Erinnerungen an Freiligrath in London

Textdaten
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Autor: H. Beta
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Titel: Erinnerungen an Freiligrath in London
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 250–252
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Erinnerungen an Freiligrath in London.


Vor etwa vierzig Jahren verhielt sich äußerlich und namentlich in der Politik scheinbar noch Alles ruhig, reinlich und bescheiden, und die Julirevolution von 1830 schien in Hessen-Kassel und Sachsen in ihrem Einflusse auf Deutschland die äußersten Grenzen erreicht zu haben, ohne sich nach Preußen zu wagen. Aber das junge Deutschland hatte in der schöngeistigen, die Hegelei in der wissenschaftlichen Anschauungsweise und Literatur schon tüchtig aufgeregt und aufgeräumt. Der alte, liebenswürdige Cultusminister von Altenstein, ein Schüler Fichte’s und Mitarbeiter an den Hardenberg’schen und Stein’schen Reformen, pflegte in Berlin nicht nur seine Blumen, sondern begünstigte auch in ganz Preußen freie Forschung und Wissenschaft. In Halle war Ruge aus dem Gefängnisse bald bis auf einen Universitätslehrstuhl gestiegen und offenbarte uns von da aus in seiner derben, pommerschen, unbarmherzig dialektischen Weise die Geheimnisse der Hegel’schen Philosophie und Aesthetik. Dabei spottete er viel über die alte, trockene Kathederwissenschaft und gab uns bereits den Geist der „Halle’schen Jahrbücher“ zu kosten. Dies machte auch uns Studenten übermüthig, hoffnungsvoll und spottlustig in Prosa und Versen über die alte Zeit. Ohne Dichter zu sein, gründeten wir doch einen Halle’schen Dichterbund, gewannen sogar den alten, weißhaarigen Fouqué dafür, gaben ein ziemlich dickes Bändchen „Werdelust des Halle’schen Dichterbundes“ heraus und zogen uns namentlich den Haß des bereits mit Ruge kämpfenden kleinen gelbsüchtigen, damals universitätsmächtigen Professors Leo zu. Dies trieb mich von Halle nach Berlin, wo ich im Juli 1838 nichts Eiligeres zu thun hatte, als dem Dichter und Herausgeber des „Deutschen Musenalmanachs“ ein Exemplar „Werdelust“ zu überreichen. In einem grauen Jäckchen, von langen grauen Locken umwallt, saß Chamisso auf dem Sopha, blätterte grimmig blickend ein paar Mal in der „Werdelust“ hin und her, warf sie unwillig auf den Tisch und meinte, daß jetzt überhaupt alle Dichter die Feder und das Maul halten müßten. „Seitdem Dieser zu singen angefangen (dabei händigte er mir einen ganz frischen Band Gedichte ein), sind wir Alle Spatze. Nehmen Sie’s mit, lesen Sie, und Sie werden, wie ich, auf immer von weiterer Versemacherei geheilt sein.“

„Gedichte von Ferdinand Freiligrath“ hieß der Titel. Wir hatten zwar schon von ihm gehört und gelesen, besonders in Chamisso’s Musenalmanach, aber diese Begeisterung des alten echten Dichters über den neuen erfüllte mich mit wahrhaftem Staunen über die Größe Beider. Nur ein echter Dichter kann einen andern, indem er den Todesstoß von ihm erhalten zu haben meint, so bewundern und würdigen.

Ja, das waren ganz neue Saiten auf der Leyer der deutschen Lyrik und ein ganz neuer Virtuose auf diesem bereits von unzähligen Laien gemißhandelten und nicht wenigen Meistern wundervoll gespielten Instrumente. Eine Gottesgabe des weiten Schauens in die Ferne, eine dichterisch schwunghafte Völker- und Länderkunde mit Rhythmen und Reimen, welche uns mit zauberhaften, unerhörten Klängen zum Wüstenkönig lockten und in zwei Zeilen aus dem spanischen Fandango an die Ufer des Hoango springen ließen. Der furchtbare, hinreißende blutrothe politische Zorn seiner Muse war in diesem ersten Bande des jungen, noch rein schwärmenden Dichters und Amsterdamer Commis noch mit keiner Spur zu finden. So konnte er und wurde er von allen Ständen, allen Parteien bis zum absolutistischen Könige und Kronprinzen und den allerunterthänigsten höchsten Staatsbeamten gemeinsam bewundert, geliebt, gelobt und gelesen. Mit welchem Eifer ich Freiligrath’s Gedichte im Chamisso’schen Exemplare verschlang, davon habe ich noch heute einen erquickenden Nachgenuß. Einige Wochen später wollte ich dem graulockigen Peter Schlemihl das Exemplar zurückgeben, aber da hieß es, er selbst könne es nicht mehr in Empfang nehmen, da er während der Nacht gestorben sei.

