Die Gartenlaube (1873)/Heft 3
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No. 3. | 1873. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Das schöne Antlitz Eugeniens, welches sich ihrem Gemahl jetzt wieder zuwandte, trug in der That den Ausdruck herbster Verachtung, und der gleiche Ausdruck lag auch in ihrer Stimme, als sie entgegnete:
„Du mußt es mir schon verzeihen, Arthur, wenn ich Dir kein allzu großes Vertrauen entgegen bringe. Bis zu dem Tage, wo Du zum ersten Male unser Haus betratest, zu einem Zwecke, den ich nur zu wohl kannte, bis dahin habe ich Dich nur aus den Gesprächen der Residenz gekannt, und diese –“
„Malten mein Bild in nicht eben schmeichelhafter Weise! Ich kann es mir denken! Willst Du nicht die Güte haben, mir zu sagen, was es der Residenz eigentlich beliebte über mich zu sprechen?“
Die junge Frau richtete das große Auge fest und finster auf das Antlitz ihres Gatten. „Man sagte, Arthur Berkow triebe nur deshalb einen so fürstlichen Aufwand, würfe nur deshalb Tausende und aber Tausende hin, um sich damit den Umgang und die Freundschaft der jungen Adeligen zu erkaufen und dadurch seine eigene bürgerliche Geburt vergessen zu machen. Man sagte, er sei in dem wilden zügellosen Treiben gewisser Kreise der Wildeste und Zügelloseste von Allen – was man ihm sonst noch nachsagte, entzieht sich meiner Frauenbeurtheilung.“
Arthur’s Hand lag noch immer auf der Lehne des Fauteuils, auf den er sich stützte, sie hatte während der letzten Secunden sich unwillkürlich tiefer in die seidenen Polster vergraben.
„Und Du hältst es natürlich nicht der Mühe werth, auch nur den Versuch zur Besserung eines solchen ‚Verlorenen‘ zu machen, über den die öffentliche Meinung bereits den Stab gebrochen hat?“
„Nein!“
Es klang eisig kalt, dieses Nein. Ein leichtes Zucken flog über die Züge des jungen Mannes, als er sich rasch emporrichtete.
„Du bist mehr als aufrichtig! Gleichviel, es ist immer ein Vortheil, zu wissen, wie man miteinander steht, und miteinander müssen wir für’s Erste doch nun einmal bleiben. Der gestern gethane Schritt kann nicht zurückgethan werden, wenigstens nicht sofort, ohne uns Beide der Lächerlichkeit preiszugeben. Wenn Du übrigens diese Scene provocirtest, um mir zu zeigen, daß ich, trotz jener bürgerlichen Anmaßung, die Deine Hand erzwang, mich der Baroneß Windeg möglichst fern zu halten habe – und ich fürchte, es geschah allein in dieser Absicht – so hast Du Deinen Zweck erreicht, aber –“ hier fiel Arthur wieder völlig in den alten Ton gelangweilter Blasirtheit zurück – „aber ich bitte Dich, laß es dann auch die erste und letzte dieser Art zwischen uns gewesen sein. Ich verabscheue nun einmal alles, was Scenen heißt; meine Nerven ertragen das durchaus nicht und das Leben läßt sich ja auch völlig regeln, ohne dergleichen unnöthige Echauffements. Für jetzt glaube ich Deinen Wünschen zuvorzukommen, wenn ich Dich allein lasse. Du entschuldigst, daß ich mich zurückziehe.“
Er nahm den auf einem Seitentische brennenden silbernen Armleuchter und verließ das Gemach, draußen aber blieb er noch einen Moment lang stehen und wendete das Haupt zurück. Der Funke glimmte jetzt nicht mehr blos in dem Auge des jungen Mannes, er sprühte hell auf, freilich nur eine Secunde lang, dann war alles dort wieder leer und todt, aber die Kerzen flackerten unruhig auf und nieder, als er durch das Vorzimmer schritt – ob von dem Luftzuge oder weil die Hand, die sie trug, bebte?
Eugenie war allein zurückgeblieben und ein tiefer Athemzug hob ihre Brust, als die Portière hinter ihrem Gatten zufiel; sie hatte erreicht, was sie gewollt. Als sei die freie Luft ihr Bedürfniß nach dieser Scene, trat sie an den Balcon, schob den Vorhang zurück, und das Fenster zur Hälfte öffnend, blickte sie hinaus in den duftigen, mild verschleierten Frühlingsabend. Der Sternenglanz schimmerte nur matt durch das leichte schleierartige Gewölk, das den ganzen Himmel umzog, während die Contouren der Landschaft, schon von dichter Dämmerung umwoben, undeutlich und schattenhaft in einander verschwammen. Von der Terrasse herauf drangen die Blumendüfte, und leise plätscherten dazu die Fontänen. Ueberall tiefe Ruhe und tiefer Friede, nur nicht in dem Herzen der jungen Frau da oben, die heute zum ersten Male die Schwelle ihrer neuen Heimath betreten hatte.
Er war jetzt zu Ende, der stumme, qualvolle Kampf der letzten zwei Monate, der sie doch eben durch diese Qual und dieses Kämpfen aufrecht erhalten hatte. Es liegt für heroische Naturen immer etwas Großes in dem Gedanken, so die ganze Zukunft für Andere hinzuwerfen, mit dem eigenen Lebensglück die fremde Rettung zu erkaufen und sich dem nun einmal unabwendbaren Geschick als Opfer für das Geliebte zu stellen. Aber jetzt, wo dies Opfer gebracht, die Rettung vollzogen war, wo es nichts mehr zu kämpfen und zu überwinden gab, jetzt verblich jener romantische Schimmer, mit dem die Kindesliebe bisher Eugeniens Entschluß umgeben, und die ganze trostlose Oede und Leere des Lebens, das ihrer wartete, that sich vor ihr auf. In dem [38] leisen Duften und Wehen dieses Frühlingsabends regte sich wieder das lang zurückgehaltene Weh des jungen Weibes, das auch seinen Antheil an Glück und Liebe vom Leben gefordert hatte und das so bitter um diesen Antheil betrogen war. Sie war jung und schön, schöner als so viele Andere, aus altem edlen Geschlecht, und die stolze Tochter der Windeg hatte von jeher den Helden ihres Jugendtraumes mit all’ der glänzenden Ritterlichkeit ihrer Vorfahren geschmückt. Daß er ihr gleich sein müsse an Rang und Namen, galt dabei als selbstverständlich, und nun –? Hätte der ihr aufgedrungene Gatte wenigstens noch Charakter und Energie besessen, die sie nun einmal bei dem Manne am höchsten schätzte, sie hätte ihm vielleicht seine bürgerliche Geburt verziehen, aber dieser Weichling, den sie verachtet hatte, noch ehe sie ihn gekannt! Hatten die Beleidigungen, die sie ihm mit vollster Absicht entgegengeschleudert, und die jeden anderen Mann außer sich gebracht haben würden, es wohl vermocht, ihn aus seiner apathischen Gleichgültigkeit zu reißen? War er dem herbsten Ausdruck ihrer Verachtung gegenüber auch nur einen Augenblick aus dieser Apathie gewichen? Und als heut’ Mittag die Gefahr über sie Beide hereinbrach, hatte er da auch nur die Hand zu seiner oder ihrer Rettung gerührt? Ein Anderer, ein Fremder mußte sich den rasenden Thieren entgegenwerfen und sie bändigen, auf die Gefahr hin, von ihnen getreten zu werden. Vor Eugeniens Augen stieg das Bild des jungen Mannes auf, mit den trotzigen blauen Augen und der blutenden Stirn. Ihr Gatte freilich wußte nicht einmal, ob die Wunde seines Retters gefährlich, ob sie vielleicht tödtlich sei, und doch wären er und sie verloren gewesen ohne jene energische blitzähnliche That.
Die junge Frau sank in einen Sessel und verbarg das Antlitz in beiden Händen, aber Alles, was sie seit Monden durchgekämpft und durchgelitten und was in dieser Stunde mit zehnfacher Gewalt auf sie eindrang, das gab sich jetzt kund in dem einen verzweiflungsvollen Aufschrei: „O mein Gott, mein Gott, wie werde ich dies Leben ertragen!“
Die sehr umfangreichen Berkow’schen Gruben und Bergwerke lagen ziemlich weit von der Residenz, in einer der entfernteren Provinzen. Die Gegend dort bot nicht viel Anziehendes dar. Waldberge und immer nur Waldberge, auf Meilen in der Runde nichts als das einförmige dunkle Grün der Tannen, das gleichmäßig Höhen und Thäler umzog, dazwischen Dörfer und Weiler und hin und wieder einmal ein Pachthof oder ein ländliches Besitzthum. Aber der Boden hier oben vermochte nicht viel zu geben; seine Schätze lagen unter der Erde verborgen, und deshalb drängte sich auch alles Leben und alle Thätigkeit der Umgegend auf den Berkow’schen Besitzungen zusammen, wo diese Schätze in wahrhaft großartigem Maßstabe zu Tage gefördert wurden.
Diese Besitzungen lagen ziemlich einsam und abgeschnitten von dem größeren Verkehre, denn selbst die nächste Stadt war einige Stunden weit entfernt; aber er bildete fast eine Stadt für sich, dieser riesige Complex von Betriebs- und Wohngebäuden, der sich da inmitten der Waldthäler mit all’ seinem bewegten Leben und Treiben erhob. Alle die Hülfsmittel, die Industrie und Wissenschaft nur zu geben vermochten, Alles, was Maschinenkraft und Menschenhände nur leisten konnten, wurde hier aufgeboten, um dem widerstrebenden Erdgeiste seine Schätze abzuringen. Ein ganzes Heer von Verwaltungsbeamten, Technikern, Inspectoren und Oberaufsehern stand unter der Leitung des Directors und bildete eine Colonie für sich, während die nach mehreren Tausenden zählenden Arbeiter, die nur zum kleinsten Theile in der Colonie selbst hatten untergebracht werden können, in den nahegelegenen Dörfern wohnten. Das Unternehmen, das erst der jetzige Besitzer aus seinen sehr unbedeutenden Anfängen zu der Höhe erhoben hatte, auf der es augenblicklich stand, schien fast zu groß für die Mittel eines Privatmannes und wurde in der That auch nur mit den riesigsten Mitteln in Betrieb erhalten. Es war weitaus das bedeutendste in der ganzen Provinz und beherrschte demgemäß auch in seinem Industriezweige die Provinz und die sämmtlichen gleichartigen Unternehmungen derselben, von denen sich keins an Großartigkeit mit ihm messen konnte. Diese Colonie mit ihrem unbegrenzten Aufwande an Maschinen- und Arbeitskräften, mit ihren Bauten und Wohnhäusern, ihren Beamten und Arbeitern war gewissermaßen ein Staat für sich, und der Herr desselben ebenso souverain wie nur irgend der Beherrscher eines kleinen Fürstenthums.
Es mußte jedenfalls befremden, daß man einem Manne, der an der Spitze eines solchen Unternehmens stand, immer noch eine Auszeichnung versagte, die er doch so sehr erstrebte und die so Manchem zu Theil wurde, der weniger für die Industrie des Landes gethan hatte; aber hier, wie überall, wo die Entscheidung direct von höchster Stelle ausging, kam der Charakter und die Persönlichkeit des Betreffenden in Frage, und Berkow erfreute sich nun einmal keiner Sympathie in den maßgebenden Kreisen. Es gab doch so manchen dunklen Punkt in seiner Vergangenheit, den sein Reichthum wohl verwischen, aber nie ganz auslöschen konnte. Er war zwar noch niemals mit den Gesetzen in Conflict gekommen; aber oft genug war er bis hart an die Grenze gegangen, wo die Gesetze einzuschreiten pflegen. Auch seine Schöpfungen in der Provinz, so großartig sie waren, wollte man von vielen Seiten doch keineswegs als mustergültig anerkennen. Es wurde Manches von einem gewissenlosen Ausbeutungssysteme geredet, das, nur darauf berechnet, den Reichthum des Besitzers zu mehren, nicht die mindeste Rücksicht auf das Wohl und Wehe der Menschenkräfte nahm, die es sich dabei dienstbar machte, von willkürlichen Uebergriffen der Beamten, von gährender Unzufriedenheit der Arbeiter – indessen, das war und blieb mehr oder weniger Gerücht, da die Colonie selbst ja zu fern lag. Thatsache war und blieb dagegen, daß sie eine nahezu unerschöpfliche Quelle des Reichthums für ihren Eigenthümer bildete.
Freilich mußte ein Jeder zugestehen, daß die Ausdauer, die Zähigkeit und das industrielle Genie dieses Mannes mindestens ebenso groß waren wie seine Gewissenlosigkeit. Aus den ärmlichsten Verhältnissen hervorgegangen, von der Woge des Lebens emporgehoben und wieder herabgeschleudert, war es ihm schließlich doch gelungen, sich auf der Höhe zu behaupten, und jetzt nahm er dort schon seit Jahren die unbestrittene Stellung eines Millionärs ein. Freilich schien sich auch während dieser letzten Jahre das Glück unwandelbar an seine Ferse zu heften; so oft er es auch auf die Probe stellte, es blieb ihm treu, und wo es sich um das bedenklichste Unternehmen, um die gewagteste Speculation handelte, sie glückten, sobald seine Hand die Leitung übernahm.
Berkow war früh Wittwer geworden und zu keiner zweiten Ehe geschritten; sein rastloser, immer nur auf Speculation und Erwerb gerichteter Charakter empfand die Häuslichkeit eher als eine Fessel, denn als eine Erholung. Sein einziger Sohn und Erbe wurde in der Residenz erzogen, und es war denn auch, was Hofmeister, Lehrer in allen Fächern, Universitätsbesuch und Reisen betraf, nichts in seiner Erziehung gespart worden. Von einer eigentlichen Vorbildung für seinen Beruf als künftiger Chef und Leiter so großartiger industrieller Unternehmungen verlautete dagegen nichts. Herr Arthur zeigte eine entschiedene Unlust, irgend etwas zu lernen, was nicht zur fashionablen Ausbildung gehörte, und der Vater war viel zu schwach und viel zu eitel auf die von seinem Sohne zu spielende glänzende Rolle, zu deren Ermöglichung und Behauptung er mit Freuden Tausende hergab – um ernstlich auf eine tiefere Ausbildung desselben zu dringen. Im schlimmsten Falle gab es ja immer noch fähige Beamte genug, deren technische und mercantilische Kenntnisse man sich für hohes Gehalt dienstbar machen konnte. So kam denn der junge Erbe kaum einmal des Jahres nach den Besitzungen in der Provinz, wo er sich jedesmal tödtlich langweilte, während der Vater, der allerdings auch zeitweise in der Residenz lebte, sich doch die Oberleitung des Ganzen vorbehielt.
Das Wetter hatte den Landaufenthalt des jungen Ehepaares bisher noch nicht besonders begünstigt. Die Sonne machte sich selten in diesem Frühjahre; heute endlich schien sie nach langen Regentagen einmal wieder klar und warm herab, als wolle sie auch ihrerseits den Sonntag begrüßen. Die Schachte waren leer und die Werke feierten, aber trotz der Sonntagsruhe und trotz des lachenden Sonnenscheins schien doch etwas von dem düster einförmigen Charakter der Gegend auf der ganzen Colonie zu liegen. In all’ diesen zahlreichen, allein nach dem starren Princip der Nützlichkeit aufgeführten Bauten und Wohnhäusern gab sich auch nicht der leiseste Sinn für Verschönerung oder für Bequemlichkeit der Betheiligten kund. Daß dieser Sinn dem Besitzer nicht überhaupt mangelte, davon legte dessen eigenes Landhaus Zeugniß ab, das man absichtlich eine Strecke von den [39] Werken entfernt, mit der vollen Aussicht auf die Waldberge gebaut hatte, und das, außen und innen mit einem wahrhaft fürstlichen Luxus ausgestattet, mit seinen Balcons, Terrassen und Blumenanlagen wie eine Oase voll Duft und Poesie inmitten dieser Stätte der Industrie lag.
