Die Gartenlaube (1875)/Heft 30
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No. 30. | 1875. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.
Ehe der Fremde etwas zu erwidern vermochte, hatte der Bursche sein Vorhaben bereits zur That gemacht, war über die Stufen herabgekommen und hatte ihn untern Arm genommen, wie man mit einem wohl bekannten und vertrauten Genossen zu thun pflegt. „Das ist einmal eine Freud’!“ rief er laut und mit erkünstelter Lebhaftigkeit, daß auch die Bauern nach ihm hinschauten. „Wie es sich nur so schicken kann! Denkt Euch nur, da hab’ ich jetzt auf einmal einen alten Kriegscameraden, einen Veteran gefunden, der in Griechenland bei den Ulanen in Einer Schwadron mit mir und mein Schlaf (Schlafcamerad) gewesen ist. Komm’ nur gleich mit mir, Camerad, in meine Stuben hinauf, damit Du Dir’s kommod machen kannst – der Herr erlaubt’s schon – da können wir recht mit einander discuriren. Da mußt Du mir erzählen, wie’s Dir gegangen ist, seit wir von Athen fort sind.“
Er entfernte sich mit dem Fremden, der ihm ohne Erwiderung folgte. Die Bauern sahen ihm nicht ohne Kopfschütteln und Verwunderung nach, und der Alte meinte, da werde nicht viel Besonderes zu erzählen sein, denn dem sehe man über das Gewand an, wie es ihm ergangen sei. Auch der Hochzeitlader sah Beiden nach und trat sogar an das Geländer vor, als ob er sie an seinem bisherigen Platze nicht genug beobachten könne.
„Mit dem Schlafcameraden ist es nicht ganz richtig,“ murmelte er vor sich hin, denn die Erzählung des Geometers von dem verfolgten Flüchtling stieg ihm in der Erinnerung auf, „der sieht mir nicht aus, als wenn er einmal auf einem Ulanenroß gesessen wär’. Meinetwegen! Was geht’s mich an? Ich werd’ nit den Stichauf machen … aber schön ist’s von dem Burschen, dem Sylvest, daß er sich so annimmt um den armen Teufel. Er ist halt brav durch und durch und hat das Herz auf dem rechten Fleck. – Ist schon ganz recht, was er da vom Reiter-Sein gesagt hat, aber es wär’ doch schad’, wenn der prächtige Bursche seine ganze Lebenszeit so in der Fremd’ und ohne Heimath in der Casern zubringen und vielleicht gar todt oder zum Krüppel geschossen werden sollt! … Es könnt’ ja keinen richtigern Bauern geben für einen gewissen Hof – ich muß mir’s doch überlegen, ob sich da nichts machen läßt. Und warum sollt’s nit möglich sein? Für einen Jeden kommt seine Zeit und sein Tag. Heut’ ist ja Sanct Galli und die Bauernregel sagt ‚Sanct Galli Tag muß jeder Apfel in sein Sack‘. Ich muß mir’s nur überlegen und den Baum einmal schütteln, ob die Aepfel noch nicht reif sind.“ Nachdenklich und fest sah er noch lange auf die Thür, in welcher die Beiden längst verschwunden waren, dann, wie von einem glücklichen Einfall überrascht, richtete er sich auf und nahm seinen Hut vom Tische. „Behüt’ Gott bei einander, Nachbarn!“ sagte er, „will noch nach Andechs hinüber, hab’ noch eine Botschaft auszurichten an den Bräumeister – jetzt wird er wohl Zeit haben, daß er mich anhört.“
„Behüt’ Gott, Trompeterfranzel!“ erwiderte der alte Bauer. „Wirst lang ausbleiben, daß wir etwa noch ein Labet mit den Karten machen können?“
„Ich will’s so kurz machen, als es nur geht,“ rief der Hochzeitlader im Fortgehen zurück, „kurzer Flachs giebt auch einen Faden. Mit dem Karteln aber ist’s nichts für heut – der Wirth meint, es seien viel junge Leut, Burschen und Dirneln da, die gerne einen Sprung machen: da soll ich sehn, ob nichts zuweg’ zu bringen ist mit einem Loostanz.“
Inzwischen hatten der Müller und Mechtild wohl ein paar Mal wieder nach dem Platz gesehen und rüsteten in schweigender Verdrießlichkeit zur Heimfahrt, da Zacharias sich nirgends blicken ließ, also seinen Vorsatz wirklich ausgeführt zu haben schien.
Dem war aber nicht so.
Draußen, in Schußweite vor dem Dorfe, wo die Straße durch einen kleinen, dicht mit Gebüsch verwachsenen Hohlweg führte, lag der Trotzige im Gras und hielt wie eine Schildwache den Weg im Auge, daß keine Feldmaus durchzukommen vermochte, ohne von ihm gesehen zu werden. Ungeschlacht und mit drohender Miene lag er da – neben ihm, nicht minder drohend und ungeschlacht, ein starker Prügel; die Nachbarschaft war keine zufällige, denn manchmal tastete er neben sich nach dem Stecken, wie um sich zu überzeugen, daß der bedenkliche Gefährte, den er aus einer Umzäunung ausgezogen, noch in Bereitschaft zur Hand sei. Zacharias war so erbittert, wie er nie gewesen, und wilde Gedanken gingen ihm durch den sonst so friedlichen Sinn.
Oft schon hatte ihn Mechtild durch ihr spöttisches und hochfahrendes Wesen aufgebracht, immer aber hatte ihn darnach ihr Schmeicheln und Schönthun wieder besänftigt; es war etwas in ihrer Stimme und in ihrem Blicke, wenn sie ihn freundlich ansah, dem er nicht Stand zu halten vermochte, jetzt aber – das stand felsenfest in ihm – jetzt sollte es nicht wieder so hingehen. Jetzt war er fest entschlossen, ihr zu zeigen, daß er auch seinen Willen habe und daß er gesonnen sei, es nicht mehr zu ertragen, [502] wenn sie Lust hatte, ihr Spiel mit ihm zu treiben. Grimm im Herzen, hatte er lange Zeit zugesehen, wie sie mit dem verwünschten gelben Geometer sprach, wie sie die Blumen, die sie für ihn gepflückt, ohne Widerrede dem Fremden ließ, der sie, als wenn er daran riechen wolle, an den Mund führte, mit Mühe hatte er sich zurückgehalten, daß er nicht hervorstürzte und Beiden an die Kehle fuhr. Er ertrug endlich den Anblick nicht länger und eilte fort, aber sein Entschluß war gefaßt. Sie hatte gelacht, als er mit einem bevorstehenden Unglücke gedroht; sie hatte es für kein Unglück gehalten, wenn er ginge. Nun sollte sie sich überzeugen, daß seine Drohung keine leere Prahlerei gewesen sei; nun sollte es wirklich ein Unglück geben, und wenn es ihm darüber selbst an den Kragen gehen sollte, der verhaßte Canarienvogel sollte nicht fortflattern, ohne daß er ihm das gelbe Gefieder ausgeklopft und ihm einen Denkzettel angehängt, der ihn an Beiden rächte.
Es währte lange, daß er so dalag in seinen Zorngedanken. Niemand kam die Straße heran, denn Keiner von den Gästen hatte Lust, sich schon auf den Heimweg zu machen. Nichts regte sich um ihn her, als etwa eine Eidechse, die aus dem Gesteine huschte, und auf dem wilden Birnbaume über ihm ein paar im Beginne ihrer Wanderschaft begriffene Staare, die neugierig und flügelschlagend heruntersahen, als hätten sie gern gewußt, ob der unbewegliche Mensch da unten todt oder nur eingeschlafen sei.
Endlich drang das Geräusch von Schritten an sein Ohr, aber es waren leichte Schritte, die er wohl nicht vernommen hätte, wenn er nicht so nahe am Boden gelegen wäre; auch kamen sie nicht von der harten Straße her, sondern über einen weichen, halb verrasten Wiesenpfad, der jenseits des Zaunes vorüber führte. Zachariesel horchte auf. Obwohl er beim ersten Laut erkannte, daß das nicht der Gang seines erwarteten Feindes sein könne, richtete er sich doch halb in die Höhe, denn ein beglückender Gedanke fuhr ihm blitzschnell durch den Sinn: wie wenn es Mechel wäre? Wenn es ihr leid wäre, ihn so gekränkt zu haben, und wenn sie nun käme, ihm aufzusuchen? Behutsam setzte er sich vollends auf; noch behutsamer schielte er nach der Richtung, von welcher die Schritte kamen; wenn es Mechel war, sollte sie nicht glauben daß er sie erwartet hätte; sie sollte ihm zur Strafe die freudige Ueberraschung nicht anmerken.
Es war ein Bauernmädchen, das mit einer Grasbürde auf dem Kopfe vorüberging. Sie war schon etwas entfernt, so daß er sie fast nur noch von der Seite sah; auch war ihr Gesicht etwas von den herabhängenden Halmen verdeckt. Dennoch erkannte er sie augenblicklich; dennoch stand er im Nu auf den Füßen, als ob eine unsichtbare Macht ihn vom Boden empor geschnellt hätte; die Staare schrieen darüber auf und flüchteten erschrocken nach einem andern Baumwipfel.
Es war das unbekannte und doch so bekannte Bauernmädchen, das ihm auf dem Gange von Andechs her über den Zaun zugenickt hatte.
Ohne Besinnen machte er sich daran, ihr nachzueilen, um seiner ungetreuen Erinnerung nachzuhelfen und zu erfahren, wer sie sei und wo er das Flachshaar und die blauen Augen schon gesehen habe. Er kam mit seiner Eile dennoch zu spät; wohin er sah, war kein lebendes Wesen zu erblicken. Er mußte entweder geträumt haben, oder das Mädchen war in einen der naheliegenden Gras- und Baumgärten getreten und in einem der Häuser verschwunden, ohne daß er es hinter den Hasel- und Brombeerstauden des Weges bemerkt hatte. Aergerlich ging er an dem Zaune hin und wieder; ärgerlich lugte er in jeden Garten und hinter jede Hecke, als wolle er selbst ein Feldmesser werden – das Mädchen war und blieb unsichtbar. Er wollte gehen, um in den Häusern nachzufragen, aber er unterließ es; es kam ihm doch zu sonderbar vor, nach einem Mädchen zu fragen, von dem er nichts sagen konnte, als daß sie Flachshaar habe und blaue Augen darunter.
Langsam und mit jedem Schritte mißmuthiger, aber abgekühlt, weil abgelenkt von seinen Rachegedanken, kam er an seine Lagerstätte zurück; inzwischen war der Geometer unbesorgt durch den gefährlichen Hohlweg gewandert, die Gefahr nicht ahnend, die so nahe an seinem Rücken vorüber gezogen war. Zacharias schien nicht mehr an ihn zu denken. Achtlos stieß er das Werkzeug seiner Rache, das ihm nun im Wege war, mit den Füßen von sich, als er sich wieder niedersetzte, um sich nach wenigen Augenblicken abermals aufzurichten. „Ich bin doch ein recht dummer Kerl,“ sagte er in rückhaltloser Selbsterkenntniß laut vor sich hin. „Was plag’ ich mich denn so ab? Ich darf ja nur in das Haus gehen, wo sie mich über den Zaun gegrüßt hat, da werd’ ich doch nachfragen dürfen und erfahren können, wer der Flachskopf ist.“
Die Ausführung des Gedankens ward augenblicklich unternommen, dem ungeachtet blieb es beim Beginne; wie er die Hohlgasse hinab wollte, kam ihm das Wägelchen des Müllers entgegen gerollt, das er in seiner Vertieftheit nicht gewahr geworden war. Desto besser hatten ihn die Ankommenden bemerkt und sein Aufstehen als ein Zeichen betrachtet, daß auch er sie bemerkt habe und ihnen entgegen kommen wolle. Er konnte weder ausweichen noch umkehren; der Plan wegen des Gartenzauns mußte aufgegeben werden und war es auch im Augenblicke, denn aus Mechtild’s Augen spannen sich ihm die wohlbekannten Strahlen wie Fäden zu einem Netze entgegen, dem zu entrinnen er die Kraft nicht besaß.
„Hast Deinen Zorn verschlafen, Du dummer Franzel?“ rief sie ihm mit einem Lächeln entgegen, das wohl auch einen Stärkeren bewältigt hätte, und rückte bei Seite, daß er neben ihr auf dem Sitze bequem Platz nehmen könne. Er erwiderte nichts, aber er stieg ein und wies die Hand nicht zurück, die sich ihm zu Frieden und Versöhnung entgegenstreckte; schweigend fuhren sie davon, denn auch Mechtild hielt es für gerathen, das Vorgefallene nicht zu berühren und die kaum geschlossene Wunde nicht zu reizen, nur der Müller konnte seinen Unmuth nicht bemeistern. „Dummes Zeug – da beißt die Maus keinen Faden ab,“ brummte er und schwang die Peitsche, daß die Pferde ausrissen und der Wagen, über den Steinen der Straße dahin fliegend, das sonderbare Liebespaar enger zusammen rüttelte, als es sonst vielleicht gekommen wäre. –
Während dieser Zeit war Sylvest mit seinem unvermutheten Kriegscameraden in seiner Schlafkammer angekommen, die im oberen Stockwerke des Hauses an einem Seitengange gelegen war und deren Fenster aus ansehnlicher Fronte gegen den Hofraum und die Stallungen mündete. Es war die gewöhnliche Stube eines Knechts, mit einer Bettstelle aus blanken Fichtenbrettern und einem schlichten Bette in roth und weiß gestreiftem Ueberzuge. Die hölzerne Truhe, worin der Knecht seine ganze Habseligkeit verwahrte, mußte den Dienst von Tisch und Stuhl versehen, und hoch an der Wand hingen ein schönes blankes Pferdegeschirr, das der Wirth bei festlichen Gelegenheiten benützte, und die Schellenkränze für die Zeit des Winters, des Schnees und der Schlittenfahrten. Das einzig Ungewöhnliche, das zugleich den jetzigen Bewohner des Stübchens kennzeichnete, waren allerlei bunt bemalte Bilder, mit denen die Wände beklebt waren, eine Ansicht von Athen, ein Angriff von bairischen Jägern aus einen ungeheuren viereckigen Palikarenthurm und die Portraits von König Othon in rothem Fez und weißem Fustanell mit den schnauzbärtigen und krummnasigen Köpfen der Klephtenhäuptlinge Plaputas und Kolokotronis, die den jungen Hellenenkönig bedenklich nahe in die Mitte genommen hatten.
In dem Menschengewühle, das im untern Stockwerke des Wirthshauses durcheinander drängte und summte wie ein Bienenschwarm, war es Sylvest nicht schwer geworden, wenn auch nicht unbemerkt, so doch unbeachtet die Kammer mit seinem Schützlinge zu erreichen, ihn mit Speise und Trank zu versehen und dann einzuschließen, bis er wieder kommen konnte, um wegen dessen Sicherheit und fernerer Flucht das Weitere zu besprechen. Allmählich hatte sich unten Alles zusammen gefunden, was unter den Wallfahrern ein junges Herz und nicht müde Beine besaß; war es doch üblich, daß, wenn man den Morgen und Mittag dem Himmel geopfert hatte, der Nachmittag und Abend der Erde und ihren Freuden gehörte und mit einem kleinen Tanze beschlossen wurde. In der Nähe des heiligen Ortes selbst war das natürlich nicht statthaft, aber in dem nahe gelegenem Dorfe, gewissermaßen außerhalb des Bannkreises der Frömmigkeit, war kein Grund vorhanden, die Weltfreude auszuschließen. Um sich aber selbst zu beruhigen und vor jedem Einwande zu schützen, der im Hintergrunde eines strengeren Gewissens lauern mochte, erzählte man sich, daß es mit dem Tanze, der bei solchen Anlässen üblich war, eine ganz eigene Bewandtniß habe und derselbe
[503] nur halb eine Lustbarkeit, zur anderen Hälfte ein gottgefälliges Werk sei.
Der Tanz, der jetzt wohl nur noch vereinzelt bei Hochzeiten vorkommt, hieß der Loostanz, und bestand darin, daß die tanzenden Paare sich nicht nach Gefallen und Neigung aus freier Wahl zusammenfanden, sondern durch das Loos bestimmt wurden. Die Namen aller tanzlustigen Bursche wurden in einem Hute gesammelt, in einem anderen die der Mädchen; der Herr des Hauses oder sonst eine Vertrauensperson zog den Namen eines Mädchens heraus, das sich dann aus dem anderen Hute seinen Tänzer holte. Es hieß, dadurch solle alles Bedenkliche, was etwaigen Liebesverbindungen ankleben mochte, beseitigt, und der Tanz zu einer ganz harmlosen und unverfänglichen Unterhaltung erhoben werden; eine Folge davon war, daß sich derselbe zu einer Art von Sittengericht gebildet hatte, so daß jeder Bursche und jedes Mädchen es sich zur Ehre rechnete, am Loostanze Theil zu nehmen, und daß das Fernbleiben davon oder gar eine etwaige Ausschließung für die ärgste Schande gegolten hätte. Wohl meinten Manche, die Alles gern etwas leichter nahmen, das wäre nur Fabelei und der Loostanz nichts Anderes, als die Erfindung eines klugen Wirths, der dadurch auch jenen Mädchen zu Tänzern verhalf, welche sonst wegen Armuth oder Niedrigkeit verurtheilt waren, auf der Stiege dem Tanze zuzusehen, und deshalb die Stiegenhanseln hießen. Klügere aber wußten das besser und erzählten, der Loostanz stamme aus der Schwedenzeit oder sonst einer großen Kriegsgefahr, wie die Panduren im Baierlande gesengt und gebrannt. Damals sei der Feind auch in das Dorf gekommen, habe alle Häuser geplündert und alle Mädchen in die Schenke zusammengetrieben, um dort beim Gelage seinen wüsten Unfug mit ihnen zu haben. Die Dirnen seien aber rechtschaffen gewesen und hätten sich so tapfer gewehrt, daß sogar die wüsten Kerle Respect vor ihnen bekamen und versprachen, sie Alle freizugeben, wenn eine Einzige bei ihnen bliebe und mit ihnen ziehe als Marketenderin, welche aber dies thun solle, müsse das Loos entscheiden. Es wurde wirklich geloost und das auserkorene Opfer war eben im Begriffe, unter Schluchzen und Stöhnen von den geretteten Genossinnen Abschied zu nehmen, als glücklicher Weise ein Haufen bairischen Fußvolks herbei kam, die Panduren oder Schweden verjagte und Alle befreite; zum ewigen Andenken daran wird seither der Loostanz gehalten.
