Gott lenkt. Bald traten Ereignisse ein, die stärker waren, als der Wille der Menschen. Der folgende Abschnitt wird zeigen, wie Gott gelenkt hat.




Ferienstudien am Seestrande.


Von Karl Vogt in Genf.


1. Die Gegend. (Schluß.)


Die Felsenreihe, welche diesen Canal von dem Hochgrunde in der Nähe des Städtchens trennt, zeigt drei Gipfel – einen größeren, die grüne Insel (l’île verte) genannt, und zwei nackte, zernagte Klötze, welche den Namen der Bourguignons tragen. Hinter diesen ragt bei der Fluth aus den Wellen eine rothe Kuppel auf weißer Grundlage – auf dem rothen Grunde steht in großen weißen Buchstaben: „Duslén“; bei Ebbe dräut dort ein hoher Thurm auf zerrissener Felsengrundlage. Ein Wahrzeichen für den Schiffer und ein Anziehungspunkt für den Naturforscher, denn auf Duslén sammeln sich die seltenen Nacktschnecken (Doris, Eolis etc.); zwischen den Blöcken bergen sich See-Igel, und in den Tangen klettern und kriechen werthvolle Würmer umher. Oestlich von Duslén deckt sich bei tiefster Ebbe eine Art Amphitheater auf, das mit dem Riffe von Pighet zusammenhängt, das

[291]

Ein Braut- und Kammerwagen im Schwälmergrunde.
Originalzeichnung von H. Sondermann in Düsseldorf.

[292] „Silberloch“ (Trou d’argent). Dort hausen die Seeohren (Haliotis), die für die Feinschmecker von Roscoff das Höchste sind, was die See an Wohlgeschmack bieten kann; dort schlängelt sich im Grobsande ein feiner Wurm, einem haardünnen Regenwurme ähnlich, der einen eigenthümlichen Typus unter den Würmern darstellt und dessen Larven eine seltsame Metamorphose durchmachen, der Polygordius Villoti; dort laichen große Nacktschnecken (Doris), und zuweilen selbst der nordische Seewolf oder Lump (Anarrhichas lumpus), ein seltener Gast im Meere vom Roscoff.

Zwischen dem Riffe von Pighet, das stets aus den Wellen hervorragt und mit einem weißen Thurme gekrönt ist, und einem Felsengrate, der bei jeder Fluth sich überdeckt, aber einen schwarzen Thurm mit weißer Kappe trägt, geht die Einfahrt in den Hafen, der bei Ebbe stets trocken gelegt wird. Dem weißkappigen Schwarzthurme haben wir den Namen „Dupanloup“ beigelegt. Er zeigt ebenso sicher den Weg nach dem Hafen wie sein streitbarer Patron denjenigen zum Paradiese und zu Abraham’s Schooße. Wir gehen nur selten nach dieser Gegend; der Hafenschlamm, die Auswürfe der Schiffe wirken nicht günstig auf die Bevölkerung des Meeres zurück. Ueberhaupt ist diese weit delicater, als man gewöhnlich glaubt. Früher sammelte man auf der Nordseite von Ti-Saoson häufig eine besondere Art von Seescheiden, seitdem aber vor zwei Jahren ein großes österreichisches Dampfschiff, mit Gerste beladen, dort scheiterte und seine faulende Ladung auf dem Felsboden ausstreute, sind die Seescheiden dort fast spurlos verschwunden.

Nach Osten hin wird das Arbeitsfeld durch eine weit vorspringende Felszunge begrenzt, die auf ihrer äußersten Spitze ein Fort, Bloscon, und auf einem vorragenden Hügel eine der heiligen Barbara gewidmete Capelle trägt, die auch als Schifferzeichen dient. Auf der östlichen Seite dieser Landzunge ragen wilde Felsthürme hervor – der höchste derselben, Roquille l’Evêque, ist mit einem häßlichen Pavillon gekrönt. Dort pflegen sich die Landschaftsmaler Stoff zu Studien zu holen, denn wunderbar ist von dort aus die Aussicht über den weiten Eingang der Bucht von Saint-Pol de Léon gegen das Château du taureau, auf dem Blanqui lange Jahre als Staatsgefangener saß und das mit seinen Kanonen die Einfahrt des Flusses von Morlaix beherrscht, sowie gegen die liebliche, reich mit blinkenden Landhäusern besetzte Hügelkette, welche das östliche Ufer des Flusses bildet. Die Bucht von Saint-Pol birgt die werthvollsten und seltensten Sandbewohner; dorthin ziehen die Naturforscher, wenn sie einen fußlangen, gelben, fingerdicken Röhrenwurm, Myxicola parasitica, sich verschaffen wollen, der sich eine gallertartige, durchsichtige Röhre mit seinen Ausschwitzungen baut, aus welcher er einen braunrothen Spitzenschirm herausstreckt, zierlich gefaltet, wie der Papierfilter eines Chemikers. Zu den Füßen von Sainte Barbe aber, zwischen der Capelle und dem Fort Bloscon, ist eine kleine, tiefe Bucht durch eine Quermauer abgeschlossen und zu einem Hummerteiche umgeschaffen worden. Tausende von Hummern und Langusten kriechen dort auf dem Boden umher oder hängen, wie gigantische Trauben, an den Pfosten, welche die Gerüste und Floße tragen. Täglich kommen die Fischer und laden ihren Fang gegen bestimmte Preise ab; den streitbaren Hummern schneidet man an der Scheere die Muskeln des Daumens durch, so daß sie nicht mehr kneipen können; die friedfertigeren Langusten, die sich auch leichter an den Menschen gewöhnen, wirft man ohne Beeinträchtigung in das Wasser. Von Zeit zu Zeit erscheint ein schlanker, belgischer Kutter und nimmt eine Ladung der kostbaren Krustenthiere ein, um sie nach Ostende und nach holländischen Küstenorten zu bringen. Aber nicht bloß Hummern und Langusten gehen die Naturforscher zuweilen dorthin nach, auch das Futter, welches man den gefräßigen Krebsen bietet, bildet einen Anziehungspunkt.