Das in unmittelbarer Nähe der Schachte gelegene Häuschen des Schichtmeisters Hartmann verrieth schon durch sein Aussehen, daß sich der Eigenthümer desselben einer besonders bevorzugten Stellung erfreute, und so war es auch in der That. Hartmann hatte, noch als junger rüstiger Bergmann, ein Mädchen geheirathet, das im Dienste der verstorbenen Frau Berkow stand und sich der ganz besonderen Vorliebe ihrer Herrin erfreute. Die junge Frau blieb selbst nach ihrer Verheirathung noch mehr oder weniger in Beziehung zu der ehemaligen Herrschaft, und in Folge dessen wurde auch ihr Mann in jeder Weise begünstigt und bevorzugt, von Posten zu Posten geschoben und endlich sogar zum Schichtmeister befördert. Freilich hörten diese Beziehungen und Begünstigungen auf, als Frau Berkow starb; ihr Gatte war nicht der Mann, sich um ehemalige Angehörige seines Haushalts viel zu kümmern, und als Hartmann’s Gattin bald darauf gleichfalls mit Tode abging, war vollends nicht mehr die Rede davon. Indessen der Schichtmeister hegte von jener Zeit her noch immer eine große Anhänglichkeit an die Berkow’sche Familie, der er seine jetzige sorgenfreie Stellung verdankte, während er sonst wahrscheinlich, wie so viele seiner Cameraden, nie über die mühselige, kärglich lohnende Schachtarbeit hinausgekommen wäre. Er hatte bereits vor mehreren Jahren seine verwaiste Schwestertochter, Martha Ewers, in’s Haus genommen, die ihm die Hausfrau reichlich ersetzte; zur Erfüllung seines geheimen Wunsches aber, daß aus ihr und seinem Sohne einmal ein Paar werden möchte, hatte sich bisher noch wenig Aussicht geboten.
An diesem Sonntag-Morgen war das sonst so friedliche Häuschen der Schauplatz einer ziemlich erregten Scene, wie sie jetzt leider zwischen Vater und Sohn nicht mehr zu den Seltenheiten gehörten. Der Schichtmeister, in der Mitte der kleinen Stube stehend, sprach mit vollster Heftigkeit auf Ulrich ein, der, soeben aus der Wohnung des Directors zurückgekehrt, stumm und finster an der Thür lehnte, während Martha, die etwas seitwärts stand, mit unverhehlter Besorgniß die Streitenden beobachtete.
„Hat man je so etwas erlebt!“ eiferte der Schichtmeister. „Hast Du noch nicht genug Feinde unter den Herren drüben, daß Du sie Dir mit Gewalt auf den Hals hetzen mußt? Wird dem Patron da eine Summe angeboten, groß genug, um einen ganzen Hausstand damit anzufangen, und er setzt seinen Starrkopf auf und sagt ohne Weiteres Nein! Aber freilich, was kümmerst Du Dich auch um Hausstand oder dergleichen! wie denkst Du daran, eine Frau zu nehmen! Den Kopf in die Zeitungen stecken, wenn Du von der Arbeit kommst, noch die halbe Nacht über den Büchern sitzen und Dich mit all dem neumodischen Zeug vollpfropfen, von dem ein rechtschaffener Bergmann sein Lebtag nichts zu wissen braucht, bei den Cameraden den Herrn und Meister spielen, so daß man nächstens nicht mehr den Herrn Director, sondern den Herrn Ulrich Hartmann wird fragen müssen, was eigentlich auf den Werken geschehen soll – das ist so Dein Vergnügen. Und wenn man dann zufällig einmal daran erinnert wird, daß man vorläufig noch Untersteiger ist, dann redet man von ‚Bezahlung‘ und wirft der Herrschaft die ganze Geschichte vor die Füße. Ich sollte meinen, wenn irgend Jemand das Geld redlich verdient hätte, dann wärst Du es!“
Ulrich, der bisher schweigend zugehört hatte, stampfte bei den letzten Worten zornig mit dem Fuße.
„Ich will aber nun einmal nichts von der ganzen Sippschaft da oben! Ich habe ihnen gesagt, daß ich für meine sogenannte ‚Heldenthat‘, von der sie so viel Wesens machen, keine Bezahlung brauche und auch keine nehme, und damit ist’s gut!“
Der Alte wollte von Neuem auffahren und war im Begriff, eine noch derbere Strafpredigt zu halten, als auf einmal Martha dazwischen trat. „Laß ihn, Ohm,“ sagte sie kurz, „er hat Recht!“
Der Schichtmeister, gänzlich aus dem Concepte gebracht durch diese unerwartete Einrede, sah sie mit offenem Munde an. „So? Er hat Recht?“ wiederholte er ärgerlich. „Das konnte ich mir denken, daß Du wieder seine Partie nimmst!“
„Ulrich kann es nicht vertragen, daß sie die Sache so ohne Weiteres durch den Director abthun lassen,“ fuhr das Mädchen bestimmt fort, „und es schickt sich auch nicht. Hätte Herr Berkow selbst mit ihm gesprochen und ihm ein Wort von Dank oder so etwas gesagt – aber freilich, der kümmert sich ja um nichts in der Welt! Er sieht immer aus, als ob er eben erst aus dem Schlafe käme, und als ob es ihm die schrecklichste Mühe machte, Jemand auch nur anzusehen, und wenn er wirklich einmal nicht schläft, dann liegt er den ganzen Tag auf seinem Sopha und schaut sich die Decke an –“
„Laß mir den jungen Herrn in Ruhe!“ unterbrach sie der Schichtmeister heftig. „Den hat sein Vater auf dem Gewissen! Von Kindheit an hat er ihm ja allen Willen gethan und sich alle Unarten gefallen lassen, hat ihm täglich vorerzählt, wie reich er einmal werden würde, und Hofmeister und Bedienten fortgejagt, wenn sie dem Jungen nicht pariren wollten. Später, als er größer wurde, da durfte er ja nur noch mit Grafen und Baronen umgehen; das Geld wurde ihm haufenweise zugesteckt, und je toller er es trieb, desto mehr freute sich der Vater. Da soll das bischen Herzensgüte nicht darauf gehen bei solch einem jungen Menschen! denn gut war der Arthur, das laß ich mir nicht nehmen, der ich ihn so oft habe auf den Knieen reiten lassen, und ein Herz hat er auch gehabt. Ich weiß noch, als er damals nach dem Tode der Mutter in die Stadt sollte, wie er mir da um den Hals fiel und seine bittersten Thränen weinte, und nicht fortzubringen war, trotzdem Herr Berkow bat und streichelte und versprach, was es nur in der Welt gab; ich mußte ihn selbst in den Wagen tragen. Freilich, als er erst in der Stadt war bei den Bonnen und Hofmeistern, da war’s aus, das nächste Mal gab er mir nur noch die Hand, dann ist er immer vornehmer, immer kühler geworden, und jetzt –“ es zuckte ein beinahe schmerzlicher Ausdruck über die Züge des Alten, aber er schüttelte rasch die Weichheit ab. „Nun, mir kann’s am Ende gleich sein, aber ich mag es nicht leiden, wenn Ihr bei jeder Gelegenheit so über ihn herfahrt, zumal der Ulrich, der einen förmlichen Haß auf ihn hat. Wenn man dem Eisenkopf auch so viel Willen gelassen und noch ein paar Hunderttausend dazu gegeben hätte, dann möchte ich wohl wissen, was aus ihm geworden wäre! Was Gutes sicher nicht!“
„Vielleicht was schlimmeres, Vater!“ sagte Ulrich herb, „aber solch ein Weichling gewiß nicht, darauf kannst Du Dich verlassen!“
Dem Gespräche, das schon wieder eine bedenkliche Wendung zu nehmen drohte, wurde jetzt zum Glück ein Ende gemacht. Es klopfte draußen an der Thür, gleich darauf trat ein Diener in der reichen, etwas überladenen Livrée des Berkow’schen Hauses ein und bot dem Schichtmeister einen Guten Tag.
„Die gnädige Frau schickt mich her; ich soll Ihren Ulrich – Ah, da sind Sie ja, Hartmann! Die gnädige Frau wünscht Sie zu sprechen, ich soll Sie auf heut Abend punkt sieben Uhr hinüber bestellen.“
„Mich?“
„Den Ulrich?“
Die beiden Ausrufe kamen mit gleicher Verwunderung von den Lippen des Schichtmeisters und seines Sohnes, während Martha ebenfalls erstaunt den Diener ansah, der gleichmüthig fortfuhr:
„Sie müssen doch irgend etwas mit dem Director vorgehabt haben, Hartmann! Er war heut schon in aller Frühe bei der gnädigen Frau, die sich sonst nie um die Geschäftssachen der Herren kümmert, und gleich darauf wurde ich Hals über Kopf zu Ihnen geschickt, obgleich wir wahrhaftig heut genug drüben zu thun haben. Die sämmtlichen Herren Beamten sind zu Tische geladen und aus der Stadt kommen auch, ich weiß nicht was alles für Respectspersonen – aber ich habe keinen Augenblick Zeit. Seien Sie ja pünktlich! Um sieben Uhr nach dem Diner!“
Der Mann schien es wirklich eilig zu haben; er nickte den Anwesenden noch einen kurzen Gruß zu und ging.
„Da haben wir’s!“ brach der Schichtmeister los. „Jetzt wissen sie schon drüben bei der Herrschaft von Deinem unsinnigen Abschlag. Nun sieh Du zu, wie Du mit ihnen fertig wirst.“
„Wirst Du gehen, Ulrich?“ fragte Martha, die bisher stillgeschwiegen, plötzlich rasch und mit gespanntem Ausdruck.
„Was fällt Dir denn ein, Mädchen?“ schalt der Oheim. „Meinst Du etwa, er könnte wieder Nein sagen, wenn die gnädige [40] Frau ihn ausdrücklich rufen läßt? Freilich Du und er, Ihr wäret im Stande dazu.“
Martha achtete nicht auf die Zwischenrede, sie näherte sich ihrem Vetter und legte die Hand auf seinen Arm. „Wirst Du gehen?“ wiederholte sie leise.
Ulrich stand da und blickte finster zu Boden, wie im Kampfe mit sich selber; auf einmal aber warf er heftig den Kopf zurück.
„Gewiß werde ich! Ich möchte doch wissen, was es der gnädigen Frau denn eigentlich beliebt, von mir zu wollen, nachdem sie sich acht Tage lang nicht einmal die Mühe gegeben hat, nach mir –“
Er hielt plötzlich inne, als habe er bereits zu viel gesagt. Martha’s Hand war von seinem Arme herabgeglitten und sie trat zurück, der Schichtmeister aber sagte mit einem Seufzer:
„Nun gnade uns Gott, wenn Du drüben so auftrittst. Zu allem Unglück ist nun auch noch der alte Berkow gestern Abend angekommen! Wenn Ihr beide aneinander gerathet, dann bist Du die längste Zeit hier Steiger gewesen, und ich bin nicht mehr lange Schichtmeister. Ich kenne den Herrn!“
Ein verächtlicher Ausdruck spielte um die Lippen des jungen Mannes. „Sei ruhig, Vater! Sie wissen zu gut, wie sehr Du an der ‚Herrschaft‘ hängst und welche Noth Dir der ungerathene Sohn macht, der nun einmal vor dieser Herrschaft sich nicht ducken will. Dir wird Keiner etwas anhaben, und ich –“ hier richtete sich Ulrich voll trotzigen Selbstbewußtseins zu seiner vollen Höhe empor, „ich werde wohl für’s Erste auch noch hierbleiben. Mich fortzuschicken wagen sie gar nicht, dazu fürchten sie mich viel zu sehr!“
Er kehrte seinem Vater den Rücken, stieß die Thür auf und trat in’s Freie. Der Schichtmeister schlug die Hände zusammen und schien sehr geneigt, seinem rebellischen Sohne noch eine donnernde Strafrede nachzuschicken, aber er wurde daran von Martha verhindert, die auf’s Neue, und diesmal noch viel entschiedener, Ulrich’s Partei nahm. Des Streitens müde, griff der Alte endlich nach seiner Pfeife und schickte sich an, gleichfalls hinauszugehen.
„Höre, Martha,“ sagte er, sich schon in der Thür noch einmal umwendend, „an Dir sehe ich’s, kein Trotzkopf ist so groß, es giebt doch noch einen, der ihn übertrotzt. Du hast richtig an dem Ulrich Deinen Meister gefunden, und der wird auch noch seinen Meister finden, so wahr ich Gotthold Hartmann heiße!“ –
Drüben im Landhause war man inzwischen mit den Vorbereitungen zu dem heute stattfindenden großen Diner beschäftigt. Die Diener liefen treppauf und treppab, in den Wirthschaftsräumen hantierten Köche und Mägde umher, überall gab es noch zu ändern und zu ordnen und das ganze Haus bot jenes Bild der geschäftigen Unruhe dar, die gewöhnlich einer Festlichkeit vorauszugehen pflegt.
Eine um so größere Stille herrschte in den Zimmern des jungen Berkow: die Vorhänge waren hier tief herabgelassen, die Portièren geschlossen und im Nebengemach glitt der Diener mit unhörbaren Schritten über den dicken Teppich hin, dies und jenes ordnend. Sein Herr liebte es nun einmal, den größten Theil des Tages träge auf seinem Sopha zu verträumen, und wollte auch nicht durch den allergeringsten Laut darin gestört sein.
Der junge Erbe lag mit halbgeschlossenen Augen auf der Ottomane ausgestreckt und hielt ein Buch in der Hand, in dem er las oder doch wenigstens gelesen zu haben schien, denn bereits seit geraumer Zeit lag genau dieselbe Seite vor ihm aufgeschlagen. Wahrscheinlich kostete es ihm zu viel Mühe, die Blätter umzuwenden, und jetzt glitt das nachlässig gehaltene Buch vollends aus den schmalen schlanken Händen auf den Teppich nieder. Es wäre eine leichte Mühe gewesen, sich danach zu bücken und es aufzuheben, eine noch leichtere, den nebenan beschäftigten Diener zu diesem Zwecke herzurufen, aber keins von beiden geschah. Das Buch blieb auf dem Teppich liegen, und Arthur machte während der nächsten Viertelstunde auch nicht die geringste Bewegung; sein Antlitz verrieth aber dabei zur Genüge, daß er weder über das Gelesene nachdachte, noch in Träumerei versunken war; er langweilte sich einfach.
Ein ziemlich rücksichtsloses Oeffnen der Thür, die vom Corridor aus in das Nebenzimmer führte, und eine laute, herrische Stimme drinnen machten dieser interessanten Beschäftigung vorläufig ein Ende. Der alte Berkow fragte eintretend, ob sein Sohn sich noch hier befinde, und auf die bejahende Antwort schickte er den Diener fort, schob die Portière zurück und trat zu seinem Sohn in’s Zimmer. Sein Antlitz war geröthet, wie im Aerger oder Zorn, und die Wolke, die bereits auf seiner Stirn lag, wurde noch finsterer, als er Arthur’s ansichtig ward.
„Also hier liegst Du wirklich noch auf dem Sopha, genau so, wie Du vor drei Stunden lagst!“
Arthur schien durchaus nicht daran gewöhnt zu sein, seinem Vater auch nur die äußere Form der Ehrerbietung zu erweisen. Er hatte von dem Eintritt desselben nicht die mindeste Notiz genommen, und auch jetzt fiel es ihm nicht ein, seine nachlässige Stellung nur im Geringsten zu verändern.
Die Stirn des Vaters furchte sich noch tiefer. „Deine Apathie und Trägheit fängt jetzt wirklich an, alle Begriffe zu übersteigen! Das ist ja ärger hier als in der Residenz. Ich hoffte, Du würdest Dich doch wenigstens in etwas meinen Wünschen fügen, wenigstens einigen Antheil an dem Gedeihen von Schöpfungen nehmen, die ich nur um Deinetwillen in’s Leben rief, aber –“
„Mein Gott, Papa,“ unterbrach ihn der junge Mann, „Du verlangst doch nicht etwa, daß ich mich um Arbeiter, um Maschinen und dergleichen kümmern soll? Ich habe das ja nie gethan, und begreife überhaupt nicht, wie Du uns gerade hierher dirigiren konntest. Ich langweile mich zu Tode in dieser Einöde.“
Die Worte klangen in der That sehr gelangweilt, aber sie hatten nichtsdestoweniger den vollen Ton des verzogenen Lieblingssohnes, der gewohnt ist, seinen Launen überall und unter allen Umständen Rechnung getragen zu sehen, und der schon die bloße Zumuthung von etwas Unbequemem als eine Beleidigung auffaßt. Aber irgend etwas Vorhergegangenes mußte den Vater zu sehr gereizt haben, um diesmal wie gewöhnlich sofort nachzugeben. Er zuckte die Achseln.
