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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1874
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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Quelle: commons
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[555]

No. 35.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Wir grüßen Euch, Ihr Todten!

(Zur Sedan-Feier)

Wenn der Frühling kommt gegangen
Blüthenreich vom Süden her,
Nah’n die Sänger auch, die lieben,
Die der Herbst uns fortgetrieben

5
In die Fremde – über’s Meer.


Nach der Heimath zieh’n sie wieder,
Hin nach Deutschland, froh geschaart;
Aber fern im fränk’schen Lande,
Am Loire- und Seinestrande

10
Rasten sie von langer Fahrt.


Ihre ersten Lieder singen
Sie an deutschen Gräbern dort.
Und der Heimath Stimme dringet,
Und ihr trautes Lied erklinget

15
Zu der Schläfer stillem Ort.


Und wenn nach des Sommers Freuden
Sie in neu verjüngter Schaar
Nach dem Süden müssen wieder,
Thun sie sich noch einmal nieder

20
An der Seine und Loire.


Dort, wo im Franzosenlande
Ruht manch’ Herz, manch’ deutsch’ Gemüth,
Wo auf theurer Gräber Höhen
Nur des Feldes Blumen stehen,

25
Singen sie ihr letztes Lied.


Wo im Walde die „Vermißten“
Schlafen heimlich – unerfragt,
Wird es laut von Vogelkehlen,
Die den Schläfern treu erzählen,

30
Wie daheim die Liebe klagt. –


Laßt sie schlafen! Ob den Todten
Keinen Kranz die Fremde flicht:
Alle Jahre wird mit süßen
Liedern sie die Heimath grüßen,

35
Und die Heimath stirbt ja nicht.




Gesprengte Fesseln.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


„Ich wollte, Eleonore, wir wären in der Villa Fiorina geblieben und hätten die Uebersiedelung hierher unterlassen,“ sagte der Consul Erlau, indem er vor seiner Pflegetochter stehen blieb, die er bei seinem unvermutheten Eintritte in ihr Zimmer in Thränen überrascht hatte. „Ich sehe, daß ich Dir doch damit allzuviel zugemuthet habe.“

Die junge Frau hatte rasch die Spuren des Weinens vertilgt und lächelte jetzt mit einer Ruhe, die einen Fremden wohl hätte täuschen können.

„Ich bitte Dich, lieber Onkel, quäle Dich doch nicht mit Besorgnissen meinetwegen! Wir sind Deinetwillen hier, und wir wollen Gott danken, wenn Deine Genesung, die im Süden so vielversprechend begann, sich hier vollendet.“

„Ich wollte aber doch, Doctor Conti säße an jedem andern Orte der Welt,“ versetzte der Consul ärgerlich, „nur nicht gerade in der Stadt, die wir um jeden Preis vermeiden wollten, und wo ich mich nun nothgedrungen seiner Behandlung unterwerfen muß. Armes Kind, ich wußte, daß Du mir ein Opfer brachtest mit dieser Reise; wie groß es ist, das lerne ich erst jetzt einsehen.“

„Es ist kein Opfer, wenigstens jetzt nicht mehr,“ sagte Ella fest. „Ich fürchtete nur die Möglichkeit einer ersten Begegnung. Nun ist diese überwunden und das Uebrige mit ihr.“

Erlau prüfte forschend und etwas argwöhnisch ihre Züge. „So! Warum hast Du denn geweint?“

„Onkel, man ist nicht immer Herr seiner Stimmung. Ich war eben niedergeschlagen.“

„Eleonore!“ Der Consul setzte sich neben sie und nahm ihre Hand in die seinige. „Du weißt, ich habe es nie verwinden können, daß jenes unselige Verhältniß gerade in meinem Hause seinen Anfang nahm, und es war meine einzige Genugthuung, daß dieses Haus Dir später eine Heimath bieten konnte. Ich hoffte, jetzt, wo Jahre dazwischen liegen, wo in Dir und um Dich nicht mehr als Alles sich geändert hat, würdest Du die einst empfangene Kränkung verschmerzt haben, und statt dessen muß ich sehen, daß sie unvermindert und unvergessen fortbrennt, daß alle alten Wunden wieder aufgerissen werden, daß Du –“

„Du irrst,“ unterbrach ihn die junge Frau hastig, „Du irrst gewiß. Ich – bin längst zu Ende mit der Vergangenheit.“

Erlau schüttelte ungläubig den Kopf. „Als ob Du es je zeigen würdest, wenn Du leidest! Ich weiß am besten, welch eine Verschlossenheit und Selbstbeherrschung unter diesen blonden Flechten steckt. Du hast mir oft mehr davon gezeigt, als Du vor Deinem zweiten Vater verantworten konntest, aber er sieht doch schärfer und tiefer als die Anderen, und ich sage Dir, [556] Eleonore, Du bist nicht wieder zu erkennen, seit jenem Tage, wo dieser – Rinaldo, ungeachtet aller Abweisungen, doch schließlich eine Unterredung mit Dir ertrotzte. Was eigentlich zwischen Euch Beiden vorgegangen ist, das weiß ich bis heute noch nicht; es hat schon Mühe genug gekostet, Dir das Geständniß zu entreißen, daß er überhaupt bei Dir war. Du bist nun einmal völlig unzugänglich in solchen Dingen, aber leugne es wie Du willst, seit der Stunde bist Du eine Andere geworden.“

„Es fiel durchaus nichts vor,“ beharrte Ella, „nichts von Bedeutung. Er verlangte das Kind zu sehen, und ich verweigerte es ihm.“

„Und wer steht Dir dafür, daß er den Versuch nicht wiederholt?“

„Reinhold? Da kennst Du ihn nicht! Ich habe ihn von meiner Schwelle gewiesen; jetzt betritt er sie sicher nicht zum zweiten Male. Er kannte von jeher Alles, nur das Eine nicht, sich zu demüthigen.“

„Wenigstens hatte er Tact genug, Mirando so bald wie möglich zu verlassen,“ sagte Erlau. „Diese Nähe wäre auch auf die Dauer nicht zu ertragen gewesen. Aber viel nützte uns seine Entfernung auch nicht, denn nun tauchte Marchese Tortoni auf, der Dir so ununterbrochen von seinem Freunde vorschwärmte, daß ich mich endlich genöthigt sah, ihm einen Wink zu geben, daß dieses Thema sich bei uns auch nicht der geringsten Sympathie erfreue.“

„Vielleicht thatest Du das zu deutlich,“ warf Ella leise hin. „Er hatte ja keine Ahnung davon, was er mit diesem Punkte berührte, und Deine schroffe Ablehnung desselben muß ihm nothwendig aufgefallen sein.“

„Meinetwegen! So soll er sich von seinem vielbewunderten Freunde den Commentar dazu geben lassen. Sollte ich es vielleicht dulden, daß Du eine stundenlange Verherrlichung Signor Rinaldo’s aushieltest? Freilich, hier sind wir nicht viel besser daran. Man kann ja keine Zeitung in die Hand nehmen, keinen Besuch empfangen, kein Gespräch führen, ohne auf diesen Namen zu stoßen; das dritte Wort ist Rinaldo. Er scheint es der ganzen Stadt angethan zu haben mit seinen Tönen und mit seiner neuen Oper, die man hier als eine Art Weltereigniß zu betrachten scheint. Armes Kind! und zu dem Allen mußt Du still halten, mußt es mit ansehen, wie dieser Mann in Siegen und Triumphen förmlich schwelgt, wie er den Gipfel des Glückes erstiegen hat und sich unangefochten dort behauptet.“

Die junge Frau stützte den Kopf in die Hand, so daß diese ihr Gesicht beschattete.

„Vielleicht täuschest Du Dich doch. Er mag berühmt und gefeiert sein wie kein Anderer, glücklich – ist er nicht.“

„Das freut mich,“ sagte der Consul heftig, „das freut mich ganz außerordentlich. Es gäbe auch kein Recht und keine Gerechtigkeit mehr in der Welt, wenn er es wäre. Und daß er Dich gesehen hat, so wie Du Dich jetzt zeigst, trägt hoffentlich auch nicht sehr zu seinem Glücke bei.“

Er war bei den letzten Worten aufgestanden und ging mit der alten Lebhaftigkeit im Zimmer auf und nieder. Es trat ein kurzes Stillschweigen ein, das Ella endlich unterbrach.

„Ich habe eine Bitte an Dich, lieber Onkel. Willst Du sie mir erfüllen?“

Erlau blieb stehen. „Gern, mein Kind. Du weißt, daß ich Dir so leicht nichts abschlage. Was wünschest Du?“

Ella hatte den Blick auf den Boden geheftet, und sie blickte auch nicht auf während des Sprechens.

„Es heißt, daß Rein – daß Rinaldo’s neuestes Werk übermorgen in Scene gehen soll“

„Ja wohl, und dann wird es vollends nicht mehr auszuhalten sein mit der Vergötterung,“ grollte Erlau. „Du wünschest dem ersten Lärm darüber zu entgehen? Ich begreife das vollkommen; wir wollen auf acht oder vierzehn Tage in das Gebirge fahren. So lange muß Doctor Conti mir Urlaub geben.“

„Im Gegentheil! Ich wollte Dich bitten – mit mir die Oper zu besuchen“

Der Consul blickte sie mit der Miene äußerster Befremdung an. „Wie, Eleonore? Ich habe wohl nicht recht gehört? Du willst an dem Tage in das Theater, das Du bisher entschieden geflohen hast, sobald der Name Rinaldo damit in Verbindung stand?“

Trotz der beschattenden Hand sah man es deutlich, wie die tiefe Röthe, die das Antlitz der jungen Frau färbte, bis zu den Schläfen emporstieg, als sie kaum hörbar erwiderte:

„Ich habe es nie gewagt, das Opernhaus daheim zu betreten, wenn seine Töne es beherrschten. War es mir doch immer, als müßten sich aller Augen auf mich richten und mich suchen, selbst im dunkelsten Hintergrunde unserer Loge. In Deinen Salons und in denen unserer Gesellschaftskreise hörte ich selten oder nie jene Compositionen. Man vermied sie, sobald ich zugegen war; man kannte ja das Geschehene und suchte mich in jeder Weise zu schonen. Ich habe es nie versucht, diesen Kreis schonender Rücksicht zu durchbrechen, den Ihr Alle um mich gezogen hattet, vielleicht war ich zu feig dazu, vielleicht auch verbittert. Jetzt,“ sie erhob sich plötzlich mit einer heftigen Bewegung und ihre Stimme gewann volle Festigkeit, „jetzt habe ich Reinhold wieder gesehen; jetzt will ich ihn auch in seinen Werken kennen lernen – ihn und sie.

Erlau blieb bei seinem Staunen; die Sache überraschte ihn augenscheinlich auf’s Höchste, aber man sah es deutlich, daß er nicht gewohnt war, seinem Lieblinge irgend etwas zu versagen, selbst wenn es ihm bedenklich erschien. Für den Augenblick jedoch wurde er einer directen Zusage enthoben, denn der Diener trat ein mit der Meldung, daß Doctor Conti soeben vorgefahren sei, und daß auch Herr Capitain Almbach sich im Empfangszimmer befinde.

„Dieser Capitain ist doch von einer beneidenswerthen Unbefangenheit,“ sagte der Consul. „Trotz allem, was zwischen Dir und seinem Bruder geschehen ist, macht er nach wie vor ganz ruhig sein Verwandtenrecht geltend, als wäre nicht das Geringste vorgefallen. Das kann auf der ganzen Welt auch nur Hugo Almbach fertig bekommen.“

„Siehst Du seine Besuche nicht gern?“ fragte Ella.

„Ich?“ Erlau lächelte. „Kind, Du weißt ja, daß er mich gerade so vollständig erobert hat, wie Jeden, den zu erobern er sich überhaupt vornimmt, vielleicht einzig meine Eleonore ausgenommen, vor der er einen ganz unglaublichen Respect zu hegen scheint.“

Damit nahm er den Arm seiner Pflegetochter und führte sie hinüber in das Empfangszimmer. Der ärztliche Besuch war nicht von langer Dauer und auch Hugo verließ nach einer halben Stunde bereits wieder das Erlau’sche Haus, das er allerdings öfter zu besuchen pflegte. Ob Reinhold davon wußte, ließ sich nicht entscheiden, jedenfalls vermuthete er es, aber es schien ein stillschweigendes Uebereinkommen zwischen den Brüdern zu sein, diesen Punkt nicht zu berühren. Es war nicht die Art des Capitains, sich in ein Vertrauen zu drängen, das ihm so hartnäckig und fortdauernd versagt wurde, und so folgte er denn dem Beispiele Reinhold’s, der über die Begegnung in der Locanda ein vollständiges Schweigen beobachtete, und den Namen seiner Frau und seines Kindes nicht mehr nannte, seit er wußte, daß sie sich in seiner Nähe befanden. Was sich eigentlich hinter dieser undurchdringlichen Verschlossenheit barg, das vermochte auch Hugo nicht zu enträthseln, aber er war überzeugt, daß es nicht der Gleichgültigkeit entstammte.

Der Capitain hatte die Wohnung seines Bruders erreicht und betrat jetzt sein eigenes Zimmer, wo er Jonas vorfand, der auf ihn zu warten schien. In dem Wesen des Matrosen lag heute entschieden etwas Ungewöhnliches; sein sonstiges Phlegma war einer gewissen Unruhe gewichen, mit der er wartete, bis sein Herr Hut und Handschuhe abgelegt und sich niedergelassen hatte. Kaum war dies geschehen, so kam er herbei und pflanzte sich dicht vor dem Stuhle des Capitains auf.

„Was giebt es denn, Jonas?“ fragte dieser, aufmerksam werdend. „Du stehst ja da, als beabsichtigtest Du eine Rede zu halten.“

„Das will ich auch,“ bestätigte Jonas, indem er sich halb feierlich, halb verlegen in volle Positur setzte.

„So? Das ist mir neu. Ich war bisher der Meinung, Du würdest eine äußerst schätzbare Acquisition für ein Trappistenkloster abgeben. Wenn aber angesichts all der classischen Erinnerungen hier der Rednergeist auch über Dich gekommen ist, so soll es mich freuen. Also beginne! Ich höre zu.“

[557] „Herr Capitain –“ Der Rednergeist des Matrosen schien doch nicht hinreichend entwickelt zu sein, denn über diese beiden Worte kam er vorläufig nicht hinaus, und anstatt fortzufahren, blickte er so beharrlich und angestrengt auf den Fußboden nieder, als wolle er die Mosaiksteine desselben zählen.

„Höre, Jonas, Du bist mir verdächtig,“ sagte Hugo nachdrücklich, „sehr verdächtig schon seit länger als acht Tagen. Du brummst nicht mehr; Du wirfst der Padrona und ihren Mägden nicht mehr wüthende Blicke zu; Du legst bisweilen Dein Gesicht in Falten, die man mit einiger Phantasie für den ersten schwachen Versuch eines Lächelns halten könnte – ich wiederhole Dir, daß das höchst bedenkliche Symptome sind, und daß ich mich auf Schreckliches gefaßt mache.“

Jonas schien gleichfalls einzusehen, daß er sich etwas klarer äußern müsse. Er nahm einen energischen Anlauf dazu und brachte wirklich einen halben Satz zu Stande. „Herr Capitain, es giebt Menschen –“

„Eine ganz unbestreitbare Thatsache, die ich nicht entfernt anzugreifen beabsichtige. Also ‚es giebt Menschen –‘ nun weiter.“

„Die die Frauenzimmer leiden mögen,“ fuhr Jonas fort.

„Und andere, die sie nicht leiden mögen,“ ergänzte der Capitain, als eine zweite Pause eintrat. „Gleichfalls ein unleugbares Factum, zu dem Capitain Hugo Almbach und Matrose Wilhelm Jonas von der Ellida die redenden Beispiele liefern.“

„Das wollte ich eigentlich nicht sagen,“ versetzte der Matrose, den diese eigenmächtige Fortsetzung seiner augenscheinlich einstudirten Rede ganz aus dem Concepte brachte. „Ich meinte nur, es giebt Menschen, die sich den Frauenzimmern gegenüber wer weiß wie schlimm anstellen, und es doch im Grunde gar nicht sind, weil sie sich nichts aus ihnen machen.“

„Ich glaube, das läuft auf eine höchst schmeichelhafte Illustration meiner eigenen Persönlichkeit hinaus,“ bemerkte Hugo. „Jetzt aber sage mir um Gotteswillen, was bezweckst Du eigentlich mit all diesen Vorreden?“

Jonas holte einige Male tief Athem; die nächsten Worte schienen ihm entsetzlich schwer zu werden. Endlich sagte er stockend:

„Herr Capitain, ich weiß ja doch am besten, wie Sie eigentlich sind, und – und – ich kenne ein junges Frauenzimmer.“

Um die Lippen des Capitains zuckte es wie mühsam unterdrücktes Lachen, aber er zwang sich, ernsthaft zu bleiben.

„Wirklich!“ sagte er kaltblütig. „Das ist bei Dir allerdings ein höchst merkwürdiges Ereigniß.“

„Und ich bringe sie Ihnen,“ fuhr Jonas fort.