Draußen im tieferen Meere sind selbst größere Rochen, sowie kleinere Haifische keine Seltenheit. Große Haifische von sechs und mehr Fuß Länge werden nur höchst selten gefangen, aber die kleineren Dornhaie (Acanthias), Hundshaie (Scyllium) und Rochen verschiedener Art kommen den Fischern häufiger in die Netze, als ihnen lieb ist, denn sie fressen gern die schon gefangenen Schell- und Stockfische von den Angeln ab, wobei sie natürlich den Haken selbst mit hinunterwürgen. Das ist denn ein großer Verlust für die armen Leute – die Rochen können sie noch verkaufen, wenn auch zu Spottpreisen, die Haie aber mag selbst der ärmste Bettler nicht, und früher warf man sie mit einem tödtlichen Schlage auf den Kopf und mit einem tüchtigen Fluche hinterdrein in das Meer zurück. Durch den Hummerpark wird wenigstens eine kleine Entschädigung geboten. Die Krebsthiere bilden die Sanitätspolizei des Meeres; sie haben, wie die Geier der südlichen Continente, die Aufgabe, Aeser und Leichen, sowie unbehülfliche Kranke aus der Welt zu schaffen, und entledigen sich dieser Aufgabe mit um so größerem Erfolge, als sie den faulenden thierischen Stoff in ein schmackhaftes und leckeres Fleisch umwandeln. So füttert denn der Besitzer des Hummerparks seine Pfleglinge mit todten Haifischen. Die Fischer bringen zuweilen hundert Stück an einem Morgen. Man nimmt die Leber heraus, um einen übel riechenden, aber für Lederwaaren vortrefflichen Thran daraus zu sieden, und wirft den Körper den Krebsen in das Wasser. Es ist ein seltsames Schauspiel, die blau und gelb getigerten Hummern mit ihren großen Scheeren, die gelben Langusten mit den langen Fühlhörnern über diese todten Haie herfallen zu sehen. Der Naturforscher aber sputet sich, den Krebsen zuvorzukommen. Er findet auf den Haien seltene, schmarotzende Krustenthiere, die sich an den Augen, den Flossen, den Kiemen festhaken und Blut saugen, oder selbst tief in das Fleisch sich einbohren, und die meisten Weibchen tragen Junge. Ich habe keinen weiblichen Dornhai geöffnet, der nicht drei bis vier Junge in seinen Eileitern gehabt hätte. Semper in Würzburg hat durch seine Arbeiten über die Nieren der Haifische und die an denselben sichtbaren Oeffnungen von eigenthümlichen Segmentalorganen, welche sonst nur bei Würmern vorkommen, der Untersuchung ein neues Feld geöffnet, durch welche ein meines Erachtens besserer Einblick in die Stammesverwandtschaft der Wirbelthiere gewonnen werden kann, als durch den vertrackten Amphioxus, den Haeckel mit so viel Vorliebe den Ehrwürdigen nennt. Jetzt werden Haifisch-Embryonen ebenso emsig studirt werden, wie bisher die Eier der Seescheiden, die man nach dem Vorgange Kowalewski’s in der neuesten Zeit als Ahnen der Wirbelthiere betrachtet hat. Ringelwurm oder Seescheide – hie Welf, hie Waiblingen! Aber wie die Entscheidung auch fallen mag, so scheint mir der Stammbaum immerhin von einem höheren Punkte auszugehen, als wenn man ihn von dem bekannten, künstlerisch modellirten Erdenkloß ableitet, dem ein lebendiger Odem in die Nase geblasen wurde. Sonderbar erscheint es aber auch in dem Falle, wo man sich gegen Kowalewski und Haeckel für Semper entscheiden wollte, daß gerade die Haifische und Rochen, diese räuberischen Bestien, das Meiste von der Organisation der Ahnen zurückbehalten haben sollen.