An diesem letzten achtzehnten März folgte ihm nun auch Freiligrath. Letzterer ist ebenso wenig gestorben, wie Chamisso im August 1838. Die Furcht seiner Bescheidenheit, daß ein Freiligrath ihn dichterisch getödtet habe, hat sich weder an ihm noch an irgend einem anderen echten Dichter bewahrheitet. Jeder steht vielmehr in seiner eigenen individuellen Größe um so kenntlicher in der Walhalla der Unsterblichen, als der Eine wohl kaum einen Vers des Andern hätte machen können.

Auf die eben angedeutete Weise lernte ich Freiligrath kennen und bewundern. Ich mußte mehr als ein Dutzend Jahre warten, ehe ich ihn zuerst von Angesicht zu Angesicht sah und in manche gemüthliche, freundschaftliche Beziehung zu ihm trat.

Die Manteuffel-Hinckeldey’sche Brutalität und Willkür hatte ihn und mich nach London getrieben. Die Deutschen begrüßten ihn mit einem großartigen Festessen und volltönigen Reden. Alles war gespannt, den gefeierten Dichter und Märtyrer, den starken robusten Mann mit seiner schönen Baßstimme und der hinreißenden Zaubergewalt seines Wortes in Gegenrede danken zu hören. Aber wie ängstlich und beinahe mitleidig wurden sie, als der furchtbare Republikaner und gewaltige Dichter wie ein bescheidenes, verschämtes Mädchen stotterte und stammelte, um die nothdürftigsten Dankesworte über die Lippen zu bringen! Ja, dies war und blieb eine, ich möchte sagen rührende Eigenheit des gewaltigen Dichters und blutrothen Republikaners, daß er in größerer Gesellschaft, sowie in der Prosa sich immer schüchtern und unbeholfen fühlte und überhaupt im Privatleben seine Dichtergabe gewissermaßen unter einen Scheffel verbarg, sich lieber wie ein mittelmäßiger, liebenswürdiger Pfahlbürger von wenigen und schlichten Worten erwies, statt sein Licht leuchten zu lassen. So lernte ich ihn später im eigenen Hause und in eigener Familie, sowie in kleinen Gesellschaften persönlich näher kennen und lieben.

Seine erste Bekanntschaft machte ich auf eine sonderbare Weise. Nachdem mit der Ausstellung von 1851 unsere von Lothar Bucher, Bamberger, Faucher etc. herausgegebene deutsche Auflage der „Illustrated London-News“ eingegangen war, kam es zu [251] einem deutschen Londoner Wochenblättchen, welches der ehemalige Held des weinseligen Vergnügtseins in Berlin Louis Drucker, ehe er sich im amerikanischen Mississippi, also in gemeinem Wasser, ertränkte, als Colporteur umhertrug. Ich hatte das Blättchen so ziemlich allein zu füllen. Stoff dazu lieferte mir auch eines Tages die Erinnerung an die blutrothe Politik, welcher Karl Marx in der rheinischen Zeitung seligen Andenkens das Wort zu reden pflegte. Marx fühlte sich dadurch beleidigt und kam mit zwei mir unbekannten Herren feierlich mit einem vor das Auge gekniffenen Glase in die Redaction, um mich zur Abbitte oder zur blutigen Sühne durch Pistolen zu zwingen. Die beiden unbekannten Herren setzten sich ernst und stumm an einen Tisch, und der kleine schwarzgelbe Marx stellte sich, mich durch sein Glas einäugig fixirend, mit erhabenem, unmittelbar in’s Lächerliche umschlagendem Ernste dicht vor mich hin, um mich zunächst mit dem bewaffneten Blicke zu durchbohren. Damit ihm dies um so sicherer gelänge, stellte er mir die beiden ernst dareinschauenden Herren als Ferdinand Freiligrath und den rothen Becker vor.