Jetzt begann der Capitain überlaut zu lachen. „Jonas, ich glaube, Du bist nicht gescheit. Was zum Kukuk soll ich denn mit diesem jungen Frauenzimmer anfangen? Soll ich sie heirathen?“

„Sie sollen gar nichts mit ihr anfangen,“ erklärte der Matrose mit gekränkter Miene, „Sie sollen sie blos ansehen.“

„Ein sehr bescheidenes Vergnügen,“ spottete Hugo. „Wer ist denn eigentlich die betreffende Donna, und welche Nothwendigkeit bedingt dieses ‚Ansehen‘ meinerseits?“

„Es ist die kleine Annunziata, das Kammermädchen der Signora Biancona,“ berichtete Jonas, der jetzt endlich etwas in Redefluß kam. „Ein armes blutjunges Ding, ohne Vater und Mutter. Sie ist erst seit ein paar Monaten bei der Signora, und es ging ihr so soweit auch gut, aber da ist ein Mensch,“ der Matrose ballte im vollen Ingrimme die Fäuste, „Gianelli heißt er und ist Capellmeister; der geht dem armen kleinen Dinge auf Schritt und Tritt nach und läßt sie nicht in Ruhe. Sie hat ihn einmal derb abgefertigt, und dafür hat er sie bei der Signora verklatscht, und Signora ist seit der Zeit so unfreundlich und heftig zu ihr, daß sie es nicht mehr aushalten kann. In dem Hause sieht sie überhaupt nicht viel Gutes, und deshalb soll sie fort und muß sie fort, und ich leide es nicht, daß sie länger da bleibt.“

„Du scheinst ja über diese kleine Annunziata sehr genau unterrichtet zu sein,“ bemerkte Hugo trocken. „Sie ist doch Italienerin; hast Du all diese Details auf pantomimischem Wege erfahren?“

„Der Diener der Signora hat uns dann und wann ausgeholfen, wenn wir gar nicht fertig werden konnten,“ gestand Jonas ganz treuherzig. „Aber der spricht ein schauderhaftes Deutsch, und ich mag es auch nicht, daß er seine Nase in Alles steckt. Sie soll ohnedies fort von der ganzen Sippschaft; sie muß absolut in ein deutsches Haus.“

„Wegen der Moral,“ ergänzte Hugo.

„Ja, und dann auch wegen des Deutschlernens. Sie spricht ja kein einziges Wort Deutsch, und es ist ein wahrer Jammer, wenn man sich so gar nicht versteht. Da habe ich denn gedacht. – Sie gehen ja so oft zu dem Consul Erlau, Herr Capitain; die junge Frau Erlau könnte vielleicht ein Kammermädchen gebrauchen, und in solch einem reichen Haushalte kommt es ja gar nicht auf eine Person mehr oder weniger an –, wenn Sie ein gutes Wort für die Annunziata einlegten –“ er stockte und blickte seinen Herrn bittend an.

„Ich werde mit der Dame sprechen,“ sagte der Capitain, „und jedenfalls ist es besser, Du stellst Deinen Schützling erst dort vor, sobald ich eine bestimmte Zusage habe; ich werde ihn mir dann gleichfalls ansehen. Aber noch Eines, Jonas –“ er nahm eine feierliche Miene an – „ich setze voraus, daß Dich bei der ganzen Sache nichts weiter leitet, als nur das Mitleid mit dem armen verfolgten Kinde.“

„Nur das reine Mitleid, Herr Capitain,“ versicherte der Matrose mit einer so treuherzigen Offenheit, daß Hugo sich auf die Lippen biß, um nicht in ein erneutes Gelächter auszubrechen.

„Ich glaube wahrhaftig, er ist im Stande, sich das selbst einzubilden,“ murmelte er und setzte dann laut hinzu: „Es ist mir lieb, das zu hören. Ich war im Voraus überzeugt davon, denn nicht wahr, Jonas, wir heirathen nie?“

„Nein, Herr Capitain,“ antwortete der Matrose, aber die Antwort kam etwas kleinlaut heraus.

„Weil wir uns aus den Frauenzimmern gar nichts machen,“ fuhr Hugo mit unerschütterlichem Ernste fort. „Denn weiter als bis zum Mitleide und zur Dankbarkeit geht die Geschichte doch nie, dann segeln wir davon, und sie haben das Nachsehen.“

Diesmal gab der Matrose gar keine Antwort, aber er blickte seinen Herrn äußerst betroffen an.

„Und es ist auch ein wahres Glück, daß es so ist,“ schloß der Capitain mit vollem Nachdrucke. „Frauenzimmer auf unserer ‚Ellida‘! Gott bewahre uns davor!“

Damit ließ er ihn stehen und ging aus dem Zimmer. Jonas schaute ihm mit einer Miene nach, von der sich schwer entscheiden ließ, ob sie mehr verdutzt oder mehr trübselig war, endlich aber schien die letztere Empfindung vorzuherrschen, denn er ließ den Kopf hängen und stieß einen Seufzer aus, als er halblaut sagte:

„Ja freilich, sie ist auch ein Frauenzimmer – leider Gottes!“ –

Hugo war hinübergegangen in das Arbeitszimmer seines Bruders, den er allein fand. Der Flügel stand offen, Reinhold selbst aber lag auf dem Ruhebette ausgestreckt, den Kopf tief in die Kissen zurückgeworfen. Das Antlitz mit den halbgeschlossenen Augen und die hohe Stirn mit den dunkeln Haaren, die darüber hinfielen, sahen erschreckend bleich aus. Es war eine Stellung, nicht der Ruhe, sondern der grenzenlosesten Ermüdung und Erschöpfung, und er veränderte sie kaum beim Erscheinen seines Bruders.

„Reinhold, das ist doch wirklich unverantwortlich von Dir,“ sagte dieser herantretend. „Die halbe Stadt hast Du in Aufruhr gebracht mit Deiner Oper; im Theater geht es drunter und drüber; im Publicum kämpft man förmlich um die Billets. Eccellenza der Intendant weiß nicht mehr, wo ihm der Kopf steht, und Donna Beatrice ist in einer geradezu nervösen Aufregung. Und Du, der eigentliche Anstifter all dieses Unheils, träumst hier im dolce far niente, als ob es weder Oper noch Publicum noch sonst etwas auf der Welt gäbe.“

Reinhold wandte mit einer matten, gleichgültigen Bewegung den Kopf nach dem Eintretenden; man sah es seinem Gesichte an, daß sein Träumen eher alles Andere, nur nicht süß gewesen war.

„Du warst in der Probe?“ fragte er. „Hast Du Cesario gesehen?“

„Den Marchese? Allerdings, obgleich er so wenig in der Probe war wie ich. Er zog es diesmal vor, selbst eine Vorstellung in der höheren Reitkunst zu geben; ich habe seiner Bravour die höchste Bewunderung gezollt.“

[558] „Cesario? Wie so?“

„Nun, er ritt nicht weniger als drei Mal dieselbe Straße auf und nieder und ließ regelmäßig unter einem gewissen Balcon sein Pferd so unsinnig courbettiren, daß jeden Augenblick ein Unglück zu befürchten stand. Er wird sich den Hals brechen und seinem schönen Thiere dazu, wenn er das öfter probirt. Leider war diesmal meine ihm wohl nicht sehr wünschenswerthe Physiognomie die einzige, die er am Fenster erblickte.“

Der offenbar gereizte Ton dieser Worte machte Reinhold aufmerksam – er richtete sich zur Hälfte empor.

„An welchem Fenster?“

Hugo biß sich auf die Lippen; er hatte in seinem Aerger ganz vergessen, zu wem er sprach. Der Bruder bemerkte sein Zögern.

„Meintest Du vielleicht das Erlau’sche Haus?“ fragte er rasch. „Mir scheint, Du besuchst es ziemlich oft.“

„Wenigstens bisweilen,“ war die ruhige Entgegnung des Capitains. „Du weißt ja, ich habe dort von jeher den Vorzug der Neutralität genossen, selbst damals, als der Streit im Hause des Onkels am heftigsten entbrannt war. Ich habe diesen alten Vorzug auch hier geltend gemacht, und er wird stillschweigend von beiden Parteien anerkannt.“

Reinhold hatte sich vollends erhoben, aber die Abspannung war gänzlich aus seinen Zügen gewichen, statt dessen stand ein Ausdruck finsteren Forschens dort, als er sagte:

„Also Cesario hat gleichfalls Zutritt im Erlau’schen Hause? Freilich, Du stelltest ihn ja selbst vor.“

„Ja, ich war so – albern,“ fuhr der Capitain im vollsten Aerger heraus, „und etwas ganz Allerliebstes scheine ich damit angerichtet zu haben. Kaum hatten wir Mirando verlassen, als Don Cesario, der ‚sich nicht entschließen kann, seine Freiheit zu opfern‘, der an der einzigen Dame der Nachbarschaft vorüberreitet, ohne sie sich auch nur anzusehen, nichts Eiligeres zu thun hatte, als sich auf Grund jener Vorstellung in der Villa Fiorina angenehm zu machen, und das geschah, wie mir der Consul ganz offen erklärt, in einer so bescheidenen liebenswürdigen Weise, daß man ihn unmöglich zurückweisen konnte, um so weniger, als mit unserer Entfernung von Mirando der alleinige Grund der Zurückgezogenheit gefallen war. Nun hatte er auch noch das Glück, den Doctor Conti zu entdecken, der irgendwo in der Nähe von S. Villeggiatur hielt, und ihn dem Consul zuzuführen. Die Behandlung des Doctors hat einen Erfolg weit über Erwarten gehabt, und es fehlt nicht viel, so wird Don Cesario in der Familie als eine Art Lebensretter betrachtet, was er auch gehörig auszunutzen weiß. – Traue einer den Weiberfeinden! Sie sind die Allerschlimmsten, davon lieferte mir mein Jonas soeben erst ein redendes Beispiel. Der hat sich für den Augenblick zwar noch eine höchst wunderbare Mitleidstheorie zurecht gemacht, an die er so fest glaubt, wie an das Evangelium, aber nichtsdestoweniger hat es ihn rettungslos gepackt, und der aristokratische Marchese Tortoni ist genau auf demselben Punkte.“

Einem ruhigen Beobachter wäre es schwerlich entgangen, daß sich unter den Spottreden des Capitains, die sonst nur der Uebermuth dictirte, diesmal eine Bitterkeit barg, deren er mit all seinen Spöttereien nicht Herr zu werden vermochte, aber Reinhold war nichts weniger als ruhig. Er hatte zugehört, als wolle er dem Bruder jedes Wort von den Lippen ablesen, und bei der letzten Bemerkung desselben schreckte er wild auf.

„Auf welchem Punkte? Was willst Du damit sagen?“

Hugo trat betroffen einen Schritt zurück. „Mein Gott, Reinhold, wie kannst Du so auffahren! Ich meinte ja nur –“

„Es handelt sich doch um Ella?“ unterbrach ihn Reinhold mit der gleichen Heftigkeit. „Wem anders können denn diese Huldigungen gelten?“

„Allerdings, um Ella,“ sagte der Capitain; es war das erste Mal seit Monaten, daß dieser Name wieder zwischen ihnen ausgesprochen wurde. „Und eben deshalb kann und muß es Dir doch gleichgültig sein.“

So einfach die Bemerkung war, so schien sie Reinhold doch mit ungeahnter Schwere zu treffen. Er durchschritt einige Male hastig das Zimmer und blieb endlich vor seinem Bruder stehen.

„Cesario hat keine Ahnung der Wahrheit,“ sagte er gepreßt. „Er machte im Anfange auch gegen mich einige enthusiastische Bemerkungen; ich mag ihm wohl unwillkürlich verrathen haben, wie sehr sie mich peinigten, denn seitdem berührt er diesen Gegenstand nicht wieder.“

„Erlau scheint ihm einen ähnlichen Wink gegeben zu haben,“ bestätigte Hugo. „Er suchte mich darüber auszuforschen, ob und welche Beziehungen zwischen Dir und jener Familie beständen. Ich wich natürlich aus, aber er scheint durchaus nur eine frühere Feindschaft zwischen Dir und Erlau zu vermuthen.“

Reinhold sah finster vor sich nieder. „Diese Beziehungen werden wohl nicht allzu lange mehr Geheimniß bleiben können. Beatrice kennt sie bereits, und wie ich fürchte, durch eine sehr unlautere Quelle, von der kein Schweigen zu erwarten ist. Jedenfalls wird Cesario sie früher oder später erfahren müssen, nach dem, was Du mir soeben entdeckt hast. Er ist Schwärmer genug, so etwas ernst zu nehmen und sich mit ganzer Seele in eine hoffnungslose Leidenschaft zu vertiefen.“

Der Capitain lehnte mit verschränkten Armen am Flügel, auf seinem Antlitze lag eine leichte Blässe, und auch die Stimme verrieth ein leises Beben, als er erwiderte:

„Wer sagt Dir denn, daß sie hoffnungslos ist?“

„Hugo, das ist eine Beleidigung,“ brauste Reinhold auf. „Vergißt Du, daß Eleonore mein Weib ist?“

„Sie war es,“ sagte der Capitain, das Wort schwer betonend. „Du denkst wohl so wenig mehr daran, jetzt noch Rechte geltend zu machen, wie sie geneigt wäre, Dir dieselben zu gewähren.“

Reinhold verstummte. Er wußte am besten, mit welcher Entschiedenheit ihm auch der geringste Schein eines Rechtes versagt worden war.

„Ihr habt es Beide bei der bloßen Trennung bewenden lassen,“ fuhr Hugo fort, „ohne die gerichtliche Scheidung nachzusuchen. Du bedurftest ihrer nicht, und was Ella davon zurückhielt, begreife ich nur zu gut. In solchem Falle mußten endgültige Bestimmungen über den Verbleib des Kindes getroffen werden. Sie wußte, daß Du Deine Vaterrechte nie ganz opfern würdest, und zitterte vor dem Gedanken, Dir den Knaben auch nur zeitweise zu lassen. Dein stillschweigender Verzicht auf ihn war ihr genug; sie entsagte lieber jeder Genugthuung, um nur im ungestörten Besitze ihres Kindes zu bleiben.“

Reinhold stand da, wie vom Blitze getroffen. Die Gluth der Erregung, welche eben noch seine Stirn färbte, verschwand, er war wieder leichenblaß geworden, als er mit unterdrückter Stimme fragte:

„Und das – das, meinst Du, sei der alleinige Grund gewesen?“

„Wie ich Ella kenne, der einzige, der sie verhindern konnte, den Schritt, den Du begonnen hattest, nun auch ihrerseits zu vollenden.“

„Und Du glaubst – daß Cesario Hoffnung hat?“

„Ich weiß es nicht,“ sagte Hugo ernst. „Aber das wissen wir Beide, daß Ella’s Freiheit nichts im Wege steht, wenn sie wirklich gesonnen wäre, sie jetzt noch geltend zu machen. Du hast sie verlassen, hast sie jahrelang völlig aufgegeben, und die ganze Welt weiß, weshalb es geschah, und was Dich ihr dauernd fern hielt. Sie hat nicht allein das Gesetz, sondern auch die öffentliche Meinung auf ihrer Seite, und ich fürchte, diese würde Dich zwingen, ihr auch den Knaben zu lassen. Beatrice steht Deinem Vaterrechte zu furchtbar im Wege.“

„Du glaubst, daß Cesario Hoffnung hat?“ wiederholte Reinhold, aber diesmal klangen die Worte dumpf und drohend.

„Ich glaube, daß er sie liebt, leidenschaftlich liebt, und daß er früher oder später eine Werbung versuchen wird. Er wird dann allerdings erfahren, daß die vermeintliche Wittwe die Gattin seines Freundes war und noch jetzt dessen Namen trägt, ich zweifle aber, daß dies irgend einen Einfluß auf ihn übt, da auf Ella nicht der geringste Schatten fällt. Nur Eure Freundschaft dürfte einen unheilbaren Riß erhalten, aber damit ist es ohnedies zu Ende, sobald die Leidenschaft spricht. Bedenke das, Reinhold, und laß Dich zu keiner Unbesonnenheit fortreißen! Du sprengtest Deine Fesseln, um Dich frei zu machen. Du hast damit auch Eleonore frei gemacht – vielleicht für einen Anderen.“

Die Stimme des Capitains sank bei den letzten Worten, und [559] rasch, als wolle er eine heftige Bewegung unterdrücken oder verbergen, wandte er sich zum Gehen. Wenn ihm auch die Aufregung seines Bruders, den er jetzt allein ließ, nicht entgangen war, so ahnte er doch nicht entfernt, welchen Brand er mit seinen Worten in dessen Inneres warf.

Wenn Reinhold seiner Umgebung in der letzten Zeit fast nur noch Ermüdung und Gleichgültigkeit gezeigt hatte, wenn es ihn selbst oft überkam, wie ein Gefühl, als sei es nun zu Ende für ihn mit dem Leben und Lieben, diese Stunde bewies, daß es noch in ihm stürmen konnte mit der ganzen wilden Leidenschaftlichkeit, die den jungen Künstler einst den Heimathbanden entrissen hatte, und die Art, wie der Sturm entfesselt ward, verrieth, wenn nicht Anderen, doch ihm selber, was er bisher nicht wissen wollte, und was sich jetzt in schonungsloser Klarheit vor ihm enthüllte. Vor dem heißen Schmerze, der plötzlich in seinem Inneren aufflammte, sanken der Trotz und die Bitterkeit zusammen, mit denen er sich gegen die Frau waffnete, die es wagte, ihn fühlen zu lassen daß er sie einst schwer beleidigt hatte, und daß sie diese Beleidigung nun und nimmermehr verzieh. Aber wenn sein Stolz ihn lehrte, der Kälte und Gleichgültigkeit, der Unversöhnlichkeit mit Schroffheit zu begegnen, er hatte es doch nicht hindern können, daß, sobald das Bild seines Kindes vor ihm auftauchte, auch die Gestalt der Mutter an dessen Seite stand. Freilich war es nicht jene Ella mehr, die vor wenigen Monaten kaum noch einen Platz in seiner Erinnerung behauptete, sondern die Frau, die ihm einen so unbeugsamen Stolz, einen so energischen Willen und eine niegeahnte Gluth der Empfindung gezeigt, an jenem Abende, wo er zum ersten Male erkannte, was er frevelhaft aufgegeben und was er nun unwiederbringlich verloren hatte. Neben dem blonden Lockenkopfe des Kindes schwebte immer und immer das Antlitz mit den tiefblauen Augen, deren Strahl ihn gleichwohl so verachtend getroffen hatte. Er gestand sich selbst nicht, mit welcher Leidenschaft er an diesem Bilde hing, mit welcher

Der Kampf um die Beute.
Originalzeichnung von Guido Hammer.