Doch zurück zu Roscoff. In dem mehr fashionabelen Westend des Städtchens, gegenüber der Kirche und fast neben dem einzigen Gasthause, erhebt sich das Laboratorium für experimentelle Zoologie, an dessen Spitze als Director Professor de Lacaze-Duthiers steht. Ein für Roscoff ungemein stattliches Haus mit fünf Fenstern in der Fronte, drei Stockwerke hoch, mit geräumigen Mansarden, alle Zimmer zum Wohnen und Arbeiten zugleich eingerichtet. In jedem Zimmer zwei Betten, zwei Arbeitstische, zwei Arbeitskisten mit allem nur erdenklichen Material, vom Feuereimer und Wasserkübel bis zum Mikroskope und den Briefcouverts. Geht man durch den Hausgang, so betritt man einen kleinen Garten, dessen Hintergrund von einem hohen, hellgefensterten Schuppen eingenommen ist. Das Meer braust unmittelbar an die Grundmauer an, auf welcher der Schuppen ruht – von seinen Hinterfenstern aus hat man die weiteste Aussicht über das nördliche Arbeitsfeld, denn die beiden Bourguignons liegen unmittelbar gegenüber; von dem kleinen Garten aus gelangt man durch ein treppenartiges Gäßchen auf den Strand, der sich bei der Ebbe abdeckt. Dort sind zwei große Reservoirs aufgemauert, deren jedes acht bis zehn Cubikmeter Wasser enthalten kann. Sie werden täglich bei Fluth durch eine Röhre, welche eine Strecke vom Ufer weg auf dem Boden fortgeleitet ist, mit frischem Seewasser vollgepumpt und speisen vier große Aquarien, welche an den Seitenwänden des Schuppens so vor den Fenstern eingemauert sind, daß das Licht durch sie hindurch fällt.

Die Leitungen speisen noch eine Menge kleinerer Aquarien, die auf schwarz angestrichenen Tischen aufgestellt sind und welchen das Seewasser durch Kautschukröhren zugeführt wird. [293] Daß man unmittelbar aus den Behältern, mittelst Krahnen, Seewasser entnehmen kann, versteht sich von selbst. Hier concentrirt sich nun der wissenschaftliche Zufluß, die Gesammtarbeit – hier werden, meist nach dem Frühstücke, bei einer Cigarre die Excursionen verabredet.

„Morgen ist große Ebbe – sie muß benutzt werden. Was haben die Herren vor?“

„Ich gehe nach Per’haridi,“ ruft der Eine.

„Brauchen Sie Hülfe?“

„Nein.“

„Gut, und Sie?“

„Ich möchte nach Rolléa und dem Loup.“

„Francis wird mit dem Plattschiff, der ‚Molgula‘, Rolléa gegenüber, um neun Uhr am Strande sein, um Sie hinüber zu führen.“

„Wir wollen nach Saint Pol.“

„Zu Schiffe?“

„Nein, im Wagen. Wir fahren bis an den Strand und gehen dann der Ebbe nach.“

„Marti und Yves können mitfahren und graben helfen. Schauen Sie tüchtig nach Chaetopterus aus – er ist selten. Myxicolen werden Sie schon finden, wenn Sie die richtige Stelle finden. Marti und Yves wissen Bescheid.“

So flattert es nach allen Seiten hinaus, die Einen dorthin, die Andern dahin, je nach Bedürfniß. Mit der Fluth kehren sie wieder, und nun geht es an das Auspacken aus den Gläsern und Kübeln, an das Sortiren und Uebertragen in die Aquarien und die speciellen Gefäße, die Jeder sich herrichtet. Keiner darf des Andern Gefäße ohne besondere Erlaubniß anrühren. Jeder wählt sich ein Thema seines Studiums aus, und Allen geht Lacaze hülfreich zur Hand, um ihnen das nöthige Material zu verschaffen und, wenn sie es bedürfen, mit Rath und Anleitung zur Seite zu stehen. Die jungen Leute, welche dort arbeiten, finden freies Logis, und oft sogar zahlt ihnen das Laboratorium die Reise von Paris nach Roscoff und zurück.