Eben hatte Sylvest einen ruhigeren Augenblick benützt, seinen Gefangenen zu besuchen, der gerührt seine Hand ergriff und schüttelte. „Du guter wackerer Bursche,“ rief er mit nassen Augen, „wie soll ich Dir danken? Ich will nicht von mir reden; ich vermöchte am Ende wohl die Folge dessen, was ich gethan, mit Fassung auf mich zu nehmen und zu ertragen, aber ich habe noch einen hochbetagten vortrefflichen Vater, der jetzt schon genug um meinetwillen gelitten hat. Deine unerwartete Hülfe erspart ihm vielleicht das schwerste Herzeleid, seinen einzigen Sohn als Hochverräther auf Lebenszeit in den Casematten einer Festung begraben oder gar auf dem Hochgerichte sterben zu sehen.“
„Reden Sie nicht so, Herr!“ entgegnete Sylvest hastig, „noch ist dabei gar nichts zu danken. Für’s Erste kommt Alles darauf an, daß Sie glücklich weiter kommen. Hier können Sie nicht länger bleiben, als höchstens bis morgen früh. Ich wundere mich schon lang’, daß die Gensd’armen noch nicht dagewesen sind und nach Ihnen spionirt haben.“
„Sei deshalb ganz unbesorgt, mein Freund!“ sagte der Flüchtling, „ich fühle mich schon jetzt in hohem Grade erfrischt und gestärkt und denke, nur den Einbruch der Nacht abzuwarten und mich dann wieder auf den Weg zu machen. In der Dunkelheit hoffe ich am sichersten durchzukommen.“
„Das glaub’ ich nicht, Herr,“ unterbrach ihn Sylvest, „ich glaub’, just bei der Nacht werden die Spitzeln am besten aufpassen, weil sie denken, Sie getrauen sich am hellen Tag nicht heraus; gerade deswegen müssen Sie am Tage geh’n und so thun, als wenn Sie gar nichts zu scheuen hätten, aber wo wollen Sie denn hin?“
„Du bist ebenso klug wie herzhaft,“ unterbrach ihn der Fremde, „allein ich bin nicht sicher, so lang ich deutschen Boden unter mir habe; wo man mich anträfe, würde man mich wieder ausliefern, ich muß daher trachten, so schnell wie möglich über die Schweizergrenze zu kommen. Wenn ich nur Augsburg glücklich erreichen könnte, hoffe ich wohl, auch nach Lindau und über den Bodensee zu gelangen, dann werde ich mich nach Paris wenden.“
„Oho,“ lachte Sylvest, „so weit sind wir noch lange nicht. Seien Sie froh, wenn Sie nur für die erste Zeit sicher sein und sich verstecken können – in ein acht oder zehn Tagen ist dann bei dem Aufpassen die größte Hitz’ schon verflogen. Dann können Sie es eher wagen und wieder hervor kommen. Wenn man Sie nur in der Näh’ irgendwo verstecken könnt’!“
„Als ich dem Gefängniß entsprang,“ erwiderte der Flüchtling, „sagte ich mir selbst, daß ich nicht die Richtung nach meiner Heimath einschlagen dürfe, weil man mich dort zuerst suchen würde; ich wanderte daher, als ich erst den Wald erreicht hatte, auf Gerathewohl in demselben weiter, bis ich mich hierher gefunden. Ich dachte dabei eines vertrauten Jugend- und Studienfreundes, der mich gewiß aufgenommen haben würde und der in dieser Gegend, wie ich mich dunkel erinnere, eine Besitzung haben soll. Es ist der Freiherr von Wildenroth, wenn Du vielleicht von ihm gehört hast …“
„Ob ich von ihm gehört habe!“ rief Sylvest erfreut. „Den kennt jedes Kind in der Gegend; der alte Herr ist vor etwa anderthalb Jahren gestorben und jetzt ist der junge Baron auf dem Gute, ein Mann, der in Ihren Jahren sein kann. Sehen Sie dort über dem Walde den Thurm? Das ist das Schloß Wildenroth – das können Sie leicht in anderthalb Stunden erreichen. Das Sträßlein, das Sie dort sehen, geht in weitem Bogen um das Dorf herum, aber über den Berg hinüber durch den Wald führt ein Fußweg, der um eine halbe Stunde kürzer ist.“
„Vortrefflich!“ entgegnete der Fremde, „aber wie kann ich dahin gelangen in diesem meinem Anzuge, den ich im Gefängniß abgetragen, ohne Hut, ohne …“
„Ja, dafür muß gesorgt werden,“ sagte Sylvest nachsinnend, „in dem Verzug (Anzug) dürfen Sie nicht hinaus, da könnten Sie Ungelegenheiten haben unterwegs. Mit einem Bauerngewand geht’s auch nicht, denn bei Ihrem Gesicht und den feinen Händen säh’ Ihnen ein Jeder auf zehn Schritt’ an, daß Sie kein Bauer sind.“ Er schritt wie suchend in der Kammer hin und her und blieb dann, von einem Gedanken überrascht, vor einem buntbemalten hohen Kasten stehen, dessen Flügelthüren er hastig aufriß.
Die hellblaue Ulanenuniform mit den carmoisinrothen Klappen und Aufschlägen, die weißen Fangschnüre und der Kalpak mit dem Hängbusch blinkten ihm entgegen.
„Juhe! da haben wir ja, was uns aus der Noth hilft,“ rief er freudig. „Sie ziehen die Uniform an; einen Ulanen, denk’ ich, werden Sie ganz gut vorstellen können; in der Uniform kommen Sie nach Wildenroth hinüber, ohne daß Ihnen ein Mensch was in den Weg legt, und damit es gar keinen Anstand hat, nehmen Sie meinen Paß und Abschied mit. Da ist auch ein kleines Beuterl mit Geld, damit Sie in keine Verlegenheit kommen.“
„Aber Mensch,“ unterbrach ihn der Flüchtling, „wie kommst Du dazu, mir solches Vertrauen zu erweisen? Du kennst mich nicht. Du weißt nur, daß ich dem Gefängniß entsprungen bin, daß man mich wie einen Verbrecher verfolgt. Fürchtest Du nicht, ehrlicher Bursche, daß ich Dich täuschen könnte, daß vielleicht Alles, was Du mir anvertraust, für Dich verloren ist?“
Sylvest sah ihm einen Augenblick fest in die Augen. „Nein, das fürcht’ ich nit,“ sagte er dann lächelnd, „dazu haben Sie ein viel zu gutes Gesicht. Sie geben dem Herrn Baron Wildenroth meine Sachen zum Aufheben und ich werd’ schon einmal Gelegenheit finden, daß ich hinüber geh’ und sie mir hole. Und was den Verbrecher betrifft, so mein’ ich, so viel ich von der Sach’ versteh’, es wird damit nicht so gefährlich sein, als es die Leut’ machen. Was haben Sie thun wollen? Die Landesherren absetzen? Das ist zum Lachen, das machen die Herren Studenten nit aus – da haben wir Bauern auch ein Wort darein zu reden, und von wegen dem Kaiser, so zimmt mich (scheint mir), wär’s damit auch nit so weit gefehlt, aber ich sorg, es wird noch viel Wasser in der Amper herunter rinnen, bis es damit was werden kann. Und nachher,“ fuhr er näher tretend und noch wärmer fort, „nachher ist es halt doch ein hartes Ding, wenn man gefangen ist oder verfolgt wird, wie ein gehetztes wildes Thier. … da mein’ ich, muß man helfen und nit lang fragen
[504] und überlegen, und wenn’s nur wegen dem alten guten Vater wär’, von dem der Herr gesagt hat …“
Das Geräusch eines heranrollenden und vor den Hause anhaltenden Fuhrwerks erscholl von der Straße herauf.
„Da kommt ein Gefährt’,“ unterbrach er sich, „ich muß hinunter, komme aber bald wieder. Zieh der Herr indessen nur die Uniform an, damit er bereit ist; man kann nicht wissen, was sich oft schickt.“
Raschen Schrittes eilte er aus der Stube und die Treppe hinab; er vergaß darüber, wie zuvor, die Thür der Kammer zu verschließen.
Unten kam er eben recht, um aus der Hand des Schlösselbauers Zügel und Peitsche in Empfang zu nehmen. Er erkannte denselben, sowie das neben ihm sitzende Mädchen augenblicklich, aber er hatte so lange an den Strängen zu nesteln und sich darauf hernieder zu beugen, daß keines von Beiden ihn hinwieder erkannte oder auch nur beachtete. Sie waren daher schon abgestiegen, und der Bauer erzählte dem höflich herbeigeeilten Wirth, daß er zwar die Wallfahrt, wie sich’s gehöre, zu Fuße gemacht habe, den Rückweg aber mit den flinkern Beinen seiner Braunen zurücklegen wolle, mit denen daher der Stallbube nachgefahren gekommen sei. Kuni erkundigte sich bei dem Wirthe sehr angelegentlich nach dem Befinden seiner Tochter, die ihre gute Freundin, aber immerwährend krank und seit Jahren bettlägerig war, ohne daß man eigentlich den Namen des Uebels zu bezeichnen vermochte, an dem sie einem frühen Tode entgegensiechte. Sie ließ sich von dem Wirthe deren Zimmer bezeichnen und wollte sie besuchen, während der Vater in der Stube für Platz, Imbiß und Trunk zu sorgen versprach. Sie hatte das weiße Vermählungstuch wieder abgenommen, aber das grüne Kränzlein mit Goldflitter, das sie als Prangerin getragen, saß ihr noch auf den emporgeschlagenen lichtbraunen Zöpfen, daß sie nicht viel zu ändern bedurft hätte, um als Braut an den Altar treten zu können.
Mit wohlgefälligem Schmunzeln betrachtete sie der Wirth. Auch unter der Thür und hinter den Fenstern ließen sich neugierige Köpfe sehen. Unter ihnen war auch Sylvest wider Willen. Er hatte sein Geschäft bei den Pferden beendet und kam eben vom Stalle her, um wieder zu seinem Gaste in den oberen Stock zu gehen, als er durch die Leute an der Thür aufgehalten wurde. Hätte er sich hindurch gedrängt, so wäre er sicher aufgefallen und bemerkt worden; so blieb ihm nichts übrig, als einfach ruhig stehen zu bleiben und die Eintretenden an sich vorbei gehen zu lassen. Er konnte den leisen Bemerkungen der um ihn stehenden Leute nicht widersprechen. Kuni war schön; es kam ihm sogar vor, als sei sie noch schöner geworden, seit er sie das letzte Mal gesehen, nur wollte es ihn bedünken, als sei sie etwas bleicher und der strenge Zug über der Nase und in den Brauen noch stärker geworden. Es kam ihm vor, als müsse sie jeden Augenblick den Kopf nach ihm wenden, als sähe er schon wieder das höhnische verächtliche Lächeln, das die schönen Lippen so sehr verzog, und die alte volle Bitterkeit des Hasses wallte in ihm empor.
Es war wirklich eine leichte Veränderung in Kuni’s äußerer Erscheinung vorgegangen. Hatte sie schon vorher im Hause für so gutherzig und freundlich gegolten, daß ein hartes Wort, das sie aussprechen mußte, ihr selber leider that, als dem, den es betraf, so war sie nun vollends, wie man im Sprüchworte sagt, „die gute Stunde selber“ geworden. Nur manchmal, ganz plötzlich, wie oft bei völlig blauem Himmel der Donner zu rollen beginnt, zuckte die frühere übermüthige Schärfe und das wegwerfende stolze Wesen in ihr auf, bei Veranlassungen, wo Niemand sich einen solchen Ausbruch zu erklären vermochte; am öftesten bei einem unschuldigen, arglosen Scherzworte, das auf Männer, Liebe und Hochzeit anspielte.
Hatte sie in dieser Hinsicht entschieden an Ruhe gewonnen, so hatte sie dagegen sehr viel von der liebenswürdigen Heiterkeit eingebüßt, welche auf ihrem Antlitze gefunkelt hatte, wie eine frische Thauperle im Kelche des Frauenmantels, jenes lieblichen Feldblümchens, das die ihm gewordenen Tropfen noch lange bewahrt, wenn die Sonne von allen übrigen Gewächsen sie längst hinweggesogen hat. Stundenlang saß sie über der Arbeit, ohne daß ein Laut über ihre Lippen kam. Sie sah nachdenklich aus und war es auch – der Tag auf dem Dießener Markte und was vorhergegangen, namentlich aber die schmucke Gestalt des trotzigen Ulanen, machte ihr in der Erinnerung viel zu schaffen, und so sehr sie dieselben auch abwehrte und zu verscheuchen suchte, die Gedanken kamen und umsummten sie immer wieder, wie es wohl werden solle, wenn sie sich doch einmal entschließen müsse, einem Manne die Hand zu geben und ihn zum Herrn des Schlösselbauernhofes und ihrer selbst zu machen.
Der Schlösselbauer fing an, um Kuni’s Gesundheit besorgt zu werden, und fragte unter der Hand bei dem Bader um Rath, der dann, als er zum Herbstaderlaß auf den Hof gekommen war, die wunderliche Kranke unvermerkt beobachtete und den Alten beruhigte. Es habe keine Gefahr, sagte er ihm, Kuni’s Zustand sei eine Art von Herzgespann oder Herzschein, den man durch Sympathie leicht bewältigen könne. Er solle nur suchen, das Miederleibchen, das sie gewöhnlich trage und das also ihr Herz umspanne, heimlich in die Hand zu bekommen und in der ersten Vollmondnacht unter einem Hollunderbaum so aufzuhängen, daß es vom Mondscheine nicht erreicht werde; das ziehe alles Gespann heraus. Uebrigens wolle er ihr zum Frühling ein Kräutertränkchen kochen.
Wirklich hatte Kuni an einem Tage ihr Leibchen vermißt, vergeblich überall gesucht und am andern Morgen in der Stube wiedergefunden, ohne sich erklären zu können, wie dasselbe dahin gekommen war. Der listige Alte hatte also das Mittel wirklich angewendet, aber es mußte doch etwas dabei übersehen worden sein, denn die Hülfe wollte nicht kommen, und es blieb nichts übrig, als auf das Frühlingstränklein zu hoffen.
„Mach’s nur nicht zu lang’!“ sagte Kuni zum Vater, als er von den Zurüstungen zum Imbiß sprach, „wir halten uns doch nicht lang’ auf? Ich möcht’ bald wieder daheim sein.“
„Ja wohl, daheim sein und immer daheim! Da freut’ mich mein Leben,“ eiferte der Vater entgegen, „möchtest Dich daheim wohl gar einspinnen und einhäuseln wie eine Klosterfrau – daraus wird heut’ einmal nichts. Daheim, auf dem Hof kann ich’s nicht ändern, wenn Du den Kopf hängst und Kalender machst, aber wenn wir einmal unter den Leuten sind, dann bin ich Herr und dann sollen die Leut’ auch wissen, daß der Schlösselbauer da ist.“
„Kann ich dafür, wenn es mir halt daheim am liebsten ist?“ entgegnete das Mädchen ungeduldig und mit sauersüßer Miene; „brauchtest mir das nicht vor allen Leuten vorzurufen, Vater, und mir aufzubringen, daß ich den Kopf häng’.“
„Mich zimmt, die Dirn’ tragt den Kopf eher zu hoch,“ grollte Sylvest in seiner Ecke vor sich hin.
Der Vater hatte ebenfalls schon eine Erwiderung auf der Zunge sitzen, aber der gewandte Wirth fuhr dazwischen, um dem Gespräche schnell eine angenehmere Wendung zu geben und zu versichern, wie es auf zehn Stunden im Umkreis bekannt, wie trefflich die Jungfer auf dem Schlösselbauernhofe schalte und walte.