[560] Sehnsucht er Stunden in diesen Erinnerungen verträumte; er gestand sich auch den Gedanken nicht, der unausgesprochen in seiner Seele lag, daß die Frau, welche noch immer seinen Namen trug, welche die Mutter seines Kindes war, trotz alledem und alledem ihm noch angehörte, und wenn er das Recht auf ihren Besitz verwirkt hatte, so durfte ihr wenigstens kein Anderer nahen.

Und nun mußte er hören, daß ein Anderer bereits die Hand nach dem Preise ausstreckte und Alles daran setzte, ihn zu erringen. Die Worte des Bruders deckten ihm schonungslos den Beweggrund auf, dem allein er es verdankte, daß Ella auf seine Flucht nicht mit dem Scheidungsantrage geantwortet hatte. Nur um des Kindes willen hieß sie noch seine Gattin, nicht weil noch eine Spur von Neigung für ihn in ihrem Inneren lebte. Und wenn sie nun endlich dennoch den einst vermiedenen Schritt that, wenn sie auch ihrerseits die Kette abstreifte, jetzt wo ein Cesario ihr die Hand bot, wer konnte sie hindern, wer durfte die Frau tadeln,[WS 1] die nach Jahren endlich in einer besseren, reineren Liebe Ersatz suchte für den Verrath, den der Gatte an ihr geübt? Die Gefahr lag nicht darin, daß Marchese Tortoni, der schön, reich und aus einem der edelsten Geschlechter das Ziel so mancher Bestrebungen war, seine Gemahlin zu einer glänzenden Stellung erheben konnte; das konnte höchstens bei Erlau in Betracht kommen, aber Reinhold wußte, daß Cesario mit seinem edlen und durchaus reinen Charakter, mit seinem glühenden Enthusiasmus für alles Schöne und Ideale, wohl auch das Herz einer Eleonore gewinnen konnte, ja gewinnen mußte, wenn dieses Herz noch frei war, und diese Ueberzeugung raubte ihm jede Fassung. Es hatte einst eine Stunde gegeben, wo die junge Frau verzweiflungsvoll an der Wiege ihres Kindes auf den Knieen lag, mit dem vernichtenden Bewußtsein, daß ihr Gatte in diesem Augenblicke sie, das Kind und die Heimath verließ, um einer Anderen willen – die Stunde rächte sich jetzt an dem, der sie verschuldet, rächte sich in den Worten, die wie mit Flammenschrift vor seiner Seele standen: „Du hast damit auch sie frei gemacht – vielleicht für einen Anderen.“

(Fortsetzung folgt.)




Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Von Guido Hammer.
Nr. 40. Eine Hundegeschichte.


In dem Bauergehöfte eines einsamen Haidedorfes hatte ich einen weißen, nur am Kopfe mäusegrau abgezeichneten echten dänischen Hetzhund, an Gestalt und Farbe ein wahres Juwel, ausgegattert. Gleich einem gemeinen Köter hing das edle Thier an der Kette – und die Sehnsucht nach ihm ließ mir keine Ruhe, bis ich den Prächtigen mein eigen nannte. Sicherlich stammte Nimrod – so hieß mein errungener Liebling – noch von den auserlesenen Meuten der jägerlichen Glanzperiode des sächsischen Hofes unter dem Kurfürsten, nachmaligen Könige Friedrich August ab. Deshalb war es auch mein Erstes, das herrliche Geschöpf nach dem Hauptsitze sächsischer Jägerei, nach Moritzburg, meinem Eldorado, zu geleiten, es dort der „grünen Farbe“ vorzuführen, speciell es einen mir besonders werthen Jägersmann, den meinen Lesern schon bekannten Oberförster, früheren Piqueur Probsthain, sehen und beurtheilen zu lassen.

„Ei, ei, Capitalhund, Capitalhund!“ war der erste freudige Ausruf des originellen Grünrockes, und, nachdem er die mächtige, unter meiner pflegenden Hand glänzend und schneeweiß gehaltene Dogge von allen Seiten auf’s Eingehendste betrachtet hatte, nickte er beifällig und äußerte sich weiter: „Ja, ja, unbedingt ein Nachkomme aus der kostbaren Meute der höchstseligen Königin; hatte lauter weiße, ja nur weiße Exemplare, und mit gerade solcher grauen Abzeichnung wie dieser. Kein Zweifel, kein Zweifel, ein Abkömmling davon, ja, ganz prächtiger Abkömmling davon. Na, müssen doch gleich einmal zusammen ’naus in den Thiergarten, sehen, wie sich der Bursche unter Sauen benimmt. Haben doch festes Zeug bei der Hand? damit das Satansthier beim Anblicke von Wild nicht etwa gar Halsband oder Leine sprengt; denn diese Sorte will gehalten sein. Wäre schöne Geschichte, schöne Geschichte, den Packan etwa auf einen Keiler loszulassen, denn wie der aussieht“ – dabei streichelte er den Hund schmunzelnd über den bildschönen Kopf „der möchte – hol’ mich der Teufel! – als Solofänger schon einen recht leidlichen Borstwisch abwürgen.“

Nun prüfte er selber noch auf’s Genaueste Halsband und Fangleine und fand Beides gediegen und fest genug, um jede Fährlichkeit ausschließen zu dürfen. In humpeliger Schnelle nahm darauf der alte gichtgeplagte und doch nimmer zu ermüdende Waidmann seinen Eichenstock mit der wuchtigen Augensprosse vom Flintenrechen herunter, um sofort mit mir hinaus nach dem Saugarten zu gehen, dort den Vielbelobten im Freien und unter Wild beobachten zu können. Draußen angekommen, glückte es uns auch recht bald, mehrere Sauen auf einem Bruch am Mittelteiche unter einer Jahrhunderte lang übergehaltenen gewaltigen Eiche die Mast heben zu sehen.

Nachdem ich darauf hin noch erst die Fangleine doppelt durch den Halsriemen meines noch nichts ahnenden Hundes gezogen und sie mir fest um die Faust gewunden, um den so Gefesselten ja in voller Gewalt behalten zu können, richtete ich nun sein Gesicht dem gar nicht sehr fernstehenden Schwarzwild zu, mit Spannung den Erfolg davon erwartend. Doch nur bittere Enttäuschung ward mir, denn so viel Mühe ich mir auch gab, den ganz gemüthlich Dareinschauenden durch Anhetzen in’s Feuer zu bringen – er schnappte dabei höchstens nach aufschwirrenden Grashüpfern, gerade wie ein recht miserabler, von Langeweile geplagter Bauernspitz. Ja, als ich endlich gar selber, mit dem Hunde an der Leine, gegen die Sauen vorsprang und diese nun vor uns in voller Flucht über den weiten, nassen Bruch trantschten, daß das Wasser nur so umherspritzte, rührte dies den Vielgepriesenen eben so wenig, wie wenn etwa Staare vor ihm aufgeflogen wären – er sandte den Flüchtigen nicht einmal einen verlangenden Blick nach. – Wie ward mir dabei, besonders da mein alter Waidgeselle darüber vor Lachen sich kaum zu fassen wußte und ihm dabei geradezu die Thränen an den wie von braunem Aufschlagstiefelleder überfalteten Wangen in den weiß und fuchsroth melirten starren Schnurrbart herabliefen! Dazu stampfte der so mächtig Erheiterte mit seiner Hirschhornkrücke in den Boden, als wollte er damit ein Loch durch die Erde arbeiten. Hätte ich im Augenblick eine Büchse zur Hand gehabt, sofort hätte ich meinen ausgearteten Hund erschossen – schon aus Aerger über den frohlockenden Jägersmann.

„Na, na,“ tröstete mich endlich dieser, nachdem er sich mit dem Aermelaufschlag seiner Piquesche die vor Lachen nassen und blutrothunterlaufenen Augen ausgewischt, „na, na, der Patron ist eben noch nicht dabei gewesen, kann deßhalb erst recht noch ein ganz braver, ja braver Hund werden.“ –

Beschämt zog ich diesen Tag mit der sich aufdringenden traurigen Ueberzeugung wieder heim, daß der Hund zu Jagdzwecken gänzlich unbrauchbar sei. Und so blieb mir denn nur der Trost, an dem nichtsnutzigen Stattlichen doch wenigstens einen in der That selten schönen Paradehund für die Stadt, wie ein vortreffliches Modell zu meinem Studium zu besitzen. Auch durfte ich dabei seiner vielen anderen guten Eigenschaften nicht vergessen – war das gute Thier ja doch geradezu unwiderstehlich in seiner geselligen Liebenswürdigkeit. Und wie selbstlos hingebend geberdete es sich, hatte es etwa einmal einen Jagdhieb erhalten! Wie wandte da der Bestrafte sein treuherziges Auge so bittend und schmeichelnd dem zornigen Blicke seines Herrn zu, um diesen zu besänftigen! Ja, wie freudig und schnell war dann von Beider Seite Alles vergessen! Wie manchen Schmatz setzte es dann für den eben erst empfangenen Peitschenschlag! Dann verstand es wiederum der darüber unendlich Fröhliche, durch ausgelassene Lust seinen Gebieter zu gleicher Stimmung zu zwingen, während das kluge, ja sinnige Geschöpf, sah es mich wirklich trauern, meinen Kummer gleichsam mit mir theilte und dann sichtlich vermied, durch ungebührliche [561] Lebhaftigkeit lästig zu fallen. Wohl aber kam er, der Vertrauliche, dann gern dicht an mich heran und steckte mir, wie tröstend, seine naßkalte Nase in die herabhängende Hand. Wahrlich, ein solcher feuchter Kuß von ihm und sein ehrlicher, liebeversichernder Blick dazu bot mir mehr Trost, als mancher menschliche nichtssagende Zuspruch. Darum wuchs unsere gegenseitige Zuneigung aber auch mit jedem Tage, und längst hatte ich deshalb den Mißmuth über seine Jagduntüchtigkeit verwunden – blieb er mir doch sonst der unentbehrliche liebe Begleiter bei meinen Waldausflügen ohne Büchse, geschahen diese nun zum Studium oder zur bloßen Erholung; immer aber war dann mein getreuer Nimrod bei mir.

So kam es denn eines schönen Tages wieder einmal, daß ich bei duftigfrischem Frühmorgen hinausschweifte in den weiten stillen Friedewald, inmitten dessen, gleich einer Perle, das vielgenannte Jagdschloß Moritzburg aus schilfumsäumten Weihern sich erhebt und wie ein tiefmelancholisch anklingendes Gedicht von vergangener Jägerpracht und -Poesie so eindringlich zu Herzen spricht. Kaum in dem weitestvorgeschobenen Thiergartentheile, „die Oberecke“ genannt, angekommen, hörte ich in ziemlicher Nähe von mir einen Schuß fallen. Donnerwetter! wie flog ich bei diesem Tone nach der Seite herum, von woher der scharfe Büchsenknall erdröhnt war und im Augenblicke auch ein leichtes blaues Pulverwölkchen aufstieg!

Schon glaubte ich einen Wilderer zu ertappen und nahm daher vorsichtig passende Deckung wahr, mich an den verdächtigen Ort hinanzuschleichen, wobei ich denn auch wirklich so unbemerkt und nah’ an die betreffende Stelle kam, daß ich, auch hier noch hinter Schilfkaupen und dichtem Erlengebüsch vortrefflich geborgen, gerade noch erspähen konnte, wie der Schütze eben mit dem Wiederladen seiner Büchse fertig war und nun vorwärts zu schreiten begann, bis er etwa auf achtzig Schritt hin am Boden zu suchen anfing, jedenfalls auf den Anschuß, hier Schnitthaare und Schweiß zu erspähen.

Längst aber hatte ich in dem Dahinschreitenden, schon an seinem charakteristischen Gange, einen forschen Vertreter der „grünen Farbe“, den jetzigen Jagdzeugmeister P., erkannt, den, wie sowohl von seinen Cameraden wie von allen Vorgesetzten anerkannt wurde, tüchtigsten Jäger des ganzen Reviers. Nur um zu sehen, ob es mir wohl möglich sei, diesen so gewiegten Schützen auch weiter unvermerkt anpürschen zu können, hatte ich mich vorläufig noch in meinem Verstecke gehalten, und mein lammfrommer Hund erschwerte mir dies auch nicht. Dann aber schauete ich von meinem Lugaus vorsichtig in’s Holz; von hier folgte ich dem inzwischen weitergegangenen, dabei sichtlich auf der Fährte seines wahrscheinlich angeschossenen Wildes eifrig fortsuchenden Waidmanne, wobei es mir auch wirklich gelang, diesem bis auf zwanzig Schritte heranzukommen, als nur leise ein dürres Reis unter meinem Fuße knisterte. Gleich als habe ihn eine Natter gestochen, fuhr hierbei der Beschlichene herum, wobei auch schon der Hahn seiner Büchse knackte. Als er aber in dem Störer mich erkannte, da freute er sich sichtlich darüber und nach biederem Händedruck theilte er mir mit, wie er soeben nach einem Rothspießer, auf den bis spätestens heute Abend die Lieferung laute, geschossen, dieser auch die Kugel habe, indem er brillant gezeichnet und vortrefflich schweiße und also gar nicht mehr weit kommen werde. Dennoch wolle er ihn, sollte er nicht gar schon in vorliegender Dickung verendet sein, krank werden lassen und nachher mit einem neuangekauften Schweißhunde, der auf dem Fasanengarten stehe, auf den Angeschossenen nachsuchen. Dazu aber kam ich ihm eben wie gerufen, indem er den erwähnten Hund holen konnte, während ich an Ort und Stelle zur Aufsicht blieb, damit der Spießer nicht doch noch etwa vorzeitig durch Holzleser – es war gerade „Haidetag“ – rege gemacht werde und so wohl gar noch eine langwierige Nachsuche verursache.

Bald war der jugendlich frische Jäger im Waldesdunkel meinem Blicke entschwunden, indessen ich die mir erst kürzlich ausgehordete Schonung, in welcher der Hirsch zu vermuthen war, nach allen Seiten hin fest im Auge behielt. In nicht allzulanger Frist kehrte der rasche Waidmann wieder, den geholten vierbeinigen Jagdgehülfen am Riemen. Unverweilt arbeiteten wir nun mit dem die Fährte von Anschüssen sogleich gut aufnehmenden „Hirschmann“ auf dieser fort, bis wir gar bald schon von Weitem, und zwar wider unsere Annahme noch außerhalb der Dickung, nach dem Steingrundteiche zu, unter alten flechtengrauen Fichten den bereits Verendeten liegen sahen. Natürlich ließen wir uns nun ruhig noch vom Hunde hingeleiten, der dann aber auch unter schmeichelndem und belobendem Zuspruch den frischen Schweiß am Ausschuß kosten durfte.

Bei dieser Gelegenheit führte ich denn, ohne eigentlichen Zweck, auch meine gute Hundeseele dicht an den Hirsch heran, aber auch hier blieb der Gemüthliche so ruhig wie vor einer umgestürzten Ofenbank stehen. Nach jägerlichem Brauche nahm ich aber dennoch mit der hohlen Hand etwas von dem dem Hirsche aus dem Geäße entquellenden Lungenschweiße auf und rieb davon meiner sanftmüthigen Schlafmütze in die Nase und auf die nicht eben blutlechzende Zunge. Unwillkürlich aber sog er den Duft des ungewohnten Saftes ein, wie er nicht minder denselben mit lebhaftem Ausdrucke des Wohlschmeckens zu lecken begann. Ja, nachdem er noch unmittelbar selber von dem vergossenen rothen Lebensstrome des Erlegten gekostet, ward er so „genossen“ darauf und es ging eine so auffällige Wandlung in meinem Nimrod vor, daß ich meine helle Freude daran hatte und ihn nun durch besonderes Zureden erst recht zu weiterem Schweißlecken anregte. Und wie umgewandelt wurde dabei der bisher für Wild so Unempfängliche.

Mit gierigem Auge, weit geöffneten Nasenflügeln und lechzender Zunge gab er sich nun dem ihn wahrhaft berauschenden Genusse hin, und trachtete diesem mit solcher an ihm ungewohnten Hastigkeit nach, daß ich in der That fürchtete, er möchte den Hirsch am Kopfe noch anschneiden; deshalb hob ich ihn, nicht ohne Mühe, davon ab, ließ ihn aber dafür noch einmal an der Schußwunde seine erwachte Blutgier kühlen. Hierbei kam es nun, daß der Schweißhund, der sich dadurch wohl in seinem Rechte gekränkt fühlen mochte, von Eifersucht angestachelt, zu knurren, ja sogar zu beißen anfing. Das war aber das Signal zu einer Scene, die durch meinen Hund verwirklicht zu sehen ich nimmer erwartet hätte.