Wer mir vor dreißig Jahren, als ich zum ersten Mal an die See ging, von solchen Bequemlichkeiten gesprochen hätte, wäre mir wohl als ein Träumer erschienen. Nun aber sind sie geschaffen, nicht nur hier, sondern auch anderwärts, und noch großartiger ohne Zweifel in Neapel durch meinen jüngeren Freund Anton Dohrn. Ich kann mir wohl einigen Antheil an diesen Schöpfungen zoologischer Observatorien zuschreiben, denn lange Jahre hindurch habe ich mich fast heiser danach geschrieen. Franzosen, Engländer und Amerikaner sind auf dem Wege nachgefolgt, dessen Bahn Dohrn mit großen persönlichen Opfern gebrochen hat. Mögen Diejenigen, welche Interesse für Studien dieser Art hegen, nicht vergessen, daß die Wissenschaft solcher Hülfsmittel bedarf und daß ein internationales Institut, wie das Dohrn’sche, der materiellen Beihülfe nicht entbehren kann. Ja, ich halte es sogar für eine Ehrenpflicht des deutschen Reiches, die Anstalt in Neapel so zu unterstützen und auszustatten, daß sie den anderen als Musteranstalt vorleuchte, ganz so, wie auch die deutschen chemischen Laboratorien Muster geworden sind für die ganze Welt.

Fragt man mich aber, warum ich Roscoff zum Studienort gewählt habe und nicht Neapel, so ist meine Antwort einfach. Meine Ferien fallen in die heißeste Zeit des Jahres, Juli bis September. In diesen Monaten lauert in Neapel das Fieber, und die Hitze wirkt abspannend und lähmend, Roscoff aber erfreut sich dann einer gleichmäßigen Temperatur, eher frisch als warm, und es lohnt sich kaum, Sommerkleider dorthin zu bringen. So findet dann meine Familie dort die Sommerfrische, welche sie früher auf den Bergen suchte, und außer Erholung und frischer Luft spendet uns das Meer die Schätze seiner Fluthen in nicht minder reicher, wenn auch verschiedener Fülle, als an den südlichen Gestaden. Der freilich könnte sich glücklich preisen, dem ein gütiges Geschick neben genügenden Mitteln Freiheit genug beschieden hätte, um den Winter in Neapel, den Sommer in Roscoff zuzubringen – aber Diejenigen, welche das können, haben meist kein Interesse an den Studien, welchen wir obliegen, und Diejenigen, welche gern möchten …. weshalb murren gegen Dinge, die man nicht ändern kann?




Blätter und Blüthen.


Ein Kammerwagen der Kornkammer. (Mit Abbildung auf S. 291.) Wer die höchste Höhe des zwischen Rhön und Taunus gelagerten Vogelsbergs in Oberhessen, den fast drittehalbtausend Fuß hohen Taufstein erstiegen hat, steht wie im Mittelpunkte eines Bergsterns, von welchem die Thäler nach allen Himmelsrichtungen hin als Strahlen auslaufen. Von den Thälern, die nach Norden laufen, schmückt eines ein lustiger Bach, der bald zu dem Flüßchen Schwalm anwächst; dasselbe verleiht einer Landschaft, die als „die hessische Kornkammer“ gerühmt wird, den Namen des Schwälmergrundes. Es ist eine wunderliche Welt! Wo die Schwalm herkommt, auf dem Vogelsberge, herrscht oft die bitterste Noth und ist Jahr aus Jahr ein Herr Schmalhans Küchenmeister, während dem Wasser in seinem Laufe bis zur Eder das Glück blüht, daß viel frohe, gesättigte, wohlhäbige Gesichter sich in ihm spiegeln. Die Landwirthschaft geht hier nicht mit Ziegen auf die Weide, sondern behandelt ihren goldenen Boden in großem Stile. Ueberall, wo dies der Fall ist, führt das wohlbegründete Selbstbewußtsein die Bauern auch zu festerem Halten an alten Sitten, Gebräuchen und liebgewordenen Gewohnheiten. Die Schwälmer zeichnen gerade darin sich vor ihren Nachbarn aus. Das wird Jeder finden, der im Lande reist, besonders aber Derjenige, welcher die Ankunft eines Braut- und Kammerwagens zu sehen bekommt.