„Heut’ aber muß die Jungfer für jeden Fall eine Ausnahm’ machen und darf nichts vom Fortgehen reden. Die Jungfer weiß ja doch, daß es heut’ noch einen Loostanz giebt.“
Kuni warf geringschätzig die Lippen auf. „Wird sich nicht machen lassen, Wirth,“ entgegnete sie und trachtete dem Hause zu; „ich komm’ eben von der Wallfahrt und hab’ noch das Kränzel auf als Prangerin – da thät sich das Tanzen wohl nicht schicken.“
„O, mit dem Loostanz ist das ein ganz anderes Ding,“ antwortete neben ihr herschreitend der höfliche Wirth, „das ist ein Tanz, den man am heiligsten Feiertag tanzen kann und in dem frömmst’ Gewand’. Und das Kränzel schickt sich erst recht gut dazu. Die Jungfer sieht darin nochmal so sauber aus – helllicht wie eine Hochzeiterin.
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Californische Seelöwen in Hamburg.
Zu den seltensten Bewohnern unserer Thiergärten gehören unstreitig die größeren Robbenarten, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil ihr Transport mit bedeutenden Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Die Entlegenheit der Küsten, die sie bewohnen, der Umstand, daß sie während des größten Theils der Reise mit einer gewissen Quantität Wasser versorgt werden müssen, um sich darin aufzuhalten, die Schwierigkeit endlich, das nur aus Seefischen bestehende Futter ununterbrochen in genügender Menge herbeizuschaffen, alles dies tritt der Ueberführung nach Europa hindernd in den Weg.
Bis jetzt konnte nur der zoologische Garten zu London sich rühmen, Thiere dieser Art zu besitzen, und wer ihn in den letzten Jahren besuchte, wird sich sicherlich der beiden dortigen Seelöwen erinnern. Es sind in der That imposante Geschöpfe, diese Riesen ihrer Familie, ob sie nun in träger Ruhe hingegossen, die kolossalen Leiber an einander gedrängt, am Rande ihres Bassins lagern, oder ob sie pfeilschnell mit unglaublicher Leichtigkeit durch das Wasser dahinschießen.
Ihr Bassin ist in der Regel von Besuchern umringt, denn sie erfreuen sich einer großen und verdienten Popularität; in den riesigen Leibern nämlich schlägt ein warmes, für das Gefühl der Freundschaft empfängliches Herz, das jede Gelegenheit benutzt, seine Anhänglichkeit und Dankbarkeit zu beweisen. Um dieses nicht für Uebertreibung zu halten, muß man es mit angesehen haben, wenn ihr Wärter, ein alter Franzose, sie in ihrem Bassin besucht. Freundlich brummend folgen sie mit erhobenem Kopfe seinen Bewegungen, sobald er aber zu ihnen in das Bassin gestiegen ist, schwimmen sie brüllend vor Freude an ihn heran, liebkosen ihn, indem sie mit der Schnauze sein Gesicht zu berühren suchen, und nun folgt eine Scene, die kaum zu beschreiben ist, Wärter und Thiere jagen und necken sich und spielen mit einander, daß das Wasser hoch aufspritzt und man vollständig in Zweifel ist, wer sich mehr dabei amüsirt, ob der alte Franzose oder seine riesigen Pfleglinge. Der Londoner Garten erhielt diese Thiere vor etwa vier Jahren von den Falklandsinseln. Es sind Seelöwen des Südens, die Otaria jubata, welche beide Weltmeere an der Südspitze Amerikas bewohnt.
Seit Kurzem sind nun auch in den zoologischen Garten zu Hamburg größere Robben gelangt. Es ist dort augenblicklich ein Paar nordischer Seelöwen, die Otaria Stelleri ausgestellt, eine Ohrrobbe, die in diesen beiden Exemplaren zum ersten Male nach Europa gebracht worden ist.
Der nordische Seelöwe unterscheidet sich bekanntlich von seinen südlichen Verwandten durch geringere Größe, durch die nur angedeutete, oder wie einige Forscher wollen, fehlende Mähne des alten Männchens und endlich durch den minder breiten, mehr gestreckten, weit weniger kräftig entwickelten Schädel. Er bewohnt den nördlichen Theil des großen Oceans, von der Beringsstraße abwärts bis Japan und Californien, und wird hier vielfach gejagt theils der Haut, theils des Fleisches wegen, das z. B. von den Aleuten gegessen wird.
Die beiden in Hamburg befindlichen Thiere, deren beigegebene Abbildung als höchst gelungen bezeichnet werden darf, stammen aus Californien. Es sind, nach dem fast geradlinigen Profile des Schädels zu urtheilen, noch junge Thiere. Die Länge des Männchens beträgt fünfundeinhalb, die des Weibchens vier Fuß. Die Behaarung ist, wenn naß, dunkelkastanienbraun, wenn trocken, gelblichbraun; an der Schnauze stehen lange, silberweiße, anliegende Schnurrborsten; die Ohrmuschel ist klein, spitz und schwärzlich, das Auge groß und dunkelbraun; der Rachen klafft weit und zeigt ein sehr respectables Gebiß. Um die Thiere in mannigfaltigeren Stellungen zur Anschauung zu bringen, hat der Zeichner statt der zwei Seelöwen deren vier dargestellt.
Besonders auffallend ist der verhältnißmäßig geringe Umfang des Kopfes und die Länge des Halses; letzterer wird zuweilen höchst eigenthümlich vorgeschoben und verlängert, so daß die sonst sichtbare Abgrenzung zwischen ihm und dem Schädel völlig verschwindet. In dieser sonderbaren Haltung, die namentlich beim Heraussteigen aus dem Bassin und beim aufmerksamen Umherschauen angenommen wird, erinnert besonders das Männchen lebhaft an die nach dem Skelet entworfenen, idealen Umrisse gewisser langhalsiger Wasserbewohner der Urwelt. Noch eine andere Eigenthümlichkeit kommt bei gewissen Stellungen zum Vorscheine; es ist dies das starke Hervortreten der Schulterblätter, wodurch die Thiere gleichsam einen Höcker am Nacken erhalten, wie man das an dem einen der abgebildeten Exemplare bemerken kann. Trotz ihrer Schwere und Größe sind sie weit behender, als man es voraussetzen würde. Im Wasser bewegen sie sich leicht und graziös, wie die Otter, aber auch auf dem Lande sind sie nichts weniger als unbeholfen und zeigen zuweilen eine Gelenkigkeit, die geradezu überrascht; so ist es ihnen ein Leichtes, sich in der bekannten Hundemanier mit einer ihrer Hinterflossen am Kopfe zu kratzen; auch bewegen sie sich, wenn es gilt, erstaunlich schnell vorwärts, wobei sie fast regelrechte Schritte machen, während der hochgehobene Rumpf sich abwechselnd auf die rechtwinkelig nach unten und hinten gebogenen Hinterflossen und auf die Knöchel der nach außen gehaltenen Vorderflossen stützt.
Ihre Tauchfertigkeit ist natürlich eine sehr ausgebildete. Nachdem sie minutenlang unter Wasser gewesen, genügt nach dem Emporkommen ein einmaliges Aus- und Einathmen, um sie sofort wieder zum Tauchen zu befähigen. Ruhen sie auf dem Lande von ihren Schwimm- und Tauchübungen aus, so schmiegen sie sich meist dicht an einander, wobei sie durch gegenseitige Berührungen der Schnauzen sich zärtlich liebkosen. Die Stimme, die namentlich das Männchen fleißig hören läßt, ist höchst unangenehm. Der Klang liegt zwischen Geblök und Gebrüll in der Mitte und ähnelt dem Brüllen eines jungen Rindes; dabei schallt die Stimme auf enorme Entfernungen hin, so daß sie in einem Abstande von etwa zwanzig Minuten gewöhnlichen Schrittgehens, trotz des Straßenlärms der großen Stadt, deutlich vernommen wird. Geistig stehen die Ohrrobben entschieden höher als die ohrlosen Robben; die Hamburger Exemplare bekunden das durch ihr lebhaftes Betragen, durch das genaue Beobachten ihrer Umgebung und durch eine gewisse Ueberlegung, die sich bei ihnen z. B. darin äußert, daß man sie durch eine vorgespiegelte Fütterung wohl einmal, nicht aber unmittelbar darauf zum zweiten Male täuschen und aus dem Wasser an das Gitter ihres Geheges heranlocken kann.
Diese geistige Befähigung macht es äußerst wahrscheinlich, daß sie mit der Zeit ebenso zahm und zutraulich werden dürften, wie ihre Verwandten in London, besonders wenn sie, wie jene, einen Wärter finden, der ihre Freundschaft zu erlangen weiß. Da die Thiere nicht das Eigenthum des Gartens zu Hamburg sind – sie gehören dem Herrn Chs. Reiche in Alfeld – so werden sie wahrscheinlich auch andere Städte Deutschlands besuchen; wir aber sind überzeugt davon, daß sie überall ein ebenso lebhaftes wie gerechtfertigtes Interesse erregen werden.
Ein Geister-Photograph vor Gericht.
Im Juni des Jahres der Gnade 1875 spielte sich vor dem siebenten Zuchtpolizeigerichte der Stadt, in welcher man vor achtzig Jahren die Göttin der Vernunft gekrönt hat, wieder einmal einer jener Processe ab, welche beweisen, daß zwischen dem Denkvermögen gewisser allerhöchster Gesellschaftskreise und demjenigen der allerniedersten Wilden in manchen Richtungen durchaus kein merkbarer Unterschied besteht. Beide glauben sie fest und unerschütterlich daran, daß den sogenannten Traumerscheinungen und Visionen eine äußere, greifbare Wirklichkeit entspricht, suchen in diesem Glauben ihre Seligkeit und finden [507] es demgemäß himmelschreiend, wenn Leute, die nichts verbrochen haben, als den Versuch, diesen seligmachenden Glauben zu befördern, mit schwerer Strafe belegt werden.
Wir reden von dem Processe des Photographen Buguet und Genossen, welche seit Jahren in der allerchristlichsten Seinestadt ein schwunghaftes Geschäft mit sogenannten Geisterphotographien betrieben hatten. Es war nicht das erste Mal, daß diese heitere Illustration unseres Culturlebens vor die Gerichte kam. Wir erinnern nur an den Proceß des Photographen Mummler aus Boston, welcher in den sechsziger Jahren die Spiritisten der englischen Metropole einmal sehr stark aufregte, aber jedenfalls war die neueste Wiederholung psychologisch überaus interessant, und es mag deshalb erlaubt sein, an dieser Stelle etwas näher auf dieselbe einzugehen. Die in Paris erscheinende und von dem ehemaligen Schneidermeister Leymarie herausgegebene „Revue spirite“ hatte seit langer Zeit ihre Leser von der überaus großen Geschicklichkeit benachrichtigt, welche jener unter Beihülfe eines amerikanischen Mediums arbeitende Photograph in der Kunst erworben, die Erscheinungen abgeschiedener Geister auf der gesilberten Platte zu fixiren.
Es giebt nicht leicht etwas Einfacheres in der Welt, als dem Geistergläubigen plausibel zu machen, daß die Photographie wie geschaffen dazu sei, das noch immer angezweifelte Dasein der Geisterwelt zu beweisen. Jeder Kundige weiß es und jeder Photograph kann es zeigen, daß sich auf der lichtempfindlichen Platte in Wirklichkeit Gegenstände abbilden, die, sei es ihrer Kleinheit, Lichtschwäche, oder einer besondern Oberflächenbeschaffenheit wegen, von dem unbewaffneten menschlichen Auge schlechterdings niemals wahrgenommen werden könnten. Von gleichen Gesichtspunkten ausgehend, suchte der nun halb vergessene Baron Reichenbach seit dem Jahre 1844 die vielfach angezweifelte Existenz des Odlichtes[1] mit Hülfe der Photographie darzuthun und ist ohne Zweifel dadurch der, wenn auch indirecte, geistige Urheber der Geisterphotographie geworden. In den Jahren 1861 bis 1862 gelang es ihm, durch Unterstützung des Berliner Hofphotographen Günther eine Reihe merkwürdiger, wenn auch nicht völlig aufgeklärter Ergebnisse zu erhalten, die so viel bewiesen, daß eine sehr empfindliche, mit ausgeschnittener Figurenschablone bedeckte photographische Platte in einem völlig verdunkelten Raume schon nach fünfzehn Minuten Abbildungen der Ausschnitte zeigte, wenn ihr Krystalle, Magnetpole oder andere angeblich Odlicht ausströmende Gegenstände, z. B. auch die menschliche Hand, während dieser Zeit entgegengehalten wurden.
Wir enthalten uns des Urtheils über diese in Gegenwart hoher wissenschaftlicher Capacitäten Berlins in einem Raume der Universität angestellten und sachlich vollkommen gelungenen Versuche, lassen dahingestellt, ob sie das Dasein des Odlichts beweisen können oder nicht, und erinnern an diese Dinge nur, weil ihre Beschreibung in einer kleinen, „Odische Begebenheiten in Berlin“ betitelten Schrift ohne Zweifel die nächste Veranlassung gab, daß alsbald in Paris, wie in Amerika Mediums und Photographen sich associirten, um Geister zu photographiren. Die Zusammengehörigkeit von Od, lebensmagnetischer und spiritischer Kraft war damals längst als ein Dogma anerkannt; die Sensitiven Reichenbach’s entsprachen den Somnambulen Mesmer’s und den Sonntagskindern der Geistergläubigen, und ein uns Wochentagsmenschen verborgenes, wahrscheinlich aber photographirbares Odlicht wurde von den Zügen der verklärten Gestalten ausströmend angenommen.
Dieser Gedanke enthielt den Keimling eines neuen Erwerbszweiges, und einem Photographen, dem es nicht gelingen wollte, das Vertrauen der Lebenden zu erwerben, stand nunmehr der Weg offen, „den Acheron zu bewegen“ und die Verstorbenen in sein Atelier zu laden. Nichts zeigte sich überflüssiger als die Sorge, ob denn auch Lebende die Geschäftsunkosten übernehmen würden. Die Mutter, der ihr Liebling gestorben, ehe er das Stillsitzen gelernt hatte, der Sohn, welcher seine Eltern verloren, ehe die Photographie erfunden war, die Familie, der in der Ferne ein lieber Angehöriger verschollen, was würden sie nicht darum geben, nun noch nachträglich ein Bild des Dahingeschiedenen zu erlangen! Den meisten Vortheil aber zog der neue Geschäftszweig aus der Lehre, daß fast jeder Mensch einen persönlichen Schutzgeist oder Dämon besitze, denn nichts ist natürlicher, als der Wunsch des Gläubigen, die Züge des freundlichen Geistes kennen zu lernen, der ihn unablässig umschwebt und über sein Dasein wacht.
Da aber die zarteren Lichterscheinungen ebenso wie das Nachleuchten eines besonnten Diamanten oder Papierblattes nur in völligster Dunkelheit wahrgenommen werden können, so wäre es folgerichtig gewesen, wie Baron Reichenbach gethan, auch die Geister in eine Dunkelkammer zu ihren Portraitsitzungen einzuladen, aber in der Praxis bildete sich ein ganz anderes Verfahren heraus. Die betreffende Person, welche das Geisterportrait zu haben wünscht, wird nämlich in der gewöhnlichen Weise von dem Photographen aufgenommen, während sie ihre Gedanken mit der vollkommensten Sammlung auf die verstorbene Person oder den aus spiritistischen Unterhaltungen bekannt gewordenen Schutzgeist zu richten hat. Je nachdem ihr diese innerliche Vergegenwärtigung mehr oder weniger vollkommen gelungen ist – sagt nämlich der Geister-Photograph –, mit desto größerer Deutlichkeit, Schärfe und Aehnlichkeit erscheint die gewünschte Gestalt hinter ihrem Rücken oder über ihrem Haupte schwebend. Eine so hochgradige Vertiefung der Betrachtung aber, wie sie zu diesem Werke nothwendig ist, erreicht der gewöhnliche Mensch nur selten; er bedarf daher nothwendig der Unterstützung eines Mittlers (Mediums), welcher mit der Geisterwelt auf Du und Du steht und seinen Einfluß auf sie geltend macht. Durch seine Mithülfe erst vermag der gegenwärtige Geist seinen ätherischen Körper so weit zu verdichten, daß er im vollen Tageslichte mit auf die lichtempfindliche Platte wirken kann. In unserem Falle war es ein Amerikaner, Namens Firman, der durch seine geheimnißvolle Kraft die Bildwerdung unterstützte, während Buguet sich bei dem feierlichen Acte mit flehentlich ausgebreiteten Händen und verdrehten Augen an die – Zimmerdecke wendete. Die Ceremonien sind dieselben geblieben, wie bei den alten Nekromanten, nur in der Ausführung malt sich der Fortschritt der Zeit, denn während man früher die citirten Geister nur erschreckt anstarrte, photographirt man sie jetzt und macht sie dingfest auf einer Glasplatte.
War die Sitzung beendigt, so eilte Buguet hinter den Vorhang, um festzustellen, ob das Werk auch erfolgreich gewesen, denn wie alle spiritistischen Sitzungen, so gelangten auch die photographischen nicht immer gleich beim ersten Anlauf zu einem vollkommenen Erfolge. Zuweilen erschien der gerufene Geist nur gleich einem gestaltlosen lichten Wölkchen über den Schultern, oder die Züge waren bis zur Unkenntlichkeit nebelhaft verwaschen und zerfließend. Für alle diese Ungelegenheiten, wie auch für das Ausbleiben einer vollkommenen Aehnlichkeit wurde dann ein Mangel an vollkommener Sammlung verantwortlich gemacht, eine neue Sitzung vorgeschlagen, vollkommenere und befriedigendere Resultate in Aussicht gestellt. Das wiederholte sich bei hartnäckigen Bestellern zwei- oder gar dreimal, bis die Geduld des Kunden erschöpft oder sein Verlangen befriedigt war. Für jede einzelne Sitzung aber war die Kleinigkeit von zwanzig Franken im Voraus zu entrichten.