Ich konnte nicht umhin, meinem lebhaften Bedauern Worte zu geben, daß ich den Dichter Freiligrath, unter so tragisch-komischen Verhältnissen zum ersten Male persönlich vor mir sähe, und reihete daran sogleich die Schilderung meines Besuches bei Chamisso. Dies rührte Freiligrath augenscheinlich. Die boshaft kaltblütig criminalistische Verhörerei des mir gründlich verhaßten Marx empörte mich ebenso sehr, wie sie mir lächerlich erschien. Ich erklärte unumwunden, daß ich mich auf eine in England mit Irrenhaus bestrafte Paukerei, Schießerei oder Stecherei auf keinen Fall einlassen werde und mich zu nichts verstehe als zu einem Berichte über diesen merkwürdigen Besuch mit Angabe des Inhaltes. Auch seien wir vier Betheiligten viel zu alt, als daß wir uns ohne Lächerlichkeit auf eine so studentikose Entscheidungsweise in dieser Angelegenheit einlassen dürften. Mehr als eine Veröffentlichung seiner vor diesen Zeugen gegebenen Versicherung könne Marx nie verlangen und werde er nicht erzwingen. Als die Drei gingen, rief ich Freiligrath noch in wahrhafter Verehrung und Liebe zu, daß ich ihm auf freundlichere Weise wieder zu begegnen hoffe.

Den viel gefürchteten rothen Becker hatte ich zuerst als die furchtbarste Persönlichkeit der Revolution angestarrt, aber ich sah ihn als ganz menschliches Wesen davongehen. Er ist denn auch noch ganz ehrenvoller Dortmunder Bürgermeister, sogar Oberbürgermeister der zweiten Hauptstadt Preußens und Mitglied des Herrenhauses geworden. Und die grimmige politische Muse Freiligrath’s feierte ihren größten Triumph in der Verherrlichung des „Trompeters von Gravelotte“, der im Helden- und Siegeskampfe des vereinigten Deutschland errungenen Einheit und Ehre mit kaiserlicher Krone. Sein unbeugsamer Republikanismus fügte sich also doch zuletzt der Gewalt der Thatsachen, wie alle Parteien in Poesie und Prosa. Nur der eitle Eigensinn und Egoismus eines Karl Marx und seiner socialdemokratischen und internationalen Nachbeter blieb, dem Geiste und der Einsicht unzugänglich, außerhalb der Bewegung stehen und muß in ohnmächtiger Feindseligkeit sich selbst vollends vernichten.

Ich sah hernach Freiligrath jahrelang nur dann und wann zufällig und nie in einer Versammlung zur Hebung und Förderung der deutschen Bestrebungen, wo Kinkel öfter durch seine gewinnende Persönlichkeit und Beredsamkeit den Zwiespalt der Parteien zu überbrücken suchte. Freiligrath hatte weder Sinn noch Talent für öffentliches Auftreten, und außerdem meinte er, seiner Stellung als Verwalter der Schweizer Bank in London diese Enthaltsamkeit schuldig zu sein. Endlich aber, mit dem herannahenden Herbste des Jahres 1859, galt es, die Deutschen in London für die Feier des hundertsten Geburtstages Schiller’s zu vereinigen. Lasen wir doch von großartigen Vorbereitungen aus allen Theilen der Erde, wo Deutsche waren. Mir ging’s wohl am meisten zu Herzen, und ich dachte an einen Aufruf mit ehrenvollen Unterschriften.

