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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[561]

No. 36.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Verlassen und Verloren.

Historische Erzählung aus dem Spessart.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)

Der Schultheiß las den Brief. Seine Miene nahm dabei einen Ausdruck tiefen Ernstes an – er las still bis zu Ende, dann sagte er aufschauend:

„Und hat der Schreiber dieses Briefes denselben Ihnen übergeben, um ihn mir zu bringen? Sie sind französischer Soldat – wie ist das, wie hängt das zusammen?“

„Ein Camerad hat ihn mir übergeben,“ erwiderte Wilderich, „der …“

„Lassen Sie mich, bitte, den Brief sehen,“ unterbrach Duvignot, indem er ohne weiteres dem alten Herrn den Brief aus der Hand nahm und zu überfliegen begann.

„Es ist seltsam,“ fuhr der Schultheiß fort, „der Brief muß dann aufgefangen und in Hände gekommen sein, für die er nicht bestimmt war – wie kann ein französischer Soldat ihn mir bringen …“

„Beruhigen Sie sich mein Herr Schultheiß,“ fuhr hier Duvignot scharf dazwischen, „der Mann ist kein französischer Soldat – er ist ein österreichischer Spion, und dieser Brief beweist mir, daß Sie mit unseren Feinden in heimlicher Verbindung stehen! Man rechnet auf Ihre Beihülfe, Ihren Verrath, um dem Feinde Frankfurt in die Hände zu spielen. Und wer Ihnen dies schreibt, ist der Erzherzog Reichsfeldmarschall selbst!“

„Mein Herr General,“ fuhr der Schultheiß erschrocken auf, „ich muß Sie bitten …“

„Es thut mir leid,“ fiel ihm der General in’s Wort, „Sie sind ein Mann, den ich als sein Gast schon zu achten habe; ich bin Ihnen Dankbarkeit schuldig für das Wohlwollen, das Sie mir schon vor Jahren, als ich unter Custine’s Truppen Ihre Stadt betrat und Ihr unfreiwilliger Gast wurde, mit so vieler Urbanität zeigten … aber meine Pflicht geht über meine persönlichen Gefühle … ich muß Sie vor ein Kriegsgericht stellen lassen, Herr Schultheiß …“

Der Schultheiß war todtenbleich geworden.

„Wenn Sie mich achten,“ sagte er, „so werden Sie mir auch glauben – ich bin kein Verräther – dies Schreiben ist an mich gerichtet ohne mein Wissen und Wollen – dieser Mann dort kann kein Spion sein, denn …“

„Kein Spion? Wir werden das sehen!“ rief Duvignot, sich zu Wilderich wendend, aus. „Wer seid Ihr? Ihr werdet nicht länger behaupten, daß Ihr französischer Soldat seid! Ihr seid ein Deutscher – das habe ich an Eurer Sprache erkannt! Nun wohl, wir haben auch Deutsche unter unseren Fahnen. Aber die Chasseur-Abtheilung, zu der Ihr gehören wollt, steht nicht in Hanau; ich traf sie gestern auf dem Marsch nach der Wetterau – sie gehört nicht zu Ney’s Division, ich kenne keinen de la Rive. … Wie war gestern Eure Parole? Seht ihr, Ihr wißt das nicht! Ihr hättet Euch vorher besser über Eure Rolle unterrichten sollen, bevor Ihr wagtet, sie zu übernehmen. Sie sehen, Schultheiß, daß ich Recht habe – dieser Mann ist kein französischer Soldat, er ist ein österreichischer Spion. Ich denke, dieses Schreiben hier, dies Schreiben in seinen Händen ist Beweis genug …“

„Beim lebendigen Gott,“ rief Wilderich hier stolz und entrüstet aus, „Ihre Beschuldigung ist falsch und ungerecht, Herr General – ich bin kein Spion, und dieser Herr hier, den ich in einen so unseligen Verdacht bringe ist völlig unschuldig … ich bin kein Franzose, ich gestehe das offen ein, ich bin der Revierförster Wilderich Buchrodt vom Rohrbrunner Revier im Spessart – ein Mann, den noch Niemand einer schlechten Handlung wie die, den Spion zu machen, fähig gehalten hat.“

„Förster aus dem Spessart, in der That?“ fiel Duvignot ein, „… einer von den Leuten, mit denen wir eine so schwere Rechnung auszugleichen haben! Doch enden wir,“ fuhr er, wie eine innerliche Erregung niederdrückend und stoßweise fort, „Herr Schultheiß, ich muß thun, was der Dienst mir gebietet. Ich bin gezwungen, Ihnen anzukündigen, daß Sie diese Zimmer nicht zu verlassen haben, bis weiter über Sie verfügt wird. Den Mann dort wird man zur Constablerwache führen. Der Brief bleibt in meiner Hand!“ –

Der General wandte sich rasch und ging – so rasch, als wolle er sich der peinigenden Scene, der Pflicht, die er gegen seinen Gastfreund zu erfüllen hatte, so bald wie möglich entziehen. Wilderich hätte ihm nachrufen mögen. ‚Halt – warten Sie – ich habe einen Preis, um den Sie abstehen werden von diesem entsetzlichen Verfahren wider zwei Unschuldige‘ – aber eben so rasch fuhr ihm der Gedanke durch’s Hirn, daß der französische Gewalthaber alsdann ihm einfach seine Briefe werde nehmen wollen, wie er den Brief des Erzherzogs genommen, ohne dafür das geringste Zugeständniß zu machen – und dann, wie konnte Wilderich von diesen Briefen in Gegenwart des Schultheißen reden, sie zeigen … wer war die Frau, die sie an den General geschrieben? war es nicht das eigene Weib des Schultheißen? sollte er dem alten gebrochenen Manne die Schmach anthun – und [562] wenn er es that, wenn er diese verbrecherische Liebe dem Manne des treulosen Weibes verrieth, war ihm dann nicht gerade deshalb die schonungsloseste Rache des Generals gewiß?

Diese Gedanken durchzuckten ihn – er hatte sie noch nicht ausgedacht, als der General längst verschwunden war.

„Mein Gott,“ sagte der Schultheiß, sich an der nächsten Stuhllehne aufrecht erhaltend, mit kreidebleichen Lippen, … „unseliger Mensch, welches Schicksal bringen Sie über mich … wie um’s Himmelswillen …“

„Mehren Sie meine Verzweiflung nicht noch,“ rief Wilderich im furchtbarsten Schmerze aus, „ich gäbe jeden Tropfen meines Blutes dafür, könnte ich wieder gut machen, was ich verbrochen an Ihnen – dies Entsetzliche – aber Sie sind ja unschuldig, was kann Ihnen geschehen, deshalb, weil ein von Gott und seinem Verstande verlassener Mensch Ihnen einen Brief bringt?“

„Was mir geschehen kann – das fragen Sie – nachdem Sie selbst es gehört, das Wort: Kriegsgericht – und wissen Sie nicht, daß in einer Stadt, wo der Belagerungszustand erklärt ist, in Tagen, wie diese sind, bei einer Armee, die auf der Flucht ist, und die sich um ihr Dasein schlägt, das Wort gleichbedeutend ist mit: Tod?!“

Wilderich schlug verzweifelt die Hände vor’s Gesicht.

„Sprechen Sie, was wollen Sie, was treibt Sie, so zu handeln? was hat den Erzherzog getrieben, mir einen solchen Brief zu schreiben, einen Brief, der mir Verrath zumuthet an dem Machthaber, der augenblicklich hier die Gewalt hat?“

„Ich … ich allein,“ rief Wilderich aus. „Ich drängte ihn zu dem Briefe. Ich liebe Benedicte – ich wollte ihr Beschützer sein, ich wollte sie retten – nun bring’ ich Ihnen den Tod durch meine Leidenschaft …“

„Sie lieben meine Tochter?!“ rief der Schultheiß mit einem unbeschreiblichen Ton von Erstaunen und Entrüstung zugleich aus.

„Sie ist Ihre Tochter? Ihre Tochter?!“

„Sie sagen, Sie lieben sie, und wissen nicht, wer sie ist?“

„Nein … und dennoch liebe ich sie, innig und tief und ehrlich, wie ein deutscher Mann je geliebt hat – ich wußte sie bedroht, dem gehässigsten Verdacht, den Peinigungen durch ein ihr feindseliges Weib ausgesetzt – ich zitterte für ihre Freiheit, ihr Leben, ich wagte Alles, um ihr Hülfe zu bringen …“

„Sie sehen, welche Hülfe Sie gebracht haben,“ fiel der Schultheiß bitter ein, während ein Paar Thränen über seine bleichen alten Wangen zu rollen begannen.

„Sie sind ein unvernünftiger hirnloser Mensch, der das Verderben über mich gebracht hat,“ fuhr er dann fort – „aber ich sehe, Sie fühlen es, wie ruchlos Sie handelten. Sie sind nicht schlecht – Sie verdienen jedenfalls den Tod nicht, der Sie erwartet, sichrer, unabwendbarer als mich – retten Sie sich – Sie müssen Ihr Heil in der Flucht suchen – fliehen Sie, bevor man kommt, Sie in den Kerker zu führen …“

„Fliehen? Wohin –“

„Das Haus unten ist voll Soldaten – aber vielleicht giebt es einen Weg über die Speicher, auf die Dächer der nächsten Häuser – was weiß ich – kommen Sie – kommen Sie –“

„Wenn Sie mich fliehen lassen, verdoppeln Sie den Schein Ihrer Schuld, Ihre Lage wird zehnfach ärger – ich bleibe!“

„Nein, nein,“ rief der Schultheiß, „was sollen zwei Menschen sterben, wenn dies bittre Loos Einem wenigstens abgenommen werden kann … ich bin ein alter Mann, ich bin zur Flucht zu alt, zu ungeschickt – Sie werden es können – vor Ihnen liegt noch ein langes Leben – folgen Sie mir –“

„Lassen Sie mich, lassen Sie mich hier, damit ich die Menschen, die Sie richten wollen, überzeugen kann …“

„Sie werden sie nicht überzeugen können. Man wird uns Beide zum Tode führen, ohne auf Sie zu hören –“

„Und doch –“

„Kommen Sie, ich will’s, ich will’s,“ rief der alte Mann hastig aus und schritt auf die Thür des Nebenzimmers zu.

Wilderich folgte ihm. Es war das Schlafgemach des Schultheißen, das sie betraten. Dieser öffnete im Hintergrunde eine zweite Thüre, die in einen ganz schmalen, dunklen Gang leitete, an dessen Ende sich wieder eine Thür zeigte.

Der Schultheiß pochte an dieselbe und rief flüsternd:

„Mach’ auf, mach’ augenblicklich auf, Benedicte!“

Wilderich erbebte bei diesem Namen. Sie – sie war’s, die er sehen sollte … sehen sollte, um nur einen Blick mit ihr zu wechseln, ein Wort, und dann weiter zu fliehen, um nie wieder vielleicht nur ihren Namen nennen zu hören … nein, das war nicht möglich … wie ein Blitz durchfuhr es ihn – hier lag vielleicht die Rettung … bei ihr … die Rettung für den Vater Benedictens, wie für ihn – sein Entschluß stand fest!

Die kleine Thür bewegte sich, ein Riegel wurde im Innern fortgeschoben, sie öffnete sich, Benedicte stand auf der Schwelle.

Aus dem kleinen Zimmer, aus welchem sie getreten, fiel das Licht der Dämmerung, die draußen begonnen, auf die Gestalt ihres Vaters und Wilderich’s.

„O mein Gott,“ flüsterte sie, erschrocken, daß ihre Worte kaum vernehmlich waren – „Sie, Sie hier?“

„Du kennst ihn also – es ist so, wie er sagt, er kommt um Deinetwillen – Alles, Alles dies ist um Deinetwillen – Du entsetzliches, mir zum Unglück geborenes Geschöpf,“ rief der Schultheiß aus.

Benedictens Augen öffneten sich weit – sie starrte den Vater an – aber sein Ausruf, seine Empörung konnte sie nicht zerschmettern, weil sie ihn nicht begriff, nicht verstand.

„Starr mich nur an,“ fuhr der Schultheiß im heftigsten Zorn auflodernd fort, „Du, Du warst es, Schlange, die mein Leben vergiften wollte …“

„O nicht das, nicht noch einmal, nicht immer wieder das – Vater, Vater, ich flehe Dich an, sei barmherzig!“ rief Benedicte, wie bittend die Hände erhebend.

„Du warst es, die mir das Kind stahl, verdarb, tödtete …“

„Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr, es ist nicht wahr, der Himmel ist mein Zeuge!“ rief Benedicte mit einer Heftigkeit dawider, wie sie sie vielleicht nie noch so maßlos gezeigt hatte.

„Es ist nicht wahr – nicht wahr, daß Du, nur Du jetzt auch an meinem Tode schuld wirst, daß dieser unselige Mensch hier nur um Deinetwillen sich mit einem Briefe an mich drängt, der mich verdirbt, der mich vor diesen erbarmungslosen Franzosen zum Verräther stempelt …“

„O mein Gott – was, was ist denn geschehen … welche neue Sünde habe ich begangen?“ fiel Benedicte außer sich ein.