Es ist nicht zu verwundern, daß die Gläubigen zuweilen völlig zufriedengestellt werden konnten, namentlich wo es sich um Portraitirung eines Schutzgeistes von bekanntem Namen handelte. So trat denn auch in diesem Processe eine Person auf, welcher der Geist Goethe’s seine besondere Fürsorge gewidmet hatte und die daher mit Stolz hinter einem Visitenkartenportrait ein wohlgetroffenes Schattenbild des deutschen Dichterfürsten aufweisen konnte. Handelte es sich um völlig unbekannte Geister, so fiel der Buchhalterin die aus den Häusern der Somnambulen und Kartenschlägerinnen bekannte Rolle zu, die Kunden in Abwesenheit des „für einen Augenblick ausgegangenen“, in Wahrheit aber hinter einer spanischen Wand versteckten Principals zu empfangen, zu unterhalten und mit Geschick – auszuhorchen. Gelang es dessenungeachtet nicht, beim ersten Versuche eine vollkommene Aehnlichkeit zu erzielen, so ließ sich der unbefriedigte Besteller dabei hinreichend über die Abweichungen der Nasenform etc. aus, um beim zweiten Male dem Ziele näher zu kommen. Schon im Allgemeinen macht der Tod nicht nur alle Menschen gleich, sondern auch einander ähnlicher, und im zarteren Alter verstorbene Kinder sind schon in Wirklichkeit, geschweige im Geisterbilde kaum von einander zu unterscheiden. Eine Costümschwierigkeit besteht auch nicht, denn die Abgeschiedenen [508] erscheinen Alle, als wenn sie sich zu erkälten fürchteten, dicht in weiße Laken gehüllt, so daß auch die Statur verborgen wird.
In Folge dieser im Kerne der Sache liegenden Erleichterungen waren viele Leute von Buguet und Genossen so vollkommen befriedigt worden, daß sie willig ihr Zeugniß gegeben hatten, um in der „Revue spirite“ Reclame für das Geschäft damit machen zu lassen. Der Herausgeber verstand es, die wahren und die erdichteten Erfolge in das rechte Licht zu setzen; er schilderte mit beredten Worten die in der neuen Kunst enthaltenen Tröstungen und ihren Einfluß auf die Kräftigung im Glauben an das Jenseits. So nahm das Geschäft schnell einen großen Aufschwung und die Unverschämtheit der Unternehmer wuchs von Tag zu Tag. Sie mochten sich nicht mehr begnügen, den Parisern die Segnungen der frommen Kunst zugänglich zu machen, sondern zeigten durch die „Revue spirite“, den „Figaro“ und andere Zeitungen an, daß die Einsendung einer Haarlocke oder eines andern Andenkens an die als Geist zu photographirende Person und die Bezeichnung einer bestimmten Stunde, in welcher sich die entfernten Angehörigen in Sammlung und Gebet mit dem Pariser Photographen zur Vollbringung des Werkes vereinigen wollten, vollkommen genügen, wenn der Sendung außerdem zwanzig Franken beigefügt würden. Die Geisterwelt ging indessen nicht immer auf diese Geschäftserweiterung ein; das nützliche Zwischenglied der Comptoirdame fehlte, und die tollsten Verwechselungen traten ein. Bejahrte Frauen erschienen als Wickelkinder und die Geister von Säuglingen in kräftig entwickelter Mannesgestalt. Es gingen Einigen die Augen auf, und die Polizei, deren Aufmerksamkeit bereits durch die freche Reclame erregt worden war, erhielt einige dieser total verunglückten Bilder eingesendet. Im Atelier des Mediumphotographen erschienen eines Tages zwei verkleidete Polizeicommissare und verlangten das Bild eines Verstorbenen. Nachdem die Sitzung mit den üblichen Ceremonien zu Ende und das Gespenst auf der Platte dingfest gemacht worden war, gaben sich die Beamten zu erkennen, wiesen ein Papier vor, welches sie zu einer Haussuchung berechtigte, und begannen unverzüglich mit derselben. Sie war äußerst erfolgreich, denn sie förderte zwei Gliederpuppen, denen jede beliebige Stellung dauernd gegeben werden konnte, die eine für unausgewachsene, die andere für ausgewachsene Geister mit den erforderlichen Leichenhemden, Schleiern und Draperien und dazu nicht weniger als dreihundert aus Papiermasse gefertigte Köpfe an’s Licht.
Das Handwerk der Geisterphotographen ist ein sehr viel einfacheres als dasjenige eines Cagliostro, Schröpfer und sonstiger Beherrscher der Geister. Da der Besteller dringend ermahnt ist, mit der höchsten Sammlung auf das Objectivglas der Camera zu blicken, so ist er natürlich für die Dinge, die inzwischen hinter seinem Rücken vorgehen, auf die einfachste Weise blind gemacht. Dort rollt nunmehr ein Vorhang in die Höhe, oder eine sich lautlos in ihren Fugen bewegende spanische Wand wird zurückgezogen, und es erscheint die passend ausgewählte und drapirte, mit dem entsprechendsten Kopfe versehene Gliederpuppe, je nach Angemessenheit in knieender, segnender oder ruhig schwebender Haltung. Aber während die gesammte Aufnahme eine Minute und darüber dauert, darf das Pseudogespenst höchstens ein oder zwei Secunden mitwirken; schnell und lautlos, wie er erschienen, verschwindet der Spuk wieder. Dieser Unterschied der längeren und der ganz kurzen Sitzungszeit für dasselbe Bild bringt die wunderbarste Wirkung hervor. Im Gegensatze zu der scharf ausgeprägten Figur des Bestellers erscheint hinter ihr eine menschliche Gestalt mit nebelhaft verfließenden, unsichern Umrissen und von jener ätherischen Durchsichtigkeit, welche unsere Phantasie den Gestalten aus dem Jenseits leiht. Die Ornamente der Hinterwand erscheinen an den Stellen, welche das Geistermodell für einen Augenblick einnahm, nur ein klein wenig schwächer; sie schimmern deutlich durch den dünnen Körper des Geistes hindurch, wie das Licht der Sterne durch den Schweif der Kometen.
Bei einer einigermaßen geschickten Handhabung lassen sich auf diesem so einfachen Wege die wunderbarsten Wirkungen erreichen. Nichts kann für den Liebhaber des Seltsamen überraschender sein, als Gespensterstereoskopen, die mit Geschmack auf dem angedeuteten Wege erzeugt wurden. Der Schreiber dieser Zeilen besitzt mehrere derartige Kunstleistungen, unter denen sich eine Friedhofsscene auszeichnet, bei welcher der Geist einer Mutter segnend über dem Haupte des Kindes erscheint, welches ihr Grab mit frischen Blumen schmückt. Durch den Aetherleib der Erscheinung hindurch gewahrt man die Spitzen der hinter ihr befindlichen Grabdenkmäler, was einen sehr merkwürdigen Anblick gewährt. Die Photographie bietet sich gleichsam von selbst zur Ausführung dieser und ähnlicher Spielereien, von denen wir noch an die vor Jahren auftauchenden Doppelgängerbilder erinnern wollen. Letztere stellen bekanntlich eine und dieselbe Person zweimal neben einander, etwa wie sich die Eine ihre Cigarre an derjenigen ihres andern Ichs anzündet, oder sich selber unter den Tisch trinkt. Sie sind einfach das Ergebniß zweier nach einander erfolgten Aufnahmen auf derselben Platte, deren Hälften abwechselnd durch einen doppelthürartigen Schirm bedeckt wurden.
Im obigen und in den meisten ähnlichen Fällen waren sehr handgreifliche Methoden angewendet worden, um das Verlangen nach Geisterphotographien zu befriedigen. Die genauere Kenntniß optischer Gesetze giebt indessen noch ganz andere Mittel an die Hand, derartige Künste zu vollbringen, die weniger leicht zu entlarven und vor einer gewöhnlichen Haussuchung sicher wären. Denn man kann, wie wir am Eingange dieses Artikels erwähnten, auch Dinge photographiren, die dem menschlichen Auge völlig unsichtbar sind, und daher im Atelier vorhanden sein können, ohne daß eine sich darin in völliger Freiheit bewegende Gesellschaft eine Ahnung davon haben würde. Schon im Allgemeinen sind die sogenannten chemischen Strahlen des Sonnenlichtes, welche die Silbersalze am stärksten verändern, dunkle, unsichtbare Strahlen, das heißt solche, für welche unser Auge unempfindlich ist. Ihre Schwingungen sind zu schnell, um unsere Sehnerven anzuregen. Wenn das Sonnenlicht durch ein Glasprisma in seine farbigen Bestandtheile zerlegt wird, so fallen diese photographisch wirksamsten Strahlen über den unmerklich in Dunkelheit übergehenden violetten Rand des regenbogenartigen Streifens hinaus. Man kann sie nur sichtbar machen, wenn man ihre Schwingungen etwas verlangsamt, was geschieht, wenn man sie auf eine Abkochung von Roßkastanienrinde, auf Chininlösung und ähnliche Substanzen fallen läßt. Diese an sich (erstere im gereinigten Zustande) farblosen Flüssigkeiten zeigen an der Oberfläche ein schönes blaues Schillern, welches von verlangsamten und daher unwirksamer gemachten chemischen Strahlen herrührt. Wenn man nun mit solchen Flüssigkeiten eine menschliche Gestalt auf eine weiße Wandfläche malte, so würde nach dem Trocknen auch nicht die Spur von der Zeichnung sichtbar sein. Gleichwohl kann ein so hervorgebrachtes Bild oder Portrait mit aller Schärfe abphotographirt werden, und die unsichtbaren Umrisse und Schattirungen derselben bilden sich auf der Platte gerade so deutlich ab, als ob sie mit schwarzer Kreide auf die Fläche gezeichnet wären. Man nennt dies die „Photographie des Unsichtbaren“, und es ist leicht einzusehen, daß mit ihrer Hülfe selbst ein sehr vorsichtiger Liebhaber von Gemälden aus der andern Welt betrogen werden kann.
Unsere gewöhnliche Spiritistengesellschaft ist indessen, wie wir an dem Pariser Falle sehen, so skeptisch nicht, und läßt sich mit gröberen Mitteln hinter’s Licht führen. Ohne Zweifel viel anziehender als die Aufdeckung des Betruges und die Kenntnißnahme von den dabei angewandten Ränken und Kniffen erschien aber in dem Processe Buguet das Gebahren der Zeugen und Zuschauer, unter denen man vorwiegend Personen aus den höheren Gesellschaftsclassen, namentlich hohe Militärs, bemerkte. Obwohl die Gliederpuppen und Larven in der stattlichen Zahl von dreihundert Belastungszeugen auftraten, obwohl die beiden Hauptbeklagten einräumten, in verzweifelten Fällen zum Betruge gegriffen zu haben – gewöhnlich seien sie ehrlich und mit der Zuversicht des Erfolges an’s Werk gegangen –, blieben einige der angerufenen Entlastungszeugen unerschütterlich in der Behauptung, Portraits ihrer Angehörigen aus dem Jenseits von übernatürlicher Aehnlichkeit erhalten zu haben. Die Wittwe des ehemaligen Oberhauptes der französischen Spiritistenschule, Frau Rival, genannt Allan Cardec, eine silberhaarige Greisin, wagte es sogar, vor dem versammelten Publicum den sündlichen Unglauben der Richter, diesem Beweise des höheren Seins gegenüber, ausdrücklich zu [509] tadeln. Auch die Zuhörer, natürlich größtentheils aus Gläubigen bestehend, nahmen offen Partei für die entlarvten Betrüger und schienen es sehr hart und ungerecht zu finden, daß Buguet und Leymarie zu einem Jahre Gefängniß und fünfhundert Franken Strafe, Firman zu sechs Monaten Gefängniß und derselben Geldstrafe verurtheilt wurden. Fast will es uns scheinen, als ob die guten Leute mit ihrer Unzufriedenheit Recht gehabt hätten. Wenn Menschen so blindgläubig sind, daß sie sich von dreihundert Pappköpfen nicht überzeugen lassen, so geschieht ihnen doch am Ende Recht, wenn sie betrogen werden.
Praktische Vaterlandskunde.
Es war an einem der heißesten Julitage des vorigen Sommers, als ich, um mich vor der fast unerträglichen Hitze, die noch am späten Nachmittage in den Straßen Merans herrschte, so viel als möglich zu schirmen, in eine der schattigen Gartenwirthschaften trat, die, in der Nähe der rasch fließenden Etsch gelegen, durch ihre Baumgruppen und Rebengänge nicht minder als durch ihre kühlen Getränke Erfrischung bieten. Ich saß noch nicht lange da und betrachtete mir eben von meinem aussichtsreichen und doch zugleich schattigen Plätzchen aus die eigenthümliche Formation der südlich von Meran auf beiden Ufern der Etsch emporragenden Dolomitgebirge, als, nicht eben geräuschlos, eine staubbedeckte, sonnverbrannte Gesellschaft von zwölf Köpfen hereinkam, zehn durchgehends kräftige, derbe Burschen von siebenzehn bis achtzehn Jahren mit zwei Begleitern, von denen der Eine wenig älter als die jungen Leute war, der Andere im kräftigsten Mannesalter stand, Alle ohne Ausnahme mit Tornistern bepackt und mit derben Wanderstöcken bewehrt. Ich könnte nicht behaupten, daß die Reisegesellschaft eben salonfähig aussah; denn ihr Anzug verrieth auf den ersten Blick, daß die Leute tüchtige Märsche auf den staubigen Straßen Tirols gemacht hatten und wohl auch nicht sehr wählerisch waren, wenn sie sich irgendwo zu kurzer Rast hinstrecken wollten. Auch jetzt wählten sie nicht lange; nachdem sie sich ihrer Tornister und der Hüte entledigt und sich den reichlichen Schweiß von der Stirn getrocknet, reihten sie sich um den nächsten besten Tisch, und die erwartungsvollen Blicke nach der Bedienung bewiesen, daß das erwartete Getränk kein Luxus war. Das mundete! Das zweite Glas fast noch besser. Und nach dem dritten erklang aus den erfrischten Kehlen eines gut besetzten und gut geschulten Doppelquartetts, unbekümmert um die zahlreichen übrigen Gäste, ein kräftiges, melodiöses Schweizerlied, das von den Zuhörern mit Beifallklatschen und lauten Bravos honorirt wurde, woran sich selbst einige gemüthliche ältere österreichische Officiere lebhaft betheiligten. Hätte mir das Lied die Heimath der Sänger nicht verrathen, ich hätte sie an ihrer Mundart als Schweizer erkannt. Denn mit Ausnahme des ältern Begleiters, eines geborenen Deutschen, sprachen alle den Berner Dialekt, den ich ein Jahr vorher bei einem längeren Aufenthalte im Canton Bern einigermaßen kennen gelernt hatte, jedoch nur unter sich; ihrem Mentor gegenüber beflissen sie sich, hochdeutsch zu sprechen.
Während die jungen Leute sich der Lust des Gesanges und des lebhaftesten Gespräches über die Erlebnisse des Tages hingaben, hatte ich mit dem Lehrer eine Unterhaltung angeknüpft und erfuhr nun, daß die Gesellschaft aus Schülern der beiden obersten Classen der Berner Cantonsschule bestehe und auf einer Fußreise nach Venedig auf Staatskosten begriffen sei.
„Nach Venedig?“ fragte ich verwundert.