„Ich bin es nun nachgerade gewohnt, daß Du Dich an jedem Orte und unter jeder Umgebung langweilst, während ich allein alle Sorge und alle Last zu tragen habe. Zumal jetzt stürmt es von allen Seiten auf mich ein. Deine Verschwendung in der Residenz fing zuletzt an, selbst meine Mittel zu übersteigen; die Windegs von ihren Verpflichtungen loszumachen, hat auch Opfer genug gekostet, und hier finde ich vollends nichts als Aerger und Unannehmlichkeiten ohne Ende. Da habe ich heut Morgen eine Conferenz mit dem Director und den Oberbeamten gehabt und nur Klagen und nichts als Klagen hören müssen. Umfassende Reparaturen in den Schachten – Verbesserung der Arbeitslöhne – neue Wetterführung – Unsinn! Als ob ich jetzt Zeit und Geld dazu hätte!“
Arthur hörte vollständig theilnahmlos zu; wenn sich in seinem Gesichte überhaupt etwas kund gab, so war es der Wunsch nach Entfernung des Vaters; aber dieser that ihm nicht den Gefallen, er begann heftig im Zimmer auf- und abzuschreiten.
„Verlasse sich Einer auf die Beamten und ihre Berichte! Ein halbes Jahr lang bin ich nicht persönlich hier gewesen und Alles geht darunter und darüber! Da reden sie von dumpfer Gährung unter den Leuten, von bedenklichen Symptomen, drohender Gefahr, als ob sie nicht Vollmacht hätten, den Zügel so straff als nur möglich anzuziehen. Vor allem wird mir da ein gewisser Hartmann als der Haupt-Aufwiegler bezeichnet, der bei seinen Cameraden als eine neue Art von Messias gilt und mir dabei in der Stille die gesammten Werke insurgirt, und als ich frage, warum in Kukuks Namen sie denn den Menschen nicht längst fortgejagt haben, was bekomme ich zur Antwort? Das wagte man nicht! Er hätte sich bisher in seinem Arbeitsverhältniß noch nicht das Geringste zu schulden kommen lassen, und seine Cameraden hingen mit blinder Vergötterung an ihm. Es gäbe eine Revolution auf den Werken, wenn man ihn ohne hinreichenden Grund entließe. Ich habe mir die Freiheit genommen, den Herren zu erklären, daß sie allesammt Hasenfüße wären, und daß ich jetzt die Sache in die Hand nehmen würde. Die Schachte bleiben wie sie sind, und an den Lohnverhältnissen wird auch nicht ein Jota geändert. Gegen die geringste Auflehnung wird mit vollster Strenge vorgegangen und dem Herrn Rädelsführer werde ich selbst den Abschied geben und das noch heute.“
„Das kannst Du nicht, Papa!“ sagte Arthur plötzlich, sich zur Hälfte aufrichtend.
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[42] Berkow blieb überrascht stehen. „Weshalb nicht?“
„Weil eben dieser Hartmann es war, der die Pferde vor unserem Wagen aufhielt und uns dadurch vom sicheren Tode rettete.“
Berkow ließ einen unterdrückten Ausruf des Zornes hören. „Fatal! Mußte es auch grade dieser Mensch sein! Ja freilich, da kann man ihn nicht so ohne Weiteres fortschicken; man wird eine Gelegenheit abwarten müssen. Uebrigens, Arthur,“ er blickte finster auf seinen Sohn hin, „es war auch arg, daß ich erst durch Fremde von jenem Unfall erfahren mußte; Du hieltest es nicht der Mühe werth, mir auch nur ein Wort darüber zu schreiben.“
„Wozu?“ Der junge Mann stützte müde den Kopf in die Hand. „Die Sache ging ja glücklich vorüber, und überdies hat man uns hier nahezu umgebracht mit Beileidsbezeigungen, Glückwünschen, Fragen und Redereien darüber. Ich finde, das Leben ist gar nicht so viel werth, um von seiner Rettung ein solches Aufheben zu machen.“
„Findest Du das?“ fragte der Vater ihn fixirend. „Ich dächte, Du wärest am Tage vorher getraut worden.“
Arthur antwortete nicht; er zuckte nur die Achseln. Berkow’s Auge heftete sich noch forschender auf seine Züge.
„Da wir einmal bei dem Punkte angekommen sind – was ist das zwischen Dir und Deiner Frau?“ fragte er plötzlich rasch und ohne allen Uebergang.
„Zwischen mir und meiner Frau?“ wiederholte Arthur, als müsse er sich erst besinnen, von wem eigentlich die Rede sei.
„Ja, zwischen Euch Beiden. Ich denke ein junges Ehepaar in seinen Flitterwochen zu überraschen und finde hier Dinge, von denen ich mir in der Residenz wahrhaftig nichts träumen ließ. Du reitest allein und sie fährt allein; Keiner von Euch betritt je des Anderen Zimmer. Ihr vermeidet einander absichtlich und wenn Ihr Euch einmal trefft, so werden keine sechs Worte gesprochen – was soll das alles heißen?“
Den meisten Culturvölkern ist es gemeinsam, den menschlichen Geist als ein Lichthaftes und Erleuchtendes aufzufassen, welches bei bevorzugten Köpfen Strahlen werfen und Licht verbreiten könne über seine Umgebung und die ganze Welt. Mancherlei alltägliche Redensarten, von großen Lichtern der Wissenschaft, vom Leuchtenlassen seines Lichtes, vom Stellen unter den Scheffel etc., zeigen, wie sehr diese Vorstellungsweise in Fleisch und Blut übergegangen. Und wir greifen daher schwerlich fehl, wenn wir nur die bildliche Darstellung einer gewissen Ueberfülle der inneren Helle der Weisheit in dem Lichtscheine vermuthen, mit welchem die Künstler alter und neuer Völker das Haupt ihrer Götter, Heiligen und Heroen umgeben. Es scheint wenigstens den Inhalt dieses Symbols keineswegs zu erschöpfen, wenn Grimm gelegentlich ausspricht, es solle nur das höchste Maß leuchtender Schönheit damit ausgedrückt werden.
Vergangene und herrschende Religionen wetteifern in der Anwendung dieses Verherrlichungsmittels für die Abbilder der von ihnen verehrten Wesen. Häufig finden wir den Gebrauch des Heiligenscheins in den indischen Urreligionen, seltener bei den späteren asiatischen und afrikanischen Völkern, sowie bei den Griechen. Die Römer wandten ihn anfänglich spärlich, später oft an. Niemals vorher oder nachher fand aber der Heiligenschein eine so ausgedehnte Anwendung, als in dem ersten Jahrtausend der christlichen Kirche.
Wenn wir auf den Reichthum bildlicher Darstellungen des Heiligenscheines blicken, so wird es uns schwer zu glauben, daß mit alledem nur der Ausdruck einer weitverbreiteten Idee beabsichtigt sein sollte; unwillkürlich drängt sich die Vorstellung auf, es müßten wirklich beobachtende Erscheinungen nähern Anlaß dazu gegeben haben. Und diese Annahme ist denn auch höchst wahrscheinlich die richtige. Wir erwähnen im Vorübergehen jener häufig beobachteten elektrischen Umleuchtung des Kopfes bei Gewitterstürmen, welche durch ausströmende Elektricität hervorgebracht wird. Die verklärende Beleuchtung, welche die untergehende Sonne einem auf hoher Bergspitze stehenden Menschen verleiht, kann zu ähnlichen Sagen Veranlassung gegeben haben. Herodian erzählt, bei der Schönheit des Kaiser Commodus verweilend, daß sein goldgelbes, natürlich gelocktes Haar, wenn er in der Sonne ging, eine solchen Glanz verbreitete, daß die Einen meinten, es sei mit Goldstaub gepudert, während Andere voller Staunen glaubten, „es umgebe sein Haupt von Natur ein himmlischer Glanz“. Doch wir haben von Erscheinungen zu sprechen, welche noch unmittelbarer hierher gehören.
Man kann zunächst das Haupt einer vorübergehenden Person, besonders wenn sie schwarzes Haar hat, in Folge einer leichten Reizung der Netzhaut, mit einem Heiligenscheine umgeben erblicken. Es ist dies eine subjective Augentäuschung, welche bei einiger Anlage dazu in der Dämmerung alle sich bewegenden Gegenstände mit hellen oder farbigen Säumen umgeben kann. Auf die Worte, welche Faust beim ersten Erblicken des in einen Hund verwandelten Mephisto an Wagner richtet:
Bemerkst Du, wie in weitem Schneckenkreise
Er um uns her und immer näher jagt?
Und irr’ ich nicht, so zieht ein Feuerstrudel
Auf seinen Pfaden hinterdrein –
erwidert der altkluge Famulus nicht ungeschickt:
Ich sehe nichts, als einen schwarzen Pudel,
Es mag bei Euch wohl Augentäuschung sein.
Goethe selbst erklärt in Bezug auf die eben mitgetheilten Verse, er habe sie im halben Bewußtsein einer Naturerscheinung niedergeschrieben, doch erst später einmal vor seinem Fenster im gemäßigten Abendlichte einen schwarzen Pudel vorbeilaufen sehen, welcher einen hellen Streif, das undeutliche im Auge gebliebene Ergänzungsbild seiner vorübereilenden Gestalt, nach sich gezogen habe. – Unter Umständen vermag ein solcher Lichtsaum eine nicht unbeträchtliche Helligkeit zu erlangen. Wir könnten von Linné ab eine ganze Reihe bewährter Naturforscher aufführen, welche insgesammt behaupten, einen hellen, bläulichen, für elektrisch gehaltenen Lichtschein um die Kronen verschiedener orangefarbener Blumen wahrgenommen zu haben, während es kaum einem Zweifel unterliegt, daß sie sämmtlich nur der erwähnten Augentäuschung verfallen sind.
Es wird uns nach dem Gesagten nicht schwer werden, Goethe ferner zu glauben, wenn er berichtet: „Indem ich, auf dem Felde sitzend, mit einem Manne sprach, der in einiger Entfernung vor mir stand und einen grauen Himmel zum Hintergrunde hatte, so schien mir, nachdem ich ihn lange scharf und unverwandt angesehen, sein Haupt von einem blendenden Schein umgeben.“ Ich muß hinzufügen, daß zweierlei Umstände das Eintreten dieser Erscheinung sehr befördern, nämlich eine gewisse gespannte Aufmerksamkeit auf die betreffende Person und dann auch die Absicht, das Ungewöhnliche zu sehen. So beklagte sich einst Schiller geradezu gegen Goethe, daß er ihn mit seiner Nachbilderseherei angesteckt habe; er sähe sie, seit er darauf aufmerksam geworden sei, überall und bis zur Qual. Im vorliegenden Falle wird übrigens der lichte Schein nicht den Kopf allein, sondern mehr oder weniger die ganze Gestalt umfließen.
Weit auffallender und wichtiger ist eine oft beobachtete und schon dem Aristoteles bekannte Form des Heiligenscheins, welche man bei niedrigem Stande der Sonne oder des Vollmonds rings um den Kopf des eigenen Schattens bemerkt, wenn derselbe auf feuchtes oder besser stark bethautes Gras oder Getreide fällt. Man beobachtet alsdann einen hellen Hof, der sich über den Scheitel kegelförmig verlängert und mit deutlichem Glanze von dem übrigen doch ebenfalls erleuchteten Grunde abhebt. Bei recht feintröpfigem Thau ist der Schimmer ungewöhnlich lebhaft. Spierenberg, welcher die Erscheinung einmal bei Vollmondschein in besonderer Pracht wahrnahm, sagt, das feinblättrige Gesträuch, auf welches sein Schatten gefallen sei, habe im Umkreise des Kopfes ausgesehen, als sei es dort mit weißen Blüthen übersäet.
Dieser helle Hof entsteht durch die Zurückwerfung der Lichtstrahlen theils von den Thautropfen, theils von den spiegelnden [43] Grashalmen, theils durch die Erleuchtung der ganzen Oberfläche derselben. Wäre nämlich die Sonne (oder der Mond) ein einziger leuchtender Punkt, so würde genau der Thautropfen, welcher mit der Sonne und des Beobachters Auge in gerader Linie liegt, sowohl von seiner vorderen äußeren wie hinteren inneren Spiegelfläche, den Lichtstrahl in sein Auge zurückwerfen, wenn nicht grade auf diese Stelle sein Schatten fiele. Jeder in anderer Lage befindliche Tropfen könnte ihm nicht beide zurückgeworfene Strahlen zugleich zusenden. Wegen des bedeutenden Durchmessers der Sonne findet jedoch diese Zurückwerfung noch von allen Thautropfen statt, die in der Nähe des Kopfschattens befindlich sind, und nur von den entfernteren nicht mehr. Es ist also gewissermaßen eine im Thau gespiegelte Gegensonne, welche der Beobachter dabei wahrnimmt, weil ihr Umfang größer ist als sein Kopfschatten. Es kommt hinzu, daß ihm nur die Thautropfen, Pflanzentheile und andern Gegenstände, welche im nächsten Umkreise des Kopfschattens befindlich sind, ihre im zerstreuten Lichte glänzenden Flächen vollständig zeigen, während die weiterliegenden ihm auch einen immer größeren Antheil ihrer Schattenflächen mit zuwenden. In senkrechter Richtung über den Kopfschatten hinaus gilt dies namentlich bei den glatten Halmen eines Getreidefeldes für eine etwas weitere Entfernung, und daher die pyramidale Verlängerung über den Kopfschatten hinaus.
Dem einen oder anderen Leser mag hier die Frage kommen, was wohl dieser Lichtschein um den Schatten eines jeden Vagabunden mit demjenigen um den Kopf der Heiligen zu schaffen habe? Es giebt in der That zwischen beiden sehr nahe Beziehungen. Man denke sich in die Lage eines frommen Einsiedlers, Mönchs oder Geistlichen, welcher jene eigenthümliche Erscheinung zufällig an seinem Schatten beobachtet hat. Wird er nicht verlockt sein, diesen Lichtschein seiner eigenen werthen Person zuzuschreiben, und an sich einigen Heiligenschein zu verspüren? Wird er nicht anfangen, die Schatten seiner Gefährten darauf anzusehen, und selbstverständlich an keinem derselben etwas Aehnliches bemerken? In der Naturlehre unerfahren, wird er nicht im Stande sein, sich klarzumachen, aus welchen einfachen Gründen ihm keine andere Stelle des feuchten Rasens so hell entgegenstrahlen kann als diejenige im nächsten Umkreise seines Kopfschattens. Kurz, er gelangt im besten Glauben zu der Ueberzeugung, daß wirklich das Lichtstümpfchen in seiner Schädellaterne helleren Glanz verbreite, als das in jeder andern.
Es sind keine bloßen Vermuthungen, welche wir eben aussprachen. Wir haben das Beispiel eines verständigen, nüchternen, etwas leidenschaftlichen Mannes, welcher wirklich ähnliche Betrachtungen über das Phänomen angestellt und niedergeschrieben hat, Benvenuto Cellini’s nämlich, jenes ausgezeichneten Goldschmieds, Erzgießers und Bildhauers des sechszehnten Jahrhunderts, dessen Arbeiten selbst Michel Angelo unter die besten ihrer Zeit rechnete. Cellini hatte mancherlei, nicht immer unverschuldetes Ungemach zu erdulden. Er verfeindete sich Fürsten und Päpste und saß in Folge solcher Händel im Jahre 1539 eine lange Zeit in der Engelsburg gefangen. Dort durch Kellerluft und Krankheit mürbe gemacht, hatte er allerlei Visionen von Gott, Christus und der heiligen Jungfrau, welche ihm baldige Befreiung verkündeten. Als diese dann auch endlich erfolgt war, hielt er sich für einen Auserwählten und nahm den Lichtschein, welchen er bald darauf, durch Zufall, um den Schatten seines Kopfes wahrnahm, für eine Bestätigung davon.