„Ich sag’s dir ja – ich sag Dir’s – dieser Mensch hier dringt zu mir und giebt mir in Duvignot’s Gegenwart einen Brief, einen Brief, der mein Todesurtheil ist, und das um Deinet-, nur um Deinetwillen …“

Benedicte wußte nicht länger sich aufrecht zu erhalten, sie wankte zurück, sie ließ sich rückwärts auf das Lager fallen, das an der Wand ihres Zimmers stand, sie schlug die Hände vor’s Gesicht und begann bitterlich zu weinen.

„Sie sind ein böser, schonungsloser, grausamer Mann!“ sagte Wilderich jetzt mit unterdrücktem Zorne. „Wüthen Sie wider mich, und nicht gegen sie, die keine Schuld hat. … Ihre wilden Vorwürfe machen die Sache nicht besser. Gehen Sie! Ich will nicht fliehen. Ich verlange, daß Sie mich mit Ihrer Tochter allein lassen. Ich verlange eine Unterredung mit ihr … ich will, ich verlange es … ich flehe Sie an darum – wenn man kommt, mich gefangen zu nehmen, so stellen Sie sich vor mich – nur eine Viertelstunde lang schützen Sie mich, bis ich mit ihr geredet habe …“

„Sie sind ein Thor, wenn Sie nicht fliehen. … Dort hinter jener Thür“ – der Schultheiß deutete mit zitternder Hand auf einen Ausgang im Hintergrunde von Benedictens Zimmer – „führt eine Treppe hinauf … sehen Sie, wie Sie da weiter kommen!“

„Ich sag es Ihnen, ich will nicht – gehen Sie, lassen Sie uns allein – nur eine kurze Zeit schützen Sie mich hier vor dem Verhaftetwerden, das ist Alles, was ich will!“

Er drängte den Schultheiß zurück, er schloß die Thür des Zimmers, er ergriff eine der Hände Benedictens, und sich neben sie setzend, sagte er hastig: „Benedicte, hören Sie auf mich, die Augenblicke sind kostbar. Sie müssen sich ermannen, Sie müssen mir in kurzen Worten sagen, um was es sich handelt bei den Vorwürfen, die man Ihnen macht, dann kann ich handeln danach, dann, glaub’ ich, kann ich den Frieden in dies Haus zurückbringen und uns Alle retten! Aber ich muß Alles, Alles wissen und Sie müssen reden augenblicklich … es hängen Menschenleben davon ab …“

„O mein Gott, wie kann ich Ihnen das sagen … jetzt … jetzt das Alles sagen …“

[563] „Sie müssen es, Sie werden es, Benedicte, in wenigen kurzen Worten müssen Sie es; ermannen Sie sich, schöpfen Sie Hoffnung, raffen Sie Ihre Kraft zusammen –“

„Hoffnung – Hoffnung,“ rief Benedicte, ihm ihre Rechte entziehend, aus, und die Hände verzweiflungsvoll ringend, „meine einzige Hoffnung ist der Tod – die einzige letzte Erlösung …“

„Und doch müssen Sie reden – reden auf der Stelle, Sie sind es sich, Ihrem Vater, sind es mir schuldig,“ drängte Wilderich fast zornig werdend.

„Ihnen, der solches Unglück in das Haus gebracht …“

„Um Gotteswillen … machen nicht auch Sie mir diesen Vorwurf! Um Sie verdien’ ich ihn nicht, von Ihnen will ich ihn nicht hören, was ich verschuldet, denk’ ich gut zu machen, nur muß ich wissen, wie ich es kann! Die Augenblicke sind so kostbar, so entsetzlich kostbar; um des Himmels willen, bei Allem, was Ihnen theuer ist, fleh’ ich Sie an … sagen Sie mir zuerst: ist Ihre Mutter die Geliebte Duvignot’s?“

„Sie ist es!“

„Ihre Stiefmutter …“

„Ja.“

„Und was ist es mit dem Kinde, das Sie entfernt haben sollen, Sie?“

„Es ist das Kind, der Sohn meiner Stiefmutter, der ihr geraubt wurde.“

„Weshalb kamen Sie in diesen Verdacht?“

„Weil ich, so lange ich meines Vaters einzige Tochter war, mich auch als seine Erbin betrachten durfte, die Erbin seines Reichthums. Er heirathete wieder und meine Stiefmutter schenkte ihm einen Sohn. Von dem Augenblick an war ich arm, meines Vaters ganzes Vermögen bestand in Lehngut, es gehörte dem Sohne …“

„Weiter, weiter!“

„Ich wurde schlecht behandelt von meiner Stiefmutter, man wollte mir mit Gewalt einen Menschen zum Manne aufdringen, den ich haßte; ich entfloh dem väterlichen Hause; in derselben Nacht verschwand der Sohn meiner Stiefmutter, geraubt, entführt; man gab mir Schuld ihn entführt, als den Erben, der mir mein Vermögen genommen, um des elenden Reichthums wegen beseitigt zu haben; ich mußte mich verbergen vor aller Welt Augen; ich floh zu einer Verwandten meiner verstorbenen Mutter, der Aebtissin von Oberzell, dort lebte ich im Kloster, bis die Nonnen fliehen mußten, bis es galt ein anderes Asyl für mich zu finden. Die Aebtissin sandte mich nach Goschenwald, mein böses Schicksal sandte meine Stiefmutter dahin – alles Uebrige wissen Sie –“

„Weshalb sagte Ihr Vater, daß Sie sein Leben hätten vergiften wollen …“

„Muß ich auch das Ihnen sagen, auch das bekennen, die Stunde, worin ich schlecht, verächtlich, abscheulich war …“

„Sie waren nie schlecht, nie verächtlich, Benedicte, das sagt mir mein innerstes Gefühl, jede Regung meines Herzens, und ich muß Alles wissen, Alles …“

„Wohl denn: Es war im Jahre 1792, als Duvignot, damals Commandant einer Halb-Brigade, mit dem Heere Custine’s nach Frankfurt kam, und das Unglück wollte, daß er sein Quartier in unserem Hause erhielt. Mein Vater war seit einem Jahr erst wieder vermählt. Meine Stiefmutter war sein Weib geworden, weil er sie eben gewählt hatte, weil sie ohne Vermögen war, weil ihre Verwandten den Gedanken, die Hand eines solchen Mannes auszuschlagen, gar nicht hätten in ihr aufkommen lassen; ihre Neigung wurde nicht befragt. Der junge schöne französische Officier verliebte sich in sie; seine Leidenschaft erweckte die ihre, sein Werben machte sie bald zu seinem völligen Eigenthum. Nach einigen Monaten mußte Duvignot Frankfurt verlassen. Meine Stiefmutter gab einem Sohne das Leben. Ein Jahr später kehrte Duvignot zurück; er war verwundet worden, er suchte Heilung, wie er angab, in Wiesbaden; von dort kam er oft zum Besuch zu uns – endlich, als der Winter kam, siedelte er nach Frankfurt über und war täglicher Gast in unserem Hause; er wollte noch immer nicht ganz geheilt sein, und unter diesem Vorwande mußte es ihm gelungen sein, seinen Urlaub so lange ausgedehnt zu erhalten.

Mein Vater war blind gegen das, was vorging, gegen dies schmähliche Verhältniß – ich sah es, ich durchschaute es. Auch haßte mich meine Stiefmutter, der es nicht entging, daß meine Augen schärfer waren als die aller Anderen; und Duvignot theilte natürlich ihre Gefühle gegen mich … bis diese plötzlich sich geändert zeigten. Er führte einen jungen und gewandten Menschen, einen Pariser, der, wie er sagte, der Sohn reicher Eltern, eines verstorbenen Parlamentsraths, war und Güter in der Bretagne besaß, in unser Haus ein – er nannte ihn seinen Vetter von Seiten seiner Mutter, einer Dame aus dem bretagnischen Adel – und dieser Mensch warb um meine Hand, Duvignot redete für ihn, meine Stiefmutter befürwortete seine Werbung, mein Vater ward dafür gewonnen – ich wurde gedrängt, gepeinigt, gescholten – in meiner Noth, unfähig mich länger wider eine Zumuthung zu vertheidigen, die mich empörte – denn ich verabscheute diesen Franzosen, der mir den Eindruck eines schlauen und geriebenen Intriganten, eines falschen und unreinen Menschen machte – in meiner Noth flüchtete ich mich zu meinem Vater, ich sagte ihm Alles, ich sagte ihm, wie seine Gattin ihn entehre, wie diese Verbindung, zu der man mich zwingen wolle, nur den Zweck habe, mich, die lästige scharfblickende Zeugin des strafbaren Verhältnisses, zu entfernen … mein Vater war auf’s Tiefste betroffen … er gelobte mir eine strenge Untersuchung, seinen vollen Schutz, sein unerbittliches Dazwischentreten. Er sprach meine Stiefmutter – und war von ihrer Unschuld so überzeugt, wie davon, daß ich nichts weiter als eine böse, falsche Schlange sei! Ich war zum Aeußersten gebracht; ich sah keine Rettung und kein Heil mehr außer in der Flucht; ich entschloß mich dazu, ich verließ an einem späten Abend das väterliche Haus, ich flüchtete mich in’s Kloster und dort fand ich Schutz.…

Es war mein Unglück! Dieser eigenmächtige Schritt, der mich befreien sollte, sollte fürchterlich bestraft werden … denn in derselben Nacht verschwand das Kind, der Sohn und Erbe meines Vaters, und wer, wer anders hatte das Kind geraubt, entführt, als ich!“

„Furchtbares Zusammentreffen!“ rief Wilderich aus. „Aber wie war es möglich zu glauben, Sie, Benedicte, Sie …“

„Meine Stiefmutter haßte mich; was hätte sie nicht von mir geglaubt!“

„Aber Ihr Vater …“

„Mein Vater ist schwach … er liebt sein Weib, wie ein alter Mann ein junges Weib liebt –“

„Das ist entsetzlich. … Doch nun, da ich Alles weiß, lassen Sie mich reden – ich habe ein Pfand der Rettung für uns Alle – ich habe die Briefe Ihrer Stiefmutter an Duvignot!“

„Die Briefe meiner Stiefmutter … die haben Sie?“

„So sagt’ ich!“

„Ihre Briefe an Duvignot? Aber wie ist es möglich …“

„Wie sie in meine Hände kamen, ist gleichgültig; genug, daß ich sie habe, hier wohlverwahrt auf meiner Brust. Ich will zu Ihrer Mutter gehen – ich will ihr sagen: Du wirst des Schöffen und wirst meine Freiheit von Duvignot verlangen, Du wirst mir schwören, Deinen Verdacht, Deine böse Tücke wider Benedicte aufzugeben, Du wirst meine Werbung um sie unterstützen – alsdann erhältst Du Deine Briefe zurück, die in meinen Händen sind; wo nicht, so wird der, in dessen Händen sie sind, sie Deinem Manne zeigen, er wird sie der Welt zeigen, die Welt wird sehen, daß Du ein schlechtes Weib bist, die Welt wird erfahren, daß Duvignot Deinen Gatten ermorden läßt, um Dich zur Wittwe zu machen! …“

Benedicte sah ihn mit großen Augen an.

„Ich werde Ihnen die Briefe geben,“ fuhr Wilderich eifrig fort, „Sie sollen sie in Händen haben und aufbewahren, damit man sie mir nicht entreißen kann …“

„Eitle Hoffnung!“ unterbrach ihn Benedicte.

„Wie, Sie glauben nicht …“

„Sie kennen die Leidenschaft dieser Menschen nicht, nicht ihre Gewaltthätigkeit! Meine Mutter ist Duvignot bis nach Würzburg gefolgt – sie ist hierher mit ihm zurückgekehrt – hat sie so dem Aergerniß getrotzt, was wird sie am Ende noch fürchten …“

„Aber sie kann nicht wollen …“

„Mag sein, mag sein; aber jedenfalls wird sie Ihnen nicht eher glauben, als bis sie die Briefe sieht … und wenn man sie ihr zeigt, so wird sie wissen, sie Jedem, der sie hat, mit Gewalt entreißen zu lassen. Vergessen Sie, daß sie durch Duvignot hier allmächtig ist? Und wird sie sich nicht rächen wollen dafür, [564] daß Sie diese Briefe gesehen, gelesen, besessen? Wird Duvignot nicht … aber,“ unterbrach sie sich auffahrend, „hören Sie – mein Gott, man kommt – man wird Sie fortschleppen – in den Kerker, in den Tod … und meinen armen, armen Vater mit Ihnen …“

„Benedicte, fassen Sie sich – wir stehen in Gottes Hand – Gott wird uns nicht verlassen …“

„Hat er nicht mich längst verlassen – mich, wie ich nun zu allem Entsetzlichen auch das noch zu tragen habe, daß ich schuld an diesem unsäglichen Unglück geworden?“

„Da nehmen Sie die Briefe, bei Ihnen sind sie sicherer, bewahren Sie sie mir, bis ich sie Ihnen abfordern lasse.“ …

Er reichte ihr das Packet, das sie ängstlich unter das Kopfkissen ihres Bettes verbarg.