„Ja wohl, Herr Landsmann,“ erwiderte nicht ohne Stolz der Lehrer, „nach Venedig und zu Fuße; höchstens gedenken wir die kurzen Strecken von Botzen nach Trient und von Treviso nach Venedig auf der Eisenbahn zurückzulegen.“
„Und welchen Weg gedenken Sie von Trient aus einzuschlagen?“
„Wir werden, um nicht zu lange in der heißen venetianischen Ebene marschiren zu müssen, durch Val Sugana nach dem Piave gehen und diesem Flusse entlang nach Treviso hinabsteigen.“
„Wie aber sind Sie von Bern nach Meran gekommen?“
„Zu Fuße, auf dem geradesten Wege. Bei einer Station einige Stunden oberhalb Olten verließen wir die Eisenbahn, durchkreuzten die drei Parallelthäler des Aargaus, gingen aus dem Reußthale nach Zug und Schwyz, um das Muottathal hinauf und über den Pragel nach Glarus zu kommen; von da stiegen wir das Sernftthal hinauf und passirten den Risertenpaß, der uns in’s Rheinthal führte; von der Station Mayenfeld bei Chur gelangten wir in’s Prätigau und nach Davos, über den Flüelapaß in’s Engadin und über den Ofener- oder Buffalorapaß in’s Etschthal, und so sind wir nach heißen Tagemärschen von elf bis zwölf Stunden, allerdings nicht ohne Schweiß, nach Meran gekommen und hoffen, am vierzehnten Reisetage in der Lagunenstadt, dem fernsten Ziele unseres Marsches, einzuziehen. Uebrigens sind gegenwärtig noch mehrere Reisesectionen unserer Schule unterwegs, auf kürzeren und längeren Reisen begriffen.“
Da mich die Sache in hohem Grade interessirte und ich mehr über diese Schülerreisen zu erfahren wünschte, die Gesellschaft aber an demselben Tage noch einige Wegstunden in der Abendkühle zurücklegen wollte, theils um das vorgesteckte Tagesziel zu erreichen, theils um nicht in Meran mit seinen ziemlich fashionabeln Preisen übernachten zu müssen, so traf ich mit dem Lehrer die Verabredung, daß wir uns am folgenden Tage in Botzen wieder zusammenfinden und die Fahrt von da bis Trient gemeinsam machen wollten. Dies geschah pünktlich, und während der Fahrt und einer mehrstündigen Wanderung durch die Stadt der Concilien theilte mir mein Landsmann Folgendes über die Reiseeinrichtungen an der Berner Cantonsschule mit:
„Unsere Schule zählt acht Literar- und acht Realclassen. Sogenannte Prämien, mit Recht mehr und mehr verpönt, kennt man glücklicher Weise an unserer Schule nicht mehr. An ihrer Stelle sind die Schulreisen eingeführt worden, die schönste, dauerndste Belohnung, die einem Schüler als Andenken an die Schulzeit in’s Leben mitgegeben werden kann, und das wirksamste Mittel, das Vaterland in immer weiter sich ziehenden Kreisen kennen und immer bewußter lieben zu lernen. Das Recht, an diesen Schulreisen Theil zu nehmen, muß, damit sich dieselben zugleich als Disciplinarmittel erweisen, allerdings durch Betragen und Fleiß verdient werden, indem die Reiseberechtigung an die Bedingung geknüpft ist, daß der Schüler von den drei Nummern, welche die Rangabstufung für jene beiden Kategorien bezeichnen, mindestens Nummer Zwei aufweisen muß, um mitreisen zu können. Diese Einrichtung vermeidet aber gründlich die gehässige Seite der demoralisirenden Prämien dadurch, daß eine tiefere Nummer als Zwei überhaupt zu den Seltenheiten gehört und daß das Reisereglement ausdrücklich vorschreibt, daß, wenn irgend möglich, jeder Schüler einmal zur Theilnahme an der Reise jeder Section gelangen soll. Solcher Reisesectionen zählt die Literar- und die Realabtheilung der Schule je vier. Die unterste Section, von der siebenten Classe gebildet (die achte Classe muß sich im ersten Schuljahre die Reise erst verdienen), mit unbeschränkter Kopfzahl, macht einen eintägigen Ausflug; die zweite Section, zwanzig Schüler enthaltend und die Classen sechs und fünf umfassend, ist zwei Tage unterwegs; die dritte Section, aus Classe vier und drei rekrutirt und auf zwölf reisende Schüler beschränkt, reist sechs bis sieben Tage, und die oberste Section, ebenfalls zwölf Köpfe zählend und aus Classe zwei und eins zusammengesetzt, macht die ‚große Reise‘ von vierzehn Tagen. So wächst die Ausdehnung der Reise mit der Körperkraft und dem Verständniß der Schüler. Für sämmtliche acht Reisesectionen ist die Summe von dreitausendfünfhundert Franken ausgesetzt, ein Betrag, der völlig ausreicht, wenn auch nicht zu einer Luxusreise – und das sollen die Schülerreisen auch nicht sein – so doch zur Befriedigung der einfachen Bedürfnisse von Lehrern und Schülern. Wir aber bilden ausnahmsweise eine außerordentliche Reiseabtheilung, welche angewiesen ist, mit tausend Franken eine vierwöchige Abhärtungsreise zu machen, was uns hoffentlich, nach bisheriger Erfahrung, gelingen soll.“
„Und beschränken sich die gewöhnlichen Reiseziele ausschließlich auf das Vaterland der Schüler, oder überschreiten sie auch die [510] Grenzen der Schweiz?“ fragte ich weiter, um mich vollständig über diese Einrichtung zu unterrichten.
„Die drei untersten Sectionen,“ versetzte der Lehrer, „bewegen sich aus zeitlichen und finanziellen Gründen selbstverständlich innerhalb des vaterländischen Gebiets; die oberste jedoch dehnt ihre Routen öfters nach Savoyen und Oberitalien oder auch nach Tirol aus, ohne dabei die Hauptaufgabe, möglichst allseitige und ausgedehnte Kenntniß des Vaterlandes, aus dem Auge zu verlieren.“
„Wollten Sie mir nicht in wenigen Linien einen Reiseplan der beiden obersten Sectionen zeichnen, damit ich eine Vorstellung von dem erhalte, was sich mit demselben erreichen läßt?“
Auf einen Wink des Lehrers berichtete einer der Schüler über eine sechstägige Reise, die er mitgemacht: „Am ersten Tage brachte uns die Eisenbahn von Bern nach Luzern, das Dampfboot nach Weggis, unsere Beine auf den Rigi und über Rigischeidegg wieder hinab nach Gersau; am zweiten Tage marschirten wir nach Brunnen, über die Axenstraße nach Flüelen und weiter über Altorf und Amstäg nach Bristen, wo wir übernachteten; am dritten Tage stiegen wir über den Kreuzlipaß nach Sedrun im Vorderrheinthal und am vierten über den Oberalppaß nach Andermatt an der Gotthardstraße und von da, nach Besichtigung des Urnerloches und der Teufelsbrücke über die Furka bis zum Rhonegletscher; der fünfte Tag führte uns über die Grimsel an den Handeckfall und nach Meyringen, und der letzte brachte uns über Brienz und Interlaken fröhlich nach Bern zurück.“
Ein anderer Schüler löste den Berichterstatter ab und gab die Umrisse einer vierzehntägigen Reise: „Am ersten Reisetage fuhren wir von Brienz, wohin wir der Zeitersparniß wegen schon am Vorabend gefahren waren, nach Meyringen; dann gingen wir in’s Gadmenthal bis Mühlestalden, von wo wir die unteren Absätze des Triftgletschers und die Felsen der Windegg gewannen, und da es nicht möglich wurde, noch am gleichen Tage die Alpenclubhütte am Thältistock zu erreichen, so gingen wir über den Gletscher hinüber, um in der verfallenen Schafhütte zum Graggi ein nothdürftiges Nachtlager zu finden. Am zweiten Tage wurde die erwähnte Alpenclubhütte erreicht, wo man den Rest des Tages zubrachte, um am folgenden Tage Morgens zwei Uhr aufzubrechen und über den Triftgletscher, die Triftlimmi und den Rhonegletscher auf die Furka, und von da nach Realp zu gelangen. Der vierte Tag brachte uns über den St. Gotthard nach Airolo, der fünfte über den Sasellopaß in das malerische Maggiathal bis Bignasco, der sechste von da nach Locarno. Die beiden folgenden Tage wurden dem Besuche von Luino, Lugano, Capolago, der Besteigung des Monte Generoso, dem Marsche nach Como und einer Dampfschifffahrt über die ganze Länge des Comersees bis Colico gewidmet. Mit dem neunten Tage begann die Heimreise, welche uns zunächst nach Chiavenna und Splügen und am folgenden Tage über den Valserberg in’s Valserthal und nach Ilanz brachte. Der elfte Tag war ein Ruhetag, und da die ungünstig gewordene Witterung den beabsichtigten Gletscherübergang in’s Maderanerthal verbot, so ging man an diesem Tage, größtentheils unter strömendem Regen, von Ilanz nach Dissentis. Mit dem zwölften Tage wurde der Oberalppaß überschritten und Wasen an der Gotthardstraße erreicht. Der dreizehnte Tag führte unsere Gesellschaft über den Sustenpaß nach Gadmen und der vierzehnte auf dem vielbetretenen Wege über Meyringen und Brienz nach Hause. Die während dieser Reise zu Fuße zurückgelegten Entfernungen betrugen etwa hundertfünf Schweizerstunden, die Summe aller Steigungen erreichte in runder Zahl vierzigtausend Schweizerfuß. – Uebrigens enthält unser Schulprogramm alljährlich vier solcher Reiseskizzen.“
Ich dankte für die erhaltenen Aufschlüsse, und nach Besichtigung des obst- und kirchenreichen Trient verabschiedeten wir uns, die muntere Gesellschaft, um den Marsch in’s Val Sugana anzutreten, ich, um mich dem Gardasee zuzuwenden. –
Etwa drei Wochen später hatte ich die Freude, die Leutchen in dem weltbesuchten Bödeli von Interlaken wieder zu sehen, von der italienischen Sonne noch dunkler „angeraucht“ und in ihrem äußern Habitus noch verwitterter, als bei unserer ersten Begegnung in Meran, aber frisch und munter bis zur Ausgelassenheit im Gefühl, ein tüchtiges Stück Arbeit glücklich überwunden, manches Schöne gesehen, manches Ersprießliche durch Anschauung gelernt zu haben, und wohl auch in der Aussicht, die Ihrigen bald wieder zu sehen. Lehrer und Schüler gestanden mir, daß Venedig, Padua, Vicenza, Verona ihnen fast zu einem Capua geworden wären und daß es einer kräftigen Aufraffung bedurft habe, um sich wieder an lange, staubige Märsche und an einfachere Lebensweise zu gewöhnen. Sie hatten den Comersee besucht, waren von da an den Luganersee marschirt und über den Gotthard und den Sustenpaß in den Canton Bern zurückgekehrt.
Ich hatte inzwischen theils durch mündliche Aufschlüsse, theils durch eigenen Augenschein erfahren, daß diese Schülerreisen, wenn auch nicht überall in so ausgedehnter Weise, wie in Bern, fast allenthalben in der Schweiz eingebürgert sind. Zumal im Berner Oberlande und an den classischen Stellen am Vierwaldstättersee begegnet der Tourist im Juni und Juli fast alltäglich „fahrenden“ Schulen aller Stufen, Primarschulen und Secundarschulen, Gymnasiasten und Seminaristen, gemischten Schulen und Töchterschulen, alle leuchtenden Auges und voll des Glücks, ihr schönes Vaterland mit eigenen Augen kennen lernen zu können. In den größeren Städten aber, vor allen in Bern sieht man im Sommer sehr häufig mit Blumen und Laubwerk geschmückte Leiterwagen, welche eine fröhliche, wißbegierige Kinderschaar vom Lande in die Stadt gebracht haben, deren Straßen die Kleinen mit weitgeöffneten, verwunderten Augen durchziehen und deren lehrreiche Museen und sonstige Schätze sie staunend und lernend besichtigen. Fast überall in der Schweiz sind diese fahrenden Schüler gerngesehene Gäste. Eisenbahnen und Dampfboote gewähren meist besondere Vergünstigungen. Gastwirthe fühlen „ein menschliches Rühren“ und setzen möglichst billige Preise an, kurz, allenthalben begünstigt man nach Kräften die jugendlichen, lernbegierigen Reisegesellschaften.
Den vielseitigen Nutzen dieser praktischen Vaterlands- und Weltkunde erst noch zu beweisen, ist völlig überflüssig; ihn anzweifeln zu wollen hieße den Nutzen der Anschauung, der selbsteigenen Erfahrung, des Reisens überhaupt anzweifeln. Warum aber kommt diese zweckmäßige Methode, Vaterlandskunde in die Köpfe zu prägen und Valerlandsliebe in die Herzen zu pflanzen, in Deutschland noch so selten, oder doch bei Weitem nicht ebenso allgemein in Anwendung, wie in der Schweiz? in Deutschland, wo man doch für die Schule an manchen Orten so große Opfer bringt und wo namentlich die Erziehung zum Patriotismus, früher so lange verpönt und selbst verfolgt, einen so kräftigen Aufschwung genommen hat? Mag die Natur hier immerhin weniger großartig sein, als im schweizerischen Alpenlande: auch Deutschland, vorab Süd- und Mitteldeutschland, und selbst der Norden bietet landschaftliche Schönheiten in reicher Fülle, übergenug, um die Herzen der Jugend zu entzücken und mit Liebe zum Heimathboden zu erfüllen, und wo der Reiz der Landschaft fehlen sollte da bieten die reichen Schätze der Industrie und der Kunst, die ehrwürdigen Stätten der Geschichte und der Sage eine nie versiechende Quelle der Belehrung und der Begeisterung. Ich wüßte kaum eine Gegend meines Vaterlandes, wohin man die wißbegierige Jugend ohne Vortheile für Kopf und Herz führen könnte. Ueberdies genießt Deutschland in dieser Hinsicht vor der Schweiz einen nicht geringen Vortheil in seinen zahlreichen Staatsbahnen, welche die Schulreisen leichter und noch ausgiebiger begünstigen können, als dies bei den kostspieligen Privatbahnen der Schweiz möglich ist, und Behörden und Privatpersonen, die in der Sache wirken können, werden gewiß ebenso willig, wie in der Schweiz, diesen fruchtbaren Zweig der Jugendbildung fördern helfen. Hierzu anzuregen war der Zweck dieser Zeilen, und wenn dieselben hier und da im Vaterlande Erfolg haben, so wird den Verfasser das angenehme Gefühl lohnen, ein wahrhaft gutes Werk veranlaßt zu haben.
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Mit erhöhtem Interesse richten heute die Bewohner der Kaiserstadt die Blicke auf ein altes Schloß, an welches sich manche Erinnerungen aus der Geschichte des Hauses der Hohenzollern knüpfen – auf das „Palais“ Radziwill.
In Berlin weiß Jedermann, daß dieses Schloß, welches wir unseren Lesern heute im Bilde vorführen, in der Wilhelmsstraße Nr. 77 liegt, zwischen den Linden und der Leipzigerstraße, also dem sogenannten vornehmen Theil derselben. Nach fast hundertjährigem Besitz hat die fürstliche Familie von Radziwill im Frühling dieses Jahres das Palais für sechs Millionen Mark an den Fürsten Bismarck zu Staatszwecken verkauft, zunächst zum inneren Umbau und zur Errichtung einer Dienstwohnung für diesen selbst. Es steht zu hoffen, daß der kunstsinnige Fürst mit schonender Hand an die Umwandlung gehen und die vielen werthvollen historischen Reminiscenzen nicht verwischen lassen wird, die auf den Mauern des Palais Radziwill zu lesen sind. Das schöne Gebäude ist vollständig im Rococostyl des vorigen Jahrhunderts gehalten. In Frankreich, namentlich in Paris, im Faubourg St. Germain, giebt es noch einige ähnliche Schlösser, auch in Münster und Breslau haben die alten Adelsgeschlechter diese Bauart vielfach nachgeahmt. In Berlin existirt noch ein ganz genau so construirtes Gebäude, ein völliges Zwillingsschloß des Palais Radziwill, das jetzige Hausministerium, ebenfalls in der Wilhelmsstraße gelegen und auch durch das Machtwort eines Königs entstanden.
Im vorigen Jahrhundert zeigte Berlin kaum den Keim einer Weltstadt. Die grüne Wildniß des Thiergartens schien unentwirrbar, und die winzigen Häuser der Berliner Bürger gefielen den neuen Königen durchaus nicht. Friedrich der Erste und Friedrich Wilhelm der Erste sannen unablässig auf Mittel, die mattherzige Baulust der Bürger der Residenz zu beleben; sie verschenkten Grundstücke mit freiem Bauholz und allerlei Privilegien an ihre Unterthanen, um die Stadt zwangsweise zu vergrößern, waren aber selten mit den Ergebnissen ihrer Bemühungen zufrieden.
Friedrich Wilhelm der Erste beschloß deshalb, eine ganze Straße nach seinem Geschmacke anlegen zu lassen und befahl, vom Thiergarten, seinem Eigenthum, hinreichenden Raum dafür abzutheilen. Das Thor stand damals noch dicht am Ausgange der Linden, und das Behrenthor in der Behrenstraße mündete ebenfalls in den Thiergarten. Dasselbe wurde demnächst beseitigt, um der Wilhelmsstraße Platz zu machen. Auf besonderen Befehl des Königs mußten einige Generäle und höhere Hofbeamte sich in dieser ansehnliche „Palais“ errichten, die durch einen „cour d’honneur“ von der Straßenflucht abgetrennt sein sollten. Es waren: das Schwerin’sche, jetzt Hausministerium, das Schulenburg’sche, später Fürst Radziwill’sche, und das Vernezober’sche, jetzt Prinz Albrecht’sche Schloß.
Die Erbauung des Schulenburg’schen (Radziwill’schen) fand in den Jahren 1738 und 1739 statt; doch trägt das darüber ertheilte Privilegium schon das Datum: 21. September 1736. Der Erbauer war der Generalmajor, Graf Adolph Friedrich von der Schulenburg, dessen Name oft mit der Beifügung Wolfsburg geschrieben wurde. Er stand beim König Friedrich Wilhelm dem Ersten in besonderer Gunst und war ein stehender Gast des bekannten Tabakcollegiums, obwohl er das Rauchen nicht vertragen konnte. Der König gestattete ihm deshalb eine leere Thonpfeife im Munde zu halten. Durch eine eigenthümliche Schickung wurde das Palais seines Lieblings dem Könige verhängnißvoll. Bei der Einweihung des neuen Gebäudes fand nämlich eine große Festlichkeit statt, welcher der König beiwohnte. Der Speisesaal war nicht zu erwärmen gewesen, da er wahrhaft riesengroße Ausdehnungen hatte und durch zwei Stockwerke ging. In Folge dessen erkältete sich der König auf’s Heftigste. Er mußte seit diesem Schulenburg’schen Feste das Zimmer hüten und starb an den Folgen dieser Erkältung im nächsten Jahre.