„Dann darf ich noch eine Sache nicht zurückhalten,“ sagt er hierüber im dritten Buche seiner Selbstbiographie, „welche größer ist, als daß sie einem andern Menschen begegnet wäre, ein Zeichens daß Gott mich losgesprochen und mir seine Geheimnisse selbst offenbart hat. Denn seit der Zeit, daß ich jene himmlischen Gegenstände gesehen, ist mir ein Schein um’s Haupt geblieben, den Jedermann sehen konnte, ob ich ihn gleich nur Wenigen gezeigt habe. Diesen Schein sieht man des Morgens über meinem Schatten, wenn die Sonne aufgeht, und etwa zwei Stunden danach. Am besten sieht man ihn, wenn ein leichter Thau auf dem Grase liegt, ingleichen Abends bei Sonnenuntergang. Ich bemerkte ihn in Frankreich, in Paris, weil die Luft in jenen Gegenden viel reiner von Nebeln ist, so daß man ihn viel ausdrücklicher sah als in Italien, wo die Nebel viel häufiger sind. Dessenungeachtet sah ich den Schein auf alle Weise und kann ihn auch Anderen zeigen, nur nicht so gut wie in jenen Gegenden.“
Mit dem Zeigen mag es nun freilich seine Schwierigkeiten gehabt haben; man wird ihm die fixe Idee, wofür man seine Beobachtung jedenfalls gehalten, zu Gute gerechnet haben; möglicherweise auch kann ein über seine Schultern Hinwegblickender etwas von solchem Heiligenscheine um Cellini’s Haupt wahrgenommen haben, um zugleich die noch besser an seinem eigenen Schatten hervortretende Erscheinung zu übersehen. Es spricht für die geringe Beobachtungsfähigkeit der meisten Menschen, daß sie dieses im Frühjahr und Herbst so häufige Phänomen gar nicht kennen, wie sich andererseits gerade Cellini durch seine Wahrnehmung als scharfsichtiger Beobachter zu erkennen giebt.
Wir erwähnen noch eine andere hierher gehörende Erscheinung, welche eintritt, wenn der Schatten des Beobachters auf Wolken oder Nebel fällt. Es erscheint sodann erstens der Kopf seines Schattenbildes mit einer stark glänzenden Glorie umgeben, welche, völlig der eben erörterten Erscheinung entsprechend, durch doppelte Zurückwerfung des Lichtes von den kleinen Nebelbläschen in der Kopfrichtung entsteht. Diese Glorie aber ist ferner noch von einer Anzahl von Lichtringen umgeben, welche in allen Farben des Regenbogens erglänzen und von denen immer einer den andern einschließt. Die Sonne umgiebt die Silhouette, welche sie auf die Wolkenwand zeichnet, mit dem glänzendsten Rahmen, welcher gedacht werden kann. Bouguer erblickte dieses Phänomen sehr schön im Nebel der Anden, und Scoresby, der berühmte Walfischjäger, beobachtete es auf den dichten Nebeln, welche sich in den Polarländern über der Meeresfläche ausbreiten. Wenn er im Sonnenscheine auf den Mastbaum stieg, so sah er den Schatten seines Kopfes von zwei bis drei solcher Regenbogencirkel umgeben, welche in einzelnen Fällen noch von einem vierten und fünften farblosen Lichtstreifen umkreist waren.
Der schweizerische Naturforscher Coaz hat eine sehr lebhafte Schilderung dieser Erscheinung gegeben, welche er auf dem Piz Curvêr in Graubünden im Lawinennebel beobachtete. „Da unten,“ sagt er, „rauschte und donnerte es fast ununterbrochen; eine Lawine weckte die andere und stürzte mit ihr vereint von den schroffen felsenunterbrochenen Seitenwänden in die Tiefe des Thals, wo sie sich oft vereint in einem breiten gewaltigen Silberstrome zur Ruhe wälzten. So Schlag auf Schlag, so voll Leben, so glänzend war mir noch auf keiner meiner Gebirgsfahrten dieses großartige Schauspiel zu sehen vergönnt gewesen. Noch folgte mein Auge einer der letzten Lawinen, die allmählich in immer größeren Zwischenräumen stürzten, als ich über derselben einen schwachen Nebel sich bilden sah. Auch den Felsen, an denen sich die feucht gewordene Atmosphäre abkühlte, entquollen Nebelhaufen, zogen schleichend einander entgegen und zerflossen in kurzer Zeit in einen wallenden grauen Nebelsee, der die Tiefe des Thales verhüllte. Aus unsichtbaren Quellen genährt, wogte dieser See immer höher herauf und trat endlich als ein dunkler Nebelschleier vor mir empor. In diesem ineinandertreibenden Gewölk bildeten sich, anfänglich schwach und zerfließend, aber immer wieder und immer kräftiger erscheinend, die Farben des Regenbogens. Sie vereinigten sich endlich zu einem brillanten kreisrunden Bande, ein zweites säumte sich in etwas schwächerem Glanze um dasselbe und fand sich bald selbst concentrisch von einem noch leichtern dritten umfangen. Der innerste Ring erschien in einem Durchmesser von ungefähr drei Fuß in einer Entfernung von dreißig bis vierzig Fuß. Entzückt über diese Erscheinung, sprang ich auf, um meine Gefährten herbeizurufen, aber ebenso schnell war ich zur Säule geworden. Denn siehe da, mitten im Regenbogen sprang mit gleicher Hast eine dunkle Gestalt auf und blieb jetzt ebenso erstarrt stehen. Also doch einmal das Brockengespenst in Bündens Gebirgen, rief ich aus“ etc.
Wenn man erwägt, wie leicht das ungebildete Naturkind des Hochgebirges einen solchen scheinumkränzten Schatten nicht für den eigenen anerkennen, sondern im Schrecken glauben wird, die riesige Gestalt eines Alpengeistes vor sich zu sehen, so ermißt man erst völlig die Bedeutung der Worte, welche Lermontoff seinem Dämon in den Mund legt:
Wie oft saß hoch auf Gletschereise
Ich stumm und düster und allein,
Umwölkt von einem Flammenkreise
Gleich einem Regenbogenschein.
Und unter mir die weißverhüllten
Schneestürme gleich Lawinen brüllten.
[44] Ich kann nicht unterlassen, hierbei darauf hinzuweisen, mit welch feinem Naturgefühl Murillo meistens die Höfe um die Köpfe seiner im dichten Gewölk schwebenden Madonnen dargestellt hat. Selbst die mehrfachen concentrischen Kreise des natürlichen Phänomens finden sich schön ausgedrückt in der bekannten „Madone au miroir“ in Paris.
Was die physikalische Erklärung der letzteren Erscheinung anbelangt, so ist dieselbe etwas zusammengesetzter Art, und ich kann nicht beanspruchen, daß der Leser einer genauen und erschöpfenden Analyse des Phänomens an dieser Stelle folgen solle. Nur die allgemeineren Umrisse will ich andeuten. Ich erinnere an das Auftreten ähnlicher vielfarbiger Ringhöfe um Sonne und Mond, wenn Nebel oder dünne Wolken bei ihnen vorüberziehen. Durch sogenannte Beugung der Lichtstrahlen bei ihrem Vorbeigehen an den Rändern der kleinen Dunstbläschen findet nämlich eine Zerlegung des weißen Lichtes in die dasselbe zusammensetzenden farbigen Strahlen statt, wie ein Aehnliches durch die Brechung in Wassertröpfchen beim Regenbogen geschieht. Nun ist es bei einigem Nachdenken ohne Weiteres klar, daß die Bedingungen für das Auftreten derselben Farbe sich an lauter Punkten finden werden, die rings von dem leuchtenden Gestirn gleichweit entfernt, also in einem Kreise um dasselbe liegen. Dadurch entstehen für den Beobachter gefärbte Ringe, die einander (da die Bedingungen, wenn auch für die verschiedenen Farben in umgekehrter Reihenfolge, bei verschiedenen Entfernungen wiederkehren) umschließen, und es ist durch Rechnung bald zu erweisen, daß diese Farbenkreise um so größer ausfallen müssen, je kleiner die vorhandenen Dunstbläschen sind, und umgekehrt. Dieses Phänomen würde viel häufiger um Sonne und Mond beobachtet werden, wenn nicht, wie aus dem Ebengesagten schon hervorgeht, zur Hervorbringung desselben eine gewisse selten vorhandene Uebereinstimmung in der Größe der Nebelbläschen erforderlich wäre, da bei der Mischung zahlreicherer Farbenkreise eine gegenseitge Störung des Effects eintritt. Man kann ähnliche Höfe sehen, wenn man durch eine mit sehr feinen Wassertröpfchen beschlagene Brille, oder durch ein dünn mit Bärlappsamen bestreutes Glas nach einem hellbrennenden Lichte blickt.
Fraunhofer, welchem wir die genauesten Untersuchungen über diese Classe von Beugungserscheinungen verdanken, hat nachgewiesen, daß dieselben Bedingungen auch jene farbigen Ringhöfe um die Schatten auf Nebelgrunde hervorbringen. Erinnern wir uns aus der Erklärung des Heiligenscheins im Thau, daß die direct von der Sonne kommenden Strahlen nur dann in den Thautröpfchen (hier Dunstbläschen) von der vordern und innern hintern Fläche zugleich reflectirt werden, wenn sie durch den Mittelpunkt dieser Kügelchen gehen, so leuchtet ein, daß ein Gleiches für die durch die Nebelbläschen gebeugten Strahlen gelten wird. Diejenigen farbig werdenden Strahlen also, welche an den dem Kopfe des Beschauers zunächst liegenden Dunstkügelchen gebeugt werden, kehren auf demselben Wege zurück, und treffen den Beobachter so, daß er in demselben Abstande von seinem Kopfschatten farbige Ringhöfe sieht, wie dieselben dem Schattenmann um das leuchtende Gestirn erscheinen würden. In noch häufigeren Fällen werden diese Höfe erst durch Beugung der von der Spiegelsonne zurückkehrenden Strahlen entstehen.
Alle diese Erscheinungen vermag natürlich ein Jeder nur um den Schatten seines eigenen Kopfes, und nicht um den seines Gefährten zu sehen, ebensowohl wie jeder Beobachter seinen eigenen Regenbogen sozusagen mit sich herumträgt. Denn auch der Regenbogen ist nichts als ein riesiger, durch Brechung entstandener Farbenschein, welcher den Kopfschatten des Beobachters umrahmt, und welcher nur selten (etwa auf hohen Bergen) als geschlossener Ring gesehen werden kann. Wenn ich bei Regenbogenschein mit der Eisenbahn von Berlin nach Potsdam fahre, und die vor mir sich ausbreitende Regenwand groß genug ist, so begleitet mich mein Regenbogen ebensowohl, wie der Lichtkreis um meinen Kopf, wenn ich ein halbes Stündchen im Morgenthau spazieren gehe. Man sieht, die Bedingungen, unter denen heiligenscheinartige Phänomene eintreten, sind mannigfach genug, und ich hoffe, es wird dem Leser nicht leid sein, dem Nimbus einmal so nahe getreten zu sein, daß er in eine optische Täuschung zerrann. Mit dem Scheine gar manches gefeierten Heiligen möchte es ähnlich ergehen, und gewiß hat einen guten Gehalt, was Liebetraut im Götz sagt: „Bei einer nähern Bekanntschaft mit den Herren schwindet der Nimbus von Ehrwürdigkeit und Heiligkeit, die eine nebelhafte Ferne um sie herumlügt, und dann sind sie ganz kleine Stümpfchen Unschlitt.“ – Es ist dasselbe alte Wort: „Keinen Heiligen hat sein Kammerdiener angebetet“. – Wie lange wird es noch dauern, bis das Zeugniß „fürwahr ein Mensch gewesen zu sein“ höher gelten wird, als aller nachentdeckte Schein der Heiligkeit?
Seit in der Gartenlaube vom verflossenen Jahre der Anfang meiner Selbstbiographie, nämlich die Geschichte meiner Kindheit, erschienen ist, haben viele Stimmen, von Freunden wie von Fremden, mir gesagt, daß man sich des heitern Tones darin freut, den auch die Kerkerluft nicht herunterstimmen konnte. Das ermuthigt mich, mit einem zweiten Capitel hervorzutreten. Ohne jene mir octroyirte Muße hätte ich gewiß nie daran gedacht, mein Leben zu schreiben. Jetzt freut es mich doch, daß es damals soweit geschehen ist; denn es ist über mich bei lebendigem Leibe so viel dummes Zeug, halb als thatsächliche Erzählung, halb als Romanschwindel in die Welt hinausgeschrieben worden, daß ich nicht wünschen kann, als ein so grob geschnitzter und roh angemalter Oelgötze auf die Nachwelt zu kommen. Wohl berührt mich meine eigene Handschrift aus dem Gefängniß mit ihrer ausgeblaßten Tinte auch oft fremdartig, da so Mancher schon geschieden ist, von dem ich damals als einem Lebenden lustige Sachen erzählte, während wieder mein ältester Sohn, den ich 1849 als ein schwächliches Kind bezeichnete, heute kerngesund, ein kräftiger Mann und thätiger College, uns zum Sonntags-Roastbeef besucht. Allein wollte ich an jenen Aufzeichnungen etwas ändern, so möchten sie von dem Werthe, den die Leser ihnen beizulegen scheinen, ein Wesentliches verlieren; denn daß sie so, wie sie sind, eben im Gefängniß niedergeschrieben wurden, das giebt ihnen einen Charakter, den spätere Zusätze und Nachbesserungen nur beeinträchtigen könnten. Ich will mich daher auch gar nicht darüber entschuldigen, daß ich mit so strenger Wahrheit über Eltern, Verwandte, Lehrer geschrieben habe; denn Selbstbekenntnisse (und jede Selbstbiographie ist eine Confession) gewinnen einen Werth überhaupt nur durch unbestochene Wahrhaftigkeit.
Nachdem ich daher im ersten Capitel berichtet habe, wie meine reiche und phantasievolle Jugend am Fuße des Siebengebirges in dem schönen Oberkassel verfloß und wie ich mit neun Jahren für die lateinische Schule reif war, will ich jetzt getreu mit den Worten des in Naugardt niedergeschriebenen Originals, das hier vor mir liegt, den Lesern der Gartenlaube meine Schuljahre erzählen.
In der Aufnahmeprüfung für das Gymnasium in Bonn bestand ich recht gut und hätte, wie man meinem Vater sagte, in Tertia eintreten können. Da ich aber so sehr jung und es gerade Ostern war, setzte man mich erst für ein halbes Jahr in Quarta, wo ich immer noch einer der kleinsten Schüler blieb. Ich wohnte im Hause des Gerichtsvollziehers Bücheler, das sehr freundlich an dem lindenbepflanzten Münsterplatze liegt, und habe mich mit den Hausleuten so wohl vertragen, daß ich bis zum Bezuge der Universität mein Quartier nicht wechselte. Der Hausvater sowohl als seine Frau waren herzgute Leute, und bei meiner anschmiegsamen Natur wurde ich bald als das jüngste Kind im Hause betrachtet und behandelt. Ich lebte ganz in der Familie und speiste am Tische des Hauses; nach alter Bürgersitte [45] aß das Dienstmädchen in demselben Zimmer mit, aber an einem Seitentische. Es wohnte auch noch die Mutter des Hausherrn bei ihm, ein altes Mütterchen, das den ganzen Tag spann und voll von prächtigem Hexen- und Zauberglauben war, der uns junges Volk oft zum Necken der Alten reizte. Die Hausmutter hatte immer nur Söhne geboren, die alle vier noch in der Familie waren. Der älteste war Mediciner, und demselben Berufe bestimmte sich auch der jüngste, der eben zur Universität reiste; von den beiden mittleren studirte Einer die Rechtswissenschaft, der Andere bereitete sich für den Stand des Vaters vor. Dem Juristen war ich zur Aufsicht übergeben und bewohnte mit ihm Eine Stube; als er später seine Studien vollendet hatte, übernahm der Jüngste denselben Beruf bei mir. Es herrschte in diesem Hause gar nichts von schwärmender oder besonders gefühlvoller Ausdrucksweise, aber dafür eine allgemeine Herzlichkeit und dabei unter den jungen Männern eine oft neckische Fröhlichkeit, so daß ich von dem Geistesdruck des Pfarrhauses mich sofort erleichtert fühlte und recht glückliche Jahre dort zugebracht habe.