„Glauben Sie mir,“ fuhr er fort, „diese Briefe werden uns nützen – und wenn nicht, so werden wir ja auch ohne sie unsre Unschuld – beweisen können.“

„Gerade weil Sie unschuldig sind, wird man Sie nicht hören wollen.“

„Gerade deshalb? Aber das wäre ja teuflisch!“

„Die Menschen sind oft Teufel! Duvignot wird es durchschauen, daß mein Vater und Sie unschuldig an dem sind, wessen er Sie beschuldigt. Wenn er dies dennoch thut, so ist es ein Beweis, daß er Sie verderben will.“

„Er kann doch kein Interesse daran haben, mich zu verderben …“

„Wenn er meinen Vater vernichten will, so müssen Sie mit fallen …“

„Hören Sie Benedicte, ich verzweifle dennoch nicht; ich kann nicht mit Ihnen glauben, daß dieser Mann so schlecht sei! Wir werden doch vor Richter gestellt werden. Vor diesen werde ich reden. Ich werde ihnen schildern, wie nur meine Leidenschaft für Sie mich verführt hat, hierher zu eilen … wie ich vom Erzherzog nichts anderes gewollt, als eine Verwendung für Sie, wie die Angst um Sie allein mich hierher getrieben – ich werde das mit aller Beredsamkeit, deren ich fähig bin, aussprechen – und wenn Sie, Sie, Benedicte, dann, falls man Sie fragt, meine Worte nicht Lügen strafen, wenn Sie großmüthig genug wären, zu bestätigen, daß es so sei, daß Sie mich früher Freund genannt, daß Sie mir das Recht gegeben, für Sie zu handeln … Benedicte, zürnen Sie mir nicht, daß ich so spreche, daß ich so viel von Ihnen verlange … aber Sie würden es ja nicht für mich blos, auch für Ihren Vater thun, und das …“

Benedicte legte sanft ihre Hand in die seine:

„Weshalb sollte ich es nicht?“ sagte sie kaum hörbar. „Habe ich Ihnen auch das Recht, für mich zu handeln, bis jetzt nicht gegeben, so würde ich es ja gern thun!“ …

„O, Sie würden es gern?“

„Ja, mein Freund, der einzige, den ich gefunden habe! … Das ist es eben, was mich weniger Ihnen vorwerfen läßt, daß Sie so zum unsäglichen Unheil in dies Haus gedrungen – es ist mir ja, als trüge ich selber daran die Schuld, als hätten meine Gedenken, mein Verlangen Sie hierher gezogen, als hätten diese sehnsüchtigen Gedanken eine unwiderstehliche Gewalt über Sie üben müssen – denn meine Gedanken sind bei Ihnen gewesen, seit ich Sie zum ersten Male sah.“ …

Wilderich warf sich tieferschüttert ihr zu Füßen, er nahm ihre beiden Hände und preßte sie schluchzend an seine Zippen.

„O Dank – o Dank für dies Wort! – ein solches unermeßliches Glück geben Sie mir – und dennoch sollte Alles, Alles mit uns aus, sollte unser Leben dem Tode verfallen, sollten unsere Minuten gezählt sein? O es ist, es ist nicht möglich – jede Fiber, jeder Blutstropfen in mir sträubt sich dawider, kocht dawider auf – o Benedicte, lassen Sie uns hoffen, lassen Sie eine kurze Spanne Zeit hindurch uns glücklich sein!“

Er barg sein Haupt an ihren Knieen und schluchzte wie ein Kind. Sie legte ihre beiden Hände auf sein dunkles Haupthaar und lispelte etwas, das er nicht verstand. War es ein Wort der Liebe – ein Bekenntniß des Herzens? Jedenfalls war es ein Gebet.

Das Geräusch von schweren Männerschritten und Waffenrasseln, das Beide vorher vernommen hatten, war wieder erstorben. Jetzt wurde es auf’s Neue hörbar – erst dumpf, dann heller – die Schritte nahten durch den kleinen Corridor, durch den der Schultheiß Wilderich zu Benedicte geführt.

„O fliehen Sie, fliehen Sie!“ rief Benedicte aufspringend aus. …

„Fliehen?“ sagte Wilderich, „nein … ich kann es nicht … zwar, ich möchte leben jetzt … leben! … aber ich darf nicht, ich kann nicht … ich muß das Schicksal Ihres Vaters theilen … ich bin sein einziger Vertheidiger, seine einzige Rettung, wenn es eine für ihn giebt! Ich darf ihm nicht fehlen in der Stunde, die über sein Loos entscheidet! – Aber,“ fuhr er, sich plötzlich, vor die Stirn schlagend, fort, „wie ist’s möglich, daß ich das vergaß! Sagen Sie mir, wer in den Briefen Ihrer Stiefmutter kann G. de B. sein?“

„G. de B.? Wohl Grand de Bateillère, der Mann, den man mir aufdringen wollte.“

„Ah!“ rief Wilderich aus, „dann …“

Zum Weitersprechen war es zu spät, wie es zu spät gewesen wäre zur Flucht – der Capitain Lesaillier trat über die Schwelle. Hinter ihm standen ein Paar Ordonnanzen des Generals.

„Im Namen der Republik – Sie sind mein Arrestant,“ sagte der Capitain zu Wilderich, „folgen Sie mir!“

Benedicte flog an Wilderich’s Brust – sie umklammerte ihn mit krampfhafter Gewalt, und dann riß sie sich stürmisch mit dem Aufschrei: „Und o mein Vater – wo ist mein Vater?!“ von ihm los und wollte hinausstürzen.

Lesaillier hielt sie zurück.

„Ersparen Sie sich das, Mademoiselle,“ sagte er theilnahmevoll und bewegt, „Ihr Vater ist fort, er ist vorhin bereits abgeführt!“

„Und ich, ich trage die Schuld, daß man ihn in den Tod schleppt, o ewiger Gott, ich allein!“ rief sie mit einem Ausbruch furchtbarer Verzweiflung aus – und dann sank sie bewußtlos auf den Boden.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Dilettanten-Verein und sein Dirigent.

Von Prof. J. C. Lobe.

Wohl fünfundzwanzig Jahre mögen verflossen sein, daß der geistreiche französische Componist und Schriftsteller Hector Berlioz seine große musikalische Rundreise durch Deutschland unternahm, über welche er nachher so pikante Briefe veröffentlichte. Manches fand er zu tadeln, Manches zu loben. In hohem Grad erfreut aber sprach er sich aus über die große Anzahl blühender Chorgesangvereine, welche er in Deutschland vorfand. In der That, es dürfte nicht schwer fallen, jetzt nur an gemischten Gesangchören einige Hundert in unserm Vaterlande nachzuweisen, einige Hundert aus freier Vereinigung singender Dilettanten hervorgegangene Institute, welche ihre Liebe zur Musik durch eine künstlerische Selbstthätigkeit bekunden, die zugleich dem Gedeihen der Kunst frommt.

Unter diesem reichen Kranze ragt durch seine mehr als locale Bedeutung der jetzt in ganz Deutschland bekannte Riedel’sche Verein zu Leipzig unbedingt als der weitaus gediegenste und ausgebildetste vor allen übrigen im großen Vaterlande mächtig hervor. Er bietet in seinem Entstehen, in seiner stufenweisen Herauf- und Ausbildung, in seinen eigenthümlichen Einrichtungen, in seinen gediegenen Leistungen, seinen ausführenden Mitgliedern und endlich und vorzüglich in seinem Dirigenten so viel des Merkwürdigen und Ausgezeichneten, daß eine Schilderung desselben auch für die Leser der „Gartenlaube“ von Interesse und Nutzen sein dürfte. – Seine Tendenz kennzeichnete vor Kurzem ein Leipziger Localblatt treffend, wie folgt: „Der Riedel’sche Verein ist von jeher bestrebt gewesen, die Werke der alten Tonmeister, d. h. das Ewigbleibende aus der Vergangenheit, der Gegenwart wieder theilhaftig zu machen. Er hat den unvergänglichen Tongebilden alter Zeit Leben für die Jetztzeit neu gegeben, hat das, was für wenige Forscher blos zugänglich war, uns Allen neu erschlossen.“

[565] In der That, man braucht nur die Namen der Componisten zu nennen, deren Hauptwerke sowohl a capella als in Verbindung mit dem Gewandhaus-Orchester und theilweiser Heranziehung auswärtiger Solosänger seit einem Decennium an uns vorüber geführt worden sind, um diesen Ausspruch vollkommen gerechtfertigt zu finden. Außer Bach und Händel sind in den reichhaltigen Programmen u. A. vertreten die früher nur den Namen nach bekannten Italiener Palestrina, Lotti, Allegri, Nanini, Clari, Caldara, Astorga, Vittorin, Marcello, Pergolese, Gabrieli, Durante und Leo; nicht weniger die gänzlich unbekannten Componisten Deutschlands aus dem sechzehnten und

Karl Riedel.

siebenzehnten Jahrhundert, Enard und Stobens, Prätorius und Leo Haßler, Melchior Frank und Heinrich Schütz. Von allen diesen Schätzen alter Kirchenmusik, die sich seit mehr als vier Jahrhunderten angesammelt haben, hätten wir in Leipzig ohne jenen Verein, aller Wahrscheinlichkeit nach, und wie die Verhältnisse nun einmal lagen, keine Note zu hören bekommen. Das war nur möglich durch einen Verein, als dessen hervorragendste Eigentümlichkeit es betrachtet werden muß, daß er mit Unerschrockenheit, mit Liebe und Sorgsamkeit sich derjenigen Werke annimmt, welche seitens der Sänger ihrer schwierigen Ausführung wegen, seitens des Publicums wegen schweren Verständnisses oder wegen noch nicht feststehender Anerkennung durch die Kenner und die Kritik, als undankbare Aufgaben bezeichnet zu werden pflegen.

Fragen wir zunächst: Wer sind die Sänger, die zum Beispiel Bach’s „Hohe Messe“, dessen Actus Tragicus, seine „Trauerode“, Beethoven’s „Missa solemnis“, Liszt’s „Grauer Messe“, welche Bach’s Motetten, ohne Begleitung, welche a capella die Werke der alten Deutschen und Italiener, die dreichörigen Gesänge eines Gabrieli, das doppelchörige „Stabat mater“ von Palestrina, das berühmte „Miserere“ von Allegri – Aufgaben der strengsten und allerschwierigsten Art für den gemischten Chorgesang – fast durchgängig in trefflicher, innerlich warmer, künstlerisch würdiger Weise zur Darstellung bringen? so darf man sich wohl verwundern, wenn man hört: es sind meistens Dilettanten, wohl über zweihundert Männer, Frauen, Jünglinge, Jungfrauen und Knaben, die den verschiedensten Berufskreisen angehören – vornehme Stände, bürgerliche Familien, Mittelstand, selbst ärmere Classen sind vertreten. Hier herrscht keine gesellschaftliche Exklusivität, vielmehr die wahre Demokratie auf dem Gebiete der Kunst! Oft schon hat man das schnelle Emporblühen des Riedel’schen Vereins, seinen Fleiß, sein energisches Vorwärtsstreben guten Statuten zugeschrieben, indessen, so wenig man auch im Allgemeinen Gesangvereine ohne feierliche Namengebung und Statutenentwerfung, ohne General-Versammlungen und Diskussionen sich vorstellen kann, der Riedel’sche Verein hat zur Zeit nicht einen Paragraphen Statute, er hat keine Besprechungen, keine Haupt- oder General-Versammlungen, ebenso wenig einen Vorstand, ein Comité oder ein Direktorium – er hat blos einen Dirigenten, welcher dies Alles in Allem ist.

Jedermann begreift, daß es nicht so leicht gewesen sein muß, einen aus so verschiedenen Bildungskreisen zusammengesetzten Verein zu errichten, zu vergrößern, zusammenzuhalten, ihn dahin zu bringen, ein den Neigungen des gewöhnlichen Dilettantismus so sehr widersprechendes Princip mit Eifer zu verfolgen.

Faßt man alle diese Umstände zusammen, so wird Niemand bestreiten, daß wir hier der That nach den Dilettantismus in der edelsten und achtungswerthesten Erscheinung vor uns haben. Wahrlich, wenn einer, so darf dieser Verein mit Stolz auf sein reines und uneigennütziges Streben blicken, das weit über all’ jenem Thun steht, welches die Musik nur als Luxus-Artikel betrachtet und lediglich zu leichtem Vergnügen betreibt.

Wie aber, muß man fragen, hat sich eine anfänglich so bedeutungslose Gesellschaft von Musikdilettanten in verhältnißmäßig kurzer Zeit zu so hervorragenden, wirklich künstlerischen Productionen emporschwingen können? Gewiß nicht ohne eine an der Spitze stehende, ungewöhnlich begabte, leitende, lehrende, organisirende Kraft. Eine solche besitzt der Verein in seinem Dirigenten Karl Riedel. Aber sonderbar! Wie die in musikalischer Hinsicht geringen Elemente, aus denen sich der Verein zusammenthat, anfänglich nichts weniger als die hohen Leistungen ahnen ließen, zu denen sie sich später erhoben, so schien auch der junge Gründer des Vereins – eben der jetzige Dirigent – seinen Antecedentien zufolge auf den ersten oberflächlichen Blick in der Musik kaum eine besondere Wirksamkeit gewinnen zu können. Sein Lebensgang lag in der Jugend so weit ab von seiner späteren Bestimmung, daß weder er selbst, noch irgend Jemand hätte vermuthen können, er werde sich auf dem Felde der Kunst einen Namen erwerben.