Graf Schulenburg erfreute sich auch der Gunst des jungen Königs Friedrich des Zweiten und machte unter ihm als Generallieutenant die Schlacht bei Mollwitz mit, in welcher er seinen Tod fand.
Bis zum Jahre 1759 residirte die Schulenburg’sche Familie in dem Palais. Der nächste Bewohner desselben war der Prinz August Ferdinand, jüngster Bruder Friedrich’s des Großen. Nachdem er sich 1757 mit der Prinzessin Louise von Brandenburg-Schwedt vermählt hatte, miethete er das Schulenburg’sche Palais für einen prinzlichen Hausstand und bewohnte es längere Zeit hindurch. Die Familie Schulenburg entschloß sich im Jahre 1791, ihr Palais für den jetzt lächerlich niedrigen Preis von dreißigtausend Thalern zu verkaufen und zwar an den Geheimenrath Boumann, der es aber unter der Hand auf Befehl des Königs Friedrich Wilhelm des Zweiten erstand. Es war für die Geliebte desselben, die Gräfin Friederike Wilhelmine von Dönhoff bestimmt, und der König bewilligte dreizehntausendvierhundertsechs Thaler zur Ausschmückung und zum Umbau.
Aber schon 1795 verkauften die Kinder dieser gräflichen Besitzerin das Palais an den Fürsten Michael Radziwill, Woiwoden von Wilna. Dieser war durch seine großen Besitzungen in dem dreimal getheilten Polen Unterthan des Königs von Preußen geworden und wollte in der Hauptstadt desselben einen eigenen Wohnsitz haben. Der Fürst Radziwill bezahlte sechszigtausend Thaler für das Palais, also bereits doppelt soviel wie die ersten Verkäufer erhalten hatten. In gleichem Fortschritte hat sich wohl so ziemlich in jedem Jahrzehnte der Werth desselben gesteigert. Die verhältnißmäßig kostspielige Erwerbung des Schulenburg’schen Palais wurde wohl mit Recht damals in Beziehung mit der Vermählung des ältesten Sohnes des Fürsten Radziwill gebracht. Dieselbe fand schon im folgenden Jahre statt, und zwar mit der Tochter des früheren prinzlichen Bewohners des Palastes, der Prinzessin Friederike Dorothee Philippine Louise von Preußen.
Der Fürst Anton Radziwill war erst neunzehn Jahre alt, als er sich mit der Prinzessin Louise von Preußen vermählte; sie selbst hatte bereits das sechsundzwanzigste Lebensjahr erreicht, war aber eine blühende Schönheit und wurde von ihrem jungen Gemahl leidenschaftlich geliebt. Er vereinigte alle ritterlichen Eigenschaften seines fürstlichen Stammes mit den liebenswürdigsten, echt menschlichen Charakterzügen; er war eine reichbegabte Künstlerseele. Seine Tondichtungen, namentlich die zum Faust, haben seinen Namen unsterblich gemacht.
Da der Fürst jedoch keinem regierenden Hause angehörte, so wurde seine Verbindung mit einer preußischen Prinzessin für ein ungewöhnliches Ereigniß gehalten. Man hatte es schnell vergessen, daß die Radziwills einem ebenso alten Stamme wie die Hohenzollern angehörten. Zuerst wird ein Radziwill in einer Urkunde vom Jahre 1401 als Mitglied des hohen litthauischen Adels oder Herrenstandes genannt. Die Besitzungen der Radziwills waren immer sehr bedeutend. Nach einem Verzeichnisse aus dem Jahre 1750 gehörten dazu dreiundzwanzig feste Schlösser, vierhundertsechsundzwanzig größere und kleinere Ortschaften mit städtischen Einrichtungen, zweitausendzweiunddreißig Vorwerke und zehntausenddreiundfünfzig Dörfer. Die Einkünfte der Radziwills wurden zu derselben Zeit auf siebenundzwanzig Millionen polnische Gulden, gleich dreizehneinhalb Millionen jetziger Reichsmark geschätzt. Die Fürsten Radziwill geboten über eine Hausmilitärmacht und zwar über eine so bedeutende, daß die Könige von Polen sich stets eifrig um die Hülfe derselben bewarben.
Die Schenkungsacte, durch welche der Vater des Fürsten Anton von Radziwill diesem das Palais in der Wilhelmsstraße übergab, datirt zwar erst aus dem Jahre 1823, aber factisch besaß und bewohnte er das Schloß seit 1796. Er mußte auch die Hypothekenschulden mit übernehmen, welche auf dem Grundstücke hafteten; die bedeutende Forderung gehörte einem Berliner Bürger, dem später als Commandanten und Obersten der Nationalgarde bekannt gewordenen Peter Anton Jordan. Die Zinsen und Abgaben zu bezahlen, wurde dem jungen Fürstenpaar ziemlich schwer, besonders in den unglücklichen Jahren, welche dem Kriege von 1806 folgten. Preußens Finanznoth wurde von seinen sämmtlichen Bewohnern mit empfunden, auch von den vornehmsten. Der König Friedrich Wilhelm der Dritte konnte bekanntlich damals seiner Tochter, der nachherigen Kaiserin von Rußland, nur fünf Thaler zum Geburtstage schenken.
[512] Das unglückliche Schicksal Preußens griff auch zerstörend in die Familienbande des fürstlichen Ehepaars, und zwar durch den Tod des heldenmüthigen Prinzen Louis Ferdinand, des Bruders der jungen Fürstin Radziwill.
Am preußischen Königshof lebten damals vier nahverwandte, junge, glückliche Ehepaare. Der König und seine schöne Louise, Prinz Ludwig, sein älterer Bruder, mit ihrer reizenden Schwester (später Königin von Hannover), Prinz Wilhelm, sein jüngerer Bruder, mit der edlen Prinzessin von Homburg und das Radziwill’sche Paar. Die Kinder dieser fürstlichen Paare spielten zusammen und wurden später die innigsten Freunde: Der herrliche Park des Hôtel Radziwill vereinigte sie ganz besonders oft, denn an den Stadtschlössern der anderen hohen Herrschaften fehlten meistens die Gärten. Kaiser Wilhelm hat als Knabe den Radziwill’schen Park sehr oft besucht und erinnert sich desselben noch jetzt mit lebhafter Vorliebe.
Fürst Anton Radziwill erhielt nach dem Friedensschluß die Statthalterschaft in Posen und lebte mehrere Jahre fern von Berlin. Sein Wirken auf dem schwierigen Posten wurde von allen Parteien als versöhnlich und wohlthuend anerkannt. Als er nach Berlin zurückkehrte, waren seine Kinder meistens erwachsen, und die gesellschaftliche Bedeutung des Palais Radziwill trat nun in ein neues glänzendes Licht.
Der Fürst vereinigte die feine Lebensart seiner Nation mit deutscher Gemüthlichkeit. Er war ein Beschützer aller Künstler und Gelehrten, wie ihn Berlin bis dahin noch nicht gekannt. Namentlich pflegte er die Musik; noch im höheren Alter war er thätiges Mitglied der Singakademie. Wenn der schöne, weißlockige Greis erschien, wurde ihm zu Ehren immer ein classisches Musikstück aufgeführt, dem er voll Andacht zuhörte, um erst später mit den Anwesenden und seinem Freunde Zelter zu plaudern. Seine Faustcompositionen ließ er mehrere Mal in seinem Palais aufführen; berühmte Schauspieler wirkten darin gleichzeitig mit fürstlichen Dilettanten. Er besuchte auch oft einfache, bürgerliche Cirkel, um gute Musik zu hören und gemüthliche Unterhaltung zu pflegen.
Die Krone seines Herzens und seines Hauses war seine holdselige Tochter Elisa; ihre liebliche Schönheit bezauberte Jung und Alt. Sie war die Mädchenblume, die, für eine Liebesidylle geschaffen, den königlichen Paladin fast von den Stufen des Thrones hinabgelockt hätte. Leider mußte sie früh verwelken. Sie starb 1834 in Freienwalde an einem Brustleiden. Während ihrer Krankheit verlor sie ihren geliebten Vater, aber sie erfuhr es nicht; ihre Angehörigen legten immer die tiefe Trauer um ihn ab, wenn sie die Kranke besuchten, und zwangen sich zu heiteren Gesprächen.
Nach dem Tode des Fürsten Anton wohnten seine beiden Söhne, Fürst Wilhelm und Fürst Boguslav, im Palais Radziwill; beide waren mit Töchtern des Fürsten Clary aus Oesterreich vermählt und besaßen eine zahlreiche Nachkommenschaft. Auch die Fürstin Czartoryska, eine jüngere Schwester Elisa’s, hatte mehrere Kinder, sodaß jetzt zwölf Erbportionen geschaffen und deswegen das Palais verkauft werden mußte. Beide fürstliche Familien lebten bis zum Tode ihrer Häupter einträchtig in dem [513] schönen Schlosse und setzten die ererbten Traditionen von wohlthuendster Gastfreundlichkeit, feinster Geselligkeit, wahrster Höflichkeit und echtestem Kunstsinne pietätvoll fort. Am eifrigsten aber pflegten sie die Wohlthätigkeit; das Palais Radziwill war eine Freistätte der Armuth. Die Fürsten waren beide Bürger von Berlin, haben auch als solche öffentliche Aemter übernommen und viel Gutes gewirkt.
Bemerkenswerth ist noch, daß die Einwilligung des Kaisers nöthig war, damit zum Verkaufe des Palais geschritten werden konnte; er hatte als Familienoberhaupt noch die Interessen seiner verstorbenen Cousine, der Tochter des Prinzen Ferdinand von Preußen, wahrzunehmen. Nach den Ehepacten war ihr das Eigenthumsrecht an dem Palais zugesprochen.
Als die Möbelwagen auf dem Schloßhofe standen, war es uns vergönnt, noch einmal die ehrwürdigen schönen Räume zu sehen und einen wehmüthigen Abschiedsblick hinein zu werfen. Uns fesselten besonders die Familienbilder: Louis Ferdinand, der Unvergeßliche, der schöne Prinz August, sein jüngerer Bruder, die stattliche Prinzessin Ferdinand, Beider Mutter, und vor Allem die Marmorbüste des Fürsten Anton. Das schönste Familiengemälde ist aber ein lebensgroßes Bild dieses edlen Mannes und seiner Lieblingstochter Elisa. Er hält die zarte Gestalt zärtlich umschlungen, als wolle er sie vor den Stürmen des Lebens schützen. Die Aehnlichkeit der beiden schönen Gesichter ist auffallend und rührend. Ganz dieselbe feine Adlernase, die blauen sanften Augen und die kühne geniale Stirn! Wie sie hier im Leben vereint waren, verband sie auch bald der Tod. Fürst Anton starb 1833 und Prinzessin Elisa 1834.
Aus dem kirchenhohen schönen Treppenhause eilten wir noch einmal in den Garten, seine Felder von Maiblumen, seine Epheumauern, seine blumigen Wiesen, die kühlen Schatten seiner uralten Baumriesen, die grüne Wildniß, wo Nachtigallen und wilde Tauben nisteten, das alles noch einmal zu sehen; wir redeten wie mit lebenden Wesen mit den bemoosten Steinbildern, den Ruheplätzen voll Erinnerungen und nahmen feierlichen Abschied von ihnen.
Schon ist die Mauer gefallen, die den Garten von dem Bismarck’schen Parke trennt. Aus der Zusammenschmelzung der beiden Grundstücke wird bald die großartigste Parkanlage Berlins entstehen, und es ist allerdings als ein Glück zu betrachten, daß dem organisatorischen Talent unseres Reichskanzlers die Bestimmung hierüber zugefallen ist. Er wird die Schönheit des Palais Radziwill gewiß so vollkommen erhalten, daß es der Residenz des Kaisers noch immer zum Schmucke gereicht.
Nach einer Pause fuhr Persin in seiner Erzählung fort:
„Ein niedliches Dienstmädchen öffnete auf mein Schellen die Thür und sagte mir, nachdem sie mich den Damen angemeldet, es werde der gnädigen Frau sehr angenehm sein, mich zu empfangen. Dann geleitete mich das hübsche Kind in ein Zimmer, wo sich Niemand befand, sodaß ich hinlängliche Muße hatte, die freundliche, doch immerhin etwas verbrauchte, von entschwundenem Glanz zeugende Einrichtung des Gemaches, an welches sich noch ein kleineres Stübchen schloß, in Augenschein zu nehmen.
Da wurde eine Thür in diesem Nebenzimmer geöffnet, und eine Dame näherte sich mir langsam. Es war Frau von Saremba. Sie begrüßte mich höflich, wenngleich ein wenig zurückhaltend, doch jede Vorschrift des feinsten Tones wahrend. Nachdem sie mir einen Sessel angeboten, nahm sie auf einem Divan Platz. Diese Frau von Saremba war eine Dame von etwa vierzig Jahren, mit feinen, durchgeistigten Zügen, tiefschwarzem Haar und dunkelblauen Augen, von mittelgroßer, schlanker Gestalt, genug, eine nicht mehr junge, doch überaus anmuthende und vornehme Erscheinung.
Unsere Conversation war anfangs etwas nichtssagend, da Frau von Saremba meinen Besuch nur als einen pflichtschuldigen Zoll, welchen ich dem guten Ton abzutragen hatte, aufzunehmen schien, während ich in Gedanken damit beschäftigt war, den besten Weg zu suchen, mich meinem Ziele zu nähern, das heißt das Gespräch auf meine Bekanntschaft in der A.-straße zu bringen. Aber es wollte mir dies durchaus nicht gelingen. Frau von Saremba hielt hartnäckig an jener leichten Unterhaltung fest, welche eigentlich nur unsere Sprechorgane in Anspruch nimmt, mit dem Denkvermögen aber nichts zu thun hat. Auch die Tochter hätte ich gern gesehen, doch sie erschien nicht. Ich hatte eigentlich meinen Besuch schon über die herkömmliche Zeitdauer ausgedehnt, und es war die höchste Zeit, mich endlich zu erheben, wenn ich nicht tactlos erscheinen wollte. Unwillkürlich richtete ich dabei meinen Blick auf die Thür, durch welche die Dame eingetreten war, doch sie blieb jetzt geschlossen. Frau von Saremba hatte – das sah ich wohl – meinen Blick bemerkt, aber ihre Miene wurde noch kühler.
Es kam mir Alles in diesem Hause so unnahbar vor, daß ich anzunehmen versucht war, meine Mühe sei eine vergebliche gewesen. Mit den conventionellen Redensarten begann ich nun mich zu verabschieden, da sagte die Dame: ‚Else, das heißt meine Tochter, wird bedauern, den neuen Hausgenossen heute nicht kennen gelernt zu haben; sie ist auf einem kleinen Spaziergange mit einer Freundin. – Ich kann Ihnen leider nicht die Aussicht auf größere Gesellschaften in meinem Hause geben, Herr von Persin, aber ich sehe bisweilen einige bewährte, ältere Freunde bei mir; wenn Ihnen ein solcher Kreis nicht ganz unlohnend erscheint, so hoffe ich, Sie bisweilen bei mir zu sehen. Wir wollen‘ – es lag viel Verbindliches in ihren Worten – ‚gute Nachbarschaft halten.‘ Damit war ich entlassen.
Nachdenkend ging ich in meinem Zimmer auf und ab. Von dieser Frau war für meine alte Freundin wenig zu hoffen. Da war viel äußerer Schliff, aber – so schien es mir – wenig Herz. Am Abend ging ich nach der A.-straße. Ich überlegte, ob ich der alten Frau meine Erlebnisse mittheilen sollte, kam aber zu dem Resultate, daß es besser sei, dies zu unterlassen. Wozu in dem ohnehin von Gram gepreßten Herzen Hoffnungen wecken, die sich vielleicht nicht erfüllen würden!
Die Dachkammerthür war geschlossen. Ich klopfte und hörte ein leises Rauschen seidener Stoffe. Endlich öffnete meine Freundin. Es war dunkel in dem Zimmer; das Rauschen wurde durch den alten seidenen Mantel verursacht, in welchen meine Freundin, um sich gegen die Kälte zu schützen, sich gehüllt hatte. Ich wollte Licht machen, doch sie bat mich, dies zu unterlassen, da sie heftige Augenschmerzen habe, auch sonst sich nicht recht wohl fühle. Ich erklärte, einen Arzt holen zu wollen, doch auch daran verhinderte sie mich. Es werde schon so wieder besser werden, meinte sie. Ein Armer dürfe sich nicht verwöhnen. Da sie sich recht schwach zu fühlen schien, wollte ich nicht lästig fallen und zog mich bald zurück, was ihr heute nicht unangenehm zu sein schien.