Es war in einem der freundlichen Dörfer des Schwalmer Grundes, wie unser treffliches Bild bezeugt, wo ich vor einem stattlichen, mit Reben bewachsenen Hause verschiedene Gruppen harrender Leute erblickte. Natürlich blieb ich dort ebenfalls stehen und fragte, was hier los sei. Da sofort ein Dutzend Weiberzungen zugleich die erbetene Auskunft gaben, so dauerte es einige Zeit, bis ich mich durch den Wortschwall und die Schwälmer Mundart zu einigem Verständniß der Angelegenheit hindurchgearbeitet hatte. Man zeigte mir unter dem Vordach der Hausthür ein altes Ehepaar, beide im Feststaat, denn der Alte hatte den langen Sonntagsrock und sie die standesgemäßen zwölf Röcke übereinander an, auf dem Haupte die eigenthümliche Haubenmütze, die den Cereviskäppchen unserer Studenten nicht sehr unähnlich ist, aber an breiten Bändern gehalten auf dem Kopfe fest sitzt. Die beregten Weiberröcke sind sehr kurz, aber dafür trägt man deren mehrere, je nach den Vermögensumständen, so daß eine rechte Bauernfrau, wie eben gemeldet, bis zur Ehrenlast von zwölf Röcken hinaufsteigen kann. Diese beiden Alten hatten ihren Hof (das ist die hierländische Bezeichnung für das gesammte Bauerngut) an ihren ältesten Sohn abgetreten, um sich in den Ruhestand zu setzen, und heute wurde der Einzug der jungen Frau desselben gefeiert. Das ist ein hoher Familienfesttag, den man überall recht theilnehmend mitbegehen kann. Es ist so viel von den alten, zum Theil recht schönen und sinnreichen Sitten und Gebräuchen der Volkshochzeiten verloren gegangen, daß man sich freut, hie und da noch einem wohlbewahrten Stücke derselben zu begegnen.

Da kommen sie. Der Kinderjubel verkündet sie schon aus der Ferne. Zwei Wagen fahren daher, ein leichter Rollwagen, der das junge Ehepaar, und ein schwerer Leiterwagen, der die Ausstattung trägt. Am ersten, dem „Brautwagen“, kann man sich nicht satt sehen, so reich ist er mit Blumen und Laubgewinden geschmückt, eine Sitte, die Braut heimzuführen, die man sich nicht schöner denken kann. Sobald der Wagen hielt, kam der alte Vater die hohe steinerne Haustreppe herab und reichte seiner Schwiegertochter zum Willkommen ein Glas echten alten Kornbranntweins dar. Sie nahm es, trank es herzhaft aus und warf es, dem Gebrauche getreu, so an den Wagen, daß es zerbrach. Hierauf führte der Vater die neue Tochter der alten Mutter zu, die oben unterm Vordache vor der Hausthür geblieben war. Von dort sahen diese Drei allein den weiteren Vorgängen zu, denn nun war der Ausstattungswagen vorgefahren, welcher hier, aber auch in süddeutschen Gegenden, der Kammerwagen heißt. Diese Bezeichnung erklärt sich dadurch, daß ursprünglich auf diesem Wagen hauptsächlich Alles förmlich Parade zu machen hatte, was zur Ausstattung der ehelichen Schlafkammer gehört, und dies bestand ganz besonders in einem vollständigen Bette sammt Bettstelle und in einer grellbemalten und möglichst großen Lade (Kasten, Truhe) oder einem Schrank voll Wäsche. Diese Gegenstände galten und gelten vielfach noch heute auf dem Lande als Werthmesser der Mitgift und des elterlichen Haushalts der Braut und zogen vornehmlich die richtenden Augen der weiblichen Nachbarschaft auf sich. Auf der großen, buntfarbigen, die ganze Länge des Wagens einnehmenden Truhe thronten Wiege und Spinnrad (in Kartoffelklößländern fehlt neben beiden nie als Drittes im Bunde die Kartoffelpresse), und die Fußleiste der Lade entlang an der Vorderseite des Wagens glänzte das blanke Küchengeschirr. An den oberen Leiterstangen zu beiden Seiten des Wagens hing aber die Hauptsache: eine Reihe an sich gewöhnlicher, aus Weiden geflochtener Handkörbe, die jedoch reich vergoldet und bunt bemalt waren. Die Zahl derselben war allen Anwesenden von der größten Wichtigkeit, denn soviel Körbe, soviel mal tausend Gulden bringt die Braut als Aussteuer vom Vaterhause mit.

Man hatte den Zuschauern offenbar die nöthige Zeit gelassen, um Alles genau zu mustern im und am Wagen, von den aufgestapelten Tragkisten unter der Truhe bis hinauf zu den „geschappelten Jungfern“ bei den Betten und von den bändergeschmückten vier Pferden bis zu ihren beiden gleichfalls stattlich ausstaffirten Lenkern. Jetzt begann aber das Abpacken und zwar mit einem wichtigen Festacte, welcher die gespannteste Aufmerksamkeit aller Augen erregte. Der Bräutigam oder junge Ehemann hatte den Rock ausgezogen und trat an den Wagen, wo sich im gleichen Augenblicke die beiden „Geschappelten“ erhoben. So heißen diese Jungfrauen von ihrem Kopfputze, einem hohen Käppchen, von welchem wohl hundert bunte und goldgestickte Bänder vorn bis auf die Stirn und


Hierzu eine Beilage über Bock’s Buch. 11. Auflage.