In pantherhafter Schnelle sprang dieser nämlich im Augenblick auf den kühnen Angreifer ein, und ehe es Einer von uns hindern konnte, hatte der Wüthende auch schon diesen gepackt und schleuderte ihn rücklings gegen den Hirsch. Und nun stürzte er sich wie toll über seinen mannhaft sich wehrenden Gegner und würgte ihn mit furchtbaren Bissen an der Kehle, daß, noch ehe ich zuspringen konnte und den Rasenden an dem borstenaufgelaufenen Nacken zu fassen und von seinem Opfer wegzureißen vermochte, er diesem doch schon das starklederne Halsband durch und durch gebissen hatte, daß es gesprengt von ihm abfiel. Die schlimmsten Bisse hatte der Gurt aber doch von dem Unterliegenden abgehalten, weshalb denn, als wir Beide, mein Gefährte und ich, der zornschnaubenden Bestie endlich völlig Herr geworden, sein doch um so viel schwächerer Widerpart immerhin noch glimpflich genug aus dem Kampfe hervorging, ja, freilich durch unseren helfenden Eingriff, die Arena sogar behaupten konnte. Von Stund’ an aber war mein Hund ein anderer geworden – die in ihm tiefschlummernde wilde Natur war nach ihrem ersten, wahrhaft dämonischen Ausbruche nicht wieder zu dämpfen, und gern ließ ich ihm gewähren, hatte mich diese jäh aufsprühende Leidenschaft an ihm doch mit erquicklichster Genugthuung und lebendigster Hoffnung erfüllt. Aber auch meinem kernigen Hirschtödter leuchtete die Freude über den ganzen Vorfall aus den Augen, und angeregt von so naturwüchsigem Erlebniß trug mir der Wackere, den ich schon längst in mein Herz geschlossen, getrost an: ihn von heut’ an Bruder nennen zu wollen.

Aber nach alter guter Jägersitte sollte der neue Bund besiegelt werden, da ja gerade jetzt alle erforderlichen, nicht so leicht wiederkehrenden Bedingungen dazu vorhanden waren, denn nur in so jagdgerechter Umgebung von Wald, erlegtem Wild und Hunden gebot es der Brauch. Und so tauschten wir denn in Gottes freier, herrlicher Natur, gegenseitig auf dem erlegten Hirsch knieend und uns die Hände reichend, über der edlen Beute den Bruderkuß, dazu aus rechtem, echtem, schlichtem Jägerherzen ein treugemeintes Waidmanns Heil uns einander zujubelnd. – Ob das nicht eine frischere, lustigere und sicher auch weihevollere Art war, ein Freundschaftsbündniß zu schließen, als bei Bier- oder Weinstimmung? Ich wenigstens gedenke noch immer mit Stolz des damals geschlossenen und heute noch in fester Unverbrüchlichkeit bestehenden Gelöbnisses.

[562] So schloß der Tag der Erhebung meines Hundes, die auch bis an seinen Tod eine nachhaltige geblieben, indem der sonst so Harmlose – bei all’ seiner auch beibehaltenen Gutmüthigkeit – noch der leidenschaftlichste und geschickteste Saufänger geworden. Und so rechtfertigte das brave Thier doch noch den ersten Ausspruch des nun längst auf himmlischen Etat gesetzten alten Piqueurs: – „ein Capitalhund, ein Capitalhund“ – der er ja schließlich in jeder Beziehung war.




Schützenfestliche Charaktere und Typen.
Flüchtige Erinnerungen vom Eidgenössischen Freischießen in St. Gallen.


Es war am letzten Tage des eidgenössischen Schützenfestes zu St. Gallen. Ich saß nach beendetem Mittagsmahle in der Festhütte und hielt Siesta. Mein Tischnachbar, ein stämmiger Züricher, hatte mir fleißig zugetrunken, indem er, dem allgemeinen Zuge folgend, dem Festwein alle Ehre zukommen ließ. Begeisterte Hochs wollten kein Ende nehmen: die Weine, die auf den Altar des Vaterlandes niedergelegt wurden, fielen wie Tropfen auf heiße Steine, denn die Hitze war eine beunruhigende. Dazu kamen die geistigen Genüsse, einestheils im Anschauen des Festtroubles, anderntheils im Anhören der mitunter etwas langen Toaste und Vorträge der Musikcapelle – genug! meine fröhliche, weinselige Stimmung machte einer gewiß entschuldbaren Abgespanntheit Platz.

Mein Nachbar mußte mein verstecktes Gähnen bemerkt haben, denn er wandte sich zu mir mit den Worten: „Wenn es Ihnen angenehm ist, so machen wir einen Gang durch die Halle und ihre Anhängsel. Draußen ist die Luft nicht so drückend wie hier, wo die Temperatur die des menschlichen Blutes erreicht hat. Spazieren wir nach dem schattigen Schießstande, wo es recht einladend knallt! Dort werden Ihre Lebensgeister wach rumort.“

Ich war es zufrieden, und wir gingen nach der Schießhütte. Man gewöhnt sich bald an das ohrenbetäubende Knallen und zuckt nach einiger Zeit kaum mehr mit den Lidern, wenn ein Schuß fällt. Die Breite des langen Holzbaues wird durch eine Barriere in zwei Theile getrennt. Die den Scheiben zugekehrte Gangseite ist für die Schützen; es befinden sich dort die Schießstände, in welchen sich Büchsenmacher und Schützen tummeln. Die zweite Abtheilung ist der neugierigen Zuschauermenge eingeräumt, und hier schlenderte ich mit meinem Tischnachbar die Planken entlang.

„Beobachten wir die Schützen bei ihrer Arbeit!“ sagte mein Begleiter. „Sehen wir uns die schützenfestlichen Charaktere und Typen im Schießstande an – ich wette, daß es sich der Mühe verlohnt und uns manche originelle Gestalt begegnet. Sehen Sie jenen kleinen schmächtigen Burschen mit dem schwarzen Krauskopf?“

„Sie meinen in Nr. 722?“

„Ja, es stehen vier Schützen im Stande. Sie schießen der Reihe nach. Jetzt kommt der Kleine daran; er scheint ein Student zu sein, vielleicht ein Schüler des Polytechnikums. Paff! da kracht er los. Was traf er? Strecken wir die Hälse, wie es Alle thun, die uns umstehen. Ein Fehlschuß.“

Der Student legte seinen Stutzen auf den Brettertisch und machte einem andern Schützen Platz. Nach kurzer Zeit kam wieder die Reihe an ihn. Er schoß abermals fehl.

„Den jungen Mann ‚verließ das Glück‘, wie Max im Freischütz singt. Und doch besitzt er gegen siebenzig Nummern,“ sagte ich zu meinem Begleiter.

„Freilich,“ war die Antwort, „aber er brauchte dazu mehr als fünfhundert Schüsse, wie mir vorhin der Büchsenmacher mittheilte. Ist er fleißig, so kann er’s in weitern fünfhundert bis zu hundert Nummern bringen, dann erhält er einen silbernen Becher –“

„Im Werthe von fünfzig Gulden. Das ist ein theurer Becher.“

„Was thut’s? Der Papa hat Geld; dafür kommt der Name des Söhnleins in alle schweizer Blätter und Blättchen. Der Pokal wird ihn das Dreifache seines Werthes kosten, wenn nicht mehr. Beim ‚Becherverschwellen‘, wo der Becher meist mit Champagner zu seinem nassen Zwecke geweiht wird, rollen die Napoleons mit märchenhafter Eile davon. Doch gehen wir weiter, und wenden wir uns vom Anfänger zum ausgelernten Schützen. Halt, dort haben wir ihn! Standnummer 110! Ich meine jenes alte Männchen mit der verschnupften Physiognomie, dem kleinen Käppchen auf den noch schwarzen Haaren und dem grauen Lüstrerock mit Messingknöpfen. Es ist ein Schütze vom alten Schlage und aus jener Zeit, da noch der Standstutzen mit seinem haarscharfen Visire und Vergrößerungsglase florirte. Es ist gut, daß jene für praktische Bedürfnisse ganz unbrauchbare Waffe durch den zeitgemäßen Feldstutzen und das Infanteriegewehr ersetzt wurde. Das Männchen ist ein alter Standschütze und, der Sprache nach zu urtheilen, ein Appenzeller aus dem glaubenseinheitlichen Inner-Rhoden. Sehen Sie nur, wie er die vom Büchser gemiethete Waffe von allen Seiten betrachtet! Der Feldstutzen ist ihm eine ungewohnte Waffe, und er scheint ihr nicht recht zu trauen. Wie er ihn bedächtig auf dem linken Arme wiegt, um die Schwere zu prüfen! Und immer spielt jenes boshafte Lächeln um seinen Mund, als sagte er: ‚Wartet nur, Ihr jungen Herren! Ich will Euch zeigen, was Trumpf ist.‘ Er will beweisen, daß das alte Schützenwesen am Stande trotz seiner possenhaften Schießkunstgriffe nicht verdiente, einfach beseitigt zu werden.“

„Sehen Sie, er überläßt das Geschäft des Ladens nicht dem Büchsenmeister, sondern besorgt es selbst.“

„Weil er es für das Wichtigste hält,“ meinte mein Begleiter und schüttelte sich vor Lachen.

„Was murmelt er im Laden vor sich hin?“

„Alle Wetter! Er segnet die Kugel. Jetzt setzt er den Stutzen in die Schulter – er murmelt weiter – nun verstehe ich Einzelnes. … Ah, er betet ein Paternoster.“

„Ei, mir war schon ganz wolfschlüchtig zu Muthe. Kaspar ruft:

‚Schütze, der im Dunkeln wacht –
Samiel! – Samiel! – Hab’ Acht! –
Steh’ mir bei in dieser Nacht,
Bis der Zauber ist vollbracht! –
Salbe mir so Kraut, als Blei,
Segn’ es – sieben – neun und drei,
Daß die Kugel tüchtig sei!‘“

Der Alte hatte unterdessen das Gewehr angesetzt und beugte sich etwas nach vorn, das rechte Auge unbeweglich über das Visir nach dem Ziele gerichtet. Links und rechts knallten die Stutzen, aber das Männlein rührte sich nicht. Da krachte der Schuß – athemlose Pause. Er hat das Schwarze getroffen, aber am äußersten Rande. Der Büchsenmeister gratulirte ihm; er aber legt unzufrieden den Stutzen hin und verschwindet in der Menge.

„Guter Alter,“ sagte mein Begleiter, „Deine Zeit ist vorbei; aber sie ist schön gewesen. Drum gieb Dich zufrieden und freue Dich an der Kunst der Jungen, welche ohne die Standschützen jetzt kein solches Fest hätten und nicht so trefflich schießen könnten. Und nun zu einem modernen Meisterschützen!“

Als wir uns durch das Gedränge Bahn brechen wollten, kam uns ein Schütze in die Quere, der statt seiner Gewinnstnummern ein großes Plakat am Hute trug. Mein Mentor, der ihn zu kennen schien, hielt ihn an, und ich las folgendes Herzensplakat: „Dieser Schütze wünscht auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege noch vor Ende des Festes eine junge Lebensgefährtin zu finden. Schönheit und Tugend werden Reichthum vorgezogen (??). Anonymität unstatthaft. Discretion garantirt.“

Ich fragte den Heirathslustigen, ob er mit den Resultaten seines Herzens ebenso zufrieden sei, wie mit denjenigen seiner Schützenkunst. Letzteres beantworten der Spaßvogel, indem er auf ein großes Becherfutteral wies, das er unter dem Arme trug; zum ersten Punkte dagegen lachte er pfiffig, blinzelte schelmisch mit einem Auge und gab mir einen freundlichen Rippenstoß.

Ein Meisterschütze war bald gefunden. Wo viele Zuschauer sind, muß der Schütze gut sein, heißt die Regel. Unser Mann war ein baumhoher Aargauer, dem noch drei Schüsse zur hundertsten [563] Nummer fehlten. Wohlgemerkt: drei Schüsse, denn bei ihm ist Schuß und Nummer gleichbedeutend. Er hatte sich von den zwei Collegen, welche abwechselnd mit ihm in die gleiche Scheibe schossen, die Gefälligkeit erbeten, die noch fehlenden drei Nummern nach einander herauszuschießen, ohne abzusetzen. Wir kamen eben zu seinem Stand, wie er das Patronenlager seines Vetterli-Repetirers mit drei Patronen beschwerte. Dann faßte er den Hebel an, hob und senkte ihn flink, – die Feder war gespannt, die Waffe schußbereit.

„Das ist ein Scharfschütz’,“ raunte mir ein Knabe zu, „und der macht es, wie ’s im Exercir-Reglement steht.“

Der Aargauer näherte sich der Brüstung und warf einen flüchtigen Blick auf die Scheibe. Hierauf setzte er das Gewehr in die Schulter ein, nachdem er dasselbe durch kurzes stoßartiges Ausstrecken des linken Armes in horizontale Lage gebracht hatte. Dann senkte er den Kopf ungezwungen gegen den Kolben und richtete das Auge nach dem Ziele. Deutlich sah ich, wie er darauf den Abzug mit dem zweiten Gelenk des Zeigefingers berührte – die Mündung ruhig erhob, bis das Korn in die Visirlinie fiel – der Zeigefinger machte eine drehende, kaum bemerkbare Bewegung nach links und drückte ab – Paff! – Er blieb in derselben Stellung eine, zwei Secunden; das Auge unverwandt auf’s Ziel geheftet, schien den Lauf der Kugel zu verfolgen. Getroffen! Der Schuß stak tief im Schwarzen. Die Scheibe versank und machte der neuen Platz. Der Aargauer erfaßte den Hebel am Schloßblatt wieder – klipp, klapp – die leere Patronenhülse flog aus dem Magazin nach rückwärts, das Gewehr war geladen – paff! – entladen. – Im Schwarzen, Nummer Zwei! Klipp, klapp – paff! – Die letzte Nummer ist herausgeschossen, das Hundert voll, der Becher gewonnen!

Jetzt sah sich der glückliche Schütze von allen Seiten umringt, und Bekannte und Unbekannte beeilten sich, ihm mit derbem Handschlag zu gratuliren. Ein vielstimmiges „Hoch!“ ertönte. Der Büchsenmacher konnte sich vor Freude kaum fassen und schrie:

„Hoch der Canton Aargau! Das ist doch der flotteste Canton. Wären Sie nur früher gekommen, aber am letzten Tag, das ist nüt (nichts).“

Er versichert, in „lumpigen“ zwei Stunden habe sein Aargauer seinem Stande die Ehre angethan und hundert Nummern „useklöpft“ (herausgeknallt).

Unterdessen hatte sich die Zuschauermenge immer vergrößert, da faßte der Büchsenmeister den siegreichen Aargauer beim Arme und machte sich und ihm Bahn. Unter Jauchzern und Jodlern ging’s zum Gabentempel, und die Menge folgte den Beiden.

„Kommen Sie! Wie gehen auch zum Verschwellen,“ sagte mein Begleiter zu mir. „Sie lernen da das herrliche Schweizer Nationalfest von einer seiner volksthümlichsten Seiten kennen und sehen, ‚wie leicht sich’s leben läßt‘ in des Wortes eigenster Bedeutung.“

Der Zug war am Gabentempel angekommen und hatte vor der Freitreppe Halt gemacht. Der Bechergewinner erstieg diese, und der Pokal ward ihm von Comitémitgliedern überreicht, deren Präsident einen riesigen Becher in der Hand hielt. Der Aargauer ward beglückwünscht; die Pokale kreisten, und die Menge ließ den „glücklichen Schütz us em Aargäu“ hochleben.

Unterdessen hatte sich eine Musikbande eingefunden, welche eben beginnen wollte, die schweizerische Nationalhymne: „Rufst du, mein Vaterland“ – zu spielen, doch der durstige Büchsenmacher, dem die ganze Procedur des Becherholens im Vergleich zum Verschwellen viel zu lange dauerte, herrschte ein „Nüt da! ’s wird nüd blasen!“ Der Aargauer aber, gerade im Begriffe, sich seines Bechers durch fleißiges An-den-Mund-führen zu freuen, wurde von vier wuchtigen Fäusten ergriffen, und im Nu sah er sich hoch oben auf dem Sitz zweier Schultern. Wie er auf diese Weise allem Volke sichtbar wurde, donnerte ein lang anhaltender Beifallsjubel zu ihm empor, der erst durch die Klänge eines Marsches unterbrochen ward, den die Musikbande doch für gut fand zu intoniren. So ging’s zur Festhütte: die Musiker voraus, hinter ihnen der Aargauer auf luftigem Sitz, und dann einige fünfzig Männer, rottenweise einhermarschirend, die ich so naiv war, für sehr intime Freunde und Bekannte des Bechergewinners zu halten.

„Der glückliche Schütze kennt keine zehn Mann seines stattlichen Gefolges,“ belehrte mich mein Begleiter. „Aber Alle, Alle werden beim Verschwellen mittrinken, Alle! Sehen Sie,“ fuhr er fort, indem er auf einen kleinen Mann zeigte, welcher jauchzend dem Musikcorps voraustänzelte, „sehen Sie jenen Riesen Goliath, der so übermächtige Sprünge macht und dazu jodelt, daß es eine Freude ist?“

„Gewiß ein Verwandter oder wenigstens ein sehr guter Freund oder Schulcamerad des Verschwellers, denn das Männchen scheint am gewonnenen Becher mehr Freude zu empfinden, als sein Besitzer.“

„Weit gefehlt! Der Knirps sieht den glücklichen Treffer heute zum ersten Mal und kommt vielleicht sein Lebtag nimmer mit ihm zusammen. Es ist ein Parasit, – aber einer von den weniger gefährlichen.“

„Sie sprachen von Gefährlichkeit?“ fragte ich erstaunt und überzeugte mich von der Anwesenheit meiner Börse.