In der Classe ging es mir anfangs schlimm. Ich kam wie ein ganz fremder Vogel unter die wilde Schaar, und da ich klein und schwächlich war, gab ich den Spielball für Alle ab. Auch betrug ich mich höchst lächerlich. Wenn der Lehrer eintrat, sagte ich ihm guten Tag, und ging er weg, rief ich ihm Adieu nach; das schien mir die Ehrerbietung zu verlangen. Da ich nie mit anderen Buben im Spiele geschrieen und gejubelt hatte, sprach ich Alles in einem singenden, weinerlichen Tone hin, als wenn ich eine Litanei betete. Auch wußte ich mein dem Standpunkte der Classe weit überlegenes Wissen anfangs gar nicht geltend zu machen, weil die Methode eine ganz andere als die meines Vaters war. So verbrachte ich ein paar recht trübe Wochen auf den untersten Schulbänken und konnte gar nicht begreifen, daß, wenn ich’s mit aller Sorgfalt recht gut zu machen suchte, meine Mitschüler lachten, meine Lehrer aber den Kopf schüttelten. Bald jedoch kam ich in Schuß und ging noch denselben Herbst, eben erst zehn Jahre alt, mit einem glänzenden Zeugnisse in die Tertia über.
Da ich Sonnabend Nachmittag und Sonntag frei hatte, verwandte ich sie stets, um nach Oberkassel zu wandern, wo ich jetzt sehr gern verweilte. Es ist von Bonn eine gute Stunde Weges. Anfangs ließen meine Eltern mich abholen, allein das war auf die Dauer nicht durchzuführen, und so gewöhnte ich mich an einsames Marschiren. Sonntags Abends fuhr ich meist beim Dorfe über den Strom und ging dann am linken Ufer durch die Dämmerung nach Bonn zurück. Diese Wanderungen hielten mich rüstig und weckten in mir den körperlichen Muth, der mir bis dahin sehr gefehlt hatte. Von den andern Knaben erlernte ich das Einfangen und Aufspannen der Schmetterlinge und legte mir in Oberkassel eine Sammlung an, die bald höchst vollständig wurde; auch auf das Ziehen der Abend- und Nachtfalter aus Raupen verlegte ich mich mit Eifer und Glück. Später lernte ich mit Genehmigung der Eltern von dem gräflichen Jäger die Behandlung des Schießgewehres und stopfte die Vögel, die ich schoß, selber aus. Endlich bat ich meine Eltern, daß sie mich eine Art Handwerk lernen ließen, damit ich wie die alten Rabbiner nöthigenfalls auch so mein Brod verdienen konnte. Das bewilligten sie gerne, und ich nahm während einer Vacanz Unterricht bei einem Bonner Buchbinder in Papparbeit, worin ich es damals zu recht zierlichen Leistungen gebracht habe. Das Vaterhaus war mir jetzt der liebste Ort, denn ich hatte nun Freiheit in ihm, und mein Vater selbst behandelte mich immer achtungsvoller, wie ich im Lauf der Jahre an Kenntnissen ihm etwas näher kam. Besonders aber die Mutter, die mich nun auf einen so guten Weg geleitet sich, umfaßte mich mit tiefster Innigkeit, wenn ich so am heißen Sommertage in Staub und Schweiß durch das sandige Feld zu ihr gewandert kam und nun unter das kühle Dach eintrat. Auch meine Schwester war sehr freundlich gegen mich, seit ich durch Körperkraft und Wissen sie überwog und mehr und mehr in das Verhältniß eines ritterlichen Beschützers zu ihr trat. In den ziemlich lang dauernden Herbstferien half ich fortwährend, wie früher, an allen ländlichen Arbeiten mit, und schloß mit mehreren Bauersöhnen meines Dorfes viel herzlichere Freundschaften, als mit meinen städtisch erzogenen Mitschülern. Mein Wesen wurde in der größeren jetzt mir gestatteten Freiheit kecker und frischer, und zu Zeiten ließ ich mit meinen Spießgesellen in Dorf und Feld auch wohl einen tollen Streich los, was denn meistens vertuscht wurde, oder doch straflos blieb.
Mein Schulleben nahm einen geregelten Lauf; in Tertia saß ich ein Jahr, in jeder der beiden oberen Classen, wie es Brauch auf dieser Schule war, zwei Jahre. Schon in der Tertia besserte sich das Betragen der Mitschüler gegen mich: sie merkten wohl, daß ich durch Kenntnisse ersetzte, was mir noch an Körperstärke abging, und da ich ihnen folglich nützen konnte, bewarben sie sich um meine Freundschaft. Auch ich legte meinerseits die lächerlichen Seiten mehr und mehr ab. Am schwersten überwand meine lebhafte Natur eine gewisse körperliche Unruhe, welche den Lehrern stets zum Aerger gereichte. Ich war wie Quecksilber, und wenn ich beim Unterricht nicht ganz scharf Acht gab, mußte ich immer etwas zu spielen, zu schnitzeln oder zu blättern haben, so daß ich den Schein der größten Unaufmerksamkeit auf mich lud. Nun brauchte ich in Tertia zu Hause fast gar nicht für die Schule zu arbeiten, weil ich alles dort Vorkommende bereits früher einmal gelernt hatte, und doch ging ich wieder mit einer glänzenden Censur zur Secunda auf. Da sollte mir aber in dieser Classe ein Unfall begegnen, der mich arg beschämte. An bequemes Arbeiten einmal gewöhnt, spannte ich auch jetzt, wo doch ganz neue Lehrgegenstände eine scharfe Anstrengung erfordern, meinen Fleiß nicht entsprechend an, und zu meinem jähen Schreck erhielt ich zu Ostern das schlechte Zeugniß Nummer Drei. Mit dumpfer Verzweiflung trug ich das verhängnißvolle Blatt nach Oberkassel zu meinem strengen Vater; allein die Mutter stimmte ihn mild, weil allerdings mein starkes Wachsen damals keine allzugroßen Anstrengungen vertrug. Ich nahm mich den folgenden Sommer zusammen, und mein Herbstzeugniß war besser; aber wollte man meine unruhige Art bestrafen oder mir noch einen schärferen Sporn in die Flanken setzen – zum zweiten Mal stand am Kopfe des Blattes das schreckliche „Drei“. Diesmal hatte ich es nicht verdient und ging darum ruhiger als das vorige Mal nach Hause. Und Vater und Mutter glaubten mir und straften mich nicht. Das war weise; denn nun erwachte mein Ehrgefühl zu voller Stärke, und nach sechs Monaten brachte ich eine Nummer Eins in’s Vaterhaus zurück. Von da an bin ich aus den hohen Nummern gar nicht mehr herausgekommen. Solches Nachlassen in Fleiß und Arbeitskraft habe ich später als Lehrer sonderbarer Weise gerade bei sehr tüchtigen Schülern einmal in ihrer Gymnasiallaufbahn eintreten sehen und dabei gefunden, daß man in einem Falle der Art die Natur am besten ruhig gehen läßt, ohne durch moralische Reizmittel auf eine plötzliche Besserung zu wirken. Es hängt dies einfach mit der körperlichen Entwickelung des Knaben zusammen, auf welche die Natur beim Uebergang zum Jüngling alle ihre Kraft verwendet. Ist das vorüber, so wirft sie von selbst den Trieb des Fortschrittes wieder auf das Gebiet des Geistes hinüber.
Das Bonner Gymnasium galt für eins der besten in der Rheinprovinz und verdiente wohl auch den Ruf. In der Regel gedeihen in Universitätsstädten solche Anstalten nicht, weil die Schüler sich frühzeitig an die Studenten hängen und die hohle Form des burschikosen Wesens nachahmen. Dadurch verfällt die Zucht, und ohne diese tritt Verfaulung ein. Bei uns war das nicht möglich, weil der Oberlehrer der Prima, Gymnasialprofessor Schopen, hier mit eiserner Consequenz den Riegel vorschob. Dieser Mann, der später zum Universitätsprofessor und Director des Gymnasiums aufstieg, war ohne Zweifel der gelehrteste und spannendste unter allen Lehrern, die wir hatten, und sein besonders den letzten Schuljahren zugewendeter Unterricht wirkte das Meiste dazu, daß im Abgangsexamen nur höchst selten ein Schüler der Anstalt durchfiel oder auch nur ungenügend bestand. Allein dies wurde oft genug dadurch erreicht, daß man in dem Schüler allzustark das Gefühl der Abhängigkeit erhielt, und das ging störend auch auf den Bereich der geistigen Entwicklung über. Mir ist geschehen, daß ich eine Zurechtweisung erhielt, weil ich in einer Vacanz den Vellejus Paterculus gelesen hatte. Es verdient doch Lob, wenn ein Schüler, der in dem Herkömmlichen seine Schuldigkeit thut, nun aus freiem Entschluß auch einmal ein Studium unternimmt, das außer der gewöhnlichen Bahn liegt, und mich als künftigen Culturhistoriker hatte ja mein Trieb ganz richtig auf jenen sonderbaren Lobredner eines Tiberius geführt; allein anstatt des Lobes mußte ich aus Schopen’s [46] Munde die Worte hören: „Da hättest Du auch etwas Besseres lesen können!“
In ähnlicher Weise sind bei mir mehr als einmal Erweise geistiger Selbstständigkeit verurtheilt worden, und ich verschloß daher meine Privatarbeiten ganz vor den Blicken der Lehrer. Eine gleiche Strenge waltete in dem Verbot des Theaterbesuchs; auch durfte kein Schüler nach neun Uhr Abends auf der Gasse sich blicken lassen, worüber ich einmal in Folge eines sehr harmlosen Besuches bei einem mir bekannten Theologen einen heftigen Verdruß erlitt. Später hat diese Schärfe sich an der Anstalt gemildert; damals aber war die Freiheit zu knapp gemessen, um die Schüler geistig so kräftig auswachsen zu lassen, wie ihr Talent sie befähigte.
Die Lehrer dieser Schule waren zum Theil katholische Weltgeistliche, welche die französische Herrschaft durchlebt und sich der preußischen vererbt hatten. Priester dieser Periode waren nicht bigott, und von pfäffischen Einflüssen bestand zu meiner Zeit keine Spur. So hatte selbst mein späterer Schwiegervater Mockel, der abwechselnd den beiden untern Classen vorstand, in seiner Vaterstadt Cöln die ersten Weihen empfangen; allein glücklich für ihn und mich war er der Stola noch entwichen und hatte es vorgezogen, meine schöne Schwiegermutter zu heirathen. Bei ihm habe ich leider nur noch das halbe Jahr als Quartaner in den Naturwissenschaften Unterricht gehabt; er ist mir einer der liebsten Lehrer gewesen. Seine über alle Maßen freundliche Natur und die treue Mühe, mit der er jeden Lehrstoff dem Schüler faßlich zu machen suchte, eignete ihn besonders zum Lehrer jüngerer Knaben. Seine Mineralogie schrieb ich sorgfältig nach und arbeitete sie zu Hause reinlich aus; ja ich rastete nicht, bis ich auch seine früheren Vorträge über Pflanzenkunde mir abgeschrieben hatte. Auch er hatte mich wegen dieses seltenen Eifers besonders lieb, obwohl sicher sein Herz nie daran dachte, daß der kleine Knabe noch sein Tochtermann werden sollte. Fünfzig volle Jahre hat dieser unermüdliche Greis seinem Vaterlande gedient, und noch in solchem Alter traf ihn jedes Frühroth bei der Vorbereitung auf seine Lehrstunden. Im Herbst 1849 hat er unter großem Zudrang dreier Schülergenerationen sein Jubelfest gefeiert – ach, und er mußte dabei den Schmerz haben, daß sein liebster Schüler, den er an Sohnesstatt in sein Haus eingepflanzt, auf Leben und Tod gefangen saß!
Ein anderer Lehrer, der sehr fördernd auf mich gewirkt hat, war ebenfalls Geistlicher und wurde von uns nach seiner hervorstechendsten Eigenschaft „der dicke Domine“ genannt. Er stammte vom Eichsfelde, und mir ist nicht bekannt, was ihn in die Rheinprovinz verschlagen hat. Das Wesen dieses Mannes hatte eine gewisse träge Feierlichkeit; diese legte er auch dann nicht ab, wenn er einem unfolgsamen Schüler mit dem Haselstecken Hiebe überzog, deren stets drei waren, nicht mehr, nicht weniger: wir hießen das „die drei Göttlichen“. Sein Antlitz war vollmondartig und stets von weißem Gewölk des Puders umzogen; aus ihm schauten zwei kluge Augen, und ein halb faunischer, halb spöttischer Mund gab ihm das Aussehen eines behaglichen Mönchs. Er huldigte der josephinischen Richtung, war also strenger Monarchist und gab in der Weltgeschichte stets den Päpsten Unrecht. Die Freuden dieser Welt hat er, glaube ich, nicht verschmäht. Sonntags hielt er in dem benachbartem Dorfe Kessenich eine Messe und Predigt, nahm aber gleich sein Jagdgewehr mit, das während der heiligen Handlung in der Sacristei stehen blieb. Daß er den Wein liebte, konnte Niemand, der diese Falstaff-Natur ansah, verkennen, und die Frauen, über welche er sehr zu schelten pflegte, hat er praktisch doch genau studirt, wie gewisse nach seinem Tode bei ihm aufgefundene Papiere darthaten. Ueberhaupt ist er zuletzt auch in seiner Lehrkraft sehr gesunken; zu meiner Zeit aber stand er noch auf seiner Höhe, und man lernte außerordentlich viel bei ihm. Eigen war, daß er den Schülern jede Frage beantwortete, wenn sie auch mit dem Unterrichtsgegenstande nicht entfernt zusammenhing. Das hat seine zwei Seiten: mir scheint es bei weisem Maßhalten nützlich, denn was der Schüler fragt, das zieht ihn an, und hier ist er also doppelt zum Begreifen befähigt. Wir benutzten dies, um ihn manchmal durch Vorlegung einer Zeitungsfrage in politische Gespräche zu verwickeln, die er besonders liebte, oder gar Erzählungen aus seinem Leben und andere Schnurren hervorzulocken, die er unvergleichlich vortrug. Letzteres Talent verleugnete er auch auf der Kanzel nicht, namentlich wenn er bei den Bauern eine Festrede zu halten hatte. In der älteren deutschen Literatur war nämlich Ulrich Megerle, der als Abraham a Santa Clara berühmte Wiener, sein Liebling, und dessen barocken Kanzelwitz suchte er nachzuahmen. Auf diese Predigten legte er Werth, und einmal lud er uns Schüler förmlich zu einer Kirmeßpredigt in dem nahen Friesdorf ein. Ich ging wirklich Sonntag früh von Oberkassel aus hinüber. Er kam in seiner Predigt vom Hundertsten in’s Tausendste, besprach zum lauten Gelächter der Zuhörer die Klatschwuth der Bauerweiber und die Streitsucht der Männer, und gab zuletzt ebenso weise als ausführliche Regeln, wie man auf möglichst nachsichtige Weise einen Jeden behandeln solle, der während der Kirmeßtage im Weine des Guten zu viel thäte. Eine besonders geistliche Sittenlehre wird man das schwerlich nennen – möglich jedoch, daß er durch diese Predigt der Gemeinde Friesdorf ein paar blutige Köpfe erspart hat.
Dieser Mann trug uns in Tertia die Geschichte vor, die er bis gegen den Schluß des Mittelalters herabführte. Er hatte darüber ein Heft ausgearbeitet, das wir abschreiben und einlernen mußten, nachdem er uns zuvor zu jedem Abschnitte mündliche Erläuterungen gegeben hatte. Das Fach überschaute er mit gesundem Menschenverstande und hielt streng darauf, daß wir Alles klar auffaßten und scharf im Gedächtniß behielten. In diesen Lehrstunden habe ich die dauerhafte Grundlage meiner gegenwärtigen Fachstudien gelegt und die Geschichte zuerst sehr lieb bekommen. Auch der Virgil, den er in Secunda vortrug, ging uns gut ein und machte uns Freude. Dagegen war seine deutsche Literaturgeschichte in Prima ohne alle Vorstudien und ganz zusammenhanglos, und seine Stilübungen brachten uns auch nicht weiter. Zu Allem, was Schwung forderte, war Domine denn doch zu schwerfällig.