Riedel war von Haus aus Seidenfärber. Die Färberei hatte er, ein geborner Rheinpreuße, in Crefeld erlernt, von wo er nach längerer Beschäftigung in der Schweiz sich Lyon zuwenden wollte, als das verhängnißvolle Jahr 1848 ihn zurücktrieb. Die Geschäftslosigkeit, welche in Folge der in Frankreich ausgebrochenen Revolution entstanden, war für ihn Veranlassung, einen anderen, ihm mehr zusagenden Beruf zu wählen, als den nun fünf Jahre lang betriebenen. Er entschied sich für die Musik, von der er zwar Gründliches noch nicht wußte, zu welcher er sich aber sehr hingezogen fühlte. Diese Neigung war besonders durch die Lieder [566] von Franz Schubert geweckt worden, die ein mit hübscher Tenorstimme begabter Mitarbeiter ihn kennen gelehrt hatte. Ein nur halbjähriger Unterricht bei einem tüchtiger Musiker, dem bekannten jetzt in Schmalkalden lebenden Componisten Karl Wilhelm, brachte ihn so weit, daß er 1849 in’s Leipziger Conservatorium eintreten konnte, dessen Cursus er durchmachte, um darnach neben seiner bereits errungenen Stellung als Musiklehrer die Leipziger Universität zu frequentiren. Während er mit Energie und eisernem Fleiße seiner neuen Thätigkeit sich hingab, fühlte er sich immer wie von einem dunkeln Punkte durch die damals noch sporadischen Nachrichten angezogen, welche er über die Compositionen Palestrina’s und der alten Italiener vernahm. Es wuchs in ihm der Drang, durch eigene Wahrnehmung sich Kenntniß zu verschaffen von der als wunderbar gepriesenen Wirkung dieser Schöpfungen, und schon 1853 faßte er den Entschluß, einen Männergesangverein zu dem Zwecke gründen. Die Ausführung gelang indessen nicht.

Riedel machte sich die gewonnene Erfahrung gleich zu Nutze. Mit einem im Mai 1854 zusammengetretenen einfachen gemischten Quartett, welches sich unter seine Leitung stellte, übte er gute, in die Ohren fallende Gesänge von Hauptmann, Mendelssohn, Schumann ein und vermied es, eine andere bestimmte Tendenz auszusprechen, als die, guten musikalischen Genuß zu verschaffen. Dabei wurde der Grundsatz aufgestellt, sich ganz anspruchslos zu geberden und alles Ostensible fern zu halten. Von nun an entwickelte sich schnell Riedels Lehr-, Directions- und Organisations-Talent. Am Ende des ersten Vereinsjahres war die Gesellschaft bereits von vier auf sechsunddreißig Mitglieder angewachsen und mit drei sorgfältig einstudirten Programmen vor Privatkreisen hervorgetreten. Mit der wachsenden Mitgliederzahl und dem gewonnenen Erfolge stellte sich Riedel wiederum das höhere, ideale, nicht vergessene Ziel vor Augen. Seinem Blick blieb nicht verborgen, daß in Leipzigs Musikleben, so reich es schon lange nach allen Seiten der weltlichen Musik sich entfaltet hatte, die Pflege der religiösen Tonkunst, besonders der alten Kirchenmusik vernachlässigt war. Diese Lücke mit seinem Verein auszufüllen, entsprach ja ganz und gar seinen geheimen Neigungen und würde ihm immer mehr bestimmtes Ziel. Doch manches Hinderniß stellte sich der Verwirklichung seines Planes noch entgegen.

Das nächste und schwerste bereiteten ihm die Mitglieder selbst. So lange diese nur weltliche Quartette ausführten, wozu ihre musikalische Bildung und ihr gegenwärtiger Geschmack hinreichten, deren Studium ihnen zudem verhältnißmäßig leicht wurde, fanden sie Vergnügen und Befriedigung an ihrer Thätigkeit und waren leicht dabei festzuhalten. Wie aber dieselben geneigt und willig machen, dies angenehme, Allen verständliche[WS 1] Gebiet der Modernen Gesangmusik zu verlassen und dafür das ernste, schwere, „gelehrte“ der kirchlichen Tonkunst zu betreten, das Allen so ferne lag, dem der sinnlich heitere Reiz abging, für das sie noch keine Bildung und wenig Verständniß hatten? Welche Mittel standen Riedel zu Gebote, um einen solchen totalen Umschwung zu bewirken? Die Mitglieder wurden ja nicht besoldet, sie konnten durch kein Gebot gezwungen werden, sie waren lauter selbstständige Personen, denen der Dirigent nicht das Geringste zu befehlen hatte, denen nur durch Wünsche beizukommen war. Riedel’s Befürchtungen waren in der That nicht unbegründet. Als er versuchsweise die Stimmen zu Palestrina’s Motette „die Improperien“ vorlegte (welche jeden Charfreitag in der Sixtinischen Capelle zu Rom gesungen wird, und die durch ihre einfache, rührende Schönheit Palestrina’s Ruhm gegründet), mußte er die Uebung abbrechen, weil die Damen ob dieses ihnen ganz sonderbar und ungewohnt vorkommenden Musikstyls in lautes Lachen ausbrachen und vor Heiterkeit nicht weiter singen konnten. Diese Motette ist jetzt ein Lieblingsstück des Riedel’schen Vereins.

Riedel ließ sich durch diese Erfahrung nicht abschrecken. Denn es ist eine falsche Annahme, wenn man der Menge im Allgemeinen Unempfänglichkeit und Theilnahmlosigkeit für höhere künstlerische Interessen vorwirft. Es komme nur der rechte Mann, der sie dafür zu erwärmen, zu entzünden und die Flamme dann zu unterhalten versteht, so schmilzt das spröde Material und läßt sich in die gewünschte edlere Form bringen. Ein solcher Mann ist Riedel.

Nachdem auch der zweite Versuch mißglückt war, fing er die Sache auf andere Weise an. An den gewöhnlichen Uebungen setzte er nach wie vor die Quartette von Hauptmann, Gade etc. auf die Tagesordnung und wußte seine Mitglieder in der besten Laune zu erhalten. Sonntags Nachmittags aber versammelte er einige wenige Mitglieder um sich, auf deren ernsten musikalischen Sinn und persönliche Anhänglichkeit er vertrauen konnte. In Wahrheit folgten sie ohne irgend welches Schwanken Riedel’s musikalischer Leitung in eine ihnen ganz neue Welt, und halfen ihm die „große Revolution“ vollbringen, durch welche der Riedel’sche Verein zu wirklich musikalischer Bedeutung gelangte.

Nachdem dieser Nebenverein Bestand gewonnen hatte, wurden auch zu ihm ganz vereinzelt und mit großer Vorsicht andere Mitglieder hinzugezogen und für „das neue Streben nach dem Alten“ gewonnen. Ein vollständiges Concertprogramm wurde vorbereitet. Als Riedel sich so den Rücken gedeckt hatte, offenbarte er in einer Uebung des größeren Vereins, daß er mit mehreren Mitgliedern eine Aufführung alter Kirchenmusik veranstalten werde, daß er sämmtliche Mitglieder zur Betheiligung einlade, und die Uebungen zeitweise nur für diese Absicht bestimme. Dieser bereits halb zur Thatsache gewordene Versuch fand nun ganz andere Theilnahme und viel mehr Beifall, als die früheren Sondirungen. Wer auch etwa innerlich, der „trockenen“ alten Musik glaubte abhold sein zu müssen, mochte doch nicht bei einer Unternehmung zurückstehen, welche jedenfalls Interesse zu erregen geeignet war.

Das Concert fand an einem Novembermorgen 1855 in der Centralhalle vor einem gewählten Publicum statt, gelang vollkommen, rief große Sensation hervor, fand allgemeinen Beifall und war für die Pflege der alten Kirchenmusik in Leipzig von durchschlagendstem Erfolge. Jetzt hat Riedel seine Sänger im richtigen Fahrwasser, und seitdem vertraute die Masse derselben seiner Leitung unbedingt, wenn es auch noch manchmal galt nach unbekannten Zonen zu steuern. Dennoch verfuhr er vorsichtig. Die weltliche Musik setzte er nicht so leicht bei Seite und wählte von alter Musik anfänglich nur solche Sachen, welche ein Anknüpfen an das Empfindungsleben des jetzigen Publicums gestatteten. Auf dem Programm gab und giebt er biographische und musikalische Notizen über die Componisten und deren Werke, wo nöthig, über Letztere Erläuterungen, statt des lateinischen Textes der älteren Compositionen ließ er deutsche Worte singen, welche Uebersetzungen er selbst unterlegte (eine Arbeit, deren Mühe Kenner zu schätzen wissen werden); vorzüglich dadurch gewannen Sänger und Hörer, deren kleinster Theil nur Latein verstand, ein warmes Interesse für die alten Tonstücke. Obwohl selbst die besten deutschen Uebersetzungen dem Sänger nicht die Schönheit und Bequemlichkeit der lateinischen Spräche ersetzen können, so ist doch die lebendig wirkende Muttersprache bei Weitem mehr geeignet, die Sänger in ein neues Werk sich einleben zu lassen und den Hörern das schnelle unmittelbare, nicht erst durch Vergleichung mit der beigedruckten Uebersetzung gesuchte Verständniß zu erleichtern, als die schönste fremde Sprache.

Ein Hauptmittel ferner, freilich ein mit großen Opfern für ihn verbundenes, schuf Riedel sich dadurch, daß er die musikalischen Kräfte seiner Mitglieder steigerte und so durch die Erkenntniß der großen Fortschritte, welche sie in der Ausführung ihrer schweren Aufgabe machten, ihren Eifer weckte, erhöhte und festete. Er gründete Vorbereitungscurse und besonders wöchentliche Privat-Uebungen für die Damen, zog Knaben aus Bürgerfamilien herbei, um für diejenigen alten Compositionen, welche für tiefe Stimmlagen geschrieben sind, die richtige Klangfarbe in Sopran und Alt zu gewinnen, gab vielen der Knaben unentgeltlichen Unterricht und ließ sie nach absolvirtem Vorbereitungscursus in den Verein treten. Manchen diesen Knaben erblickte man nach seiner Mutation als eifrigen und geschickten Sänger im Tenor oder Baß des Riedel’schen Vereins. Als Beweis, wie unablässig er sann, seine Mitglieder weiter zu bilden und sie für das Edle in der Musik immer mehr zu erwärmen und zu begeistern, mögen auch die Kammermusik-Unterhaltungen dienen, welche er seit einer Reihe von Jahren an Sonntagnachmittagen eingeführt hat. Hier werden gute Werke der weltlichen Musik, Streichquartette, Claviertrios, kleine Chöre, Lieder von ausgezeichneten Musikern, Virtuosen und Gesangssolisten blos für die activen Mitglieder und deren nächste Angehörige aufgeführt. Riedel’s Absicht ist dabei: die Vereinsmitglieder mit den besten musikalischen Erzeugnissen der Instrumental-Kammermusik sowie des großen deutschen Liederschatzes aus alter und neuer Zeit bekannt zu machen, ihr Interesse und ihren Geschmack auch nach Seite der weltlichen Musik hin zu erweitern und zu veredeln, sie dadurch vor der Einseitigkeit zu bewahren, welche eine zu ausschließliche [567] Beschäftigung mit Kirchenmusik herbeiführen könnte, dann auch, ihnen für die mannigfachen Anstrengungen in den Proben eine angenehme und zugleich würdige Erholung als genießendes Publicum zu gewähren.

Während Riedel im Laufe der Jahre noch oft mannigfache Bedenken seiner Mitglieder zu beschwichtigen hatte, gelang es ihm doch, die Uebungen fortwährend auf nahe Ziele hinzulenken, eine Aufführung nach der anderen vorzubereiten, diese dem größeren Publicum zugänglich zu machen und seine Mitglieder an die frische Luft der Oeffentlichkeit zu gewöhnen. Die Programme des Riedel’schen Vereins weisen es aus, daß nichts Bedeutungsloses mehr unternommen wurde. Jedes Programm wurde genau überlegt und zusammengestellt, musikalisch sorgfältig vorbereitet und gut ausgeführt. Nach jeder beendeten Aufführung, begannen sofort die Vorbereitungen zur nächsten, und dem Umstande, daß der Riedel’sche Verein seine Kräfte niemals vergeudet hat, daß er sie niemals hat erschlaffen lassen, daß jede seiner Aufführungen – man darf es wohl sagen – von hohem, oft höchstem Interesse war, daß bei aller Strenge und Einheit im Ganzen es an Abwechselung nicht mangelte, daß sowohl dem Alten wie dem Neuen Rechnung getragen wurde, diesem Umstande, dieser Intensität, seines Wirkens hat es der Riedelsche Verein zuzuschreiben, daß sein Alter scheinbar ein weit größeres ist, als in Wirklichkeit.

Es soll hier nicht die Geschichte des Riedel’schen Vereins geschrieben werden, obschon dieselbe jedem von Interesse sein würde, dem es Freude gewährt, die energisch und intelligent betriebene Durchführung einer glücklichen Idee aus den kleinsten Anfängen bis zu bedeutungsvoller Entwickelung zu verfolgen. Es kann deshalb auch nicht näher dargelegt werden, wie Riedel seine ideellen Bestrebungen immer mehr praktisch verwirklichte, wie er sich ein Dilettanten-Orchester schuf, andere Orchester heranzog, als ersteres nicht mehr ausreichte, endlich mit dem berühmten Gewandhaus-Orchester sich verband, Solokräfte von nah und fern – viele mit berühmten Namen – aber nie zur Ostentation, sondern stets so verwandte, wie es allem der musikalische Zweck erforderte; wie er die mannigfachsten, immer neu emportauchenden Hindernisse – und oft Unglaubliche – überwand; wie es ihm durch geschickte Organisation gelang, auch die äußeren Verhältnisse des Vereins immer fester zu begründen, und andererseits aus den ab- und zuströmenden Sängerschaaren eine immer größere Anzahl heranzubilden, welche ihren Dirigenten auch innerlich unterstützte, seine Gedanken zu ihrem Eigenthum machte und Gehülfen seines Strebens wurden, des Strebens, sowohl die bedeutendsten größten und interessantesten monumentalen Werke der religiösen Tonkunst dem Volke zu vermitteln, als auch „Mitgliedern verschiedener Stände, besonders aber dem Mittelstande den veredelnden Einfluß ernsten künstlerischer Selbstthätigkeit zu erschließen“.