Mit Kinkel auf’s Herzlichste befreundet, ging ich ihn zuerst an, aber er war und blieb der Ueberzeugung, daß mit den zersplitterten oder englisirten Deutschen in London nichts anzufangen sei. Deshalb suchte ich demnächst Freiligrath in der Schweizer Bank hinter der Börse auf. Er rollte mir höchst liebenswürdig einen schweren, ledernen Lehnstuhl hin, setzte sich mir gegenüber und zeigte sich als echter Dichter für einen ebenfalls echten begeistert, aber auch er war der Ansicht, daß mit unseren Landsleuten in der Themsestadt nichts auszurichten sei. Man dürfe sich durch einen Aufruf nicht lächerlich machen. Ich dachte aber, für Schiller könne man’s schon wagen. Nachdem ich bei anderen Deutschen von hohem Ansehen ebenfalls abgewiesen worden war, gelang es mir, mit Hülfe der Directoren des Krystallpalastes das Unternehmen eines würdigen Schiller-Festes zu sichern. Und nun ließ sich Kinkel ebenso leicht für die Festrede, wie Freiligrath für die Festcantate, ein deutscher Componist für die Composition derselben, ein deutscher Gesangverein, der dadurch sofort auf dreihundert Mitglieder schwoll, für den öffentlichen Vortrag derselben gewinnen. Dreitausend Engländer und Engländerinnen studirten die „Glocke“ ein. Das ganze Fest sollte mit einem Fackelzuge im Parke des Krystallpalastes enden.

Alles gelang über jede Erwartung. Die Freiligrath’sche Cantate war vom Anfange bis zu Ende ein echtes Kind dichterischer Begeisterung für unseren größten Dichter. Die Composition gelang ebenfalls, am glänzendsten aber die Ausführung aus dreihundert begeisterten Mannes- und Jünglingsherzen. Nach den Urtheilen der englischen Presse war unser Zug mit achthundert Fackeln aus den Tiefen des Parkabhanges auf den gewundenen Wegen bis in die Terrassen herauf ein beispielloser, in England noch nie gesehener malerischer Triumph.

Dieser hundertste Geburtstag Schiller’s gebar auch zuerst Einheits- und Selbstgefühl unter den Deutschen in London, wie mehr oder weniger auf der ganzen Erde. Das Gefühl war meist noch idealen und allgemeinen Inhalts und gewann erst über ein Jahrzehnt später Fleisch und Blut, Lebenskraft für weitere Entwickelung und Verwirklichung.

Auch Freiligrath war wieder deutscher, zugänglicher und gemüthlicher geworden. Ich kam fortan öfter persönlich und in Familie mit ihm zusammen. Er wohnte jenseits verwickelter Häuserlabyrinthe, von der City nordwestlich, in dem sonst ziemlich ärmlichen Hackney, einem ehemaligen besonderen Dorfe mit einem Kirchhofe voll verwitterter Grabsteine und einem nur noch als Ruine hervorragenden Kirchthurme. Vor diesem vorbei und mitten über den Kirchhof hinweg kam man auf kürzestem Wege zu Freiligrath, in sein altes, geräumiges und gemüthliches Haus mit kleinem Vor- und großem, altem Hintergarten, in dessen ehrwürdige Baumkronen und grüne Grasflächen er aus seinem Bibliothekzimmer hinaussah. Es war groß und ringsum von ganz unten bis ganz oben mit Büchern gefüllt. Bei einem Privatgelehrten und Dichter hatte ich noch nie eine solche Fülle von Büchern gesehen. Sie waren denn auch von Jugend an seine Liebhaberei, sein Stolz gewesen. Er hatte sie zweimal aus Deutschland mit in’s Exil hinübergenommen. An dem großen Tische mitten in diesem Zimmer, fern von allem Lärm der Stadt und der Straßen war er ein glücklicher, gesundheitstrotzender, freundlich gesprächiger Mensch und Gelehrter. In der Familie unten erschien er zugleich als ehrwürdiger Patriarch, wahrhaft kindlich und zufrieden mit Allem, was ihm Frau und Kinder gaben oder nahmen; namentlich überließ er die unbeschränkte Herrschaft über das ganze Haus- und Wirthschaftswesen seiner zierlichen, blonden Frau aus Weimar, die ihren Stolz und ihr Glück zweien Dichtern zu verdanken behauptete. Und gewiß mit Recht. Diese beiden Dichter hießen Goethe und Freiligrath. Ersterer hatte sie oft mit Kuchen und Küssen beschenkt und sich das Kind nicht selten holen lassen, um mit ihm zu spielen und zu scherzen. Die zur Zeit meines Londoner Aufenthaltes fünfzehnjährige Tochter war Frau Freiligrath’s verjüngtes Ebenbild. Da konnte man sich Goethe’s Geschmack und Zärtlichkeit erklären. Der etwas jüngere Sohn war stolz auf seine kleine Privatmenagerie im Hofe. Der Vater meinte ganz richtig, durch Umgang mit Thieren würden die Kinder menschlicher und gemüthvoller.