„Ja wohl, aber nicht wie Sie meinen. Er wird durch seinen Durst, dessen vollkommenste Stillung ihm gar nichts kosten soll, dafür sorgen, daß nicht nur die Silberlinge, sondern auch die Goldfüchse des Verschwellers rasenden Reißaus nehmen. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen vorerst zwei Parasiten untergeordneteren Ranges zeige. Jene zwei untersetzten Burschen, welche den Schützen auf ihren Schultern tragen, meine ich. Sie würden den Namen desselben nicht einmal wissen, wäre er nicht vorhin am Gabentempel ausgerufen worden. Sie machen sich ein Gewerbe aus dem enthusiastischen Ergreifen und Tragen der Verschweller; dafür dürfen sie nachher den Becher einweihen helfen. Ich habe übrigens Beide im Verdacht, Dienstmänner von Profession, aber in vorübergehendem Civil zu sein.“

„Jeder Arbeit ihren Lohn! Sie verdienen ihn, denn bei dieser Hitze einen solchen rhodischen Coloß zu tragen, der zudem eine Karlsbader- oder Bantingcur benöthigt, ist eine Herculesarbeit. Wie macht sich aber der Vortänzer nützlich, den wir vorhin beobachtet?“

„Durch Erweckung einer fröhlichen Stimmung beim Verschwellen. Er ist der privilegirte Witzbold. Freilich muthen Einen hier und da seine Scherze wie alte Bekannte an aus verschollenen Nummern der ‚Fliegenden Blätter‘ oder des ‚Postheiri‘, des Schweizer Kladderadatsch, aber sie finden dennoch ein sehr empfängliches Publicum. Auch passen auf viele seiner Witze die Epitheta von Schulrath Wantrup ‚Reinlich und zweifelsohne‘ unter keiner Bedingung, und sie sind daher blos für intimere Kreise berechnet. Zudem wollen böse Zungen behaupten, seine Späße kehrten stereotyp bei jeder Verschwellung wieder, so daß ein mehrfacher Bechergewinner das Vergnügen habe, dieselben Scherze mehrfach anzuhören. Sei dem wie ihm wolle, es ist Pflicht jedes Zuhörers, sie stets auf’s Neue nicht nur zu belächeln, sondern auch mit stürmischer Heiterkeit zu begleiten.“

„Und ein Gefährlicher im Superlativ?“ fragte ich.

„Ist jener stämmige junge Mann mit dem Knotenstocke. Nicht genug, daß er, ohne den Aargauer zu kennen, mit ihm Verschwellen geht, nein, er ruft auch noch seine eigenen und, wie es scheint, ungemein zahlreichen Freunde, die er in Sicht bekommt. Jeden, der seiner Einladung zum Mitverschwellen Folge leistet, ergreift er jubelnd am Arme. Sehen Sie, schon hat er ein volles Dutzend recrutirt, Bursche mit einem Heidendurste und einer merkwürdig weiten Kehle, und nun marschiren Alle in Reih’ und Glied auf. Wehe dem Sieger! Und doch kann man all’ diesen unverschämten, aber gutmüthigen und kreuzfidelen Parasiten nicht böse sein, denn

Es ist nur einmal all’ zwei Jahr,
Nur einmal Schützenfest.“

Unterdessen war der Zug in der Festhütte angekommen. Der Aargauer wurde auf den Tisch gesetzt. Schaarenweise eilten die Kellner mit vorschriftsmäßiger Serviette im Knopfloche hin und her, ab und zu. Ein Beifallssturm raste zur Begrüßung des Bechergewinners durch die geräumige Halle, und die Menge, welche bisher zechend an ihren Plätzen gesessen hatte, eilte über Tische und Bänke, um den Verschweller in der Nähe zu sehen. Ganze Körbe mit Flaschen wurden hergebracht. Jetzt ging die Becherverschwellung an, indem zu den schrillen Tönen der Kindermords-Mazurka aus „Troubadour“ Becher, Humpen und [564] Gläser gefüllt und mit brausendem Hoch auf das Vaterland und den glücklichen Schützen pflichtschuldigst bis auf die Nagelprobe geleert wurden. Sodann ging der gewonnene Pokal von Mund zu Mund. Der Hauptparasit stimmte schließlich einen zur Situation nicht ganz passenden Cantus – „Wer hat dich, du schöner Wald“ – an, und seine auf eigene Gefahr – aber nicht Rechnung! – eingeladenen Freunde secundirten nach Kräften. Der kleine Vortänzer war mittlerweile auf einen Tisch gestiegen, von welchem herab er allerlei kleine Spaße machte. Bald gab er Räthsel auf, bald hielt er einen Sermon in allen möglichen Dialekten des Schweizerlandes, bald copirte er einen verstimmten Leierkasten oder eine Dudelsackpfeife, bald tanzte er einen Hopser, bald krähte er wie ein Hahn. Als aber der Pokal an ihn kam, setzte er ihn an, leerte ihn, ließ wieder füllen, trank wieder bis auf die Neige und so „mit Grazie in infinitum.“ Der sieggekrönte Schütze sieht jedoch der Unendlichkeit dieses parasitischen Durstes mit gemischten Gefühlen zu, und

Die Augen gingen ihm über,
So oft trank Der daraus.

„Dort ist Mani, der Berner Mutz, das Wappenthier von Bern“ sagte mein Cicerone, als wir weiter gingen. Ein zottiger Bär, die Hellebarde in den Tatzen, humpelte hin und her. Bald verlor er sich in dem Menschenstrome, der von dem Schießstande her in die Halle strömte, denn eben kündigten Kanonenschüsse an, daß das eidgenössische Fest sein Ende erreicht habe. Mani marschirte bald gravitätisch an uns wieder vorbei.

„Bei dem schönen Geschlechte ist der Berner Bär übel angeschrieben,“ versetzte mein Begleiter. „Sehen Sie denn nicht, wie sich die Damen vor ihm verbergen? Sie fürchten, er möchte mit ihnen den ‚Niedlichen‘ oder den ‚angenehmen Schwerenöther‘ – wie man am Rheine sagt – spielen, und sie lieben seine offenkundigen Galanterien nicht sonderlich, mag auch noch so ein hübscher Kerl in seinem Pelze stecken.“

Er hatte kaum ausgesprochen, als der Berner Mutz ein ahnungsloses Bauernmädchen in kleidsamer Schwyzertracht erwischte und in bärenhaft täppischer Weise unter vergnügtem Brummen umarmte. Das arme Ding suchte mit feuerrothen Wangen sich seinen Liebkosungen zu entziehen, „jüngferlich kreischend“, wie es in Voß’ „Louise“ heißt.

Dann humpelte der schlimme Mutz weiter und verschwand in der Menschenmenge, um jedoch gleich darauf wieder sichtbar zu werden – auf der Rednerbühne! Der freche Geselle wird doch keine Rede halten wollen? Doch nein! er führte blos zum rauschenden Strauß-Walzer „An der schönen blauen Donau“ den dazu gehörigen Bärentanz aus. Homerisches Gelächter ertönte von allen Seiten, als man ihn bemerkte, denn der Petz ist der Liebling aller Festbesucher, wegen seines prächtigen Humors, den er selbst bei dreißig Grad Réaumur im Schatten und in seiner schweren Haut nicht verliert. Und als die Musik schwieg, da hielt auch das heraldische Thier von Bern im Tanzen inne und zeigte mahnend mit plumper Tatze auf das an der Tribüne befindliche weiße Schweizerkreuz im rothen Feld. Das beweist, daß hinter dem zottigen Felle ein vaterländisch fühlendes Herz schlägt, denn es soll ein In hoc signo vinces! (in diesem Zeichen wirst Du siegen!) sein, eine Mahnung an alle Schweizer, sich an’s Vaterland anzuschließen, und allezeit das Banner politischer und religiöser Freiheit aufrecht zu halten.

Eben verhallte der letzte Kanonenschuß. Das eidgenössische Freischießen zu St. Gallen war zu Ende, eine erhebende Feier, ein wirkliches Volksfest in einem glücklichen Lande.

Z.




Epische Briefe.


Von Wilhelm Jordan.
II.


Am Schluß meines ersten Briefes versprach ich, Sie einzuführen in die Werkstatt des Epos.

Wo haben wir dieselbe zu suchen? Wo wächst und bricht der Marmor, aus welchem die epische Kunst ihre Gebilde meißelt? Wo können wir sie bei der Arbeit belauschen und sehn, mit welchen Mitteln, unter welchen Bedingungen, nach welchen Regeln sie schafft und zu welcher Verwendung sie bestrebt ist ihr Kunstwerk geeignet zu machen?

Beginnen wir mit der letzten dieser Fragen.

Jedes Kunstwerk hat die Bestimmung, durch die Sinne erfreulich zu wirken auf das Menschengemüth, genossen zu werden mit den Augen, den Ohren oder mit beiden zugleich; denn den Leistungen des Kochs und des Parfumeurs wird außer ihnen selbst Niemand geneigt sein, schon den Rang von Kunstwerken zuzugestehen. Auch die Leistungen vermittelst der Sprache sind Kunstleistungen, wenn ihre Anordnung die richtige und schöne Entfaltung einer Grundidee ist und die Rede, Erzählung oder Schrift in der Einbildungskraft des Hörers oder Lesers eine harmonische und anschauliche Gesammtvorstellung hervorbringt.

Diese Sprachkunst wird zur Poesie, wenn die Laute, welche Begriffe, Vorstellungen, Empfindungen und Anschauungen mittheilen, zugleich Musik machen, und diese Musik eine ähnliche Stimmung weckt, wie der mitgetheilte Inhalt. Diese Musik der Sprachkunst kommt zu Stande durch die Anordnung der Laute nach Regeln des Wohlklanges, durch Assonanz, Reim oder Stabreim, durch melodische Führung der Vocalisation und anmuthende Vertheilung ihrer Klangfarben.

Poesie ist also darstellende Sprachmusik.

Sie hat drei Gattungen, zwei unselbstständige, welche ihre Bestimmung nur in Verbindung mit anderen Künsten erfüllen können, und eine selbstständige und deshalb höchste, weil in ihr die Sprachkunst und ihre unzertrennliche Zwillingsschwester, die Sprechkunst, die sinnliche Verwirklichung des Kunstwerkes allein und ganz besorgen können.

Die erste dieser Gattungen ist die lyrische Poesie. Ihr echtes Kunstwerk ist das Lied, von dem der Poet als solcher nur einen Haupttheil, den Text, erzeugt. Um in seine volle Kunstexistenz zu treten, bedarf es noch des Componisten, der eine Weise dazu setzt, und des Sängers, der es mit dieser ausführt. Was die Lyrik sonst noch an sogenannten Gedichten hervorbringt, sind sammt und sonders Zwitter- und Bastardgebilde, welche an die Kunst mehr oder minder streifen, ohne ihre Bedingungen jemals rein zu erfüllen.

Die zweite Gattung ist die dramatische, in welcher die Dichtung nur durch eine ganze Reihe helfender Künste und Handwerksverrichtungen ihrer Bestimmung gemäß ausgeführt werden kann; nämlich durch die Darstellungskunst des Schauspielers, Costümkunde und Schneiderarbeit, durch den Decorationsmaler, den Maschinisten, den Lichtordner u. a. m. Ihr durchaus falscher, obwohl so ziemlich in allen Literaturgeschichten und Poetiken besiegelter Anspruch, die höchste der poetischen Gattungen zu sein, wird uns in einem späteren Briefe beschäftigen.

Die dritte und allein selbstständige Gattung, welche die beiden vorigen insofern einschließt, als auch sie sowohl Empfindungen und Stimmungen mitzutheilen, als auch Handlungen darzustellen hat, ist die epische.

Auch sie kann sich förderlich unterstützen lassen durch eine bescheiden begleitende, streckenweit ganz verstummende, und nur an geeigneten Stellen eingreifende Musik. Sie scheint das in früheren Zeiten immer gethan zu haben. Aber solche Musik ist ihr nicht unentbehrlich.

Nicht verzichten aber, ohne ihre wahre Kunstwirkung einzubüßen, darf sie darauf, daß ihre eigene Musik zur Ausführung komme. Nicht blos ihre nachträgliche Wirkung, auch schon ihr eigenes rechtes Zustandekommen, das ihrer Darstellung wie das ihrer Musik, würde sie damit verhindern. Denn das Geheimniß, wie diese Darstellung beschaffen sein muß, ist schlechterdings auf keine andere Weise zu erfahren, als durch viele Proben, und die Regeln, nach denen die Noten ihrer Sprachmusik durch Tact, Rhythmus, Anlaut, Anklang, Gleichlaut, Vocalisation und Tonfarben gesetzt werden müssen, sind auch nicht anders zu gewinnen, als durch den oft wiederholten Versuch, sie da klingen zu lassen, wo sie gehört zu werden bestimmt sind.

Nehmen Sie einem Architekten Bauplatz, Stein, Mörtel, [565] Holz, Maurer und Zimmerleute. Verdammen Sie ihn, immer nur zeichnen und seine Risse höchstens etwa lithographiren, aber sie niemals ausführen zu dürfen. Enthoben der Rücksicht auf Raum und Stoff, auf das Gesetz der Schwere und die Bedürfnisse des Lebens, müßte er sich verirren in theoretische Spielereien und zuletzt den Sinn verlieren für das Natürliche und Schöne. Oder verweigern Sie einem Componisten Orchester und Sänger und gestatten ihm einzig den Druck seiner Partituren. In der dauernden Unmöglichkeit, seine Tonschöpfungen verwirklicht zu hören, müßte er auch bei hoher Begabung mindestens starke Einbuße leiden an maßvoller Klarheit – wovon ja selbst das Riesengenie eines Beethoven nicht ganz verschont blieb, als ihm Taubheit die Selbstkritik der ausgeführten Composition versagt hatte.

In solcher widernatürlichen Lage hat sich die deutsche Poesie geraume Zeit wirklich befunden. Denn abgesehen von gesungenen Liedern, deren denn auch ein schöner Blüthenflor gediehen ist, und von etwa anderthalb oder zwei Dutzend solcher Dramen, die noch zur Poesie gerechnet werden dürfen, wurden ihre Schöpfungen fast niemals ausgeführt. Was konnte sie, dennoch unermüdlich weiterschaffend in dieser Absperrung von den Bedingungen ihres Lebens, anderes erzeugen, als blasse Studirstubengedichte, denen die Ausführbarkeit fehlt, die sich, so wie sie sind, mit äußerst seltenen Ausnahmen durchaus nicht eignen, mit Wohlklang vorgetragen zu werden und dabei zu spannen, zu unterhalten und zu erbauen; Gebilde, vergleichbar jenen Kellerpflanzen, die sich in langen Fäden nach dem Dämmerschein am Fenster hinrecken, den eingeborenen Maßen und Formen entgeilen, statt der Blätter nur Stummel treiben und schließlich auch im besten Boden rettungslos verwelken, wenn der erschöpfte Wurzelknollen mit dem gelben Gefilz endlich an Luft und Sonne gebracht wird.

Was für den Baumeister Stein und Holz, für den Bildhauer Erz und Marmor, für den Maler Leinwand und Farbe, für den Componisten Stimmen und Instrumentalton, das ist für den Poeten, den Künstler in darstellender Sprachmusik, nicht etwa Papier und Druckerschwärze, sondern das gehörte Wort. Nur durch lauten Vortrag kommt sein Werk zur vollen Existenz; ohne ihn verzichtet es auf das wesentliche Merkmal jedes Kunstwerkes, Verwirklichung für die Sinne. Gedichte zu machen blos um sie drucken zu lassen, ist bestenfalls eine Spielerei mit Kunstformen, keine Ausübung wahrer Kunst. Augenpoesie zum Gesehenwerden ist ein ähnlicher Widersinn wie ein Mittagessen, das bestimmt wäre nicht zum Gegessenwerden mit dem Munde, sondern lediglich zum Gerochenwerden mit der Nase.

Also gesetzt auch, ich meinte mit jener Werkstatt des Epos nur etwa, beispielsweise, meine Arbeitsstätte: auch dann würde ich nicht mein Studirzimmer mit seiner Bibliothek bezeichnen dürfen als den Ort, an welchem die für das Epos charakteristische Hauptarbeit gethan werde. Denn das zu werden, was sie geworden ist, hat meine Dichtung erst in mehreren Hundert über die Hälfte des Erdumfangs vertheilten Sälen und unter Beobachtung ihrer Wirkung auf Hunderttausende von Zuhörern gelernt.

An einem andern Orte habe ich angedeutet, wie ich das dunkel und unvollkommen geahnte Gesetz des Stiles und Baues des Epos erst allmählich wieder entdeckt habe in der Ausübung des Rhapsodenberufes.*[1] Von den ersten achtzehn Gesängen meiner Sigfridsage, mit denen ich meine Reisevorträge begann, ließen die Erfahrungen eines Lustrums keine Zeile unverwandelt, und weniger noch, als vom ersten Text, ist von seiner ersten Anordnung übrig geblieben. Nur durch die lebendige Wechselwirkung zwischen dem vortragenden Poeten und seinen Hörern kann das Epos seine richtige Gestalt gewinnen. Die Eigenschaften zur rechten Wirkung auf die Nation vermag es nur zu schöpfen aus ihrer Mitarbeit.

Wie die Erfüllung der Gesetze der Form nur von dieser Mitarbeit, so kann der Dichter des Epos dessen Stoff einzig und allein empfangen von der Vorarbeit längst vergangener Geschlechter seiner Nation und ihrer Ahnenvölker.

Weit weniger als ein anderer Dichter ist der des Epos ein schaffendes Einzelwesen.

Zwar überkommt auch der Dramatiker von seinen Vorgängern ein Kunstgesetz, von der zeitlichen Einrichtung der Bühne das Maß, die Anordnung und Vorführungsweise seiner Gebilde, von der Sitte und herrschenden Empfindung seiner Epoche die Farbe der Leidenschaften, die Natur der Kämpfe, mit deren Darstellung er hoffen darf, die Gemüther zu ergreifen. Im Uebrigen aber genießt er große Freiheit in der Wahl seiner Stoffe; ja, er darf dieselben unter Umständen sogar frei erfinden. Eine überlieferte, erlebte oder ersonnene Handlung senkt er als wohlgewähltes Samenkorn in das fruchtbare Beet seines Talentes und erzieht daraus eine selbstständige Blüthenpflanze.