Damit die Aufführungen des Riedel’schen Vereins nicht nur betreffs der musikalischen Seite, sondern auch ihren äußeren Einrichtungen nach nicht als Luxus-Concerte erscheinen und wirken möchten, verlegte Riedel diese fast sämmtlich in die Kirche, wo bekanntlich jene äußeren Reizmittel selbst berühmter Concerte, z. B. Toiletten-Entfaltungen der Solistinnen wie der Zuhörenden, gänzlich wegfallen; die Kirche gestattet ferner im Gegensatz zu den weniger Raum bietenden Sälen die Zulassung von vielen tausend Hörern. Die von Riedel eingeführte Einrichtung, daß jedes seiner activen Mitglieder eine reichliche Anzahl Billets zum Vertheilen an Verwandte und Bekannte ausgiebt, sichert zugleich den thatsächlichen Einfluß der von ihm vertretenen Musik auf die große Menge und sogar auf diejengen, denen die theueren Saal-Concerte von selbst sich verschließen. Diese Zulassung großer Massen zu Chor-Concerten ist zugleich auf die richtige Erkenntniß berechnet, daß es leichter ist, an der Hand eines Allen verständlichen Textes selbst schwer aufzufassende Chorwerke einem ausgedehnten Kreise verschiedenster Zusammensetzung populär zu machen, als ernstere Instrumentalwerke symphonischen und polyphonen Charakters. Die oben auseinandergesetzte Beschaffenheit der von Riedel ausgegebenen Programme trägt noch wesentlich dazu bei, sowohl das Publicum von vornherein für die aufzuführenden Werke zu interessiren, als das Verständniß derselben zu erleichtern.

Jedermann, der sich jemals mit Zustandebringen symphonischer Concerte beschäftigt hat, weiß, daß deren Herstellung ungemeine Kosten verursacht, daß aber Chor-Concerte, welche ja längere Vorbereitungen und mehr Proben erfordern, noch weit größere Summen in Anspruch nehmen. Nicht ohne Interesse ist es zu erfahren, in welcher Weise das Budget des Riedel’schen Vereins sich herstellt. Zuvor aber sei es gestattet, noch einmal auf den zu Anfang dieses Artikels erwähnten Schriftsteller Hector Berlioz zurückzukommen und eines seiner Aufsätze im „Journal des Débats“ zu gedenken, in welchem er unter Anderem folgende Fragen und Bemerkungen aufstellt: „Giebt es irgendwo in der Welt eine einzige der Musik oder der dramatischen Kunst geweihte Anstalt, die nicht zugleich eine Billet-Bude ist? die blos auf die Schönheit der Werke und die gewissenhafte treue Ausführung derselben sieht? deren Verwalter oder Direktor von vornherein auf die Einnahme verzichtet? Die Alten hatten in Hinsicht auf die großen Werke des menschlichen Geistes ganz andere würdige und erhabene Ideen, für sie war die Kunst kein Handelsgegenstand, keine feile Waare, deren Werth je nach dem Zudrang des Volkes zum Kaufen stieg oder fiel.“ – Der Riedel’sche Verein,“ dessen Existenz dem Herrn Berlioz wohl hätte bekannt sein dürfen, der Verein, welcher den Muth hatte (denn dazu gehört heutzutage – leider! – noch Muth), zum ersten Male des Franzosen großes Requiem vollständig und öffentlich in Deutschland aufzuführen, ist eine glänzende Beantwortung seiner Frage. Kein Direktorium ist vorhanden, welches für die Kosten einsteht; die Geldbeiträge der Sänger und einer verhältnißmäßig geringen Anzahl inactiver Mitglieder (Beiträge, deren Höhe nicht entfernt mit dem Einkommen etwa der großen Berliner Gesang-Institute zu vergleichen ist) bilden die regelmäßige Einnahme, reichen aber bei weitem nicht zur Deckung der Ausgaben hin; die Theilnahme des außerdem zahlenden Publicums ist nicht der Rede werth.

Während bei anderen musikalischen Instituten der Dirigent nur den rein musikalischen Theil zu besorgen, die Wahl der Tonstücke, die Proben, die Aufführungen zu leiten hat und dafür eine seine Existenz sichernde Besoldung erhält, während ihm die Ausführungsmittel, Orchester, Sänger gestellt und bezahlt werden und dafür seinen Anordnungen gehorchen müssen, fehlen Riedel alle diese Bedingungen. Er erhält kein Honorar, keine Geldentschädigung, er hat nicht nur die musikalische Directive, nicht nur die gesammte technische Verwaltung, sondern auch das ganze pecunäre Risico übernommen und behandelt in der That die Deckung des jährlichen Deficits als seine Privatangelegenheit. Und dies nur deshalb, damit der aus seiner Idee hervorgegangene Verein in seinem Streben sich rein erhalte, damit dessen Aufführungen kein Gegenstand der Spekulation, damit die aufzuführenden Werke nicht als „Handelsgegenstand“ vom Beifall der Menge, abhängig gemacht, sondern nur aus rein künstlerischen Gründen gewählt werden können. Und hierbei handelt es sich nicht um die Deckung von Kleinigkeiten, sondern höchst bedeutender Summen!

Die Thätigkeit, welche die gesammte Leitung und Verwaltung des Riedel’schen Vereins erfordert, ist der Natur der Sache nach eine weit umfassendere als die anderer Concert-Institute, welche nur mit den üblichen Werken sich beschäftigen. Welche Arbeit allein ist aufzuwenden, ehe nur ein kleiner jener alten Chorsätze in Besitz gebracht, richtig herausgefunden, mit deutscher Uebersetzung, mit den rechten Vortragszeichen versehen, in Chorstimmen hergestellt worden ist und so dem Sänger zum Beginn des Studiums vorgelegt werden kann! Man denke sich diese Vorbereitungsarbeit auf ein ganzes Programm ausgedehnt, auf ein umfangreiches Werk! Und dies ist nur ein kleiner Theil der nothwendigen Thätigkeit!

Aus allem bisher Mitgetheilten geht hervor, mit welcher gewaltigen Energie, mit welcher Opferfreudigkeit, Consequenz und Beharrlichkeit, mit welchem Aufwande enormer geistiger und körperlicher Kraft Riedel gewirkt haben muß, um einer geliebten Idee Lebensfähigkeit zu geben und zu erhalten. Ein solches Streben, der Chormusik die verbreitetste und idealste Wirkung abzugewinnen, würde auch dann, wenn Riedel dadurch seinen Lebensunterhalt sich erwürbe, etwas höchst Achtungswerthes nicht blos, sondern Erhebendes und Bewunderung Abnöthigendes haben. Um wie viel höhere Anerkennung zollen wir ihm aber, wenn wir erfahren, daß Riedel diesem Streben nur seine freien Stunden widmen kann, daß es nur eine Nebenbeschäftigung neben seinem Erwerbsberuf als Musiklehrer ist, der wir dies Alles verdanken! Möge dieses Verdienst seine Krone aus der Hand des Volks nicht entbehren, fürstlicherseits hat der kunstfreundliche Herzog von Altenburg Riedel zum Professor ernannt.



[568]
Zwei Mönche einer protestantischen Hochschule.
2. Ein Jesuitenzögling und Jünger vom heiligen Barnabas.

Der k. k. Arsenal-Inspektor Reinhold in Wien war ein tapferer Mann von fröhlichem und gutem Herzen. Im Heere der Kaiserin Maria Theresia hatte er als Subalternofficier den österreichischen Erbfolgekrieg mitgemacht, war am Arm schwer verwundet und dann als kriegsuntüchtig, aber wohlverdient, mit einem Inspectorposten am Wiener Arsenale belohnt worden. Wenn der Vater Uniform und einen Degen trägt und selbsterlebte Kriegsgeschichten erzählen kann, so fährt den Knaben, der Familie von selbst der Soldat in alle Glieder, ja sogar die Mädchen nehmen etwas Militärisch-Frisches in ihrem Wesen an. Wie war es möglich, daß von den sieben Kindern Reinhold’s gerade der älteste Sohn, allem Kriegerischen abhold werden und sich mit entschieden ausgesprochener Neigung dem geistlichen Stande zuwenden konnte?

Der Arsenal-Inspector Reinhold huldigte, nach der im ganzen Süden Deutschlands herrschenden Sitte, war seine Amtspflicht erfüllt, den Freuden der Geselligkeit außer dem Hause, die ohnedies in der fröhlichen „Kaiserstadt“, von je verlockender waren als irgendwo. Er liebte seine Familie, sein gutes Herz hing an seinen Kindern und er that für die Ausbildung derselben, was er vermochte, indem er das nöthige Geld dazu hergab, aber das Uebrige der Mutter und das Lehrern überließ. Der Mutter Trost und Stolz war natürlich der älteste Sohn, sein Verständniß harmonirte zuerst mit dem ihren, er mußte als Aeltester den Vater im Hause ersetzen, ihm schüttete sie ihr Herz aus, ihre Wünsche wurden die seinen und wenn es der Mutter höchster Stolz und seligste Zukunft war, ihren Karl Leonhard einst als geweihten Priester am Hochaltar zu schauen, sollte der sanfte, fromme Sohn einen höheren Wunsch kennen? – Der junge Reinhold war im Geiste längst Priester, ehe er in seinem vierzehnten Spätherbst 1772 aus der obersten Classe des Gymnasiums als Novitius in das Probhaus des Jesuitencollegiums zu St. Anna in Wien überging.

Daß dieser Uebergang den Eltern und dem Knaben möglichst leicht gemacht wurde, dies eröffnet uns den ersten Blick auf das klügste Gewebe, welches je ein Netz zum Geisterfang vollendet hat. Auch unter den Lehrern des Gymnasiums waren Jesuiten, offenbar mit der besondern Verpflichtung, aus der Schülerzahl die tüchtigsten Köpfe für ihren Orden zu gewinnen. Des jungen Reinhold Lernbegierde, Fassungskraft und hingebende Frömmigkeit versprachen genug, um ihn nicht aus dem Auge zu lassen.

Der Sohn war aus dem Elternhause geschieden. Hatte die Mutter bei ihrer einsamen Lampe, wenn sie ihre Kleinen zur Ruhe gebracht, und wenn ihr Geist den liebsten Sohn in ihrer Zelle heimsuchte, wohl eine Ahnung, daß es eine Gewalt und eine Hinterlist in der Welt gäbe, welche sich an das Unglaubliche wagte, das Bild, das Andenken der Mutter aus dem Herzen dieses Wahns zu reißen? – Und doch war dies möglich, ja es war vollkommen gelungen, und zwar binnen kürzerer als Jahresfrist!

Am zwölften September 1773 wurde in Wien, die Aufhebung des Jesuitenordens durch den Papst Clemens den Vierzehnten verkündet, in Folge deren auch die Zöglinge von St. Anna ihren Familien zurückgegeben werden mußten. – Am folgenden Tage schrieb der junge Reinhold aus dem Probhaus seinem Vater einen Brief, in welchem er uns so unbefangen in diese Anstalt einführt, als müßte Jedermann in ihr das Heiligthum sehen, als welches sie vor seinen Augen stand. Wir bewundern die Darstellungsgabe des fünfzehnjährigen Jünglings, auch wo wir auf Aeußerungen, stoßen, an deren Wahrheit wir zweifeln möchten, wenn nicht die Wahrhaftigkeit des Mannes, welchem wir die Veröffentlichung dieses Briefes verdanken und den wir später noch zu nennen haben, jeden Zweifel zurückwiese. Da der Inhalt dieses Briefs zugleich den Hauptgegenstand unsres Artikels ausmacht, so muß ich alles Wesentliche wörtlich. aus demselben mittheilen. Er beginnt:

„Gnade und Friede unseres Herrn sei mit Ihnen, bester Herr Vater!

„Nun ist denn also das Strafgericht, das dem Unglauben und der Sittenlosigkeit unser heutigen Welt und leider auch der Lauigkeit unserer Novizen so lange her angedroht wurde, endlich über uns ausgebrochen! Unsere heilige Mutter, die Gesellschaft Jesu, ist nicht mehr! – – Aber der Herr ist gerecht, und wir werden nicht ungewarnt gezüchtigt. Die Weissagung an die gesammte Christenheit: ‚Ich werde den Hirten schlagen und die Schafe werden zerstreut werden‘, und die Drohung an unsere Novizen: ‚Weil ihr weder kalt noch warm seid, will ich euch aus meinem Munde ausspeien‘, waren doch so deutlich. Unser Pater Rector hat sie uns wohl hundertmal wiederholt, und wer hat sich daran gekehrt? Ich kann und will meinen Nächsten nicht richten; aber von mir selbst muß ich’s zu meiner wohlverdienten Schande sagen, daß mein ungeistliches Betragen allein sträflich genug war, um der Langmuth Gottes ein Ende zu machen.“ –

So spricht ein junger Mensch von fünfzehn Jahren! Welche Ungeheueres hat wohl der Arme verbrechen können, um der Langmuth Gottes ein Ende zu machen, er, der, durch die Mauern der frommen Anstalt von der sündigen Welt abgesperrt, keinen anderen Umgang hatte, als den mit seinen eben so streng bewachten Genossen und den Lehrern und Oberen des Hauses?