Die Mathematik und Physik trug in den beiden obern Classen ein Lehrer vor, der Bedeutendes in seinen Studien leistete und den Titel eines Gymnasialprofessors führte. Er hieß Ließen und war allgemein hochgeachtet, wegen seines freundlichen Eifers auch geliebt. Es ist oben schon gesagt, daß ich Mathematik niemals lernen konnte; ich erwähne seiner aus einem andern Grunde, weil er uns nämlich Stoff eines Heldengedichtes geworden ist. Er hatte beim Unterricht gewisse stehende Formeln angenommen und pflegte, wenn sein Kopf etwa mit einer schwierigen Rechnung beschäftigt war, seltsame Sprachfehler zu machen, wie ich ihn denn selbst einmal „die Tochter des Mutters“ habe sagen hören. Nun hatten die Fähigen unter uns eine leidenschaftliche Vorliebe für den Homer gefaßt, welchen der Oberlehrer Lucas in Secunda und Prima auf lebendige, oft joviale Weise erklärte und veranschaulichte. Kein Schriftsteller des Alterthums reizt so zur Nachahmung, keiner ist auch zur Parodie so geeignet. Die feierliche Wiederkehr derselben Verse, die Wiederholung der so erhabenen und oft doch so wunderlichen Beiwörter, die naturfrischen Gleichnisse, endlich die naive Art, wie die Helden aus den einfachsten Gefühlen und kindlichsten Antrieben heraus handeln – alles das kann dem modernen Geschmack durch die kleinste Uebertreibung lächerlich gemacht werden. Wirklich hat ja schon das Alterthum in dem Frosch- und Mäusekrieg eine allerliebste Travestie geliefert. Solch einen Plan entwarf auch unser Uebermuth. In stelzbeinigen Hexametern, die den Ton und selbst den oft barocken Silbenfall der Vossischen Uebersetzung nachäfften, wurde im ersten Gesang der Helmesiade (denn so hieß das Werk von Liessens Vornamen Wilhelm) eine mathematische Lehrstunde geschildert, in welcher außer dem Professor und seinen unvermeidlichen Redensarten alle Classenschüler in ihren schlechtesten Eigenschaften Parade machten. Um aber auch eine homerische Schlachtscene anbringen zu können, wurde im zweiten Gesang der friedsamste aller Sterblichen in einen heftigen Streit verwickelt, in welchen sodann gleich Göttern und Helden alle übrigen Lehrer nach und nach handelnd und leidend hineintraten. Dieses Schlachtgetümmel war jedenfalls der Glanzpunkt dessen, was von dem Ganzen fertig geworden ist: es bildete, wie der Zorn Achill’s in der Ilias, den Knoten für das fernere Geschick des Helden. Allein in den folgenden Gesängen stockte das Werk: denn auch darin sollte Homer nachgeahmt werden, daß dem nachfolgenden Sängergeschlecht die Fortsetzung überlassen bliebe. Und so geschah es auch; die Schüler des nächsten Jahres haben bruchstückweise an unserem Gesange [47] fortgesponnen – nur leider hat uns Allen zuletzt der Pisistratus gefehlt, der das Vorhandene in ein geschlossenes Werk gesammelt hätte, und so dürfte wohl von den zahlreichen, damals gemachten Abschriften jetzt keine mehr dem Loose entgangen sein, das auch die meisten Nachahmer des großen Ioniers betroffen hat. Im Uebrigen war der ganze Spaß darum so harmlos, weil er durch seine hirntollen Uebertreibungen den Gedanken an eine Verleumdung oder ein Pasquill nicht im Entferntesten aufkommen ließ, auch der Verehrung nicht den mindesten Eintrag that, welche wir fortwährend dem greisen Professor zollten. Und deshalb darf ich getrost, ohne den Schein der Undankbarkeit auf mich zu laden, zu vielen dieser Verse mich bekennen, an denen übrigens wohl sechs bis acht von uns Antheil hatten. Die meisten hat Hermann Velten geschrieben, der jetzt praktischer Arzt zu Aachen ist und damals in höherem Grade als wir Alle ein poetisches Talent entfaltete, das er später nicht fleißig genug gepflegt hat.
Der Dichter-Vagabund des Jahrhunderts.
Schier sechsundsiebenzig, meist ungebundene Jahre ist er alt am 24. Januar, dem Geburtstage Friedrichs des Großen, und ungefähr ebenso viele Bände hat er geschrieben, hat mehr Stürme erlebt wie sein volksthümlicher alter Mantel, und wie sein alter Feldherr nichts gerettet als „die Ehr’ und das alternde Haupt“. Er, der Verschwender, wie konnte er auch? Und doch ist er reicher als mancher Millionär und sicherer seines Eigenthums als der moderne Crösus mit diebes- und feuerfesten Arnheims.
Ja, Karl von Holtei, dessen Biographie die Gartenlaube bereits im Jahrgange 1860 brachte, ehedem der lange, schwarze, nun seit Jahren der lange, weiße Dichtervagabund des Jahrhunderts, schwelgt noch jetzt lange, schlaflose Nächte hindurch in unermeßlichen Reichthümern und hat der Welt ein Leben, eine Liederspiellust, eine lebendige Erinnerung an fast unzählige Größen des Jahrhunderts in Poesie, Kunst und Wissenschaft hinterlassen. – Ja, das war ein Leben! Günstigste und ungünstigste Erfolge im Leben und auf der Bühne, Liebesgunst der besten Frauen, ein eigenster Gesang, Mitlust jeder guten That, doppelter Ehe- und Wehestand, Freunde und Feinde, Stürme, die ihn in ganz Deutschland und bis nach Rußland hinein umherwirbelten, innere und äußere Kämpfe, Wonnen und Schmerzen, Leben und Streben, Grab und Tod, frische Blumen und graue Haare, Unglück und Verlust durch eigene Thorheit und fremde Schuld, Wehmuth, Demuth, Stolz, Hartnäckigkeit und Entsagung und vom Anfange bis zum Ende schmerz- und scherzhafte herzliche Offenheit – und Alles zusammen zugleich das großartigste Kaleidoskop des Jahrhunderts.
Wir ehren und lieben viel größere Dichter; aber nur selten ist es einem gelungen, so weit und breit in das deutsche Volk einzudringen und sich in dessen Gesängen zu halten, wie ihm. Noch ganz jung an Ruhm und Jahren ward er schon in Paris von deutschen Handwerksburschen mit seinen Liedern umfangen. Keine deutsche Universität, keine Herberge oder Kneipe, vielleicht kaum ein deutsches Dorf, wo nicht das „Schier dreißig Jahre“, „Die Ehr’ und das alternde Haupt“, „Lagienka“, „In Berlin sagt’r“, „War’s vielleicht um Eins“, „Im Januar, da führen uns die Männer auf das Eis“ mit Behagen und Wonne gesungen worden wäre. Schon als Kind hörte ich diese Melodien aus allen möglichen deutschen Winkeln singen oder mindestens pfeifen. Dann sang ich auf Schulen und Universitäten selber tapfer mit, und noch im vorigen Sommer zogen in Thüringen ährenlesende Jungen und Mädchen mit „dem Mantel“ an mir vorbei, an welchem „die Fetzen ’runterhangen“ und mit der „Ehr’ und dem alternden Haupt“. Allerdings wußten sie nur Bruchstücke vom Texte, aber sie pfiffen und quiekten dann wenigstens die Melodie. Für Schlesien ward er auch zum „Hebel“. Und hätte er nichts im schlesischen Dialekt gedichtet als seinen „Gruß an Hebel“, wäre er schon einer. Zwölf Auflagen dieser schlesischen Gedichte beweisen, wie sie von seinen Landsleuten verstanden und geliebt werden. Die „Schlesinger“ in Leipzig hatten ihm 1869 einen Blumenstrauß, „a Riechel gebracht, für ihn aparte geklaubt und gesucht“. Und da bedankt er sich denn und stirbt und hört noch im Sarge: „A is in Armut versturben, verläßt ack blußich die Riechel“.
„Do schreit’s aus em Sarge: Ihr sölld’t Euch schämen,
Ihr Geldkärle künnt mer an Reichthum nich nehmen,
Sulche Riechel, die sein nich zu kofen. Die ha’n
Annen Werth, dän kee Guld nich bezahlen kan;
Die sein’s Erbtheel für meine Enkelkinder.“
Diese Art von Dichtung ist natürlich hauptsächlich unter den Schlesiern, die überall in deutschen Großstädten von tief unten bis zu Dankelmann, Seidelmann, Beckmann, Rother, Fleck, Raupach, Schleiermacher, Kletke, Löwenstein, Magazin-Lehmann, Titus Ulrich u. s. w. vertreten sind, volksthümlich geworden; Holtei’s Lieder und Liederspiele waren es und sind es zum Theil noch in ganz Deutschland. Wohl kaum hielt sich je ein Lieder-, Lust- oder Trauerspiel so lange und drang so tief bis in die ärmlichsten Repertoires der Dorfthespiskarren als etwa: „Die Wiener in Berlin“, „Dreiunddreißig Minuten in Grüneberg“ und sonstige, oft während einer einzigen Nacht vollendete Kleinigkeiten für die größten Darsteller und Darstellerinnen ihrer Zeit. „Der alte Feldherr“, zugleich ein hübsches Stück Cultur- und Censurgeschichte des damaligen Berlin, „Leonore“, „Lorbeerbaum und Bettelstab“ blieben über ein ganzes Menschenalter auch auf großen Bühnen Zugstücke. Seine Romane sind zwar zum Theil nur Leihbibliothekwaare, aber „Die Vagabunden“ wenigstens stehen und halten sich mit Recht neben den meisterhaftesten Verherrlichungen des urewigen deutschen Idealismus und seines Sieges über die angebetete Macht des Militarismus, Materialismus und Mammonismus. Auch wird der von moderner Moderomanlectüre Ermüdete einmal gern wieder das „Haus Treustein“ besuchen, mit „Christian Lammfell“ fürlieb nehmen, den „Schneider“ in seiner Werkstatt, „Die Komödianten“ auf ihren Brettern und „Die Eselsfresser“ mit ihrem Appetite lieb gewinnen.
Von den Dichtungen, durch welche Holtei sich so viel Ruhm und Liebe erwarb, mag ein großer Theil als Maculatur untergehen, aber ein Dutzend dieser Münzen behalten sicherlich ewig Klang und Umlauf. Wir wollen zu seinem sechsundsiebenzigsten Geburtstage ihn und uns nur noch an zwei große Capitalschätze erinnern, die dramatischen Vorträge und seine lebendigen Zeugnisse von der Persönlichkeit und Freundschaft unzähliger Größen unseres Jahrhunderts. Zwar hat er als Schauspieler, Regisseur und Director oft Wunder gethan und mit den kleinsten Mitteln unter ungünstigen Verhältnissen oft überraschende Erfolge gefeiert; aber das Unglück dabei, das vergebliche Ringen gegen Mißtrauen und Tzschoppe’s[WS 1], des berüchtigten Demagogenriechers, Herodes-Politik wider die unschuldigsten Kinder freisinniger Gedanken, Launenhaftigkeit des Publicums und Knickerei von Theaterpotentaten waren durchweg größer und drückten ihn oft bis zum Menschenhaß nieder. Für den ganzen „Majoratsherrn“ bekam er zwölf Thaler Honorar und für ein allerhöchst befohlenes Theaterstück, das in Potsdam ausschließlich für den König und dessen Hof aufgeführt ward, durch Tzschoppe’s Einfluß zwanzig Thaler, wobei sich letzterer noch vornahm, künftig für „mäßigere“ Honorare zu sorgen.
Desto nachhaltiger wirkt er als der erste dramatische Vortragskünstler noch in seinen Nachfolgern Palleske, Wauer, Genée und Türschmann fort. Er war der Schöpfer und erste Bildner dieser segensreichen künstlerischen Thätigkeit, durch welche es Mittel- und kleinen Städten ohne Theater seitdem vergönnt wird, die Meisterwerke unserer Dichter mit allen, ja sogar schöneren Wirkungen wirklicher dramatischer Aufführung kennen zu lernen und zu genießen, und sich wenigstens dann und wann aus der trägen Oede ihres Philisterlebens in die befreiende Schönheit des Ideals erheben zu lassen. Karl von Holtei wurde zugleich der erste Shakespeare-Apostel (Tieck, der erste, wanderte nicht), und zwar mit solcher Wirkung, daß er selbst in Städten, die sonst nichts Höheres kannten als Schweinemast und Fellgerberei, Verständniß und Begeisterung fand. Ueberhaupt ist das Volk überall, selbst in dem jetzigen possendemoralisirten Berlin, für das Höchste und Schönste unserer Dichter empfänglich und dankbar, und wenn sich um Offenbachiaden und Kallenbachiaden herum dichtgedrängte Bestialität noch immer herrlich offenbart, so beweisen vom gemeinen Volke gefüllte Theater in den Vorstädten Berlins einem [48] Faust, einem Tell, einem Othello oder Hamlet eine noch ganz andere Würdigung und Begeisterung. Diese erntete Holtei viele Jahre lang in den verschiendensten deutschen Groß-, Mittel- und Kleinstädten, und selbst in Weimar erschloß er erst durch seinen Vortrag das erste höhere Verständniß für den Faust. Dies bekannte mit besonderer Begeisterung Goethe’s Sohn, der ihm bis dahin fremd, ja feindlich gesinnt gewesen war. Durch diesen Faust wurden sie sofort auf Lebenszeit die allervertrautesten Freunde, so daß wir Holtei über ihn, sowie über den Vater die mannigfaltigsten Aufschlüsse aus persönlichen Erinnerungen verdanken.
Nachdem das erste Eis des Alters und der Vornehmheit weggethaut war, durfte Holtei mit dem greisen Goethe essen, trinken und plaudern, wie wenige andere Günstlinge. So verdanken wir ihm in den „Vierzig Jahren“, zugleich einer Biographie des Jahrhunderts von etwa 1820 – 1850, eine schätzbare Menge von wörtlich festgehaltenen und niedergeschriebenen Aussprüchen des schon ziemlich unnahbar und nach außen wortkarg gewordenen Zeus auf unserem Olymp.
Holtei’s persönliche Erinnerungen an das Goethe’sche Haus richten unseren Blick in den Literaturhimmel dieses Jahrhunderts, an welchem wir mit seinen Augen Stern an Stern der verschiedensten Größen mit allen Graden von Schimmer und Umlaufszeit entdecken. Wenn wir seine „Vierzig Jahre“ durchlesen, glauben wir, daß kaum einer dieser Sterne durch seine Abwesenheit glänzen könne. Man sollte meinen, es müßten hauptsächlich Schauspieler und Schauspielerinnen, Sänger und Sängerinnen, Theaterdichter und dergleichen Vagabunden sein. Allerdings fehlt von ihnen wohl kaum einer mit gutem Namen, aber wir finden ihn auch bei Lafayette, Humboldt, Eduard Gans, sogar Hegel und selbst bei Metternich. Gewann er doch als Schlesier in Wien zur höchsten Entrüstung der österreichischen Dichter den ausgeschriebenen Preis auf die Nationalhymne für den Kaiser Ferdinand. Nur durch Grillparzer’s edelmüthige Vermittelung wurde es möglich, den dadurch beleidigten Nationalstolz der Wiener Poeten zu beschwichtigen.
Der lieblichste Stern des Jahrhunderts war jedenfalls Henriette Sontag, deren europäischer Ruhm in dem Königstädtischen Theater zu Berlin unter Holtei’s Regie begründet ward. Damals war er schon zum ersten Male Wittwer und konnte seine große Wohnung in der Kaiserstraße ihr und den Ihrigen abtreten. So lernte er sie besser würdigen, als die Tausende, deren Begeisterung zum Theil bis zum Wahnsinn stieg. Deshalb hier ein Zeugniß von ihm, welches möglicher Weise noch jetzigen Sängerinnen nützen mag: „Ich habe schönere Frauen gesehen, größere Schauspielerinnen, gewaltigere Stimmen gehört, vielleicht auch höhere Virtuosität des Gesanges; aber einen so innigen Verein von Anmuth, Reiz, Wohllaut, Ausbildung aller künstlerischen Fähigkeiten, Darstellungsgabe, besonnener Anwendung der gegebenen Mittel und bescheidener Coquetterie hatt’ ich nie und nirgends zu bewundern.