[294] hinten bis auf den Rücken und Schultern herabhängen; eine solche Haube soll oft an zweihundert Gulden kosten. Beide faßten jetzt einen ansehnlichen Pack in ein Betttuch eingeschlagenes Bettzeug, schwangen es ein paar Mal hin und her und warfen es im Schwunge herab. Das ist der große Augenblick für den jungen Mann. Er muß das nicht leichte und schwer handhabliche Pack kunstgerecht auffangen, ohne Schwanken und Wanken, wie es einem richtigen Schwälmer gebührt. Ich war ein wenig besorgt um unsern Helden, denn er erschien mir nicht als besonders kräftig, aber er verstand seine Sache, fest fing er das Pack mit den Armen und hob es auf den Kopf, und begleitet vom allgemeinen Jubel trug er’s im Triumph die Treppe hinauf, als erstes Kammerstück in’s Haus. –

Es soll vorkommen, daß dieses Kunststück mißlingt, daß das Pack auf die Erde fällt oder den Auffänger umwirft; dann wehe dem Sünder! Er hat’s mit seinem jungen Weibe für lange Zeit verscherzt.

Nachdem Stück um Stück vom Wagen gehoben und in’s Haus gewandert war, kam zu guter letzt „der Flachs für die Armen“, welcher unter die Menge geworfen und auf diesem Wege schwerlich auf das Gerechteste vertheilt wurde. Mit diesem Knalleffect schloß das heitere Schauspiel. Die junge Frau war damit von der Bewohnerschaft an- und aufgenommen, und noch nach Jahren, wenn die silberne Hochzeit an den heutigen Tag erinnert, giebt es Leute genug, welche genau zu erzählen wissen, wie viel Körbe und Kisten dazumal die Anne-Marie dem Hans Klos auf dem Kammerwagen mitgebracht hat.

H. v. C.




Heinrich Beta. Am 23. März dieses Jahres lief von Berlin eine Zuschrift meines alten Mitarbeiters Heinrich Beta ein, das Manuscript der in vorletzter Nummer abgedruckten „Erinnerungen an Ferdinand Freiligrath“ enthaltend. Der Verfasser gedachte mit Wehmuth seines nun auch dahin geschiedenen Freundes, mit dem er in London das Exil getheilt und schloß seine mit der gelähmten Hand nur mühsam auf das Papier gekritzelten Bleistiftzeilen mit den Worten:

„So sinken sie Alle hinab, Einer nach dem Andern. Nur ich elendester Krüppel muß immer noch warten. Aber ich rufe bei jedem solchen Todesfalle:

Warte nur, balde
Ruhest Du auch.

Ich hoffe nun endlich ziemlich bestimmt, daß dieser Frühling für einige Blumen auf meinem Grabhügel sorgen werde[.] Also der Vorsicht wegen gleich ein herzliches Lebewohl für diese Erde von Ihrem alten treuen dankbaren

Beta.“

Tief erschüttert, aber doch ohne alle Besorgniß antwortete ich sofort dem Freunde zurück, er sei noch zu frisch zum Sterben, und nächsten Winter werde er wie sonst die Schneeflocken draußen lustig tanzen sehen, um dann später wieder hinauszuziehen nach Thüringen, wo er sich mit jedem Sommer frische Kraft und neuen Lebensmuth geholt. – Sechs Tage darauf schon traf von Berlin die Nachricht ein, daß er doch Recht gehabt und sein sehnlichster Wunsch erfüllt sei.

Seit dreißig Jahren bin ich mit diesem braven Menschen Hand in Hand gegangen, vormärzlich noch im „Leuchtthurm“, als es galt, unter dem furchtbaren Drucke der Censur in den vorsichtigsten Formen alle die Forderungen der Freiheit anzuregen, welche in jenen Tagen noch halb bewußt und unklar im Volke gährten und deren Verwirklichung nach einigen Jahren schon durch die siegreiche Erhebung des Volkes erkämpft werden sollte. Er war mir damals schon ein lieber, treuer Camerad. Mit allem Feuer einer freiheitsglühenden Seele trat er dann in den Jahren 1848 bis 1850 in die Kämpfe der Volksbewegung ein, und wie scharf und schneidig sein Federschwert die compacte Masse der Reaction traf und verwundete, das sollte er bald genug in den Verfolgungen erfahren, die von allen Seiten auf den treuen Verfechter seiner Ueberzeugung einstürmten. Um langjähriger Kerkerhaft zu entgehen, floh er endlich nach London. Dort hat er anfangs das ganze Elend des Flüchtlingslebens, die volle Bitterkeit des Exilbrodes durchgekostet. Aber seine Energie, seine bedeutenden Kenntnisse und der eigenthümliche Humor seiner Schreibweise, der überall Anerkennung fand, ließen ihn nicht zum Sinken kommen, und als er kurz vor Weihnacht 1852 in der „Augsburger Allgemeinen“ die erste Ankündigung der „Gartenlaube“ las, begrüßte er von London aus sofort hocherfreut das neue Unternehmen und bot seine Kräfte für die damals noch sehr kleine und schwache Anpflanzung an. Seitdem sind vierundzwanzig Jahre vergangen, und wie redlich er mitgeholfen an der Ausdehnung und dem Aufschwunge der „Gartenlaube“, das wissen Alle, die unser Blatt mit Aufmerksamkeit verfolgt haben.