Dieses Familienleben war ein echt deutsches, aber zugleich gehoben durch besten englischen Einfluß in Wohnungs-, Lebens- und Anschauungsweise. In Bezug auf Häuserbau, Einrichtung der Zimmer, Mahlzeiten, Arbeitsvertheilung etc. könnten wir in Deutschland nichts Besseres thun, als diesem englischen Einflusse mehr Rechte einräumen. Nun, wir Flüchtlinge haben Alle etwas von England mit herübergenommen, Freiligrath sogar eine Monatsschrift in englischer Sprache, der wir nur einen guten Ersatzmann für den Dahingeschiedenen wünschen.

[252] Von dem schönen, gemüthlichen Familienleben Freiligrath’s in London wollen wir hier nichts weiter ausmalen, da es nur insofern vor die Oeffentlichkeit gehört, als man den Beweis liefern will, daß unser geliebter Dichter in Haus und Herz für alle Qualen eines politischen Nomadenthums entschädigt wurde.

Nur noch einen letzten Blick auf einen würzigen Maiabend bei ihm im Garten! Mirza-Schaffy-Bodenstedt war ebenfalls zum Besuch gekommen. Wir gingen unter blühenden Bäumen und über duftigen Maiblümchen zwischen saftig grünem Rasen auf und ab. Trotz seiner Corpulenz bückte sich Freiligrath, um uns eigenhändig Maiblümchen zu pflücken. Als er noch andere hinzufügen wollte, schalt ihn die Frau mit komischer Entrüstung: Maiblümchen dürften nie durch Hinzufügung anderer Kinder Flora’s beleidigt werden. Ich weiß nicht, ob ich’s sagte oder blos dachte: Frau und Fräulein Freiligrath hatten für mich viel Aehnlichkeit mit Maiblümchen. Die Tochter ist zur schönsten literarischen Blüthe in England gekommen, nicht nur als Uebersetzerin der Dichtungen ihres Vaters, sondern auch als fleißige Mitarbeiterin an literarischen Zeitschriften ersten Ranges.

An demselben Tage war bei dem blonden Käthchen Freiligrath eine ebenso durchgeistigte, fein-brünette Mädchenknospe erschienen und nach kurzer Zeit wieder verschwunden, um bald darauf unerblüht plötzlich in’s Grab zu stürzen. Es war Kinkel’s Tochter Johanna, voll der schönsten Gaben und Hoffnungen für eine lachende Zukunft. Ihre Mutter, mit voller Dichterkraft von Freiligrath besungen, war angesichts des Kindes von der Höhe des Hauses heruntergestürzt und zerschmettert. Als Frau und Künstlerin hatte sie hohen Ruhm erworben, aber die Tochter versprach noch viel mehr – und mußte sterben.

Es war ein duftiger, wehmüthiger Maiabend. Bodenstedt hatte viel, heiter und geistreich gesprochen und gestritten, aber es war und blieb doch gar zu traurig, als alle die lieben Augen und Gesichter in der Nähe des verfallenen Thurmes mitten zwischen verwitterten Grabsteinen von uns schieden und im Dunkel verschwanden.

Warum ist diese Erinnerung so traurig? Ich habe ihn ja seitdem nie wiedergesehen, den theuren Freiligrath, und nun hieß es plötzlich, daß er nach längerem Leiden ebenfalls gestorben sei. Tröstet’s uns wirklich, daß er in seinen Werken fortleben wird? O ja, man muß eben damit zufrieden sein. Wir müssen uns in eine ideale Welt unserer edelsten Dichter und Denker retten. Nun, Gott sei Dank, wir haben Denker und Dichter, wie kein anderes Volk. Und Freiligrath wird als einer der kräftigsten und edelsten von uns auf ewig geliebt und verehrt werden.

Zwei deutsche Dichterkinder, Kinkel’s Adelheid als preisgekrönte Künstlerin und die Tochter Freiligrath’s, die englische Schriftstellerin und deutsche Frau, vertreten noch lebend, wie ihre Väter jahrelang zuvor, den lautesten Geist Deutschlands unter unseren englischen Stammesgenossen.

Dr. H. Beta.