An freien Tagen fuhren wir über Land, wo Henriette sich im Grünen umhertrieb, wie ein Kind. Abends nach dem Essen saß sie manchmal Stunden lang am Clavier und sang, am liebsten nach Clavierauszügen Mozart’scher Opern. Und dann wühlte sie sich förmlich in die Tondichtung hinein, wie die Bienen in den Blumenkelch. Das dauerte oft bis in die Nacht. Einmal durchspielte und durchsang sie die ganze Zauberflöte. In solchen Stunden sprach der Genius aus ihr. Selbstvergessen ohne einen Gedanken an äußerliche Rücksichten, ließ sie ihr ganzes Herz aufgehen. Die Künstlerin trat in ihre vollen Menschenrechte. Im weißen, leichten Sommernachtkleide, das blonde Haar in halbaufgelösten Locken über ein blühendes Gesicht, das schöne Auge wie verklärt, weinte, lachte, zürnte und scherzte sie in vollen, klaren Tönen. Zu unpassenden, wenn auch noch so prächtigen Operneinlagen ließ sie sich in reiner Würdigung ihrer Tondichter nie bewegen.“
Die Geister aller Gebiete waren damals in aller Unschuld unbewußt gegen das politische Gefängnißleben verschworen. Alle wirkten und hielten zusammen, um die ideale Welt mit Kraft und Waffen zu versorgen. Man mußte Holtei, diesen Kometen, der durch unzählige dieser Sterne hindurchgegangen war, darüber hören. Er wußte es selbst nicht und erstaunte um so mehr, wenn er auf dieses unbewußte Zusammenwirken und die Folgen seiner eignen unterthantreuesten Dichtungen und Vorträge aufmerksam gemacht ward. Wie fließen ihre Lichter noch jetzt aus seinen „Vierzig Jahren“ zusammen! Die ästhetischen Abende in Berlin, damals wirkliche Vereinigungen für Kunst, Schönheit, Wissenschaft, Idealität mit dünnem Thee und dünnen Butterbroden (statt der jetzigen Schmausereien) bei Meyerbeer, Varnhagen und der Rahel, bei der Viardot-Garcia, der Hahn-Hahn, später bei Mundt, ernstlich in der „Mittwochsgesellschaft“, mit wildestem Humor im „Tollhause“ und dem „Tempel der Tugend“, unter den „Biedermännern“ in Leipzig und dem „Ludlam“ in Wien, bei Tieck in Dresden, bei Goethe in Weimar, in den Salons von Paris mit Lafayette, Benjamin Constant, Dr. Gall,
[49][50] Alexander von Humboldt mit seiner geharnischten Rede gegen Sclaverei, Boieldieu, Rossini, Scribe, Gérard und nicht zu vergessen Beranger – alle diese Geistesrichtungen, alle diese Lichter fließen jetzt für uns in eine große einheitliche elektrische Batterie zusammen, welche sich schon 1830 in verschiedenen Zuckungen entlud und hernach, durch neue Zersetzungen und elektrische Umwandlungen verstärkt, ungestüm und zum Theil brutal über Gerechte und Ungerechte, alles Bestehende erschütternd losbrach. Viel Knechtschaft ward zertrümmert, aber auch viel guter, historischer Boden verwüstet. Die Geister, welche unbewußt für Verstärkung dieser Batterie arbeiteten, erschraken vor deren endlich ausgebrochener Wirkung und wandten sich mit Entsetzen ab. So ging es auch unserem Holtei. Wir verstehen ihn und seines Gleichen jetzt. Diese Wirkung sollten Kunst, Poesie, Idealität nicht haben. Ganz richtig. Wir hoffen immer noch, daß die Verwüstungen auf dem geschichtlichen Boden, der Bruch in unserer Culturentwicklung nur eben die Nothwendigkeit des Aufräumens geltend machten. Nun bauen wir schon längst wieder auf. Freilich ist mancher Grund unsicher, mancher Tempel mißrathen oder voller Abgötterei. Aber die Geister der Wahrheit und Schönheit leben noch und wirken noch, und unter ihnen ist ja wohl auch schon der Heiland mit der Geißel, womit er die Wucherer und Wechsler aus den Tempeln vertreiben wird. –
In dieser Richtung müssen die alten Helden und ihre Knappen ihren Trost während trüber Tage und schlafloser Nächte suchen.
Und dem alten, weißen Dichtervagabunden des Jahrhunderts möchten wir zu seinem Geburtstage noch recht eindringlich rathen, sich, wenn er sich allein zu schwach fühlt, an die unsterblichen Geister zu halten, mit denen er durch dieses Jahrhundert hindurch strebte, aß und trank und fröhlich war, an seine im Volke lebenden Dichtungen, an die „Stimmen des Waldes“ und zuletzt an die frommen Wünsche, womit er seine schlesischen Gedichte schließt. Wohl möchte er haben „vum Uckse de Kraft, vum Löwe den Mutt“ etc.,
„Oder’sch kan nu nich sein,
Und do find’ ihch mihch ’nein,
Und ihch bleib’ wie ihch bihn,
Und’s muhß haldich ooch giehn.“
In allen Büchern, welche das baierische Hochland schildern, wird des Wasserabgrundes, der „Klamm“ Erwähnung gethan, in welcher die Partnach, der aus hohen Kalkfirnen abtriefende Bergstrom, sich eine Bahn durch den vorgelagerten Schiefer gebrochen hat. Die Meisten werden durch diese „Klamm“, sei es in Wirklichkeit oder nur in der Druckerschwärze, zu Empfindungen des Staunens fortgerissen. Andere, welche viele solche Klammen gesehen haben, behaupten, die Partnachklamm habe vor anderen Schlünden, durch welche sich reißende Wasser hindurchkämpfen, nichts Besonderes voraus, als etwa die bequemen Steige, die hindurchgehen, und selbst diesen Vorzug theile sie mit mehreren derartigen Schaustücken, insbesondere der Unkener-, der Seisenbergklamm und anderen.
Wer Recht hat, die eindrucksfähigen Fremdlinge oder die fast blasirten Hausgenossen der Berge, das untersuche ich nicht, weil auch in der Abschätzung der Landschaft der gute römische Satz gelten soll, daß man über den Geschmack nicht streitet. Fern von mir sei, zur Vermehrung der Enthusiasten beitragen zu wollen, von welchen es in unserer sinnigen Zeit wimmelt, insbesondere während der drei Gasthof-Monate, so daß man glauben sollte, die ganze schreibende, rechnende und gründende Menschheit sei von einem buddhistischen Raptus überfallen worden und „versenke“ sich in’s Innere des großen Lotos.
Ich begnüge mich, Einiges zu beschreiben, was in diesem durchdonnerten Abgrund vorgeht und für die Welt noch nicht da ist, weil man es nicht liest. Nach dieser Einleitung gehe ich zur Sache über.
Zu Partenkirchen und Garmisch giebt es Leute, welchen der Förster das Holz, das sie für ihr Hauswesen zu beziehen ein Recht haben, in den Waldungen anweist, die jenseits der malerischen Klamm gelegen sind. Im wipfelsummenden Hinter-Rainthal, im Schachenwald, über dem am Rande grauer Schrofen unweit der Schneegrenze der junge Baiernfürst in maurischer Villa haust, in der „Bodenlehn“, im Hagenrain und anderen wilden Orten stehen die Fichten, welche den Holzberechtigten bezeichnet werden, daß sie dieselben abschlagen und nach ihrem Gutdünken verwenden dürfen. So ist es überall in unsern Bergen: das Amt weist den Leuten das Holz an, das sie brauchen, und überläßt es ihnen, die Stämme oder Scheiter weiter zu schaffen.
Zu jenen Wildnissen nun, über welchen die unnahbare „Dreithorspitze“ thront, giebt es von den beiden genannten Orten her keinen andern Zugang, als eben durch die besagte Klamm, einen Felsschlund, der zweihundert Fuß tief in das Schiefergestein eingeschnitten und an vielen Stellen nur so breit ist, daß ein Springer darüber zu setzen vermöchte. Wohl ist auf dem südlichen Hochrand der Klamm ein Fahrweg angelegt worden, auf welchem man in’s Rainthal gelangt, aber von der Benutzung desselben zum Weiterschaffen des Holzes kann da keine Rede sein, wo ein reißendes Bergwasser zu Thal zieht und wohlfeil die ihm anvertrauten Frachten mitschleppt.
Die Bauern werfen also dort oben ihr Holz in die Partnach; auf der Partnach schwimmt es weiter und gelangt mit ihr in die Felsenengen. In den Felsenengen staut sich das Wasser und staut sich das Holz. Das erstere kämpft sich durch; das zweite thürmt sich auf, von Nachzüglern gedrängt.
Wenn der Kukuk im Bergwald schreit und die blauen Gentianen auf den Wiesen stehen, das heißt im Mai und Brachmonat, da gehen die Förster im Wald umher und zeigen den Leuten das Holz, das ihnen zu schlagen erlaubt wird. Der Juli geht darüber hin, bis die Stämme zerkleinert, „gemacht“ sind. Dann schafft man sie an’s Wasser, an’s Gestade der Partnach, wo sie vorerst in unregelmäßigen Stößen aufgeschichtet werden, bis der Stand des Flusses so günstig erscheint, daß man ihm die Fichtenscheiter (Buchenholz ist nur sehr wenig darunter) anvertrauen will. Diejenigen, denen das Loos ihr Holz im hohen Schachen- oder Stuibenwald zugewiesen hat, werfen es von dort herab. Die bekannten Prügelbahnen, Holzrissen, lohnen nicht der Mühe – die Scheiter kollern in einfachen „Würfen“ zum Wasser herab.
Da in den Wellen der Partnach die Hölzer verschiedener Eigenthümer vom ungeschulten Wasser gesetzwidrig durcheinander geworfen werden, so ist es nothwendig dieselben zu zeichnen. Das geschieht ohne Anstrengung der Einbildungskraft vermittelst eingehauener Striche, Kreuze, oft auch nur durch Röthel an den Schnittflächen, insbesondere bei Rundlingen. Es kommt vor, daß die Leute, denen das Holz gehört, durch andere Beschäftigungen abgehalten werden, sich gerade im Juli um das Zubereiten desselben zu bekümmern, und erst in den spätern Herbstmonaten dazu kommen, zu hacken, zu sägen und abzuwerfen.
Als Regel gilt der Monat August für die Zeit zum Triften oder „Holzrennen“. Die Scheiterhaufen stehen, durch die Kunst der Fäller wohl unter einander ausgezeichnet, am Rande des Bergstroms und warten auf die Reise kopfüber, durch Gischt und Strudel, die ihnen bevorsteht.
Zur Festsetzung des Reiseanfangs ist das Wetter da. Regnet es sehr stark und ist ein mächtiges Anschwellen des Wassers voraussichtlich, so unterläßt man es, aus Besorgniß, die aufgestaute Fluth mit ihrer Scheiterlast könnte draußen bei Partenkirchen den Holzrechen durchreißen, der die Ankömmlinge aufhalten soll. Dagegen darf auch kein jähes Fallen des Wassers vorhergesehen werden – denn die Fluth, die plötzlich sinkt, läßt ihre Hölzer auf Schotterbänken, Felsenkanten, in Aushöhlungen und Rissen nachlässig liegen. Ist Schnee auf den Bergen gefallen, so wird deshalb das Triftwasser als im allerschlechtesten Zustande befindlich erachtet – denn bei der Kälte fließen die Adern dort oben schlecht. Geraten deshalb jene verspäteten Trifter in den October hinein und sie gewahren an einem Morgen die Kalkschrofen silberglänzend
[51] zugedeckt, so müssen sie ihre Arbeit für dieses Jahr ruhen lassen und sich auf den nächsten Lenz vertrösten.
Die ordentliche Gelegenheit zum „Holzrennen“ wird vom Wetter gegeben, wenn man ein allmähliches, sanftes Wachsen des Bergstromes bemerkt. Dann werden die Scheiter in’s Wasser gestoßen und fort geht’s – anfänglich ziemlich friedlich durch die Kiesauen und Waldufer des Rainthales, dann aber, wenn die Fluth den Engen entgegen wirbelt, immer rascher, dichter aneinander gedrängt und oft umschlagend im Gewoge.
Endlich ist kein Platz mehr für ein Nebeneinander. Die Ufer, bisher Waldsaum, sind auf zwei Klafter Entfernung zusammengerückt und sind Wände geworden. Eine Zeit lang schiebt noch ein Klotz den anderen, aber wenn der Klötze in den Windungen des Schiefers, der aussieht, als ob sich ein großer Wurm wie die Midgardsschlange durch ihn hindurchgefressen hätte, gar zu viele geworden sind, so können sie nicht mehr weiter und verfallen der Trägheit.
Jetzt ist die Zeit der Männer gekommen, ihnen beizustehen. Sollte irgend Jemand durch diese Zeilen sich angeeifert fühlen, einmal dem Spectakel zuzuschauen, so stelle er sich auf die oberste Klammbrücke bei Graseck, dem gewöhnlichen Ziele der Klammpilger. Dort sieht er in den Abgrund, der kurz vor der Brücke, die schwindlig schwebt, eine Biegung macht. Die Hölzer in der Tiefe poltern in den Schlund hinein.
Da soll Einer hinabgelassen werden, um die festgesessenen Hölzer flott zu machen. Eine Schlinge wird ihm um den Leib gelegt. Er sitzt auf einem Prügel, der am Ende des Seiles als kurze Querstange befestigt ist. Auf dem Kopfe hat er einen Kübel von Holz, damit Steine, die abfallen, seinen Schädel nicht belästigen. Das Seil ist um einen Baum geschlungen und läuft noch einmal über eine Rolle, die an einem andern Baumstamme befestigt ist. Während drei bis vier Genossen dasselbe vorsichtig ablassen, zurückgebeugt mit aller Kraft es hemmen, daß es von seiner Last nur Hand- um Handbreite in die Tiefe gezerrt wird, dreht sich, der Bewegung des Taues folgend, der Abfahrende, zugleich sein Griesbeil benutzend. Das Griesbeil ist eine Haue, aus einem langen Holzgriffe, einem eisernen Haken und eben solcher Spitze bestehend. Schon bei der Arbeit im Bergwalde wurde es von dem Holzfäller gebraucht, um Holz bis auf den „Wurf“ herauszuziehen oder es in’s Wasser zu stoßen – jetzt dient es ihm, um sich mit der Spitze von den Hervorragungen der Felswand abzuhalten, gegen welche ihn die drehende Bewegung des Seiles schlagen möchte.
Und wieder sein unentbehrliches Werkzeug wird die Grieshacke, wenn er einmal unten angekommen ist und sich vom Seile abgelöst hat. Dann spießt er die Hölzer, die sich festgerammt haben, und wirft sie in’s fortstrebende Wasser oder zerrt die übereinandergethürmten auseinander. Sanft greift er sie gerade nicht an – werden ja auch die Leute nicht sanft angegriffen, die in den Engpässen des Lebens nicht mehr weiter können.
Von oben herab sieht diese Hantirung so grob nicht aus; aber wir würden anders urtheilen, wenn wir selbst in der Tiefe zwischen den Hölzern stünden. Schon das Herabseilenlassen erfordert einen sicheren Kopf, nicht minder aber auch der Donner des Wassers und der Blöcke, der dort unten viel betäubender hallt als nach oben hinauf, wo über den Rändern des Abgrundes die Brücke schwebt. Auch das Herumsteigen auf Scheitern, die über dem gestauten wüthenden Wasser schwanken, verlangt Muth. Nimmt man dazu die Dämmerung des tiefen Spaltes, worin nur ein schmaler Streifen Himmel sichtbar wird, so sieht man, daß Kaltblütigkeit hier an ihrem Orte ist.
Vor einigen Jahren ereignete es sich, daß einer von den Knechten, die in den Wassern des Abgrundes arbeiteten, des Abends beim Herausziehen vergessen wurde. Das Schreien half ihm nichts, weil das Geräusch des Wassers und des Holzes die Stimme erstickte. Er versuchte es, in der Richtung gegen Rainthal hin dem engen Abgrunde zu entfliehen, vermochte es aber nicht, weil sich eine sehr tiefe Stelle vorfand, über welche er nicht hinüber kommen konnte. Von einem Entrinnen gegen Garmisch hin konnte noch weniger die Rede sein, weil er die ganze Klamm hätte durchwaten müssen und in der Dunkelheit sicher ertrunken, gegen die Wand geschleudert oder von Scheitern erdrückt worden wäre.