Der Dichter des Epos kann nur selbst ein Knospenauge sein an dem Blüthenschafte, den der Baum seines Volkes, vergleichbar jener gefabelten hundertjährigen Aloë, nach langen Epochen treibt, wenn das Weltenjahr dieses Volkes wieder einmal in seinen Frühling eintritt. Auf diesem Schafte entfaltet sich zu Blüthen nichts Anderes, als der Saft und Stoff, den die uralten Wurzeln seit Jahrtausenden emporsaugen. Auch sind es nothwendig Blüthen von gleicher Form und Färbung, wie sie nach dem eingeborenen Gesetze des Baumes schon einmal geprangt haben in einem längst vergangenen Frühlinge.

Jenes Beet des Dramatikers kann eine Menge verschiedener Blumen, dieser Baum des Epos nur eine Blüthendolde tragen. Geeignet für das Drama sind unzählige Stoffe; für das Epos durchaus nur ein einziger. Dramatische Dichter können sich, wie die Geschichte der Poesie beweist, in jeder Culturnation zu hoher Leistungsfähigkeit entfalten. Zum Dichter des Epos hingegen kann sich auch der höchstbegabte Poet niemals ausbilden, wenn sein Volk nicht eines der wenigen epischen Völker ist. Italienern, Spaniern, Franzosen z. B. wird, wie bisher, das wahre Epos immerdar versagt bleiben.

Aber selbst innerhalb eines epischen Volkes kann das Epos nur zu Stande kommen unter überaus seltener Schicksalsgunst, deren Herbeiführung auch der gewaltigsten Einzelkraft gerade so unmöglich ist, wie etwa dem Menschengeschlechte überhaupt eine Aenderung in den Bewegungen des Sonnensystems. Es gehört dazu die in einem Lebensalter zusammentreffende Erfüllung einer ganzen Reihe von Vorbedingungen, wie sie bisher kaum je einmal im Laufe eines Jahrtausends eingetreten ist.

Und welches sind die Bedingungen des Aufblühens dieser Tausendjahrblume?

Erstlich, wie gesagt, muß das Volk ein episches Volk sein; das heißt, es muß sich befinden im erblichen Besitze uralter Sagen. Dieser Besitz darf nicht aufgehört haben, ein lebendiger zu sein. Es genügt nicht, daß solche Sage in Schriften und Büchern vorhanden geblieben. Sie muß sich auch von Geschlecht zu Geschlecht in mündlicher Ueberlieferung und Fortbildung erhalten haben. Das Volk muß beständig auch die Haupterlebnisse seiner weiteren Geschichte verschmolzen haben mit den Gestalten, Bildern und Mären seines alten Sagenschatzes. Endlich muß unter diesen Sagen eine seit Urzeiten allbeherrschend in der Mitte stehen und, wenn auch nicht gerade im klaren Bewußtsein, so doch im Herzen des Volkes den verborgenen Einheits- und Ausstrahlungspunkt aller anderen bilden, indem sie, als die reichste und beliebteste, vor Allen dazu gedient hat, ihren Gestalten, als heiligen Erbgefäßen der Poesie, alle höchsten und tiefsten Vorstellungen der Nation von Mannesherrlichkeit und Niedertracht, von Frauentugend und Frauenfrevel einzuverleiben und in ihren Begebenheiten das Walten einer göttlichen Ordnung erscheinen zu lassen.

Nur in solchem Volke und nur aus einer solchen Sage kann ein Epos werden. Ja, ich denke so groß von der zeugenden Kraft eines solchen Volkes und so klein vom individuellen Talente und seiner Unentbehrlichkeit, daß ich sage: in solchem Volke muß aus einer solchen Sage unfehlbar ein Epos werden, sobald die Epoche noch zwei andere Bedingungen erfüllt. Denn dann ist allemal auch die Fülle der Talente so groß, daß eines derselben unausbleiblich auf den rechten Weg gedrängt wird, auf dem es leisten lernt, was eintrittsreif geworden ist. Ich meine, beispielsweise, daß die Nibelungensage auch ohne mich kein Jahrzehnt mehr als jetzt gebraucht haben würde, einen Poeten in die Rhapsodenlaufbahn zu drängen, um durch ihn auf diesem einzig möglichen Wege zum Epos zu werden. Denn jene beiden anderen Bedingungen waren eben im Begriffe, sich zu erfüllen.

Zweitens nämlich kann das Epos nur erblühen, wenn die Nation sich befindet in einem Hauptknotenpunkte ihrer Entfaltung [566] zur führenden Weltmacht. Das Hoffnungslicht, welches die Heldenschatten der Vergangenheit bestrahlen muß, wenn sie wieder zu lebendigen Gestalten werden sollen, kann der Poet nur hernehmen vom Morgenrothe eines neuen Heldenalters, und

Gedeihen verleiht zu dauerndem Leben
Dem Heldengesang nur die Sonne des Sieges.

Drittens aber ist auch die Epoche solchen Machtaufschwunges eines epischen Volkes nur in einem Falle vollkommen und fertig ausgerüstet, um die vom einzelnen Poeten zum Kunstepos zu gestaltende Kernsage zum echten Nationalepos werden zu lassen: wenn sich gleichzeitig mit den staatlichen Siegen auch der Sieg einer neuen und höheren Gestalt der Religion über eine alte unzureichend gewordene im Bewußtsein des Volkes zu vollziehen im Begriffe ist.

Niemals erfinden kann, aber vorfinden und deutlicher als alle Anderen erkennen und voller zusammenfassen muß der Dichter des Epos diese neue Religion; nicht um sie zu predigen, was er gar nicht darf, sondern lediglich um seine Gestalten und deren Thaten mit ihr zu durchleuchten und in den Schicksalen der Helden das Walten ihres höheren Sittengesetzes zur Anschauung zu bringen.

Durch diese Leistung erst sind die Epen Homer’s zur nicht blos künstlerischen, sondern auch nationalen und weltgeschichtlichen Großthat geworden. Die frühere griechische Religion erkennen wir aus den hesiodischen Dichtungen, welche zwar mit den homerischen höchstens gleichzeitig, ihrer letzten Fassung nach wahrscheinlich viel später entstanden sind, aber offenbar beruhen auf der vorhomerischen und zum Theil gewiß priesterlichen Tradition. Diese alte Religion ist in den homerischen Epen gänzlich verwandelt. Bei Hesiod sind die Götter, wenn auch menschlich symbolisirt, noch die schieren Naturgewalten; bei Homer aber sind sie, in den echtesten Stellen der Ilias beginnend, in der Odyssee in schattenloser Vollendung, die Träger der sittlichen Mächte des Menschengemüthes.

Von so unvergänglicher Wirkung ist seine Großthat deshalb, weil bei ihm diese Verwandlung der alten Religion in vielen Stücken schon angekommen ist bei Vorstellungen, wie sie auch die verklärteste Gestalt des Ewigen aller Religion niemals reiner aussprechen wird.

Und wohl dem Volke, dem seine Religion nicht in Dogmen von zünftigen Priestern, sondern von solch einem Dichter in Vorbildern geboten wird! Keinen geringen Theil ihrer Herrlichkeit verdankten die Hellenen ihrem Homer. Wären sie nur in einem Hauptstücke weniger weit zurückgeblieben hinter der Größe ihres Poeten! Verführt von der größeren, jugendlich genialen Frische und Farbenpracht der Ilias, wußten sie die Odyssee, das im Einzelnen minder bestechende, aber weit vollendetere und edlere Kunstwerk, niemals verdientermaßen zu würdigen. Denn in das höchste Ideal ihres Dichters, in das homerische Musterbild der durch ihre Tüchtigkeit, Gattentreue und weise Mäßigung über alle Anfechtungen triumphirenden Familie, sind sie niemals hineingewachsen. Auch ward es Hauptursache der frühen Zerrüttung und Verderbniß ihres Volkslebens, daß sie, über Kleinasien angesteckt von semitischem Wollustcultus, bald kein Verständniß mehr hatten für die homerische Frauenwürde. Weil sie es versäumten, seine Andromache, Nausikaa, zumal Penelope, aus Poesie in Fleisch und Blut zu übersetzen, sind sie zu Grunde gegangen an ihren Laïs, Phrynen und Aspasien.

Daß die Erfüllung jener Vorbedingungen des Epos im Zeitalter Homer’s wirklich zusammengetroffen, das ist uns auch in der Zeitenferne noch erkennbar geblieben. Sein Volk war ein eminent episches; denn es hatte die arische Ursage zu reichster Fülle erweitert und genoß sie schon seit geraumer Zeit in den Liedern, welche die Sänger bei Festen und Schmausereien vorzutragen pflegten. Auch hatte sich ein Haupttheil dieser Sage in bereits nationaler Färbung krystallisirt um die Trümmerstätte einer zwei bis drei Jahrhunderte zuvor zerstörten Stadt, nahe der wahrscheinlichen Heimath des Dichters.

Eine Vereinigung griechischer Stämme hatte, oder sollte mindestens dieses damals schon sagenhafte Troja erobert haben. In der Epoche des Dichters aber war auch in Wirklichkeit der Westen der kleinasiatischen Halbinsel von einem solchen Bunde der Stämme des Mutterlandes siegreich erobert und colonisirt worden zu einer Menge blühender Gemeinwesen, in denen sich das Hellenenthum zum ersten Male verheißungsvoll auch nach außen entfaltete. Daß auch die Erfüllung jener dritten Bedingung, die Verwandlung der Religion, eine Arbeit seines Volkes gewesen, welche er nur zusammenzufassen und zum poetischen Ausdrucke zu bringen hatte, das ist uns freilich nicht mehr nachweisbar, aber darum nicht minder gewiß. Denn große Poeten mit ihrer Spiegelnatur eignen sich nicht, mit einsam ergrübelter Ueberzeugung der ganzen andersdenkenden Welt den Krieg zu erklären als Religionsstifter, und ebenso unverträglich mit ihren Gaben ist der Bekehrungseifer der Apostel. Nur als die Sammler der Erscheinungen zu treuen Bildern geben sie durch diese Zeugniß, daß sich eine neue Phase vollzogen hatte im Glauben ihres Volkes.

Die Werkstatt also, in der die Völker werden, ist auch die wahre Werkstatt des Epos.

Es bleibt gar wenig, ja, genau betrachtet, nichts übrig, was vom Zustandekommen des Epos der einzelne Poet sein Verdienst nennen darf. Denn auch die letzte Fertigstellung, die allerdings nicht geschehen kann ohne den einzelnen Künstler, ist nicht sein Verdienst, sondern sein Glück: das unschätzbar hohe Glück, in der Epoche zweier großen Weltbegebenheiten ein Sohn des Volkes zu sein, das dieselben vollbringt und sie, als episches Volk, in großer Vorzeitsage schon deutlich geahnt und sich vorgezeichnet hatte; das Glück endlich, durch die sogenannten Zufälligkeiten seines Lebenslaufes hinein gedrängt, in Wahrheit durch heilige Führung hinein befohlen zu sein in den Beruf, in welchem er lernen mußte, der Mund zu werden, durch den diese Sage auf’s Neue reden will in der Sprache der Zeitgenossen, um die Ahnungen der Vorfahren erfüllt zu zeigen in einer glorreichen Gegenwart.




Der Alte von der Schmücke.


Thüringer Berg- und Waldbild.


Vor einiger Zeit erzählte eine Thüringer Zeitschrift „ein Stückchen vom alten Joel“, das als eine gelungene Einführung in die intime Bekanntschaft mit dem einst vielgenannten Mann auch unsern Artikel über ihn einleiten mag.

„Wer Joel war? In kurzen Worten will ich’s sagen: der ehemalige Wirth auf der Schmücke, jenem Waldwirthshaus am Schneekopf, Thüringens zweithöchstem Berg, zwischen den Waldstädten Ilmenau und Suhl, so recht mitten im trauten Thüringerwalde. Joel also war nur ein Wirth, aber was für ein Wirth! Ureigenartig, bieder, derb, knurrig, freundlich, theilnehmend, spöttisch, witzig, aber – kreuzbrav. Hat manchem vorlauten Bürschchen heimgeleuchtet, daß es nur so eine Art hatte; auch hochgestellte Personen fürchteten seinen beißenden Spott und suchten auf gutem Fuße mit ihm zu stehen. Man konnte gleich auf’s Haar sehen, wie viel es bei Joel geschlagen, und zwar an der Stellung seines Käppchens. Saß es tief in die Stirn gezogen, dann war’s beim Alten nicht geheuer; rechts auf’s Ohr gerückt deutete es auf vorübergegangenes Gewitter; aber wenn’s auf dem linken Ohre saß und es unter den buschigen Augenbrauen munter aufblitzte, da sprudelte sein Mutterwitz und gestaltete die Stunden auf jener Gebirgsmatte zu unvergeßlichen.

So einen sonnigen Tag in Joel’s Leben hatten vier muntre Jünglinge getroffen, als sie, rüstig steigend, endlich auf der Plattform der Schmücke anlangten. Andachtsvoll schauten sie hinab in den Grund, hinüber in das Chaos durcheinander geworfener Berge, welche, vergoldet vom Strahle der untergehenden Sonne, in zauberisches Licht gehüllt, das naturliebende Gemüth der Vier gefesselt hielten. Auf einmal stimmten sie, wie auf höhere Eingebung, Mendelssohn’s: ‚Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut etc.‘ an und in vollen Accorden hallte das Echo die schöne Weise von Thal zu Thal. Es waren Minuten der andachtsvollsten Weihe, aber nicht allein für die Vier, ein Fünfter hatte [567] sich zugesellt und stand, das Käppchen in den gefalteten Händen, lauschend dabei. Kaum war der letzte Ton verhallt, so reichte er seine Rechte zum biedern Willkommen entgegen, während die Linke verstohlen eine Thräne im Auge zerdrückte. Mit bewegter Stimme bat er, noch ein Lied zu singen, wenn’s möglich wäre, Kuhlau’s schönes ‚Ueber allen Wipfeln ist Ruh.‘ Gern erfüllten die Jünglinge diese Bitte und einem Abendgebete gleich floß der Melodieenstrom zu Thale, begleitet von den aus der Ferne herüberklingenden Abendglocken. Es war ein ergreifendes Bild, den Greis mit schneeweißem Haar inmitten vier blühender,


Johann Friedrich Joel.
Aus einem Bilde des Landrath Ewald in Berlin.


frischer Jünglinge zu sehen, aller Angesichter glühend im Abendroth der scheidenden Sonne, hoch oben auf freiem Gebirge; und wie reizend, als er zweien unter die Arme griff und sie so einführte in sein gastliches Haus!

Den vielen Fremden war es nicht unbemerkt geblieben, mit welcher Auszeichnung Joel die Vier behandelte, und bald hatte sich, nachdem ein stärkender Imbiß die Wanderer gelabt, ein weiter Kreis Männer, durchwoben von zartem Frauenflor, um sie gebildet; den stürmischen Bitten zarter Schönen vermochten die Jünglinge auf die Dauer nicht zu widerstehen und Lied auf Lied entquoll dem liederreichen Munde. Daß die trockene Kehle tüchtig aufgefrischt wurde, braucht wohl nur der Vollständigkeit des Berichts wegen erwähnt zu werden, so selbstverständlich ist das. Als die Schatten der Nacht sich über die Erde gebreitet, suchten endlich die müden Gäste das Lager auf, um in Morpheus’ Armen alles Erdenleid und alle Sorgen auf Stunden zu vergessen.

Kaum verkündete der Hahn den anbrechenden Tag, als es auch schon im Hause lebendig wurde, denn Keiner wollte verfehlen, den Sonnenaufgang vom Schneekopfthurme aus zu sehen. Fort ging’s in die Morgenfrische hinein, und am Bestimmungsorte angekommen harrten Alle des köstlichen Phänomens. Da zitterte im Osten der erste Strahl über die Berge und empor stieg das Gestirn des Tages in majestätischer Würde, begrüßt von den Klängen des Chorals: ‚Brich an, du schönes Tageslicht!‘ Zurückgekehrt nach der Schmücke mundete der Kaffee ganz vortrefflich, und verscheuchte in Bälde das Unbehagen, welches den Wanderer stets ergreift, sobald er nüchternen Magens in der Morgenfrische wandert. Als die Viere ihre Zeche bezahlen wollten, suchte Joel immer auszuweichen; endlich ihren Bitten nachgebend, berechnete er eine Kleinigkeit. Einer der vier Jünglinge war etwas pfennigfuchserig und hatte, während die übrigen sich an dem köstlichen Biere gelabt, sich einige Glas Wasser geben lassen. Nun sollte er gleiche Zeche bezahlen, das war ihm nicht einleuchtend. Noch ehe er die rechte Anrede gefunden, klopfte Joel ihm auf die Schulter und sagte: ‚Lieber junger Herr, wenn ich rathen soll, trinken Sie auf der Schmücke nie wieder Wasser, das kommt theurer als Bier; letzteres bringen die Fuhrleute ins Haus; ersteres muß ich weit holen lassen. Aber nichts für ungut und fröhliche Reise!‘[2]

Als Jeder sein Ränzel aufnimmt, dünkt’s ihm schwerer als Tags zuvor und bei nächster schöner Aussicht wird Halt gemacht und eine Ocularinspection vorgenommen. Was hatte Joel gethan? In jedes Ränzel hatte er ein reichliches Frühstück gepackt, dazu eine halbe Flasche Wein; nur in einem Ränzel war zwar auch eine Flasche, aber gefüllt mit hellem klarem Schneekopfwasser. Nun, wir theilen brüderlich mit unserm Wasserverehrer, weil er gelobte nie wieder Wasser zu trinken, wo es irgendwie ein vernünftiges Stöffchen gäbe, und das Wasser aufzuheben und seinen ersten Jungen darin zu baden. Ersteres hat er jahrelang gehalten, ob auch das zweite? Sollten ihm diese Zeilen zu Gesicht kommen, dann möge er gedenken an den fernweilenden Freund, an denselben, welchem der alte Joel beim. Abschiede einen herzhaften Kuß gab mit den Worten: ‚Behüt’ Gott Ihre schöne Stimme!‘ Ist längst unter dem grünen Rasen, die alte, ehrliche Haut, der brave Joel, und gar wunderlich ward’s dem Einen von den Vieren, als er im vorigen Jahr mit seinem Aeltesten die Schmücke betrat. Der Junge machte große Augen, als die Erinnerung seinen Vater gar mächtig bewegte; er wußte nichts vom Weh, das durch die Seele ging – [568] denn von den vier damals so fröhlichen Sängern ruhen auch schon zwei in kühler Erde – und ‚Warte nur, balde schlummerst du auch!‘ tönte es geisterhaft von drüben herüber.