Meine Hausgenossin sah ich in den nächsten Tagen nicht, obgleich ich absichtlich häufig meine Wohnung verließ und wieder dahin zurückkehrte. Eines Morgens brachte mir mein alter Diener Albrecht einen Brief. Als ich ihn geöffnet hatte, fiel eine zierliche Karte heraus, mit folgender Inschrift: ‚Frau von Saremba, geborene Biedefeld, giebt sich die Ehre, Herrn Baron von Persin zu einer Tasse Thee für heute Abend, sieben Uhr, ergebenst einzuladen.‘
Das war die Handschrift einer jungen Dame – der Tochter wohl. Erstaunt und auch erfreut las ich diese Zeilen. Ich hatte gefürchtet, daß Frau von Saremba nur aus Höflichkeit von einer Einladung gesprochen, daß sie den näheren Verkehr mit einem jungen Manne nicht wünsche.
‚Frau von Saremba, geborene Biedefeld‘, stand auf der Karte. Wo hatte ich den letzteren Namen doch schon gehört? Halt! Hatte meine alte Freundin mir nicht gesagt, sie sei eine geborene von – von Biede – feld – berg oder so etwas Aehnliches? Merkwürdige Uebereinstimmung der Namen, wenn ich mich nicht irrte. Fast räthselhaft war’s zu nennen. Nun, ich konnte mir [514] ja Gewißheit verschaffen, konnte zu meiner Freundin eilen und sie fragen. Ich that dies auch, ging, gegen meine Gewohnheit, schleunigen Schrittes nach der A.-straße, pochte an die Thür, wiederholte mein Klopfen – vergebens; die alte Dame öffnete nicht.
Ich fragte eine Bewohnerin des Hauses nach Frau von Saremba, doch diese kannte den Namen nicht, wußte auch nichts über den Verbleib der armen Frau zu berichten. In einer Miethscaserne gehen ja die Bewohner so achtlos und kalt aneinander vorüber.
Ich mußte nun wohl oder übel meiner Wißbegierde Zügel anlegen und schlenderte langsam durch die Stadt, in der Hoffnung, der Gesuchten zufällig zu begegnen. Mittlerweile war es Essenszeit geworden, und ich trat, um meinen Appetit zu stillen, in den Garten eines eleganten Restaurants ein, welches an der Ecke des Potsdamer Platzes gelegen ist, und von wo aus man einen vollen Blick über die vier oder fünf in diesen schönen Platz einmündenden Straßen hat.
Schön, den Du ja auch kennst, ein alter liebenswürdiger Herr und Schauspielhabitué, setzte sich zu mir und zog mich in eine anregende Unterhaltung über den augenblicklichen Verfall einiger tonangebenden Bühnen und über den täglich schlechter werdenden Geschmack des Publicums. Plötzlich unterbrach er sich, setzte sein Glas auf und warf einen scharfen, erstaunten und freudigen Blick auf eine Droschke erster Classe, welche langsam und dicht an uns vorüber in die Bellevuestraße einbog. Zwei Damen saßen darin: meine Hausnachbarin, Frau von Saremba, und ein reizendes, blondlockiges, blauäugiges Mädchen, jedenfalls ihre Tochter.
Da die Damen zufällig ihre Blicke auf uns richteten, so erhob ich mich zum ehrerbietigen Gruß, dem ein freundlicher Dank folgte.
‚Also Sie kennen sie auch, die einst so Entzückende, Himmlisch-Schöne, noch immer Berückende, die als Königin Elisabeth etc. unsere Herzen und Sinne bezauberte?‘ rief laut der alte Theaterenthusiast. ‚Doch was sag‘ ich? Euch jungen Nachwuchs bezaubert etwas anderes, als wahre Kunst – haben Sie sie vor zwanzig Jahren gesehen?‘
‚Damals hatte ich noch nicht lange meine ersten Höschen an,‘ erwiderte ich lachend. ‚Aber ich verstehe kein Wort. Wer oder was hat Sie denn so entzückt und begeistert, daß Sie nur kurze und unverständliche Interjectionen der Seligkeit ausstoßen?‘
‚Wa – as?‘ rief Schön fast ärgerlich. ‚Sie wissen nicht –? Wollen Ihre Bekanntschaft ableugnen? Schämen Sie sich, junger Mann! Sie haben mich ja auf sie aufmerksam gemacht – wohl kam sie mir bekannt vor, denn lange hab’ ich sie nicht gesehen, aber diese Züge vergißt man nicht – – durch Ihren Gruß veranlaßt, sah ich schärfer hin – ja, sie war es, die Herrliche, welche einst alle Blätter angesungen haben, die unvergleichliche Alma Biedefeld.‘
‚Sie meinen doch die brünette Dame, welche ich eben grüßte? Das ist –‘
‚Alma Biedefeld,‘ unterbrach er mich, glühend vor Aufregung, ‚der nun leider untergegangene, doch nimmer verlöschende Stern unserer großen Bühnen.‘
‚Verzeihen Sie, bester Schön! Diese Dame ist eine Frau von Saremba, allerdings eine geborene Biedefeld –‘
‚Sehen Sie,‘ fiel er begeistert ein, ‚ich habe mich nicht getäuscht. Sie ist es; sie heirathete später. O, sie wird mich auch wiedererkannt haben, war ich doch einer ihrer glühendsten Verehrer, freilich nur par distance – vom Parquet aus. Aber sie hat mich bemerkt; sie hat gelächelt; sie muß, wird sich meiner erinnern – ich hatte immer Nummer siebenzehn –‘
Ich verließ den entzückten Alten und begab mich nach Hause. Also eine Schauspielerin! Ja, sie mußte eine vorzügliche Künstlerin gewesen sein, denn ihre vornehme Haltung erschien durchaus nicht gemacht – wie ihr angeboren war sie.
Am Abend folgte ich der Einladung von Frau von Saremba. Ich fand in ihrem Salon eine Anzahl älterer Damen und Herren, die alle hochvornehme Namen trugen, alle ein wenig ‚kunstbegeistert‘ aussahen und sicher einst enthusiastische Verehrer dieser Kunstkoryphäe gewesen waren.
Und zwischen diesen etwas steifen Herrschaften schwebte Elsa, die wunderschöne Tochter der Dame des Hauses, einher, wie ein lustiger Elf, von leichten Tüllwolken umhaucht, in welchen Rosenblätter flatterten. Ich fühlte mich schnell zu der reizenden, echt jungfräulichen Erscheinung hingezogen, und auch sie schien meine heitere Unterhaltung den etwas trockenen Galanterien der alten Herren vorzuziehen.
Frau von Saremba machte mit gewohnter Liebenswürdigkeit die Wirthin. Nur bisweilen wollte es mir scheinen, als trage sie die Würde der vornehmen Frau ein wenig zu stark auf. Unwillkürlich verfiel ich in das aristokratische Vorurtheil, ihre Vergangenheit in Erwägung zu ziehen.
Bei meinem nächsten Besuche, den ich den Damen in Folge der Einladung machte, fand ich Frau von Saremba mit ihrer Tochter allein. Die Dame empfing mich sehr gütig. Else war zum Entzücken freundlich und kindlich vertraut. Sie zeigte mir ihre Blumen, Vögel, Malereien, Musikalien und Handarbeiten, ja, sie sang mir sogar, auf meine Bitte, mit lieblicher Stimme ein Liedchen vor. Und alles dies that sie in harmlosester Kindlichkeit, welche so vortheilhaft dem Benehmen unserer jungen Damenwelt von heute entgegenstand. Ich war schon ganz für das reizende Wesen eingenommen.
Von jetzt ab versäumte ich keine nur irgendwie passende Gelegenheit, bei den Damen vorzusprechen, erhielt auch bisweilen Einladungen zu ihren ‚kleinen Abenden‘, wie Frau von Saremba diese geselligen Versammlungen zu nennen pflegte.
Bei einem meiner Besuche fand ich denn die lange ersehnte Gelegenheit, von meiner armen Freundin zu sprechen. In möglichst beredten Worten versuchte ich den Jammer der Unglücklichen zu schildern, so daß Else’s schöne Augen sich mit teilnehmenden Thränen zu füllen begannen. Doch die Mutter hörte mich mit unbewegter Miene an; sie zuckte nur hier und da mit einem kühlen Ausdrucke des Bedauerns die Schultern. Man dürfe nicht allem Elend am Wege Glauben schenken, meinte sie dann. Sei diese Frau wirklich eine Saremba, eine Biedefeld, so hätten ihr sicher die Familien, auf ihre Bitte hin, Beistand nicht versagt. Die Sache käme ihr bedenklich vor, besonders die Aehnlichkeit der Geburtsnamen. Sie wittere einen Betrug, eine Ausbeutung vertrauensseliger Herzen. Sie rathe darum zur Vorsicht. Uebrigens werde sie gelegentlich über diese Frau Erkundigungen einziehen und sie in jedem Falle schonen, wenn wahre Noth vorhanden sei. Sie ersuchte mich zugleich, vorläufig diese Frau mit ihr, Anderen gegenüber, nicht etwa in irgendwelche Beziehung zu bringen. Sie habe als Wittwe vor Allem darauf zu achten, daß die Welt nicht Grund finde, über sie zu urtheilen.
Das klang klug und vorsichtig, aber doch auch ein wenig hart. Dafür leuchtete mir aus Else’s schönen Augen das innigste Verständniß für meine Theilnahme an der Noth meiner alten Freundin entgegen, ein Verständniß, das mich zu dem – wie ich es mir eingestehen mußte – schon heiß geliebten Mädchen herzinnig hinzog. Wie gern hätte ich mich ihr zu Füßen geworfen und für ihre holden Thränen ihr meine heiße Liebe gestanden! Doch solch ein süßes Geständniß will unter vier Augen geflüstert werden. Kein fremder Blick, selbst der einer Mutter nicht, darf Zeuge des Ineinandersenkens zweier rein liebenden Herzen sein. So wollte ich es, und so mußte es auch die reine Jungfräulichkeit Else’s wollen.
Ich suchte das geliebte Mädchen allein zu sprechen. Doch stets fand ich bei meinen Besuchen die Mutter zugegen. Der Anstand erheischte dies wohl, aber doch war es mir unbequem. Bisweilen wagte ich, meine Augen zu Else sprechen zu lassen, und eine holdbeglückende Antwort schien mir aus ihrem Blicke entgegenzuleuchten – aber bald begann diese stumme, wenn auch anregende Unterhaltung mir nicht mehr zu genügen – ich wollte, mußte in glühenden, hörbaren Worten reden und wollte gleiche von geliebten Lippen vernehmen.
Eines Spätnachmittags – die ersten Sterne begannen schon am Himmel aufzublitzen – bemerkte ich beim Heimkehren in Else’s Zimmer Licht. Die übrigen Fenster, welche zur Wohnung der Frau von Saremba gehörten, waren dunkel.
Ich hatte mich auf einer längeren Promenade im Thiergarten innerlich fast ausschließlich mit dem holden Kinde beschäftigt, hatte mir Alles wohl überlegt und mich gefragt, was wohl meinem Glücke entgegenstehen könne. Else schien mir nicht abhold. Ich habe einen guten Namen und hinreichende Mittel, um ihr eine mehr als behagliche Existenz zu bieten; durfte ich da nicht das
[515] Beste hoffen? Von diesen beseligenden Gedanken erfüllt, flog ich die Treppe hinan und zog den Klingelzug an der Thür der Frau von Saremba. Ich mußte Else heute sprechen. Mein Herz war zu voll, und ich hoffte, sie allein zu finden.
Sie war auch wirklich allein und nahm meinen Besuch an. Sie stand im Wohngemache am Tische – o Freund, es war ein zauberisches Bild, welches ich nie vergessen werde. Voll fiel das Licht der Lampe auf ihr herrliches Antlitz; die süßen Augen hießen mich lächelnd willkommen. Durch die blonden Locken schlang sich ein blaues Band. Grethchenhaft erschien die schlanke, ebenmäßige Gestalt in dem schlichten, blauen Gewande, welches keusch Nacken und Arme verhüllte. Sie streckte mir die feine Hand entgegen, die ich hastig ergriff und so fest an meine heißen Lippen preßte, daß ein Hauch süßesten Erröthens das holde Angesicht überzog.
Ein wenig befangen, aber doch mit offenem Blicke, sagte sie leise: ‚Mama ist zwar nicht daheim – und mir war ein wenig bange, und – ich plaudere gern mit Ihnen.‘
Ich fand keine jener banalen Salonredensarten, die als kühle Antwort hätten dienen können, vielleicht hätten dienen sollen. Kein vermittelnder Uebergang wollte sich finden zwischen dem conventionellen Begrüßungsmomente und dem Augenblicke heiligster Liebesseligkeit. Noch umschloß ich ihre Hand; fester und inniger drückte ich sie. Auf meinem Herzen mußte sie ruhen, um sein wildes Pochen zu fühlen – ach, Else fühlte es und verstand wohl seine Bedeutung. Bald lag sie selbst, stumm, selig an diesem Herzen, und auf die blonden Locken drückte ich ihr wonneberauscht den ersten, schönsten Kuß reinster Liebe.
Ein leises Beben durchflog den zarten Körper. Sie brach in heftiges Weinen aus.
‚Thränen, Geliebte?‘ fragte ich angstvoll.
‚Wie liebe ich Dich, Geliebter!‘ stammelte sie zu mir empor. ‚Ein wildes Toben ist in mir, das sich jetzt in Thränen reinsten Glückes Luft macht. Was in mir gewogt, wie ein unklares Räthsel, es löst sich jetzt auf in der wonnigen Gewißheit: Ich liebe Dich.‘
Berauscht von dem hohen Glücke, ein so unschuldvolles Herz durch meine Liebe zu schnellerem Schlagen gebracht zu haben, vermochte ich nur stumm die geliebte Gestalt an mich zu drücken.
‚Jetzt versteh’ ich,‘ sagte Else noch immer an meinem Herzen, ‚die Thränen, die unaufhaltsam meinen Augen entrannen, als Du uns in bewegten Worten Mittheilung machtest von dem Elende jener unglücklichen Frau. Ich vermochte meinen Blick nicht von Deinem in reinster Menschenliebe erglühenden Antlitze abzuwenden; ich hätte vor Dir niedersinken, Deine Hände auf mein Haupt legen mögen, denn Du erschienest mir als der beste aller Menschen.‘
‚So ist meine Liebe älter, als die Deine, geliebtes Lieb,‘ erwiderte ich neckend. ‚Denn seit ich Dich gesehen, lieb’ ich Dich.‘
‚Du verstandest nur besser, als ich, Dir das, was in Dir erwachte, zu erklären,‘ entgegnete sie. ‚Dem ahnungslosen Mädchenherzen verursachte diese ihm unerklärliche Hinneigung zu dem fremden Manne einen süß-seligen Schauer.‘
‚Deine Mutter erschien mir – verzeihe mir! – bei meiner Erzählung kühl, fast hart. Wenn sie so auch unserem Glücke entgegenträte!‘
‚Das fürchte nicht!‘ beruhigte mich Else schmeichelnd, ‚sie liebt ihr Kind und will es nur glücklich sehen. Und ich bin es jetzt – unendlich. – Ich fand Mamas Entgegnung gleichfalls tadelnswerth und sprach ihr das auch, nachdem Du Dich entfernt hattest, offen aus. Sie sagte mir kurz darauf, daß sie wohl an die Existenz einer verarmten Verwandten glaube. Sie habe aber nicht die Absicht, sich der Familie ihres Herrn Gatten zu nähern, die ihr niemals freundlich und verwandtschaftlich entgegen gekommen sei. Es läßt sich dagegen nicht viel thun, mein theurer Freund, denn Mama, so engelgut sie auch sonst ist, duldet keinerlei Einspruch gegen ihre Ansichten. Aber ich, Geliebter,‘ setzte das holde Kind dann lächelnd hinzu, ‚ich denke anders, und ich gehöre ja auch von jetzt an zu Dir. Deine Freunde sind fortan auch meine Freunde. Und ich muß, nun ich so unsagbar glücklich bin, auch beglücken. Wie wär’s, wenn wir hinauseilten zu der alten Verwandten, sie an unserer Seligkeit theilnehmen ließen und ihr eine frohe Aussicht auf eine bessere Zukunft eröffneten?‘
Else sprach damit nur einen Gedanken aus, der augenblicklich auch in mir aufgestiegen war.
‚Nun weiß ich,‘ sagte ich lachend, ‚daß Du mich liebst; denn Du weißt: zwei Seelen – ein Gedanke, zwei Herzen – ein Schlag. So muß es sein. Aber wird die Mutter dem beistimmen? Wo ist sie? Wann kehrt sie heim, um Zeuge unseres Glückes zu sein, um uns zu segnen?‘
‚Die Mutter!‘ rief Else. ‚Wie ich ihrer so ganz vergessen konnte! Durfte ich das, Geliebter, über mein Glück?‘
Ich nickte ihr nur zu, sie fest in meine Arme schließend.