Als er so in dem quirlenden, von auf- und absteigenden Holzscheitern eingeengten Wasser sich herumtastete, gerieth er einmal an einen Felsblock, der nahe an der Wand im Wasser lag. Dieser, an dem er sich mit beiden Händen halten konnte, bot ihm zwar Schutz gegen das reißende Wasser, aber es war doch ein unbequemer Zufluchtsort, weil gerade ob diesem Block die Wand bedeutend überhängt und so denjenigen, der beim Blocke steht, nöthigt, sich zu bücken. Als er deßhalb den Block wieder loslassen wollte, fand es sich aber, daß links und rechts davon das Wasser im Grunde Tobel von solcher Tiefe abgewaschen hatte, daß es über ihm zusammengeschlagen wäre und ihn erstickt hätte. Man sollte glauben, wohin man den Weg findet, von dort finde man ihn auch wieder zurück. Das ist aber nicht immer wahr. Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß ich von einem Felsstücke, zu welchem ich beim Ueberschreiten eines wenig bedeutenden Bergflusses gekommen war und auf welchem ich einige Augenblicke ausruhte, nach keiner Richtung hin weiter kommen konnte und endlich durch zugeworfene Seile aus dem Schwall erlöst wurde. So fand auch dieser Knecht die Richtung nicht wieder, in welcher er hinter seinen Block gerathen war, und blieb bei ihm stehen. Die Nacht, während welcher er, den Block umhalsend, bis an die Brust im Wasser gebückt unter der Wand aushalten mußte, wird ihm lang geworden sein. Morgens endlich hörten die Leute von Mitter-Graseck sein Geschrei und schafften Hülfe herbei, so daß er in kläglicher Verfassung durch ein Seil hinaufgezogen wurde.
An der obern Mühle bei der Partenkirchener Kohlstatt ist der Rechen in der Partnach, welcher die der Partnach entronnenen Hölzer aufhält. Dort stehen diejenigen, denen das Holz gehört, und geben auf die heranschwimmenden Hölzer Obacht. Die Gewöhnung schärft ihren Blick, und so erkennen sie gleich, ob das ankommende Scheit ein ihriges ist oder nicht. Schwimmt Eigenthum daher, so haben sie es blitzschnell mit dem Griesbeil erfaßt und werfen es auf den triefenden Haufen, der sich am Ufer ansammelt.
So viel, was das Holzrennen in der Partnachklamm anbelangt.
Ich will die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, noch einiges Andere über diese Klamm hinzuzufügen, was den Sommerwanderern entgeht.
Der Landschaftsphotograph Bernhard Johannes in Partenkirchen, dessen prächtige „Studienblätter“ in so manchem Düsseldorfer und Berliner Atelier angetroffen werden, wo sie den Malern gute Dienste leisten, machte mich einmal auf das Schauspiel der vereisten Klamm aufmerksam. Um zu erklären, was dies heißen soll, sage ich, daß fortwährend Wasseradern von den hohen Rändern in den Abgrund hinabtriefen. Nach anhaltendem Regen oder nach Gewittern sind es zahllose Wasserfälle, die hinabstäuben. Die Klamm in diesem Zustande zu sehen, gehört zu den angenehmsten Reiseerfahrungen. Ein anderes Gesicht nimmt sie im Winter an. Die hervorsickernden Wasser gefrieren, die darüber hinträufenden gefrieren wieder, und so setzen sich allgemach Eiswülste von großer Pracht an. Sie sind oben, wo sie sich um das Ufer des Abgrundes biegen, am dicksten und enden ein paar Dutzend Klafter weiter unten in einer Menge von grünblauen Spitzen, die in die Nacht hinabzüngeln.
Schon die Einbildungskraft sagt Jedem, daß diese starren Gebilde ein schönes Schaustück darstellen müssen. Indessen muß man den Schlund in diesem Zustande doch gesehen haben, um sich eine gute Vorstellung davon zu machen. Drei Zeiten insbesondere sind schön, um die Eisbogen über den nächtlichen Wassern zu betrachten.
Zuerst der Mittag. Denn um die Zeit des Jahres, in welcher die todten grünen Wasserfälle hängen, kommt die Sonne nur auf wenige Augenblicke, um Mittag, in die Klamm. Dann muß man auf der erwähnten Brücke stehen und sich des Gegensatzes freuen, in welchem die vom Strahl getroffenen obersten Eiswülste am Rande blenden, während ihre spitzigen Enden mit Wasser und Gestein in gleichförmiger Nacht versteckt bleiben. – Sodann die Mondnacht. Nur hier und dort hängt eine Scheibe des gelben Lichtes an den Wänden. Manchmal flirrt der Strahl am Eise in der Tiefe, während die hohe Wulstung oben beschattet bleibt. Dann scheint ein Schatz „heraufzublühen“, wie in den Geheimnissen der Johannisnacht. Felsen und Eis sind mit dünnem Schnee angestäubt, den der Zugwind der Klamm von den Bäumen streift. Dieses Weiß steht sanft im Mondlichte da, [52] als wären wir im marmornen Saale. Bei Nacht fallen die Wasser stärker, und die nächtliche Stunde im Donner der unsichtbaren Wellen, die in’s Meer wallen, im Irren der Mondlichter und im Auf- und Abblinken des ruhigen Eises, diese Stunde vergißt Niemand, der sie auch nur einmal durchlebt hat. – Zuletzt im Frühjahre, im Hornung, im März, ja sogar im Mai – je nachdem der laue Wind Herr geworden ist in der Welt. Die Schlucht starrt noch von Eis, wenn draußen die Buchenknospen aufspringen. Da muß man Glück haben und einmal hineinkommen, wenn so ein breiter Wasserfall von Eis, unten durch laue Tropfen längst morsch gemacht, urplötzlich krachend abfällt. Der Alte vom Berge spricht auch hier seine klangvolle Sprache: wie Schlachtendonner dröhnt es aus dem Abgrunde, in welchem die Eisorgel, die mit einem Gewicht von Tausenden von Centnern am Felsen klebte, zu zahllosen glasigen Splittern zerschlagen wird. Bald stäubt wieder der sanfte Frühlingsbach über die Furche hinab, die jene im Fallen gerissen hat. Das Tönen ihres Sturzes aber gehört zur Symphonie des Lenzes in dieser großen Welt.
Am 12. December 1870 stand ich bei dem erwähnten Landschaftsphotographen Johannes auf der Brücke und unterstützte ihn in seiner Hantierung, ein Bild vom vereisten Abgrund zu schaffen. Wer es weiß, was derlei sagen will, wenn der Wärmemesser fünfzehn Grade unter dem Eispunkte zeigt, der wundert sich über das Gelingen. Auf Knieen und Händen rutschend mußten die Werkzeuge an den Brückengeländern so gehalten werden, daß ihnen der einzige Sonnenstrahl des Wintertages, der die Eiswölbungen traf, nicht entging. Froh und stolz über das gelungene Kunststück, ist er aus der Kluft heimgegangen; nicht minder froh war ich, daß wieder einmal etwas aus verborgener Werkstätte für die Augen aller Menschen an’s Licht gezogen und der große Proteus in einer seiner Launen festgehalten worden war.
Manche Klammen sind der Hel geweiht, zum Beispiel die ganz in der Nähe befindliche Seins-Klamm bei Mittenwald. Dort hinein warf man im Mittelalter alle diejenigen Menschen und Thiere, die keines natürlichen Todes gestorben waren, und es ist kaum hundert Jahre her, daß der Leichnam eines armen Weibes, das als Hexe gestorben war, vom Abdecker in jenen Schlund gestürzt wurde. Ob die Partnach-Klamm jemals von den Werdenfelsern als ein solch unheimlicher Ort betrachtet wurde, weiß ich nicht – die Schauer ihrer finsteren Wassergänge würden dadurch nicht vermehrt, wohl aber durch einen Geländersteig, der es dem aufregungslustigen Fremdling möglich machte, in der hallenden, dunkeln Tiefe selbst dahinzugehen, während er dermalen den Schlund meist nur aus der Vogelschau zu übersehen vermag.
Damit genug von der Partnach-Klamm. Denn mit der Schilderung sommerlicher Pracht der Blumen am feuchten Fels, ihrer Kühlung und anderer Annehmlichkeiten, die Tausende gesehen und empfunden haben, soll an diesem Orte der bemessene Raum nicht vergeudet werden.
Noch einmal eine sprachliche Unart. Der in Nummer 1 der Gartenlaube
gerügte Gebrauch des am Berg, am See etc. ist wohl nur ein
dem österreichischen Dialekt eigenthümlicher Fehler, der sehr selten in der
Schriftsprache erscheint. Ich möchte dies „am“ nicht für eine Zusammenziehung
von „auf dem“ halten, sondern glauben, daß es durch eine Auffassungsverschiedenheit,
durch eine in unbestimmter Allgemeinheit erweiterte
Anwendung der Präposition an entstanden sei. So sagt der Oesterreicher
ja auch – und dieser Fehler ist oft auch in der Schriftsprache zu finden –
„sie hielten ihre Versammlung beim Adler“, „der Kaiser ist beim Erzherzog
Karl abgestiegen“. Der dialektische Gebrauch der Präpositionen ist
ein interessantes Stück lebendiger Sprachbildung; so sagt der gemeine
Mann hier in Mainz (wie auch in Thüringen und Meißen), um nur dies
Eine anzuführen: „er ist bei mich gekommen“.
Verdienstlich ist aber immer ein aufmerksames Controlieren und strenges Rügen von grammatischen Sprachwidrigkeiten, die hie und da selbst in den angesehensten und sonst in jeder Hinsicht mustergültigen Zeitschriften uns begegnen.
Die strenge Kritik, welche der Franzose über Stil und grammatische Handhabung seiner Sprache ausübt, hat denn doch auch ihr Gutes. Komische Dinge sind freilich französischen Autoren durch ihre Unwissenheit in fremden Sprachen passirt: ich erwähne nur die bekannte Uebersetzung von Philarète Chasles: Je suis ici sur le Meinigen („Hier steh’ ich auf dem Meinigen“ in Schiller’s Tell), den der gute Mann für einen Schweizer Berg hielt, und die bekannten Doctoren „Schinkengift“ etc., sowie den verrätherischen General „Staff“. Vereinzelt kommen derartige Mißverständnisse auch in deutschen Schriften vor; bekannt ist ja, wie seiner Zeit in einer hochangesehenen deutschen geographischen Zeitschrift die Rede war von Turteltauben, welche die Eingeborenen fangen, indem sie dieselben auf den Rücken legen und an den Hinterbeinen fortschleppen!! (Das englische turtle welches Schildkröte und Turteltaube bedeutet, gab zu dieser unbegreiflichen Gedankenlosigkeit Anlaß.) Nicht unbemerkt ist auch die Übersetzung der Stelle aus der Proclamation Napoleon’s im Jahr 1859 geblieben: les paroles d’un heureux augure, welche eine der ersten deutschen Zeitungen mit: „Die Worte eines glücklichen Auguren“ (statt „einer glücklichen Wahrsagung“) wiedergab. Und bei dieser Gelegenheit möchte ich auch auf einen Uebersetzungsfehler in dem wahrhaft classischen Werke des Großen Generalstabs über den französischen Krieg hinweisen, in welchem die Worte der Proclamation Napoleon’s: Nous formons le voeu ect. lauten. „Wir thun das Gelübde, daß die Völker, aus denen sich die große germanische Nation zusammensetzt, frei über ihre Geschicke bestimmen sollen,“ statt: „Wir hegen den Wunsch etc.“. Ein Werk, das nach Inhalt und Form bestimmt ist, ein köstlicher Besitz der jetzt lebenden und aller kommenden Generationen zu sein, sollte auch von derartigen kleinen Unrichtigkeiten frei sein.
Zwei Ritter des eisernen Kreuzes. (Mit Abbildung, S. 41.) Bei G. Grote in Berlin ist ein Prachtwerk erschienen, „Aus großer Zeit, Erinnerungen an 1870 und 1871 von Alexander Baron von Roberts und Alexander Zick“. Dasselbe hat es sich zur Aufgabe gestellt, einen Cyclus bewegender Hauptmomente jenes Krieges in Wort und Bild zur Anschauung zu bringen. Es galt hierbei, das Bleibende, auch für spätere Zeiten Gültige aus einer Fülle von Erinnerungen und zufälligen Erlebnissen auszuwählen. Die bildliche Ausstattung besteht aus achtzehn, bei Hanfstängl in München photographirten Cartons, von denen wir „das Eiserne Kreuz“ wiedergeben. Wie dieses Bild, in welchem ein greiser Held von Anno 1813 dargestellt ist, der, selbst mit dem Eisernen Kreuze geschmückt, dem todten Sohne dasselbe Ehrenzeichen auf die Brust heftet, dessen Anblick seine letzte Freude gewesen war, – so behandelt das ganze Werk weniger Kriegsscenen mit localem Hintergrunde, als vielmehr die im gesellschaftlichen Leben sich zeigenden Reflexe der großen Zeit, von dem Zornesausbruche der schwülen Julitage bis zu dem überströmenden Jubel, der unseren heimkehrenden Tapferen entgegenschallte. Hier wandelt Leid und Freude, zu poetischen Gestalten verkörpert, an uns vorüber, oft genug daran gemahnend, daß wir im Vollbesitze einer glänzenden Gegenwart auch Jener gedenken sollen, die uns das Reich mit ihrem Herzblute erstritten, von deren Riesengräbern drüben in Frankreich ein leiser Gruß herüberweht: „Vergiß, mein Volk, die treuen Todten nicht!“
Sch. in Hoerde. Sie fragen nach dem Ursprung der Bezeichnung
„Vatermörder“ als Halskragen. Dieser sehr leichtsinnige Witz, dessen
sich die deutsche Sprache nur schämen kann, soll nach Einigen von einer
tragischen Geschichte, nach Anderen von einer komischen Uebertreibung herrühren.
Nach jener soll ein mit solch einem steifgestärkten langen spitzigen
Modekragen von einer Reise heimkehrender Sohn seinen Vater bei der
Umhalsung in’s Auge gestochen haben, der dann an der Verwundung
starb. Nach dieser sehen die zwei schneeweißen Hellebardenspitzen, die zur
Cravatte herausragen, so lebensgefährlich aus, daß die Möglichkeit einer
solchen Vatertödtung durch eine Sohnesumarmung gleich vorausgesetzt und
für die Bezeichnung des neuen Modethorheitsstücks maßgebend wurde.
L. in F. Warum auf den neuen deutschen Goldmünzen die vier Königreiche sich dadurch unterscheiden, daß auf dem einen „KÖNIG“, auf dem andern „KOENIG“, auf dem dritten „KŒNIG“ und auf dem vierten „KOENIG v. G. G.“ geprägt ist? Die Antwort auf diese Frage wird wohl am besten im Reichstag gegeben; wir sind es nicht im Stande.
A. R. Sie werden Ihren Zweck, die beiden Vögel vom Ungeziefer zu befreien, am sichersten erreichen, wenn Sie sobald wie möglich gutes persisches Insectenpulver auf den Boden des Vogelbauers streuen und mit einem Stückchen Löschpapier bedecken. Sollte das nicht fruchten, so mögen Sie, ohne dadurch Ihre Pfleglinge zu gefährden, denselben etwas von dem besagten Pulver in’s Gefieder streuen. Ausführlicheres über die Behandlung der Vögel finden Sie in Brehm’s „Gefangenen Vögeln“.
K. in Hamburg. Ob Apollo oder Apolda „Knaster, den gelben“ präparirt habe? Machen Sie sich keine mythologischen Sorgen: Apolda, die allbekannte weimarische Fabrikstadt, hat’s gethan.
Frl. A. M. in P. Die Kurz’sche Literaturgeschichte sowohl wie Kneschke’s Album geben das Alter des Dichters falsch an. Albert Traeger ist nicht 1826, sondern 1830 am 30. Juni geboren.
X. Y. wird ersucht, zwecks Mittheilung der Hecker’schen Antwort seine Adresse aufgeben zu wollen.
W., dem langjährigen Abonnenten in W. Empfangen und gut aufgehoben – freilich im Papierkorb.
Herrn L. X. in Wolgast. Können Sie nicht die verkehrt wehende Flagge und das davonsegelnde Schiff auf unserem Bilde in Beziehung bringen? Sie wohnen der See so nahe und wissen nicht, daß die zusammengebunden oder umgekehrt aufgehißte Flagge als Nothzeichen gilt?
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Gustav Adolf von Tzschoppe, Vorlage: Tschoppe