Offenbar war der stets bestunterrichtete Orden über den bevorstehenden Act seiner Aufhebung längst nicht mehr in Zweifel. Um so notwendiger war es gewesen, in den Novizen ein Vorgefühl des drohenden Unheils zu erzeugen. Wie man dies anfing, darüber haben wir soeben eine Andeutung erhalten: die Hinweisung auf die abscheuliche Sündhaftigkeit der Welt. Wir werden von Reinhold aber noch näher unterrichtet. Schon einige Monate vorher wurde den Novizen im Refectorium eine „Encyklika“ des Pater Generals vorgelesen, „welche durch alle Welttheile herumgeschickt wurde und Alle zum gemeinschaftlichen Gebete und zu außerordentlichen Bußwerken aufforderte, um ein großes Uebel, welches dem Orden und der Christenwelt bevorstände, abzuwenden.“

Nun galt’s, in den Novizen die Ueberzeugung zu befestigen, daß sie selbst zur Rettung des Ordens wesentlich beitragen könnten, Es war Regel, daß der Pater Provincial bei seiner gewöhnlichen Visitation ihnen einen vollkommenen Ablaß ankündigte. Diesen Ablaß, ihr heiliges Besitzthum, sollten nun die Novizen sammt dem noch besonders erworbenen „hohen Verdienst ihrer heimlichen Gewissensrechenschaft“ – für die Zwecke des Pater Generals aufopfern. Den „Ketzern“ unter unsern Lesern wird es schwer werden, sich in diesem Sünden-Conto zurechtzufinden. Die Zöglinge besaßen also die Vergebungszusicherung für ihre begangenen Sünden und noch einen Vorrath von „Verdienst“ als eine Art Credit von Vergebung für zukünftige Sünden. Diesen gesammten Gewissensschatz sollten sie aufgeben und mit ihren gesammten Sünden behaftet bleiben – Alles zur Rettung ihres Ordens aus dem nur durch die größten Opfer zu versöhnenden Zorn Gottes. Um dies den jungen Leuten noch eindringlicher zu machen und ihnen zu einer Gewissenserleichterung zu verhelfen, ließ der Pater Rector ein wunderthätiges Madonnenbild auf der Treppe des zweiten Stockwerks des Probhauses auf das Prächtigste ausschmücken und die Novizen vor demselben durch drei Tage und Nächte Betstunden halten. Während dieser ganzen Zeit nahmen die Novizen ihre Speisen auf dem Fußboden sitzend und die Patres knieend ein. Dazu setzten alle Büßer Strohkränze oder Eselskronen auf, wie solche überhaupt von den Jesuiten bei der Tafel statt der Baretts auf dem Haupte zur Bußübung getragen wurden. Endlich erhielt jeder Novize außer den öffentlichen allgemeinen Dorsaldisciplinen, d. h. den Geißelstreichen, welche er sich auf den Rücken, zwischen den Schultern selbst zu versetzen hatte, noch die besondere Erlaubniß auf alle Tage für eine „spanische Disciplin“, bei welcher die Geißelstreiche ein paar Spannen tiefer anzubringen waren.

Nach solchen Vorbereitungen konnte man die jungen Seelen für genügend befähigt halten, die Aufhebung des Ordens zu erfahren ohne Schaden für ihre fernere Hingebung an denselben. Bei der Erzählung dieser Thatsachen erfahren wir zugleich, daß es nicht blos in einigen verwahrlosten Alpendörfern oft gerügte und ebenso oft bestrittene Unsitte ist, Gebete wie Spielmarken zu mißbrauchen und die Verpflichtung zum Ableisten derselben als Gewinn und Verlust beim Karten und Kegeln zu verwerthen, sondern daß hier in der Jesuitenschule dieser Unfug mit aller Salbung prakticirt wurde. Reinhold erzählt:

„Wir brachten den letzten Donnerstag, wie gewöhnlich [569] außerhalb der Stadt in unserem Garten zu und waren Alle unter einander recht fröhlich im Herrn. Ich gewann auf dem Billarde zwölf Ave Marias, die Strottmann, und auf dem Bosselplatze (d. h. auf der Kegelbahn) wiederum fünf andere, welche Poller für mich beten mußte.“

Welcher Mutter, die die reinste Andacht mitfühlt, wenn sie ihr Kind beten lehrt, schaudert es nicht in tiefster Seele vor solcher Entwürdigung der schönen frommen Erhebung zu Gott im Gebet! Herausgespielte und herausgekegelte Gebete unter priesterlicher Leitung! Welche „Fröhlichkeit im Herrn“! –

Als diese jungen Gebetspieler von ihrem christlichen Vergnügen um sieben Uhr Abends nach Hause gingen, überraschte es sie nicht wenig, gleich beim Eintritt an der Pforte ihren Pater Rector und alle Patres und Fratres mit ihren Flügelröcken angethan in zwei Reihen aufgestellt zu finden. Die Regel des Stillschweigens, die mit dem ersten Tritte in die Stadt auch an Recreationstagen den Novizen auferlegt ist, verbot ihnen, nach der Ursache dieser seltsamen Erscheinung zu fragen. Es gehörte zur gründlichen Zerknirschung der jungen Seelen, den Leidensbecher tropfenweise zu leeren. Stillschweigend, obwohl der peinigendsten Neugierde voll, gingen sie in das „Museum“, wie der Saal genannt wurde, in welchem die Novizen sich den Tag über aufhielten. Hier erschien der „charissimus Manuductor“ (wörtlich: der theuerste Handleiter), derjenige Novitius, welchem die untergeordnete Aufsicht über alle seine Mitbrüder anvertraut war und der ihnen jede von dem Pater Rector auferlegte Verrichtung in ganz besonderer Weise zu verkündigen hatte. Er klingelte nämlich erst einmal, woraus alle Novizen von ihren Stühlen aufstanden, dann klingelte er noch einmal, und da mußten Alle auf die Kniee fallen und den Befehl erwarten, den er nach dem dritten Klingeln gab, und welche hochwichtige Dinge waren es, die eine solche demuthsvolle Vorbereitung bedurften? Sie wurden entweder zum Lesen, oder zum Tafeldecken, oder zum Auskehren der Gänge etc. aufgefordert! – Wir finden hier dasselbe Herabwürdigen des Menschengefühls, unter welchem unser Benedictiner von Banz gelitten! – An jenem Abend sagte der „Manuductor“ Lesung der Lebensgeschichten der Heiligen des Ordens an. „Ich meinerseits,“ gesteht in seinem Briefe Reinhold, „konnte vor Unruhe und Neugierde keine Zeile Sinnes auffassen.“

Und als Reinhold vor dem Schlafengehn an der Schatzkammer vorbeiging, fand er sie mit einem großen kaiserlichen Siegel besiegelt, – und „nun ahndete ihm nichts Gutes mehr.“ – Trotzdem verlief den Zöglingen noch der ganze andre Tag ohne Erlösung aus der Ungewißheit, und erst als sie am Abend aus dem Dormitorium (Schlafsaal) von der „spanischen Disciplin“ zurückkamen, wurde von einem Domherrn der Metropolitankirche auch ihnen die päpstliche Bulle verlesen und ihre Entlassung aus dem Probhause angekündigt.

Alle brachen in lautes Wehklagen aus, und in diesen sattsam aufgelockerten Boden streute nun der Pater Rector den Samen seines Trostes und seiner Ermahnung. Er beschwor die Jammernden, auch der todten heiligen Mutter treu zu bleiben, mit Hinweisung auf deren mögliche Auferstehung, und warnte sie vor der Verführung aus dem Orden. Es hatten nämlich mehrere Prälaten, Aebte und Pröpste anderer Klöster in das Noviciat geschickt und denjenigen Novizen, welche geistlich bleiben wollten, ohne Weiteres ihre Ordenskleider angeboten. – „Wieder eine Schlinge des arglistigen, sich in einen Engel des Lichts so oft verstellenden Teufels, der ja wohl weiß, wie der Pater Rector sagte, daß die Gesellschaft Jesu keinen, der einmal das Kleid eines andern Ordens getragen hat, vermöge ihrer Grundverfassung unter die Ihrigen aufnehmen könne!“

So fest steht der junge Jesuit! Aber vollständig zeigt er sich erst in dem Folgenden, in welchem wir das Kind, den Sohn, den Menschen am furchtbaren Abgrund sehen. Er schreibt:

„Mir fiel nun wohl ein, daß ich wieder zu meinen lieben Eltern nach Hause müßte. Allein da mich das Gesetz der Liebe noch immer an meine heilige Regel hielt, so wagte ich es nicht, mit Wissen und Willen an Sie (seinen Vater, an welchen ja der Brief gerichtet ist) und an das elterliche Haus zu denken. – – Ein so eifriger Christ, wie Sie, mein bester Papa, weiß beinahe so gut als ein Geistlicher, daß es heiligere Bande giebt, als jene der sündhaften Natur, und daß ein Mensch, der dem Fleische abgestorben ist und nur noch dem Geiste lebt, eigentlich keinen andern Vater mehr haben könne, als den himmlischen, keine andere Mutter als seinen heiligen Orden, keine andern Verwandten als seine Brüder in Christo, und kein anderes Vaterland als den Himmel.

– – – Die Anhänglichkeit an Fleisch und Blut ist, wie alle Geistlehrer einstimmig behaupten, eine der stärksten Ketten, mit denen uns Satan fest an die Erde schmieden will. Ich hatte auch wirklich mit diesem Erbfeinde unsrer Vollkommenheit gestern Abend, die Nacht und den heutigen Morgen über einen fast eben so beschwerlichen Kampf, als gleich im Anfang meines geistlichen Standes. Denn alle Augenblicke zauberte er (NB. der Teufel!!) mir Papa und Mama, Brüder und Schwestern, Onkel und Tanten, selbst unser Stubenmädchen nicht ausgenommen, vor die Augen des Geistes. Sie können sich die Gewissensangst vorstellen, die ich aus zustehen hatte, bis endlich heut neun Uhr Morgens der Mannductor ankündigte: der Pater Rector erlaube uns allen, an unsre Angehörige zu schreiben und sie auf unsere Zurückkunft vorzubereiten. Zu größerer Beruhigung meines Gewissens begehrte ich für meine Person vom Manuductor insbesondre Erlaubniß, nicht nur beim Schreiben, sondern auch sonst den Tag über an meine nächsten Blutsfreunde denken zu dürfen. Ich erhielt sie auch, die Zeiten der Meditation, der geistlichen Lesung und des Angelus Domini (,der Engel des Herrn’ – Früh, Mittag- und Abendgebet) ausgenommen. Den leidigen Versucher noch mehr zu quälen und mir noch obendrein das Verdienst des Gehorsams zu machen, ging ich vor dem Schreiben zu unserm Pater Rector selbst aus die Stube und ersuchte ihn, mir das Nachhauseschreiben in Kraft des heiligen Gehorsams zu befehlen.

Diese Stelle des Briefs habe ich vollständig mittheilen müssen, denn noch nirgends ist das innerste Geheimniß der furchtbaren Gewalt des Jesuitismus über die Seinen offener, ehrlicher dargelegt, als von diesem Jüngling mit der vom blindesten Glauben völlig befangenen Seele. Vater, Mutter, Vaterland, Menschheit – Alles geht im Orden und im „heiligen Gehorsam“ auf! – Zu naiv, um zu verletzen, aber immerhin andeutend genug, was bei gehöriger Ausbildung aus ihm hätte werden können, trat auch der geistliche Hochmuth des Fünfzehnjährigen gegen die Familie auf.

„Zu Hause,“ schreibt er, „werde ich nach aller Möglichkeit indessen (d. h. bis zu der gehofften nahen Wiedererstehung des Ordens) die Lebensart fortsetzen, die ich hier nun, Gottlob! so ziemlich erlernt habe. Ich bitte Sie daher, mir das Zimmer mit dem besondren Eingang in den Vorsaal, wo jetzt unser altes Hausgeräth steht, einzuräumen und zwar dasselbe durch unsern Johann zurechte machen zu lassen. Von nun an soll weder Hausmagd noch Stubenmädchen, noch auch eine meiner Schwestern selbst hineinkommen. Meine liebe Mama aber lasse ich erinnern, daß der heilige Aloysius seiner fürstlichen Mutter niemals in’s Angesicht sah. – – – Ich werde in der Welt leben, ohne der Welt zu leben. – Ich weiß, wie bereitwillig Sie mir zu meinen guten Absichten Ihre Hände bieten werden. Sie werden auf diese Weise auch Vater von der Seele werden, wie Sie es bisher nur von dem Leibe waren Ihres gehorsamsten Sohnes und Dieners in Christo.“

So schrieb der Sohn an den Vater, so behandelte er die Schwestern, so die einst angebetete Mutter! Soweit hatte es der Jesuitismus bereits mit dem fünfzehnjährigen Karl Leonhard Reinhold gebracht!