Es ist doch eine eigene Sprache, welche die Berge reden; Alles, woran unser Herz hängt, vergeht, sie aber bleiben in Kraft und Herrlichkeit, und man mag sie als Knabe, Jüngling oder Mann besteigen, immer der Eindruck des Erhabenen, Dauernden! Wann werden auch sie vergehen?“

Ja, der alte Joel ist todt. Auf dem Kirchhofe des Thüringer Walddörfchens Oberhof, zwei Stunden von dem Gasthaus der Schmücke am Schneekopf, ist auf einem Grabkreuz zu lesen:

„Hier ruhet Johann Friedrich Joel,
 Gastgeber zur Schmücke,
 Geboren 1792
 Gestorben 1852.“

Schlummre sanft, Du lust’ge, gute Seele!

Es ist ein herrliches Stück Erde, wo es dem Alten gegönnt war, seinen Lebenstraum auszuträumen. In der Centralgruppe des Gebirges, zweitausendachthundertundfünf Fuß hoch gelegen, erheben sich in halbstündiger Nähe die gewaltigen Berghäupter des westlich ansteigenden hohen Beerberges und des nördlich vorspringenden Schneekopfes. Kräftige Nadelwälder bedecken Wände und Gründe, ohne den vielen dazwischen eingestreuten Wiesenflächen das Recht ihres lieblichen Daseins zu verkümmern. Nach Südost hin, zwischen dem Felskoloß des Sachsensteines und dem aus der Tiefe emporsteigenden großen Finsterberge hindurch tritt dem entzückten Auge das prächtigste Gebirgsbild entgegen, rein östlich aber hinter dem Sachsensteine her winkt der Ilmenauer Kickelhahn mit seinem steinernen Luginsland bedeutsam einladenden Gruß. Die Quellengebiete dreier thüringer Flüßchen, der vielgefeierten Ilm und der wilden und zahmen Gera, welche in unmittelbarer Nähe umherliegen, beleben Höhen und Thäler durch vielfaches Geriesel.

Inmitten dieser Gegend liegen nun die dem gothaischen Staate gehörigen Gebäude der Schmücke: Forsthaus, Gasthaus und geräumige Stallungen.

Zu einer Zeit, wo das Gebirg noch nicht von guten Straßen durchzogen war, wie heutzutage, und wo nur wenige Naturfreunde den Wanderstab in das Innere des Gebirgs trugen, entfaltete sich da oben schon reges Leben und Treiben. Die umherliegenden vortrefflichen Weideplätze veranlaßten so manchen Viehbesitzer im platten Lande, Kühe und Fohlen dort in Pension zu geben; ein reizendes Hirtenidyll belebte die Berge. An der Stelle des Wirthshauses stand damals noch eine kleine einstöckige bretterbeschlagene Gebirgsschenke, in welcher höchstens Schwarzbrod, Käse und eine Flasche Dünnbier zu erhalten war.

Da erhielt im Jahre 1843 Joel die Pachtung dieser Schenke. Ein Sohn des Wirthes „Zum Schützen“ in Gotha, war er als berittener Armeegensdarm weit in der Welt umhergekommen, hatte, als vortrefflicher Schütze, einen hohen Herrn auf dessen Jagdzügen in Polen, Ungarn etc. begleitet und schließlich als Wirth verschiedene Gastwirthschaften betrieben. Die Wirthschaft auf der Schmücke erhielt er mit der Verpflichtung anvertraut, daß er Forst- und Jagdschutz mit ausüben helfe. Da verwandelte die alte Spelunke sich rasch in ein gutes gemüthliches Erfrischungshaus, wenn auch noch in primitiven und beschränkten Verhältnissen. Diese Metamorphose und der unverwüstliche Humor des Wirthes zogen immer mehr Gäste aus den benachbarten Orten heran, und bald war die Schmücke die erklärte Exkneipe Derer von Gehlberg, Elgersburg, Ilmenau, Suhl, Zella etc. Auch Bruder Studio, der sich bekanntlich sehr feiner Organe zu derartigen Entdeckungen erfreut, hatte auf seinen Streifereien das trauliche Nest bald aufgefunden; die nächsten Hochschulen, Jena, Halle, Leipzig, Göttingen, sandten die ersten Pfadfinder zu dieser Hochwacht der Fidelität, und welche Schaaren folgten ihnen nach! In „seliger Verschollenheit“ wurde da flott commersirt und dabei – was das Werthvollste war – „lasterhaft billig“ gelebt. Da war denn Joel, das Haupt häufig mit bunter Studentenmütze anstatt des stereotypen Hauskäppchens bedeckt, mit seinen derben Waldwitzen mitten in seinem Elemente. Das urwüchsige, schlagfertige Wesen des dicken, lustigen Wirthes paßte vortrefflich zu dem jugendlichen Uebermuthe der Gäste. Glückliche Stunden wurden da vertrunken, versungen, verbraust. Die Musensöhne wurden gewissermaßen die Pionniere des Schmückecultus. In alle Welt trugen sie die „famosen“ Erinnerungen, sowie die Mähr vom „dicken Joel“ und seiner „fabelhaft-gemüthlichen Grobheit“.

Von wesentlicher Bedeutung für den Aufschwung der Schmückewirthschaft war die kurz vor jene Zeit fallende Eröffnung der Bäder zu Ilmenau und Elgersburg, sowie der Bau guter Fahrstraßen über das Gebirg. Von Jahr zu Jahr steigerte sich nun der Fremdenverkehr, und demgemäß ließ die gothaische Regierung auch das Wirthshaus vergrößern und mit behaglichem Comfort versehen, so daß bald die Joel’sche Wirthschaft auf der Schmücke zu den Musterwirthschaften gezählt werden konnte. Immer wohler fühlte sich der Alte, da seinen Bestrebungen der Erfolg nicht fehlte.

„Wie ein Bacchus stand im Schlafrockkleide
Fröhlich er vor seines Hauses Thür;
Graue Locken waren sein Geschmeide
Und er selbst der Schmücke Schmuck und Zier.
Heiterkeit umfloß wie Sonnenschimmer
Seine vollen Wangen, seinen Blick;
Nimmer wich der Witz von ihm und nimmer
Vor dem alten dicken Freund zurück.“

So besang ihn einer seiner treuesten Gäste: Ludwig Bechstein. Als nach einiger Zeit sich eine neue bedeutende Erweiterung des Gasthauses nöthig machte und die Herren von der Regierung sich ein wenig harthörig erwiesen, verhalf der Alte sich in seiner Weise zum erwünschten Ziele. Denn als eines Tages fürstlicher Besuch von Gotha vor der Schmücke hielt, um da zu übernachten, rieb Joel sich stillvergnügt die Hände und raunte seiner Frau zu: „Warte, nun wird gebaut.“ Dann gab er rasch zweien seiner Dienstmädchen einen heimlichen Auftrag, und als nun der fürstliche Besuch nach einem ausgezeichneten Mahle zu Bette gehen wollte, erfolgte von Seiten Joel’s ein bedauerndes Achselzucken und die entschuldigende Bemerkung, daß die beiden noch einzig disponibel gewesenen Betten bereits von zwei Damen besetzt seien. Die heitere Gesellschaft nahm die Mittheilung, der Lage entsprechend, lustig auf, fand es ganz prächtig, einmal auf Heu schlafen zu können und that auch nach der ermattenden Tour einen festen gesunden Schlaf auf solcher Unterlage; in den weichen Betten eines freundlichen Gastzimmers aber dehnten Jette und Röse die robusten Glieder. Das Abenteuer erregte in Gotha bei Hofe viel Heiterkeit; aber man konnte sich doch der Erkenntniß nicht verschließen, daß hier zur Vorbeugung ähnlicher Verlegenheiten etwas geschehen müsse, und so wurde der große Erweiterungsbau der Schmücke in Angriff genommen.

Seinem Zwecke vollkommen angemessen ausgestattet, winkt seitdem der freundliche Bau dem Wanderer von der Höhe entgegen, wie ihn Hermann Heubner’s Skizze in Nr. 29 der Gartenlaube von 1873 uns vorgeführt hat.

Offenbar war es der Gothaischen Regierung nicht zu verargen und auch der Landtag drang darauf, daß von der nunmehr sehr ertragsfähig gewordenen Wirthschaft ein dem entsprechender Pacht bezogen werde. Da wird nun erzählt, es sei ein herzoglicher Beamter von Gotha zur Schmücke gekommen, der nach genauer Besichtigung und Belobigung der gesammten Wirthschaftsanlagen in freundlichster Weise sich mit Joel über Dies und Das unterhalten und auch reichlich gezecht habe, um den Alten in möglichst angenehme Temperatur zu versetzen; und als er ihn endlich in bester Stimmung gefunden, da habe er die Pachtangelegenheit in Anregung gebracht. Joel war wirklich die Liebenswürdigkeit selber, denn er erbot sich mit außerordentlicher Zuvorkommenheit, von jetzt an freiwillig noch einmal so viel Pachtgeld zu entrichten, als bisher, und bestätigte dies auf Wunsch dem Beamten schriftlich. Sehr zufrieden mit dem Erfolge seiner Mission kehrte dieser nach Gotha zurück, und erst, als im Collegium auf diesen Bericht allgemeine Heiterkeit ausbrach, ward ihm das glückselige Lächeln klar, mit welchem Joel verheißen hatte, fortan das Doppelte des bisherigen Pachtes bezahlen zu wollen: der alte Schlaukopf hatte bis dahin eben gar kein Pachtgeld bezahlt. Natürlich hat er sich, als der Schwank so gut gerathen war, nicht geweigert, den Ansprüchen der Regierung gerecht zu werden.

„Joel im Kreise seiner Zecher“ müßte passend die Ueberschrift eines Capitels in seiner Lebensgeschichte lauten.

[569]

„Wo man fröhlich versammelt in traulicher Runde ist,
Ohne zu achten, ob’s früh oder spät an der Stunde ist –
Wo der Becher von Wein überfließt und die Lippe von Witz“,

da weilte er gern, wie weiland Mirza-Schaffy in Tiflis, dem Friedrich Bodenstedt diese Verse nachsang. Und die Zecher?

„Wenn Mirza-Joel den Becher erhebt,
 Einen Witz im Munde,
Wie sich freudig das Herz der Zecher erhebt
 In der jauchzenden Runde!“

Freilich waren diese Witze nicht immer hoffähig, aber originell und den Nagel aus den Kopf treffend waren sie durchweg, mochten sie sich auf dem Gebiete harmloser Neckerei, beißender Satire oder des höheren Blödsinns bewegen. Dem entsprechend gestaltete sich auch die Behandlung der Gäste, je nach ihrer eigenen Art oder Unart und dem Eindrucke, den sie auf den alten Joel machten. So imponirte ihm einmal beinahe ein ebenfalls unverzärtelter Professor, den er, wie die andern Nachtgäste, Morgens drei Uhr aufweckte mit dem gewöhnlichen Zurufe:

„Heda, die Sonne will aufgehen.“

„Die geht auch ohne mich auf,“ brummte der Professor und drehte sich wieder herum.

Joel aber rief: „Hören Sie, Sie sind der gescheidteste Kerl, der auf der Schmücke war, so lange ich hier wohne.“ Und sie wurden gute Freunde.

Mitunter fand man ihn auch in Pantoffeln mit Sporen im Gastzimmer einherwandelnd, ohne daß dies immer ein Zeichen besonderer Heiterkeit gewesen wäre. Diese war aber untrüglich obenauf, sobald Musik erklang. Für ihre Freuden hatte er selbst gesorgt, denn einige Cithern hingen stets gut gestimmt an der Wand, und sein Hausknecht Johann gehörte als „Saitenkundiger“ zum wohlgeschulten Personal seines Hausorchesters. Dieser Johann Wagner, nunmehr seit siebenundzwanzig Jahren Hausknecht auf der Schmücke und in der Gegend als „das Wahrzeichen der Schmücke“ bekannt, bewegt sich dort heute noch brav in seinem Berufskreise.

Und war „die schöne Zeit“ vorbei und der Winter kam, was dann? Da beschränkte sich freilich wochenlang die Gesellschaft auf die Familie Joel und den damaligen Förster der Schmücke, Herrn Morba, dessen Name mit der Schmücke ebenfalls eng verwachsen ist. Derselbe hatte, ehe er zu „den Grünen“ ging, in Jena vierundzwanzig Semester Theologie studirt, und so stand beiden Männern hinlänglicher Unterhaltungsstoff aus ihrer eigenen Vergangenheit zur Disposition.

Herr Morba ist am 10. Januar dieses Jahres als herzoglicher Forstcommissär zu Ohrdruff seinem langjährigen Schmückenachbar im Tode nachgefolgt; ich verdanke dem liebenswürdigen alten Herrn so manche Notiz zu gegenwärtiger Skizze.

Herr Landrath Ewald in Gotha hat solch eine stille Winterunterhaltung auf der Schmücke vor Jahren gezeichnet. Diesem Bilde ist das vorstehende Portrait Joel’s entnommen.

Wenn in jener stillen Zeit Gäste einsprachen, dann gestalteten sich namentlich die Abendstunden zu festlichen. So kam einst einer meiner Freunde an einem häßlichen Novembertage bei einbrechender Nacht auf einer Geschäftstour in der Schmücke an. Er war herzlich froh, aus der Dunkelheit und dem heftigen Schneegewirbel in ein sicheres behagliches Obdach zu gelangen, und ahnte nicht, welche Stunden voll Winterwaldpoesie vor ihm lagen. Kaum war das Abendessen vorüber, so constituirte sich das Hausorchester, verstärkt durch einen jungen Jägersmann, den das Unwetter ebenfalls hereingetrieben hatte. Mit wollenen „Strickstrümpfen“ bewaffnet, nahmen die vier weiblichen Dienstboten des Hauses Platz. „Da schlug Johann die Saiten; er schlug sie“ – ganz vortrefflich zu einer wohlgeschulten Begleitung, „dann strömte himmlisch helle“ der bergfrische Gesang der Schmückedirnen dazwischen. Etwas verlegen ungelenk schoben sich kurz darauf noch vier stämmige Burschen aus dem benachbarten Goldlauter durch die Thür, welche gekommen waren, mit ihren Herzallerliebsten zu plaudern, und die nun unbarmherzig in die ausübende Künstlergesellschaft einrangirt wurden, Nun ging’s doppelchörig, immer voller, immer besser! Wie herzig und natürlich klang da das Thüringer

„Ach, wie ist’s möglich dann!“

Da auf einmal: „sei nicht so dumm!“ war es dem Munde einer Sängerin während einer plötzlichen Pause entfahren. Die weihevolle Stimmung machte einem homerischen Gelächter Platz. Naiv gestand die ganz roth anlaufende Tochter der Berge: „ihr Schatz da habe sie bei dem Worte: ‚Du hast die Seele mein so ganz genommen ein‘ etc. mit dem Ellenbogen in die Seite gepufft und dabei ein ganz erbärmliches Gesicht geschnitten.“

Die Bierflaschen waren verschwunden; die Bowle dampfte – als Künstlerlohn. Da gingen dem jungen Volke die Beine durch – Hopsa und Juchheirassa bis spät in die Nacht hinein. Ehe mein Freund sein Lager suchte, warf er noch einen Blick in die winterliche Landschaft hinaus: vier dunkle Schatten glitten über die weiße Fläche hin durch den wilden Braus des Schneesturmes, aber stärker als das Heulen des Sturmwindes klangen die schallenden Jauchzer der heimkehrenden Goldlauterer durch die Novembernacht.

Nicht lange sollte sich Joel seiner schönen neuen Einrichtung, welche 1851 fertig geworden war, erfreuen. Im Herbste 1852, als er sich zu einer landwirthschaftlichen Ausstellung nach Gotha begeben hatte, fühlte er sich dort sehr, sehr unwohl. Er merkte, „das war der böse Thanatos“. Es hielt ihn nicht länger in Gotha; krank, wie er war, kehrte er heim in seine Berge. Noch einmal hatte er Gelegenheit, mit seinen Ilmenauer Freunden gesellig zu verkehren; auch absonderlicher Weise sollte gerade ein Krebsmahl sein Abschiedsmahl werden. Ungefähr acht Tage danach, am 15. October 1852, schloß er die Augen für immer.