Die Leser der ersten vier oder fünf Jahrgänge werden sich noch mit Vergnügen der trefflichen Schilderungen aus überseeischen Ländern, namentlich aber aus London, erinnern, die in den Jahren 1853 bis 1857 fast in jeder Nummer unserer Zeitschrift zur Erscheinung kamen. Damals mußte trotz der garantirten Preßfreiheit noch jedes Wort vorsichtig abgewogen werden, und Beta verstand es vortrefflich, in der unschuldigsten, harmlosesten Form der Schilderung alle die Principien und freiheitlichen Fragen wieder zur Geltung zu bringen, für die wir früher gestritten und gelitten. Sein feines Gefühl für alles Edle und Humane, sein unablässiges Streben, der Menschheit, und namentlich der ärmeren Classe derselben, zu nützen, sein scharfer und praktischer Blick, machten ihn zum wahrhaft genialen Pfadfinder auf der Suche nach Stoffen, die er alle im Sinne des Volkswohls und der Humanität zu verwerthen wußte. Ob „Afrikanisches Palmenöl“ oder „Londoner Krystallpalast“, ob „Markthallen“ oder „Krankenhäuser“ – er verstand es überall, den guten Kern und die Nutzanwendung zur Förderung des allgemeinen Wohls herauszufinden und in liebenswürdiger, warmer und geistreicher Weise zu motiviren. Wenn hier und da auch etwas flüchtig und sanguinisch – anregend und erfrischend waren diese Artikel sämmtlich und haben viel und nachhaltig gewirkt.

Die Generalamnestie ermöglichte es auch ihm endlich nach dem geliebten Vaterlande zurückzukehren, in dessen Zustände und Fragen er sich sofort mit vollem Verständniß der Sachlage wieder hineinarbeitete. Nach allen Seiten knüpfte er neue Verbindungen an, die ihn in den Stand setzten, seine Bestrebungen und Ueberzeugungen mit in die Wagschale der Oeffentlichkeit zu legen, und bald war sein Name überall zu finden, wo es galt, für die gute Sache zu wirken. Keck und frisch in der originellen, oft barocken Form seiner Schreibweise, scharf, aber stets sachgemäß und nie persönlich, der Einigung des Vaterlandes mit Begeisterung ergeben, aber ohne unterthänige Anbetung des augenblicklichen Erfolgs, wußte er mit offenem Auge jeder politischen, socialen oder volkswirthschaftlichen Frage das rein Menschliche abzugewinnen und im Sinne der Humanität zu beleuchten, bis ihm – seine Thätigkeit hemmend – vor circa sechs Jahren ein furchtbares Gichtleiden die Finger verkrümmte und seinen Körper in einer Weise lähmte, daß jede selbstständige Bewegung aufhörte und er nur wenig noch, und dann nur mit dem Bleistift, zu schreiben vermochte. Aber selbst auf dem Krankensessel hielt ihn die alte Energie aufrecht; er dictirte von da ab und arbeitete ohne Unterlaß weiter im Dienste des öffentlichen Wohles und des – Journalismus. Mit selbstloser Hingebung für seine Aufgabe, fast Tag für Tag anregend, ermunternd, belehrend, oft erhebend – ein echter Journalist und ehrlicher Patriot, so hat er gearbeitet, bis ihm der Tod auch den Bleistift aus der Hand nahm und seinem Kampfe um’s Leben und die höchsten Güter der Menschheit ein Ende machte. Für den Journalisten hat die Nachwelt keine Kränze – mir aber, der so lange Jahre Gelegenheit hatte, einen Einblick in das verdienstliche Lebenswerk des Heimgegangenen zu thun, mir ist es Bedürfniß des Herzens, ihm an dieser Stelle meinen wärmsten Dank in das Grab nachzurufen.

Von allen Mitarbeitern des ersten Jahrgangs der „Gartenlaube“ leben zur Stunde nur zwei noch: Ludwig Storch und der Schreiber dieser Zeiten. Wie lange noch – und auch für uns gelten die Schlußzeilen des Beta’schen Briefes:

„Warte nur, balde
Ruhest Du auch.“

E. K.




Zum Capitel der literarischen Unverschämtheiten haben wir leider im Nachfolgenden einige neue Daten zu liefern. E. Marlitt hat wiederum unter den Heimsuchungen der bekannten Bühnenpiraten zu leiden. Nachdem von ihrer augenblicklich durch unser Blatt laufenden Erzählung „Im Hause des Commerzienrathes“ kaum die ersten vier Nummern erschienen waren, wurden bereits dramatische Bearbeitungen derselben für das „Vorstädtische“ und das „Reunion-Theater“ in Berlin angekündigt, erstere von Hugo Busse, letztere von Fr. Wagner. Die dreisten Herren Bearbeiter fügten also auf eigene Faust der noch völlig unfertigen Erzählung Fortsetzung und Schluß für die Bühne höchst ungenirt an, ganz wie die „Temesvarer Zeitung“ (nicht zu verwechseln mit der von Albert Strasser redigirten „Neuen Temesvarer Zeitung“), welche die Marlitt’sche Erzählung seit dem Verbote unseres Blattes in Ungarn bekanntlich auf höchsteigener Phantasie zu Ende führt. Die genannten Bühnenbearbeitungen sind denn auch auf den Berliner Theatern wiederholt zur Aufführung gekommen. – Ferner geht uns aus Lübeck die Mittheilung zu, daß in einem dortigen Localblatte ebenfalls die Busse’sche Bearbeitung von „Im Hause des Commerzienrathes“ als Zugstück für die daselbst bevorstehende Sommer-Saison angekündigt worden, von zahlreichen anderen Bühnen gar nicht zu reden. Und gegen solche plumpe Vergewaltigungen sind wir völlig schutzlos!

Neben Marlitt wird E. Werner von literarischen Commis voyageurs heimgesucht. Schon jetzt, da sie ihre neueste Arbeit noch nicht einmal vollendet hat, ist sie von zwei sogenannten Bühnenbearbeitern aufgesucht worden, welche sie um die Erlaubniß der Dramatisirung des noch unfertigen Romans angingen. Diese Herren Scribenten hatten sogar die Dreistigkeit, ganz naiv einzugestehen, daß sie mit Rücksicht auf den pecuniären Ertrag und das fortwährende Vorgreifen der Berliner Theater auch ihrerseits den Abschluß des Romans in unserem Blatte nicht abwarten könnten. Sie scheinen also im Auftrage von zwei nicht Berliner Bühnen zu arbeiten. Selbstverständlich hat E. Werner diese unverschämte Zumuthung mit der gehörigen Entrüstung zurückgewiesen.

Daß das literarische Renommée unserer geschätzten Mitarbeiterin noch außerdem in schwindelhafter Weise ausgebeutet wird, entnehmen wir einem Briefe derselben, den die „Vossische Zeitung“ vor einiger Zeit abdruckte. Es werden in demselben gewisse Berliner Kreise vor einer unverschämten Hochstaplerin gewarnt, die den zufälligen Umstand, daß ihr Name mit dem Pseudonym unserer Autorin gleichlautet, zur Erschwindelung von Unterstützungen in wohlhabenden Häusern der deutschen Reichshauptstadt benutzt, indem sie sich mit frecher Stirn für die Verfasserin der bekannten Werner’schen Romane unseres Blattes ausgiebt. Die Betrügerin ist eine gewisse Werner, genannt Iglisch oder Incliff, eine sehr übel beleumundete und bereits bestrafte Person, die sich noch vor Kurzem in einem Berliner Hôtel garni aufhielt und von dort aus ihre Brandschatzungen in Scene setzte. Wir bringen dies zur öffentlichen Kenntniß, um der Schwindlerin, falls sie irgendwo anders auftauchen sollte, hiermit einigermaßen das Handwerk zu legen.




Bock’s Buch. Vor kurzer Zeit erst hatten wir die Freude, unseren Lesern mittheilen zu können, daß von Bock’s „Buch vom gesunden und kranken Menschen“ die 20,000 Exemplare umfassende zehnte Auflage innerhalb eines Jahres vergriffen worden. Heute sind wir in der angenehmen Lage, unter Hinweisung auf die unserer diesmaligen Nummer angefügte Beilage zur Kenntniß bringen zu können, daß von der elften Auflage des berühmten Buches die erste Lieferung nunmehr zur Versendung gekommen ist. Bei der anerkannten Vortrefflichkeit des Werkes bedarf es wohl nicht einer besonderen Empfehlung desselben. Bock’s „Buch vom gesunden und kranken Menschen“ ist in fast allen deutschen Häusern diesseits und jenseits des Oceans heimisch.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir benutzen diese Gelegenheit, um auf die vielen an uns gerichteten Anfragen zu erwidern, daß sich Dr. Brehm augenblicklich in Begleitung des Dr. Finsch und Graf Waldburg-Zeil auf der vom Bremer Polarverein veranstalteten Forschungsreise in Westsibirien befindet und uns freundlichst zugesagt hat, den Lesern unseres Blattes die Resultate seiner naturwissenschaftlichen Forschungen in einigen instructiven Schilderungen mitzutheilen.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: her at
  2. Vorlage: IV.
  3. Vorlage: vernehme