Wer Reinhold’s Namen und Bedeutung in der Wissenschaft nicht kennt, der kann wohl hier ausrufen: „Dieser junge Mensch ist für Wahrheit, Recht und Licht für immer verloren!“ Unsere Ueberschrift verräth jedoch schon das Gegentheil, und für diesen Kreis unserer Leser setzen wir gleich die volle Wahrheit her: zehn Jahre später entflieht dieser Jesuitenzögling als freisinniger philosophischer Schriftsteller aus Wien nach Leipzig, im folgenden Frühling (1784) begiebt er sich, weil sein Aufenthaltsort von Leipziger Jesuiten nach Wien verrathen ist, nach Weimar, zwei Jahre darauf ist er Wieland’s Schwiegersohn, wird dann Professor in Jena, später in Kiel, und hinterläßt nach einem langen, glücklichen Familienleben den Ruf eines der edelsten Menschen, der tiefsten Denker und eines Schriftstellers, der am Himmel unserer philosophischen Literatur für alle Zeit als einer der hellsten Sterne glänzt.

[570] Wie ward solch’ ein Wunder möglich? – Auch diese Frage beantwortet sich einfach: die Freiheit' hat’s gethan!

Als nach Jahresfrist die vom schlauen Pater Rector von Sanct Anna in Aussicht gestellte Wiederbelebung der todten „heiligsten Mutter“ nicht in Erfüllung ging, trat Reinhold, welcher dem gewählten Berufe treu bleiben wollte, in das Barnabitencollegium, das neben der demselben anvertrauten Michaeliskirche in Wien wohl noch heute seinen Sitz hat. Dieser Orden war 1536 in Mailand gestiftet, nach der ihm dort eingeräumten Kirche des heiligen Barnabas genannt und wurde durch den redlich verfolgten Zweck, „zur Verbesserung der Sitten und der Kenntnisse des katholischen Clerus beizutragen“, für Reinhold zur geistlichen und geistigen Heilanstalt. Später, als völlig freier Mann und in einer Schrift „zur Ehrenrettung der lutherischen Reformation“ hat Reinhold den Orden als einen „unmönchischen“ gerühmt, in dessen Schooß er für seine Geistesbildung nur Aufmunterung und Belohnung gefunden habe. So kluge und treue Hände mußten dem armen Verirrten zu Hülfe kommen, um ihn aus der Verstrickung zu erlösen, in welche die Jesuiten jede Thätigkeit seines Seelenlebens gelegt hatten. Und nachdem in ihm der Mensch wieder zu Ehren gebracht und der Muth des Denkens geweckt war, trieb das angeborene Talent ihn so rasch vorwärts, daß er, der Zweiundzwanzigjährige, zu Michaelis 1780 zum Novitienmeister und Lehrer der Philosophie an diesem Collegium ernannt werden konnte.

Dennoch war er noch bergetief von seiner späteren wissenschaftlichen Höhe entfernt. Wäre in diesem Jahre, wo Maria Theresia das Zeitliche segnete, ein Metternich’sches oder Bach’sches System zur Regierung gekommen, so würde Reinhold schwerlich bis zum Abwerfen der letzten geistlichen Fessel vorgeschritten sein. Da ging die Sonne der ewig erhebenden „josephinischen Zeit“ über Oesterreich auf; „Aufhebung der Censur“ erscholl es aus des Kaisers Hofburg, und nun war der Augenblick da, wo die begabten Köpfe des Volks sich emporreckten, die verwandten Geister sich suchten und zu freudigem Wirken sich aufrafften. Eine Schaar Gesinnungsgenossen, zum Theil ehemalige Mitdulder von Sanct Anna, trat jetzt mit Reinhold zu einem Bund zusammen, der, die Form der Freimaurerei annehmend, sich „Loge zur wahren Eintracht“ nannte und in der „Wiener Realzeitung“, in einem eigenen „Freimaurerjournal“ und in besonderen Schriften einen kühnen Kampf gegen Aberglauben und Schwärmerei und vor Allem gegen das Mönchswesen begann. Zu diesem Bund gehörten der Sprachgelehrte und Dichter Denis (Sined), Johann Baptista von Alxinger, Franz Joseph von Raschky, Verfasser des seiner Zeit berühmten heroisch-epischen Gedichts „Melchior Striegel“, Blumauer, Gottfried von Leon, Herausgeber des „Wiener Musenalmanach“, Lorenz Leopold Haschka und vor Allen Ignaz von Born, „ein Wohlthäter der Menschheit in vieler Hinsicht“, denn er glänzt nicht blos als einer der größten Mineralogen und geologischen Forscher aller Zeiten und Völker, sondern der ehemalige Jesuit hat durch seine „Neueste Naturgeschichte des Mönchthums“ als „Ignaz Loyola Kuttenpeitscher“ über den verhaßten Orden ohne Zweifel die schärfste Geißel geschwungen, die derselbe je zu empfinden hatte, und die er um so bitterer empfand, als diese Schrift damals in viele Sprachen übersetzt wurde, so daß ihre Geißelhiebe über halb Europa reichten.

Reinhold’s Thätigkeit in diesem Kreise war die der wissenschaftlichen Kritik. Unter Blumauer’s Redaction (seit 1781) lieferte die Wiener Realzeitung eine vollständige Uebersicht der neuesten österreichischen Literatur in Anzeigen oder Beurtheilungen. Fertigte man unter der Ueberschrift „Maculatur“ oder gar „Erzmaculatur“ schlechte Producte kurz genug ab, so zeichneten sich dagegen die ausführlichen Recensionen um so mehr durch Gediegenheit des Urtheils und weise Mäßigung aus; die über Theologie und Kirchenwesen sind durch drei Jahrgänge sämmtlich aus Reinhold’s Feder geflossen.

Nichts lag näher, als daß dem jungen, redlich strebenden Manne das Mißverhältniß zwischen den Standpunkten und Berufspflichten seines inneren und seines äußeren Menschen immer auffallender und lästiger werden mußte. Er hatte die angeborenen Menschenrechte durch geistliche Gelübde in einem Alter aufgegeben, wo er ihren Werth noch nicht zu erkennen vermocht; jetzt erkannte er es als seine Pflicht, diesem falschen Zustande ein Ende zu machen. Seine Eltern lebten nicht mehr, seine Geschwister bedurften seiner Hülfe nicht, seine Freunde mußten ihm beistimmen. So benutzte er denn 1783 die Herbstferien des Barnabitencollegiums zu einer Erholungsreise, die er bis nach Leipzig ausdehnte und von der er nicht wiederkehrte.

Hier stehen wir am Schluß unseres Artikels. Der Leser weiß bereits, daß auch aus diesem Mönch ein Professor der Philosophie und sogar an zwei protestantischen Hochschulen geworden ist. Ein Eingehen auf die literarische Thätigkeit dieses großen Philosophen liegt nicht in der Aufgabe der Gartenlaube. Ist es doch kaum möglich, dem nicht zu den philosophischen Fachleuten gehörigen Publicum der Gegenwart die Bedeutung dieser Wissenschaft zu Ende des vorigen und Anfang dieses Jahrhunderts vollkommen klar zu machen. Daß die Erscheinung von Kant’sKritik der reinen Vernunft“ ein Ereigniß für die Bewegung der Geister und die Entwickelung des Geistes war, so groß wie irgend eine der großen Entdeckungen und Erfindungen, begreift jetzt Niemand mehr. Die ganze Zeit war von dem Streben in die Tiefe und zu den Ideen durchdrungen und die studirende Jugend ist dieser Zeit lebendigster Ausdruck. Als Reinhold im Herbst 1793 die Berufung nach Kiel angenommen, richtete der größte Theil der akademischen Bürger Jena’s, fast tausend Studenten, ein Schreiben an ihn, in welchem er in wahrhaft ergreifenden Worten beschworen wurde, seinen Entschluß aufzugeben; die Studenten erboten sich, selbst seinen Gehalt zu erhöhen, um sich den geliebtesten Lehrer der Philosophie zu erhalten. So hoch stand der Mann und so hoch damals seine Wissenschaft! –

Wohl mochte es Einzelne geben, welche, wie der Weltgeschichts-Chronolog Kohlrausch so schön andeutet, vielleicht eine Gefahr darin sahen, daß die Betrachtung und das Wort zu sehr auf Kosten des Lebens und der That gepflegt wurde; als aber die Zeit der Noth über das deutsche Vaterland kam, haben die Gelehrten und die Studenten jener Tage gezeigt, daß die Ideen auch Kraft zum Handeln geben. –

Karl Leonhard Reinhold ist am 10. April 1823 in Kiel, fünfundsechszig Jahre alt, gestorben. In jeder Beziehung glücklicher als sein Leidens- und Strebensgenosse Johann Baptist Schad, der Märtyrer von Banz, der das Bild seines Lebens selbst mit schmerzendem Griffel zeichnen mußte, hat Reinhold in einem ebenbürtigen Sohne nicht nur später einen Nachfolger auf seinem Lehrstuhle der Philosophie in Jena, sondern auch einen Biographen gefunden, der des Vaters „Leben und literarisches Wirken“ auf das Würdigste darzustellen vermochte: Ernst Reinhold, dem ich als meinem Lehrer Dank und Verehrung schulde. Auch er gehört nun schon seit vierzehn Jahren zu den vielen großen Todten des kleinen Jena. Friedrich Hofmann.     




Die schlagenden Wetter von Burgk.

Zweiter Bericht von der Unglücksstätte.

Schon sind Wochen vergangen seit dem erschütternden Drama des zweiten August. Mehrmals und tagelang bin ich seitdem wieder an Ort und Stelle gewesen und kehre soeben von einer neuen Wanderung nach dem Segengottesschachte zum Fuße des Windbergs zurück. Indem ich nun hier, so recht in bergmännischer Hingebung, in einer vorzugsweise von höheren und niederen Grubenbeamten zur Erholungsstätte erkorenen freundlichen Schenke, mich hinsetze, den Lesern der „Gartenlaube“ Rechenschaft zu erstatten von den jüngsten Eindrücken, die ich am Unglücksplatze empfangen, muß ich vorausschicken, daß ich das Bild des letztern in seinen großen und allgemeinen Zügen nur sehr wenig, wenn überhaupt verändert fand, wie dies der Natur der Sache nach auch keine wesentliche Wandelung erfahren haben konnte. Mit demselben bangbeklommenen Herzen, mit der nämlichen ängstlich unheimlichen Erwartung trat ich meinen Gang nach der Hochfläche an, wie vor acht und wie vor vierzehn Tagen, und so ziemlich die gleichen schmerz- und schreckensvollen Wahrnehmungen und Erlebnisse harrten meiner dort.

Da stand mir zur Rechten wiederum das Huthaus, einsam [571] und verlassen wie damals; ich nahm mir heute Zeit einen Blick durch die Fenster des ansehnlichen Gebäudes zu werfen, ach, und er erfüllte mich mit einer unsäglichen Wehmuth, als ich drin in dem einzigen großen Saale, aus welchem derselbe besteht, eine neben der andern die Bänkereihen sah, von denen die frommen Bergleute an jenem unvergeßlichen Montagsmorgen ihr letztes gemeinsames Gebet zum Himmel gesandt hatten! Dicke Liederbücher von fleißigem Gebrauche abgegriffen und unscheinbar geworden, lagen auf den Bänken umher: aus ihnen hatten die unglücklichen ihren Chor gesungen! Weiter oben, schon jenseits des Dorfes Burgk, etwa hundert Schritte links von dem Wege, der nach dem Windberg einbiegt, liegt an einem Wiesenhange zwischen Obstbäumen ein hübsches modernes Haus; auch dahin wandten sich meine Augen mit schmerzlichem Interesse. Es muthet ganz idyllisch an, das schmucke Haus in seiner lauschigen grünen Umgebung, jetzt ist’s in eine Stätte tiefster Trauer verkehrt; denn hier hat einer der beiden Obersteiger gewohnt, die mit der von ihnen zur Schicht geführten Arbeiterschaar in den empörten Wettern ihren Tod fanden. Noch liegt seine Leiche unter den wenigen welche man aus den Bruch- trümmern des Neuen-Hoffnunsschachtes bis jetzt nicht hat zu Tage fordern können, während die seines Collegen schon vor Wochen in die geweihte Erde des Döhlener Friedhofs gebettet werden konnte. Wie man behauptet – ich erzähle nach, was ich vielfach aus dem Munde von Bergleute vernahm, ohne meinerseits für die Wahrheit des Gehörten einstehen zu können – soll es jener noch ungefundene Obersteiger gewesen sein, der von einem Befahren des Segengottesschachtes unter den derzeitigen Temperatur- und Wettercirculationsverhältnissen abgerathen hat, allein aus Furcht, seine Stelle zu verlieren, seine Ansicht nicht geltend zu machen wagte.