Den Menschen kommt es bisweilen vor, als ob die Natur um Heimgegangene, die sie lieb hatten, auch mit trauere. – So legte sie damals einen naßkalten Tag auf das Thüringer Waldgebirge. Nur dann und wann blitzte auf kurze Zeit durch graues Gewölk ein Sonnenstrahl hernieder und ließ die düstere Stimmung der Natur um so deutlicher hervortreten. Durch die schwarzen Tannenwälder zog dumpfes Brausen, wie ein Abschiedslied, welches der scharfe Herbstwind der schönen lustigen Blüthenzeit nachsang.

Das war eben der Tag, an welchem als entsprechende Staffage zu diesem Naturbilde vom Gasthause zur Schmücke ein dunkler Leichenzug daherkam. Langsam bewegte sich derselbe auf dem Kamme des Gebirges hin, an der Kuppe des hohen Beerberges vorüber, den uralten Rennstieg entlang dem Walddörfchen Oberhof zu. Neben der von schwarzgrauen Brettern umkleideten kleinen Kirche senkte man den Verstorbenen in’s Grab. Dem Dahingeschiedenen sang sein Freund Ludwig Bechstein eine Elegie nach, von der wir oben schon einige Verse verrathen haben und die auch noch die folgenden enthält:

„Trauernd steht nun ob des Mißgeschickes
Einsam dort der Schmücke hohes Haus,
Und die Waldnatur reicht nassen Blickes
Ihm noch ihren letzten Blumenstrauß.
Ach, kein Wirth war je den Freunden werther,
Als Du, alter dicker Joel, bist.“ – – –

Seit Joel’s Humor die Schmücke nicht mehr belebt, ist es den Winter über, das heißt vom October bis Mai, still dort geworden; die Wirthschaft schläft den Winterschlaf. Aber mit der schönen Jahreszeit regt sich’s wieder, und wie die Sennen der Alpen treiben’s auch die Naturfreunde in Thüringen:

„Wir fahren zu Berg, wir kommen wieder,
Wenn der Kukuk ruft, wenn erwachen die Lieder,
Wenn mit Blumen die Erde sich kleidet neu,
Wenn die Brünnlein fließen im lieblichen Mai.“


Julius Keßler.




Blätter und Blüthen.


Hans Makart’s „Künstlerheim“. Die namhaftesten deutschen Maler haben eine große Vorliebe, ihr Atelier mit allem Aufgebote künstlerischer Mittel und geläuterten Geschmackes zu verzieren. Die Geburtsstätten der Werke eines Professor G. Richter, eines Widder, Henneberg, Piloty etc. sind Merkwürdigkeiten von Berlin, Rom und München.

Wie aber Hans Makart an blendender Farbenpracht seiner Palette und glühender Phantasie die meisten seiner Collegen überragt, so hat er auch sein Atelier in eine farbensprühende, bunte Märchenwelt verwandelt, welche die Wenigen, die zu diesen wunderbaren und wunderlichen Räumen den verborgenen Eingang finden, wie das Gebilde eines mächtigen Zauberers überrascht. Ein Freund Makart’s, einer der namhaftesten und sachverständigsten Kunstindustriellen der Residenz, übernahm es, mich in das geheimnißvolle Künstlerheim einzuführen, welches sich, bei der scheuen Zurückgezogenheit des deutschen Veronese, nur wenigen Begünstigten öffnet.

[570] Ein wohlgepflegter Garten umbuscht das mächtige Gebäude, welches kaiserliche Huld dem Schöpfer der Farbenwunder zur freien Disposition gestellt hat. Auf diesem Grunde, der einst die Stätte war, wo ein namhafter Bildner Werke schuf, welche einen Hauptplatz Wien’s zieren, ein Künstler, dessen Geist jetzt leider umnachtet ist, hat unser Hans Makart sein phantastisches Daheim geschaffen. Durch mächtige Pforten von deren Karnieß in schweren Falten reiche Gobelinvorhänge herab wallen, treten wir in den Malerpalast. Der Herr des Hauses, eine zierliche aber sehnige Gestalt, mit ausdrucksvollen feinen Zügen, glühenden Augen, das schöne Antlitz von schwarzem Vollbart umrahmt, tritt mir entgegen und heißt mich, in Berücksichtigung meines Begleiters, willkommen.

Er stand soeben vor seiner neuesten, dem Publicum noch unbekannten Schöpfung, an welche er die letzte Hand legte. Das Riesenbild nimmt fast die ganze ungeheuere Seitenwand des Ateliers ein und wird durch eine sinnreiche mechanische Vorrichtung mit Leichtigkeit in die Höhe gehoben oder in die Tiefe versenkt und so dem Künstler ohne große Schwierigkeiten nach allen Punkten zugänglich. Den Gegenstand des neuen Meisterwerkes, welches den Blick des Eintretenden sofort unwiderstehlich fesselt, bildet ein „Bacchantenfest am Meeresufer“.

Die Kühnheit seiner Compositionen, welche an die besten Werke von Tintoretto und Paul Veronese erinnert, tritt auch in dem neuesten Werke des deutschen Künstlers in fast bewältigender Weise uns entgegen, so wie die glühende Farbenpracht, die darüber ausgegossen ist, kaum in einem früheren Bilde Hans Makart’s erreicht wurde. Die tolle glühende Ariadne, welche jubelnd im sinnlichsten Uebermuthe als Mittelpunkt des phantastischen Märchenbildes erscheint, ist eine Gestalt voll sprühenden farbenglühenden Lebens; der halbberauschte Bacchus, der stumpfsinnige Silen, welcher begehrliche stechende Blicke nach dem Weibe richtet, die spielenden Bacchanten und Bacchantinnen, von denen die eine sich gewaltsam losreißt aus den gewaltig umschlingenden Armen eines urkräftigen Tritons, der sie in die Wellen zu ziehen sucht, und Pan zum tollen Reigen aufspielend, bilden die hervortretendsten Figuren der mächtigen Gruppe, während die Nebengestalten, ein junger Centaur, von reizenden Weibern in wildem Reigen umtanzt, Kinder mit einem Tiger spielend etc., keineswegs als Beiwerk erscheinen. Die mächtige Phantasie des Künstlers, vereint mit der vollendetsten Technik, allein vermag ein solches Werk zu schaffen. Jede der einzelnen Gestalten erscheint uns als Hauptfigur, wenn wir sie isolirt in’s Auge fassen; eine wilde sprühende Lust, ein bewältigender Farbenglanz ist über das Ganze ausgegossen; überquellende Kraft reißt Alles fort zum Ringeltanze, zu dem sich selbst die schäumenden Wellen des Meeres, mit dem bunten Reichthum der am Ufer verstreuten Riesenmuscheln zu erheben scheinen. Von der Kühnheit dieser Composition kann sich nur der Beschauer einen Begriff machen; meine Feder ist ein gar armer Behelf für die Schilderung aus dem Reiche der Farben und der Töne.

Es dauert lange, ehe wir uns losreißen können von dem phantastischen Feste, welches uns seine Jubelgrüße von der Wand herab entgegen sendet, und ehe wir den gesammelten Blick weiden können an der wunderlichen Zusammenstellung dieses Malerheims. Allüberall tritt uns Ungewohntes, Seltsames entgegen. Hier an dem breiten, in grellen orientalischen Stoffen glänzenden Ruhebett liegt ein theilweise ausgestopftes Tigerfell ausgebreitet. Der Kopf des Unthiers sieht mit glänzenden Augen herab auf seinen Antipoden, einen mächtigen Eisbären, der seine gewaltigen Pranken in den Boden zu krallen scheint; zwischen denselben liegt der wuchtige Kopf des Nordpolbewohners.

Von der Wiener Weltausstellung hat er seinen Weg gefunden in die Kunstausstellung von Hans Makart. Das fast vollendete Brustbild einer jungen Dame, die ihr wunderbar schönes Haar wie ein goldener Mantel einhüllt, hängt an der Staffelei. Aus dem Gedächtniß hat der Künstler die blendend schöne Erscheinung in einem Tage gemalt, sie und ihre Schwester, zwei der reizendsten Damen der Residenz, von denen die eine bald Gott Hymen an die nebligen Ufer der Themse entführen wird. Die Phantasie des Malers hat das Geschwisterpaar in reiche, altvenetianische Gewänder gehüllt, welche zu der charakteristischen Schönheit der jugendlichen Köpfe wie geschaffen scheinen.

Wohin das Auge blickt, sehen wir Neues: hier Costüme in reichem Goldglanze aus dem Reiche der Mitte, aus dem fernen Arabien, dort gestickte, bunte, schillernde Stoffe, welche die geschickten Hände der Haremsfrauen in Brussa fertigen, oder schwere Burnusse, mit Gold durchwirkt, die im fernen Damascus und in Beirut gewebt werden, um die phantastischen Gestalten der Beduinenhäuptlinge zu umwallen. Ein bunter Pfau entfaltet den farbenprächtigen Schwanz und staunt die schillernde Welt um ihn an, die seinem glänzenden Kleide so erfolgreiche Concurrenz macht. Die Mitte des ungeheuren Raumes nimmt bis an die hohe Decke ein schwarzer, reich verzierter Marmorkamin ein, dessen Rand mit Antiquitäten jedweder Art und jedweden Zeitalters belegt ist. Zwischen zwei Sonnenbrennern, deren Gaslicht das phantastische Buntuntereinander phantastisch beleuchten, schwebt mit ausgebreitetem Flügeln ein ausgestopfter mächtiger Adler; ihm gegenüber hängt das seltsame Gebilde einer Seejungfer schwebend in der Luft. Wir sehen große Figurengruppen der werthvollsten Holzschnitzereien aus altvenetianischer Zeit, Schränke von wunderbar schöner Arbeit aus derselben Epoche; ein prachtvoll erhaltener feister Metelluskopf von antiker Bronze findet sich behaglich unter dem weiten Schirme eines Panamahutes, während der Schädel eines Negers von schwarzem Marmor unter einem Eisenhelm uns aus den eingelegten weißen Augen entgegen grinzt. Geharnischte Männer bewachen dieses Künstlerasyl, in welchem gar werthvolle Skizzenbücher, Photographien und unvollendete Kunstwerke zum Diebstahl einladen. Der erste Entwurf einer Vordergardine zu der entschlafenen „Komischen Oper“ in Wien läßt auf’s Tiefste bedauern, daß die Ausführung dieses Projectes der Kosten wegen unterblieb. Etwas mehr Schulden würden das Geschick dieses dem Krach geweihten Institutes doch nicht aufgehalten haben. Nicht unerwähnt darf der im Saale aufgestellte Entwurf eines deutschen Siegesdenkmals bleiben, welches von der Hand des Bildhauers Wachmüller in München ausgeführt wurde. Man bedauert lebhaft, daß dieses Meisterwerk nicht an passender Stelle, als Zierde der Nation, im Großen in’s Leben treten soll.

Wir begeben uns über eine kleine, im trefflichsten Renaissancestile geschnitzte Treppe in einen kleinen abgezweigten Raum, den sich Hans Makart als sein eigentliches „Heim“ vorbehalten und ausgeschmückt hat. An der Decke von eingelegter Holzschnitzarbeit sehen wir Medaillonbilder in altdeutscher Tracht von der Hand des Eigenthümers, darunter das Portrait der reizenden, vor nicht langer Zeit verstorbenen Gattin Makart’s. Ein wuchtiger venetianischer Kronleuchter von Krystall hängt zwischen den Balken; farbensprühende Glasfenster in alter Malerei lassen ein sanftes Licht durch den Garten in diese kleine Welt voll reicher Erinnerung treten. Alte Möbel, mit Elfenbein zierlich eingelegt, altvenetianische Gläser in wunderlichen Formen und Farben, mächtige Kandelaber aus demselben Material, kunstreich in Silber getriebene Platten und Teller, eine Sammlung alter Waffen in reichster Ausschmückung mit Juwelen und edeln Metallen besetzt, ein geschnitztes Bett, von Meisterhand gearbeitet, die vortreffliche Bronzebüste Karl’s des Fünften, zahllose Seltenheiten aus aller Herren Ländern in Krystall, Gold, Silber, Holz und Bronze, aus der ganzen bewohnten Erde hierher geschleppt, Alles dies denke man sich zusammengedrängt auf diesen kleinen Raum, und man wird mir Recht geben, daß eine ähnliche bunte Welt in phantastischer Anordnung sich kaum in einem zweiten Künstlerheim finden dürfte. Und nun denke man sich dieses „in Scene gesetzte Märchen“ an einem der Festtage, zu welchen Hans Makart von Zeit zu Zeit seine Freunde einladet. Man denke sich diese Räume strahlend erhellt, und von einer gewählten Gesellschaft, die zu diesem „Costümball“ gebeten ist, erfüllt.*[3] Nicht nur die Gäste, auch das Orchesterpersonal, die gesammte Dienerschaft, ist nach einem festen Plane in passende malerische Costüme gekleidet. Die Möbel, die Geschirre, die Tafelaufsätze sind in derselben Weise dem Ganzen angepaßt. Sei es, wie bei dem letzten dieser Carnevalsfeste, ein Landsknechtlager, eine Gruppe antiker Griechen, oder eine im altungarischen Costüm, immer erscheint das Arrangement des Ganzen von einer einheitlichen Künstleridee ausgehend und musterhaft durchgeführt. Kein Fürst kann schönere Feste geben; freilich gehören zu solchen auch fürstliche Gastfreundlichkeit und – ein fürstliches Einkommen!

Franz Wallner.

  1. * Siehe meine Schrift über „das Kunstgesetz Homer’s und die Rhapsodik.“
  2. Da hat der Alte ein wenig geflunkert; denn gleich am Hause springt ein prächtiger, mächtiger Born.
  3. * Die Hauptdecoration bildete bei dem letzten dieser Costümfeste das große, dem Publicum damals noch unbekannte Bild: Catarina Cornaro, welches seit der Zeit eine Triumphfahrt in die deutschen Hauptstädte gemacht hat.




Der Somnambulisten- und Spiritistenschwindel macht in Paris wieder viel von sich reden. Besonders nimmt die Schaar der Spiritisten mit jedem Tage zu, da Jeder von ihnen sich auf die Proselytenmacherei verlegt. Man zählt deren bereits über dreißigtausend, die eine zusammenhängende Gesellschaft bilden. Als ihren Gründer betrachten sie Allan-Kardec. Dieser Mann, der vor einigen Jahren starb, hat nicht nur eine lange Reihe spiritistische Schriften verfaßt, sondern auch die erste spiritistische Gesellschaft unter dem Titel „Société Parisienne des études spirites“ in’s Leben gerufen. Der Hauptsitz der Spiritisten ist in der Rue Molière, wo jeden Dienstag spiritistische Vorstellungen stattfinden und die Media vor einem zahlreichen aus Gläubigen und Neugierigen zusammengesetzten Publicum ihre Gastrollen geben. Von diesen Medien, deren sociale Stellung ein mehr oder weniger dichter Schleier umhüllt, schreiben Einige, was ihnen der herbeigerufene, natürlich unsichtbare Geist des Verstorbenen in die Feder dictirt; Andere, die wahrscheinlich nicht schreiben können, beschränken sich auf die mündliche Mittheilung des Schattenreichs. Eine solche Vorstellung schafft immer mehrere Proselyten, welche, wie alle Proselyten, den angenommenen Glauben mit Eifer verbreiten.

Außer dem Saal in der Rue Molière haben die Spiritisten fast in allen Vierteln von Paris je an bestimmten Abenden ihre Zusammenkünfte. Sie sind in Gruppen abgetheilt, von denen jede ihren Vorsitzenden ernennt. Wer als Mitglied von den Spiritisten aufgenommen wird, hat bei jener Aufnahme einen kleinen Beitrag zu erlegen, der zur Anschaffung von Papier und Federn verwendet wird. Da nämlich die Geister in der Regel sich keiner Bündigkeit befleißigen und nicht nur selig, sondern auch sehr redselig sind, so nehmen deren Dictate eine beträchtliche Menge von Schreibmaterialien in Anspruch. Wahrscheinlich dienen aber die Beiträge auch noch zu Privatzwecken. Die Geisterbeschwörung ist ein Gewerbe wie jedes andere, und man ist in Paris nicht Geisterbeschwörer um Gotteswillen.

Großentheils gehören die Media zum schwachen Geschlecht, zu deren mancherlei Schwächen die Uneigennützigkeit durchaus nicht gehört. Der Erwerbszweig der Spiritisten ist mitunter sehr einträglich. Sie speculiren auf den Aberglauben und die Leichtgläubigkeit der Menge, in welcher sich immer Leute befinden, die für Geld und gute Worte einige Nachrichten von einem verstorbenen Freunde ober Verwandten zu erhalten wünschen. Der Spiritist oder die Spiritistin weiß immer diesen Wunsch zu erfüllen.




Zum Fritz-Reuter-Dank. Aus Marseille ging der Redaction der Gartenlaube nachstehender Brief mit einer Inlage von mehreren Thalern zu. Wir theilen denselben hier allen Verehrern des Dichters mit; vielleicht werden sie dadurch veranlaßt, rasch, mit Ernst und Verständniß an die Errichtung eines würdigen Denksteins zu gehen, welchen sie dem Fritz Reuter schuldig sind.

„Un wenn hei as ick, ock an de twintig Jahr mang de parlewuus süten hät – en ächter Mecklenbörger is as in de Wull farwt Dohk, un kulürt nich ut. Und dorüm, geihrte Herr Redacktür, dank ick Sei vör dat schüne Angedenken, wat Sei dörch Fritz Friederich in Ehr Gorenlauw unsen Fritz Reuter gäwen hewwen – bit Lesen wür mi heel wehmödig tau Maud – und ick bir Sei disse lutte Gaav vör sinen Gravsteen tau verwennen. Hei hat mi männig trurig Stun in Freud verwannelt – nu is hei dod, un ick kann em min Dankborkeit nich anners bewiesen.

Marseille, 4. August 1874.

Karl Eggerss.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: tad ln