‚Sie ist jedenfalls in einem der wohlthätigen Vereine,‘ berichtete sie dann, ‚welche sie mehrmals in der Woche zu besuchen pflegt. Meist kehrt sie zu später Stunde erst heim; heut’ seh’ ich sie wohl kaum noch. Ich werde ihr zum Morgengruß von meinem Glücke erzählen, und sie wird mit uns glücklich sein.‘
‚Und sie läßt Dich allein zu Hause?‘ fragte ich, unwillkürlich den Kopf über das Vernommene schüttelnd. ‚Ich finde das doch sonderbar –‘
‚Geliebter, lasse das!‘ fiel Else ein, indem sie ihre Arme innig um meinen Hals schlang und ihr holdes Köpfchen an meine Brust legte. Dabei sah sie mit einem trüben, thränenverdüsterten Blick zu mir empor. ‚Die Mutter ist gut, himmlisch gut gegen mich,‘ fuhr sie dann fort; ‚daß sie mir nur bis zu einer gewissen Grenze ihr Vertrauen schenkt, oder vielmehr, daß sich oft ein eisiger Reif auf diese Liebe zu legen scheint, ich vermag es nicht zu verstehen, und es bekümmert mich oft tief.‘
‚Auch ich verstehe es nicht. Was liegt eigentlich zwischen der Mutter und Dir?‘
‚O nichts, gewiß nichts, mein Geliebter. Vielleicht liegt das auch an mir selbst. Vielleicht verlange ich zu viel von der älteren, ruhigeren Frau. Meist wandeln wir ja Hand in Hand, Herz an Herz dahin; dann, scheint es mir, trennen sich für eine Weile jäh unsere Wege, aber am Ende finden wir uns immer wieder zusammen. Wie gesagt, vielleicht liegt’s auch an mir, an meinem ungestümen Herzen, das viel Liebe erheischt, weil es auch viel Liebe zu geben hat. Und nun, mein Freund, ist mir so wohl, nun ich Dein Herz mein eigen weiß, das mir – nicht wahr, Du Theurer? – nichts schuldig bleiben wird.‘
Ich drückte sie lächelnd an mich, denn ich glaubte besser, als sie selbst, die holdgeheimnißvollen Regungen ihres jugendreinen Herzens zu verstehen. Aber auf Else’s Stirn blieb eine Wolke haften. Um diese zu zerstreuen, sagte ich nach einigem Nachdenken:
‚Nun denn, mein Herz, laß uns hinaus gehen zu meiner Freundin! Wir wollen einmal unter dem Schleier der Nacht dem Herkömmlichen ein Schnippchen schlagen und Arm in Arm die Straßen der Stadt durchstreifen. Morgen lassen wir die Verlobungskarten drucken, und Alles ist wieder gut.‘
„Du siehst, mein Freund,“ unterbrach sich hier lächelnd der Erzähler, „wir waren an jenem Abende ein wenig unbedacht, aber sind das Verliebte nicht zumeist? Else sprang erfreut nach Hut und Mantel. Das Unpassende, welches in der Ausführung unseres Planes liegen konnte, kam ihr nicht in den Sinn; sie liebte mich und vertraute mir, und in ihrem reinen Herzen fand kein dunkler Gedanke Raum.
Else hing glücklich an meinem Arme. Sie plauderte allerliebst und behauptete wiederholt, nie sei ihr die Großstadt so wunderschön erschienen, wie heute. Unter jenem halbscherzenden, halbernsten Geschwätze, wie es eben nur überselige, jugendliche Menschenherzen zu Tage fördern können, gelangten wir an unser Ziel. Aengstlich schmiegte Else sich an mich, als wir die vier Treppen erklommen. Das durch Glanz und Wohlleben verwöhnte Kind fühlte sich in diesen Regionen der Armuth bedrückt. Einen Augenblick blieb sie zaghaft auf dem oberen Treppenflure stehen, doch bald schritt sie muthig vorwärts der Thür zu, hinter welcher die Unglückliche hauste. Ich hatte unten schon meine Laterne angezündet und konnte nun merken, wie Else, bleich vor innerer Aufregung, ihren rosigen Finger zum Anklopfen erhob.
‚Wir wollen die Arme freudig überraschen,‘ flüsterte ich ihr zu, sie von ihrem Vorhaben zurückhaltend. ‚Tritt Du, mein Lieb, zuerst ein, als segenspendender Engel! Ich folge Dir nach.‘
In dem Zimmer vernahmen wir die Tritte einer auf- und abschreitenden Person. Ich drückte die Klinke nieder, aber die Thür öffnete sich nicht sogleich. Der innere Riegel war wohl vorgeschoben; doch augenscheinlich nicht genügend, denn als ich [516] unwillkürlich mehr Kraft anwendete, sprang die Thür auf. Das Zimmer wurde durch ein Wachslicht erhellt. An dem Tische in der Mitte des Gemachs stand eine schlanke Dame in schwarzem Seidenkleide. Sie kehrte uns den Rücken zu.
Als ich mit Else in die Thüröffnung trat, drehte sich die Frau hastig um. Ich traute meinen Augen kaum; es war – Frau von Saremba, die Mutter Else’s.”
Gedächtnisfeier für Georg Büchner auf dem Germaniahügel
bei Zürich. Das dritte Heft dieses Jahrgangs der „Gartenlaube” hat
bereits ein „Gedenkblatt für Georg Büchner” gebracht, welches Leben und
Streben, Werke, Geschicke und Tod dieses allzu früh vollendeten, im Jahre
1837 im vierundzwanzigsten Lebensjahre zu Zürich verstorbenen edeln und
talentvollen jungen Mannes bespricht. Dasselbe schließt mit der Bemerkung,
daß in Folge der bevorstehenden Aufhebung dem Friedhofes,
auf welchem er beerdigt ward, die Hinterbliebenen vielleicht eine Uebertragung
der Leiche nach Darmstadt, wo die Familie heimisch ist, bewerkstelligen
werden. Dies hat sich indessen dahin abgeändert, daß man
die Gebeine, welche man ohne alle sonstigen Reste in reiner Erde fast
vollständig noch vorfand, um sie der drohenden Umwühlung auf dem
längst geschlossenen Begräbnißplatz zu entziehen, hoch oben am „Zürichberge“
ziemlich nahe am Waldesrande, unter der „deutschen Linde“ auf
dem „Germaniahügel“ von neuem beisetzte, an einem Orte, wo sie wohl
schwerlich eine weitere Störung zu erwarten haben, Diesen Beschluß
hatte der hier in der Nähe, in Küßnacht am Lehrerseminar thätige
Dr. Adolf Calmberg aus Darmstadt, Verfasser einer Anzahl von Dramen
mit den Geschwistern des Abgeschiedenen gefaßt, nachdem sich zugleich
die hiesige „Gesellschaft deutscher Studirender“ der Sache angenommen
und im Vereine mit Genanntem und einigen älteren Bannern einen
Ausschuß behufs der Ausführung gebildet hatte.
Nachdem nun mehr als eine Woche zuvor in der Stille die Uebertragung der Gebeine und die Aufrichtung eines Denksteins mit entsprechender Inschrift auf dem genannten Hügel erfolgt war, fand am Sonntag den 4. Juli Nachmittags eine einfache Gedächtnißfeier auf und an demselben statt. Es waren dazu die in und bei Darmstadt lebenden Geschwister des Gefeierten, Herr Wilhelm Büchner aus Pfungstadt, Abgeordneter, nebst einem aus Stuttgart eingetroffenen Sohne, Herr Dr. Louis Büchner, der bekannte Verfasser von „Kraft und Stoff“, und Fräulein Luise Büchner, Verfasserin von „Die Frauen und ihr Beruf“ und andern Schriften, herbeigekommen, während der dritte Bruder, Professor Alexander Büchner in Caen in Frankreich, Verfasser einer Geschichte der englischen Poesie, seine Verhinderung meldete. Ein stiller Zug bewegte sich um vier Uhr von dem Polytechnicum und der Universität den Berg hinauf. Voran wehete ihm die alte schwarz-roth-goldene Fahne, welche, herrührend von einer ehemaligen hiesigen burschenschaftartigen deutschen Studentenverbindung „Teutonia“, später an die genannte, vor zehn Jahren gegründete „Gesellschaft deutscher Studirender“ übergegangen von derselben als Symbol der über das „Reich“ weit hinausgehenden deutschen Gesammtnation, an welche auch ihre Mitglieder sich vertheilen, festgehalten wird und in diesem Falle von einem hochgewachsenen jungen Manne, Herrn Krupp, dem Neffen des vielgenannten Anfertigers unserer wirksamen Geschütze, den steilen Berg hinaufgetragen ward. Ihr folgten zunächst die Brüder dem Gefeierten nebst den Mitgliedern des Ausschusses und einigen anderen Theilnehmenden und dann die genannte Gesellschaft der deutschen Studirenden, sowohl von Universität wie Polytechnicum. Die Masse des Zuges nahm am oberen Fuße des Hügels Stellung, Angehörige und Führer nebst Fahne, sowie einige Frauen, auf ihm selbst, die versammelte zahlreiche Menge ringsumher. Vier Redner wendeten sich an die Versammlung, der Vorsitzende des Vereins, Herr Umlauft aus Böhmen mit einer einleitenden Ansprache Dr. Calmberg mit der Hauptrede, Dr. Louis Büchner mit dem Danke der Familie und zuletzt Herr Wilhelm Büchner mit einem Gedichte „Erinnerung an meinen Bruder Georg“, welches nachher den Theilnehmenden gedruckt eingehändigt ward. Die Vorträge wurden durch zwei von der Versammlung gesungene Lieder, das alte Binzer’sche Burschenschaftslied „Wir hatten gebauet“, und Hoffmann’s von Fallersleben „Deutschland, Deutschland über Alles“, eingerahmt.
Zum Schlusse seiner Rede legte Dr. Calmberg einen Lorbeerkranz auf den Denkstein nieder, den jedoch nachher Fräulein Büchner mit einem Blumenkranze vertauschte, um jenen als Andenken mitnehmen.
Am Abend vereinigte eine würdige gesellige Feier, unter dem Präsidium des stud. med.. Herrn Steinmetz, die Theilnehmer an der Gedenkfeier, mit Einschluß der Frauen, im Saale des „Café Literaire“. Ansprachen mit Toasten, inhaltreich in heiterem Ernste, Lieder – unter andern die „Wacht am Rhein“ – und der Vortrag zweier eigenen Stücke, womit der Componist, Herr Schulz-Beuthen, die Anwesenden erfreute, füllte die gemüthliche Versammlung aus. An den Reden betheiligten sich besonders die früher Genannten sowie einige Andere, namentlich Dr. Kinkel,
Sohn, Moleschott, Sohn, G. M. Wislicenus und mit einigen Worten des Dankes Frau Heymann aus New-York. Den Stoff zu den verschiedenen Reden boten in erster Reihe der Gefeierte des Tages, die bahnbrechenden Vorkämpfe jener Zeit, das dankbare Andenken an all unsere treuen Todten aus der Vergangenheit und dem letzten Kriege und die Ermunterung der deutschen Jugend zu Erfüllung ihrer Plicht gegen das Vaterland. Auch Abgeordnete der schweizerischen, italienischen und ungarischen Vereine aus den hiesigen Studirenden, mit welchen der deutsche Verein auf gutem Fuße steht, waren gegenwärtig. Erst etwa um Mitternacht ging die Versammlung auseinander.
Noch einmal das Hartglas. Zu meinem Aufsatze „Friede im Hause und Revolution in der Glashütte“ (Nr. 27 der Gartenlaube) muß
ich um eine naheliegende mißverständliche Auffassung zu verhüten, nachträglich
bemerken, daß der dort gebrauchte Ausdruck: der Meusel’schen
Methode gebühre der Preis, wie auch der Zusammenhang der Worte
ergiebt, keineswegs eine von mir selbst gewonnene Ueberzeugung ausdrücken
soll. Ich hatte die Angaben über das Meusel’sche Verfahren aus
so directen Mittheilungen geschöpft, daß ich sie für zuverlässig halten
mußte. Gleichwohl habe ich aus Briefen des Herrn de la Bastie, die mir
mitgetheilt wurden, die Ueberzeugung gewonnen, daß sie es nicht in
allen Stücken waren, sodaß mir auch der Rest zweifelhaft geworden
ist. Andererseits verdanke ich der Freundschaft des Herrn Pieper in
Dresden einige Mittheilungen, aus denen ich ersehe, daß sein Verfahren
zur Herstellung des Vulcanglases schon am 11. December 1874 patentirt
war, sodaß, da die Bastie’sche Patentbeschreibung erst später veröffentlicht
wurde, der Deutsche den Franzosen nichts verdankt, als den Gedanken,
man könne Glas wie Stahl härten, im Uebrigen aber seinen Weg selbst
gesucht und selbst gefunden hat. Die noch sonst in Deutschland hervorgetretenen
Miterfinder kamen Wochen und Monate später, nachdem die
Grundzüge der Bastie’schen Methode überall bekannt waren. Pieper, der
früher Ingenieur in den Krupp’schen Eisenwerken war, entnahm dort
gebräuchlichen Metallhärtungsmethoden die Idee seines Verfahrens. Fast
in allen deutschen Staaten reichte er lange vor de la Bastie Patentgesuche
und Beschreibungen ein, aber ein empfindlicher Mangel unserer
Gesetzgebung ließ ihn die Vortheile dieses Vorsprunges wieder
verlieren.
Er hat seitdem eine ganz neue Methode zur Glashärtung erfunden, über
welche ich der noch schwebenden Patentverhandlungen in außerdeutschen
Staaten wegen für jetzt keine Mittheilungen machen kann, die aber als
eine einer neuen Erfindung völlig gleichzuachtende Fortbildung
des älteren Verfahrens erscheint, sodaß, wenn sie sich in der
Praxis bewährt, auch in den Ländern, wo Bastie’s Patent in Gültigkeit
ist, nach Pieper’s Methode fabricirt werden darf, sobald dies thunlich,
werde ich mir erlauben, auf diese wichtige und interessante Methode
zurückzukommen, und den Gegenstand benützen, um zugleich die Frage der
Prioritätsrechte, das um neue Erfindungen sich drängende Treiben des
Industrie-Ritterthums und einige anerkannte Mängel unserer Patent-Gesetzgebung
zu erörtern. Der Verein der Glasindustriellen Deutschlands
hat übrigens seine Unterhandlungen mit de la Bastie nicht vollständig
abgebrochen, sondern ist zu der bei der Vervielfältigung der Glashärtungsmethoden gewiß praktischen Einrichtung übergangen, eine Concurrenz
zu eröffnen, nach welcher den Erfindern, je nachdem sich ihre Methoden
bewähren, und nach dem Umfange, in welchem nach denselben fabricirt
wird, ein vereinbarter Procentsatz gewährt werden soll. Bisher sind nur
Bastie und Pieper diesem Vertrage beigetreten.
Ein rügenswerther „Usus“. In klimatischen Curorten Südtirols
haben deutsche Landsleute die Erfahrung gemacht, daß die Wirthe für die
Betten, auf welchen ein kranker Badegast gestorben war, eine bedeutende
Summe forderten wenn die Hinterbliebenen dieselben behalten, und eine
wenig geringere, wenn sie solche zurücklassen wollten. In Gries bei Bozen
verlangte zum Beispiel ein Wirth für den ersteren Fall 100, für den zweiten
60 fl. österr. für Betten, die in ihrem damaligen Zustande kaum 30 fl. österr.
werth waren. Beim Abschluß der Miethe war von einer solchen „Entschädigung“
keine Silbe von Seiten des Wirthes gesagt worden und die Forderung
desselben geschah so spät, daß eine gerichtliche Hilfe nicht mehr möglich
war. Die Aeußerung des Wirthes: „Wenn der Kranke nicht auf den
Betten gestorben wäre, so hätten sie keinen Kreuzer zu bezahlen; so aber
kann ich die Betten nicht wieder benutzen und Sie müssen sie bezahlen.“
– diese Aeußerung muß bedenklich machen. Also nicht die Krankheit,
sondern nur der Tod macht die Betten ansteckend. Und wo ist denn die
Sicherheit, daß der nächste Gast nicht dieselben Betten benutzen und im
Unglücksfalle abermals „zur Entschädigung“ bezahlen muß? – In Eppan
verlangte ein Wirth sogar von einer abziehenden Kranken 50 fl. österr.
„Entschädigung“ und als er auf den „Usus“ verwiesen wurde, daß erst
der erfolgte Tod die Forderung rechtfertige, so begnügte er sich mit 10 fl.
Dagegen soll in einer ebenso schönen Gegend sogar das Neutapeziren des
Zimmers verlangt worden sein.
Gegen diese Uebervortheilungen stellt der Badegast sich nur entweder durch Feststellung dieses Punktes im Miethcontracte, oder dadurch sicher, daß er nur eigene, ob in der Nähe gekaufte oder mitgebrachte Betten benutzt. Diesen Rath giebt den Lesern der Gartenlaube Einer, welcher die Lehre sehr theuer mit seinem Gelde bezahlt hat.
B. in A. Die Sammlungen für das auf dem Eichplatze zu Jena zu errichtende Denkmal der deutschen Burschenschaft sind noch nicht geschlossen. Beiträge dazu nimmt Rechtsanwalt Dr. Robert Keil in Weimar an.
Der Einsender der titellosen Novelle (Briefwechsel zwischen Paul und Arthur) wird ersucht, seine Adresse anzugeben, da der begleitende Brief leider verloren gegangen. Die Erzählung ist zum Druck nicht geeignet.
Irma. Wie oft sollen wir noch wiederholen, das wir alle diese Mittel niemals empfehlen können?
H . . s. Ihre Anfrage nach einem Vermißten kann, abgesehen davon, daß wir derartige Gesuche jetzt überhaupt nur noch in den seltensten Fällen berücksichtigen können, schon darum keine Aufnahme finden, weil sie sowohl in der Fassung zu breit, wie auch dem Inhalte nach zu unwichtig ist.
- ↑ WS: S. Die Odtheorie und die Sensitiven.