Auch oben bei den Schächten sah es, auf den ersten Blick, völlig aus wie damals. Rechts als die höchsten von allen, ragten die Baulichkeiten des nach Potschappel gehörenden Windbergschachtes empor; links schimmerten aus dem Grunde und von den Elbhöhen die freundlichen Dörfer, Ansiedelungen, Villen herüber; vor mir brodelten die Coaksöfen mit ihrem dicken, brenzlichen, die Athmungswerkzenge reizenden Qualme; daneben zog die Kohlenbahn nach der „Goldnen Höhe“ empor, und an ihr erhob sich der Neue-Hoffnungsschacht. Noch immer lag er wie aufgegeben und ausgestorben, denn auch heute entstieg seinem Schlote nicht das leiseste Rauchwölkchen; dafür arbeitete, weiter nordwärts, die Maschine auf Segen-Gottes um so emsiger, und mit jedem Schritte, der mich diesem meinem abermaligen Ziele näher führte, schlugen die einzelnen Cadenzen ihres Schnaubens und Stöhnens, ihres Pustens und Aechtens mir immer lauter und unheimlicher an’s Ohr. Nach wie vor verrichtete sie ihr grausiges Werk: unermüdlich, in den letzten Tagen schier rastlos, wand sie die Todten aus der nächtigen Tiefe herauf an’s Licht. Dazu heulte der Wind über das weite Plateau und trieb nur den schwarzen Staub in die Augen – wenn irgend einer, trägt ja der Windberg seinen Namen mit vollstem Rechte – mit Einem Worte, das Alles erschien genau so wie damals, als ich es zuletzt geschaut und wahrgenommen hatte.

Und doch war es nicht ganz das gleiche Bilde was sich heute mir darbot. Wo sich neulich Menschengewühl und Menschenlärm über das Gehenna des zweiten August verbreitete; wo mir unaufhörlich Gruppen von Teilnehmenden und – Neugierigen begegneten; wo der Pfad den Windberg heran und längs den Strängen der Eisenbahn zwischen den beiden Schächten einem Wallfahrtswege glich; wo ich die Ellbogen brauchen mußte, um zum eigentlichen Schreckensorte, zur Kaue des Segengottesschachtes vorzuringen: – da war’s heute still, recht still geworden; Ereigniß und Schauplatz besaßen ja nicht mehr den Reiz der Neuheit und was zu sehen war, das hatte man gesehen; nur sehr einzeln erschien da und dort noch ein verspäteter Nachzügler aus der Nachbarschaft und aus Dresden, oder ein wissensdürstiger Berichterstatter, welcher, gleich mir, sich von den jüngsten Vorgängen auf den Schächten zu unterrichten trachtete. Aber auch der Schmerzensscenen, der Scenen jenes beispiellosen Jammers, wie sie bei meinen früheren Besuchen der Unglücksstätte mir das Herz mit einem unnennbaren Weh erfüllt hatten, traten mir jetzt nur wenige vor die Augen. Hatte der Schmerz sich schon ausgeweint? War das Leid schon gestillt, das neulich so laut zum Himmel schrie und in seiner übermächtigen Qual die unglücklichen Wittwen und Waisen, Väter und Mütter, Brüder und Schwestern schier der Verzweiflung überantwortete? Ach, nein, sicher nicht; aber es hatte sich still in die Häuser zurückgezogen, wo die Pflichten des täglichen Lebens riefen, die ja auch mitten im tiefsten Kummer ihre Rechte fordern und nun um so dringender forderten, als so viele Hunderte von armen Kindern ihres Erhalters und Beschützers beraubt und jetzt doppelt auf die ihnen gebliebene Pflege und Sorgfalt augewiesen waren. Ueberdies umschloß bereits die Mehrzahl der erstickten, verbrannten, erschlagenen Bergleute das große Massengrab oben hinter dem Segengottesschachte, der Passionsgang hinauf nach den Gruben hatte also für die meisten der Hinterbliebenen seinen nächsten Zweck, in den heraufgeförderten Leichnamen die sterblichen Ueberreste ihrer Lieben zu erkennen, mittlerweile verloren. Ab und zu wohl stieß ich auf ein Häuflein von Frauen und Kindern, welche, das Gesicht mit den Händen bedeckt, in Thränen gebadet, schluchzend oder still vor sich hin wimmernd, vom Segen-Gottesschacht in’s Thal hinabstiegen; sie waren oben gewesen am Thor der Kaue, und in der qualvollsten Spannung hatten sie Stunde um Stunde gelauscht, ob das schauerliche Hebewerk und der grausige kleine Wagen endlich brächten, was sie fürchteten und doch – hofften; immer und immer aber hatten sie noch vergeblich gehofft und vergeblich gefürchtet. Wie oft schon mochten die Unglücklichen diesen ihren fürchterlichen Weg gewandelt sein! Und wer vermißt sich, die Empfindungen zu schildern, mit denen sie tagtäglich ihn von Neuem antraten, mit welchen sie tagtäglich wieder hinabzogen in ihre verödete Heimath? Nur dieses einen Momentes braucht es, uns den Ueberschwang von Seelenweh zu vergegenwärtigen, welches die Schreckensstunde über den engen Kreis weniger Bergmannsdorfer ausgegossen hat. Was vermag menschliche Mildthätigkeit, und wenn sie Millionen spendete gegen solchen Jammer! Das möge man beherzigen, wenn man, wie mir dies leider gar oft begegnet ist, und von Lippen, von denen es doppelt und dreifach Wunder nehmen muß, die lieblose Aeußerung zum Angehör bekommt: „Was wollen Sie? die Hinterbliebenen werden noch Gott danken für die Katastrophe; wie die von Lugau werden sie durch das Resultat der Sammlungen schließlich besser daran sein als je zuvor!“

Ich trat abermals in die Kaue – seit gestern, den 16. August, waren die den Cordon bildenden Soldaten wieder abgerückt, nur die Gensd’armerie versah noch den Wachdienst – drin aber ging das Seil herauf und hinunter, klangen die ominösen sechs Glockenschläge, erschienen die kleinen Wagen mit ihrer in essiggetränkte Tücher gehüllten unheimlichen Last zu Tage, wie damals. Ganz wie damals rollte der Wagen hastig in den nahen Schuppen, wie damals waren die „Wäscherinnen“ bei der Hand, welche seit Wochen Tag und Nacht nicht gerastet haben von ihrer unbeschreiblich gräßlichen Arbeit, wie damals ward hurtig die desinficirende Säure über den entseelten Körper gespritzt, wie damals ging es mit dem schnell gefüllten Sarge hinaus in die große Steingruft, wo jetzt, mit Ausnahme der achtunddreißig früher auf den benachbarten Friedhöfen beerdigten, die sterblichen Hüllen sämmtlicher bis jetzt aufgefundener Verunglückter, zusammen zweihundertdreiundzwanzig, beigesetzt worden sind eine Reihe Särge dicht an der anderen.

Auch dieses Bild wich doch in manchen Stücken von dem während meiner früheren Besuche auf den Schächten gesehenen ab. Seit länger als einer Woche schon waren die im Segen-Gottesschachte selbst um das Leben gekommenen Bergleute wohl sämmtlich heraufgefördert, die Körper, welche die Dampfmaschine jetzt emporhob, gehörten den Opfern des Neuen-Hoffnungsschachtes an. Es waren meist nicht so grausig anzusehende Menschentrümmer wie jene, weniger verbrannt, verkohlt, zerrissen, zerschlagen, die Leiber hielten vielmehr noch zusammen, sie waren in ihrer Grubenkleidnug und noch versehen mit ihren Blenden und Arbeitsgeräthen, ihren kleinen Habseligkeiten und Gebrauchsgegenständen, aber von der Verwesung, welche, trotz der so gerühmten Carbolsäure, bis in weiten Umkreis ihren Pesthauch entsandte und dem Auge Schauderstücke vorführte, mit deren Darstellnug ich die Leser der Gartenlaube nicht wiederum peinigen will, oft genug schon zu völliger Unkenntlichkeit zerfetzt und zerflossen. Einige der Köpfe, die ich sah, wie sie aus den noch wohl erhaltenen Kleidern hervorquollen, mit ihren zerfressenen Lippen und Nasen und über und über mit gelben Jauchenflecken bedeckt, gewährten einen Anblick, welcher mich noch heute mit Grausen erfüllt und sich nie wieder aus meiner Erinnerung verwischen wird.

Häufig mußte denn auch hier jenes schauerliche „Unkenntlich“ auf die Särge gekreidet werden, das ich schon so manchmal hatte [572] anmalen sehen, wenn nicht zufällig eines jener oben erwähnten kleinen Besitzthümer, die Uhr, die Geldtasche, die Schnupftabaksdose und dergleichen, oder ein durch den Verwesungsproceß nicht alterirtes besonderes Merkmal auswies, wer der entstellte Leichnam gewesen war, ehe ihn das schlimme Wetter traf. Und mit welcher laut- und athemlosen Spannung wurde allemal nach diesen Kennzeichen gesucht! Wie drängten sich die Menschen in dem entsetzlichen Leichenschuppen zusammen, wenn man die eingebrachten Todten von ihrer Hülle befreite !

„Die Geldtasche da,“ rief einer der beim Leichentransporte beschäftigten Arbeiter aus, „wer kennt sie?“

Alles schwieg – denn Niemand kannte sie.

„Es sind sechszehn Neugroschen darin! Wer weiß wohl, wem sie gehört haben?“ fuhr der Mann fort – doch abermals keine Antwort.

„Unkenntlich!“ lautete jetzt das Commando, und durchdringender, herzzerreißender erhob sich das Schluchzen der umstehenden Frauen, wenn der so bezeichnete Sarg rasch zur angrenzenden Gruft getragen wurde. Barg er doch vielleicht das, was vom Liebsten, das sie hienieden besaßen, noch übrig war – ein ununterscheidbares Stück im unabsehbaren Meere des allgemeinen Jammers!

Eine andere Leiche rollte in den Schuppen ein – das entstellte Gesicht war von Niemandem zu recognosciren; da, als man sie umwandte in ihrem Vehikel, entfiel dem Grubenkittel ein Zollstab, sie war mithin der Leib eines Zimmerlings, und – ach, man kannte das kleine Werkzeug nur zu wohl! – ein allgemeiner Schmerzensschrei entrang sich der Versammlung, in welchem das stillere Weinen der näheren Angehörigen des Todten fast erstickte, und es war einer jener Unglücklichen, von denen auch die Gartenlaube bereits erzählte, jener Zimmerling Janetz, welcher mit mehreren seiner Gefährten unten im Schacht an den Thürpfosten des Zimmerwerks in wenigen Kreideworten ein ergreifendes Denkmal ihrer Leiden und der treuen Liebe hinterlassen, mit der die armen Erstickten noch im letzten Augenblicke an Weib und Kind, an Freunde und Cameraden gedacht haben. In der That die Entdeckung dieser Inschriften und das am selben Tage, nur wenige Stunden früher erfolgte Auffinden des Schichtenbuches, in das der Untersteiger Ernst Bähr I. von seinen vergeblichen Rettungsversuchen Kenntniß gegeben, zählen zu den traurigsten Episoden des großen Trauerspiels.

„Wenn wir doch Das niemals erfahren hätten!“ wehklagte einer der Obersteiger. Könnte hier blos die augenblickliche Rücksicht des Mitleids mit den Hinterlassenen der Getödteten und unserer eigenen persönlichen Gefühle in Frage kommen, so möchten wir einstimmen in diesen Wunsch, allein sowohl im Interesse einer wissenschaftlichen Erörterung der Katastrophe, an der es bis jetzt noch gänzlich fehlt, als namentlich einer künftigen thunlichst möglichen Sicherstellung der deutschen Kohlenbergleute, insbesondere der auf den Burgk’schen Werken, dürfen wir die Entdeckung dieser erschütternden Documente nicht hinwegwünschen. Es sollten ja ohnedem nicht die einzigen bleiben, und die nachmaligen Auffindungen derselben Art legten, wie es unsere Leser bereits aus der vorigen Nummer der Gartenlaube wissen, noch entsetzlicheres und rührenderes Zeugniß ab von den letzten Leidensmomenten und der frommen Fassung mehrerer der im Neuen-Hoffnungsschachte Verunglückten, wo, wie wir wohl annehmen dürfen, fast alle den Erstickungstod gestorben sind; sie thaten dar, daß noch neun Stunden nach der Explosion eine Anzahl der zur Frühschacht angefahrenen Bergleute am Leben war, die sich, denn sie lagen nicht etwa unter Trümmern verschüttet, hätten retten können, wenn die „ganz bruchfreie Wetterstrecke und der Weg zur Tagesstrecke des Hoffnungsschachtes“ – so drückt sich der officielle bezirksärztliche Bericht aus – nicht „so concentrirte irrespirable Gase enthalten hätte,“ daß man dieselben nicht betreten konnte. Dieser Umstand wiegt jedenfalls schwer bei der Beurtheilung des Ereignisses und der größern oder geringern Verschuldung, welche Bergherrn und Grubenleitung treffen!

Welchen Eindruck die letzten Lebenszeugnisse der armen Bergleute in der Umgebung der Schächte hervorbringen, wie sie den Schmerz der Leidtragenden in’s Unendliche verschärfen, auf’s Neue zur Verzweiflung anfachen, wie sie unsere nimmerruhende Phantasie beschäftigen mußten, die ja das Grausige in das noch Grausigere zu malen liebt, kann sich wohl Jeder denken. Hatten die Unglücklichen, so hieß es, die Katastrophe noch um fünf, ja um acht und neun Stunden überlebt, wer mochte dann bürgen, daß es nicht zwei und drei und mehr Tage geworden waren, und daß alle diese Bejammernswerthen nicht einem langsamen Hungertode hatten elendiglich erliegen müssen? Aller man fand die sichere Bürgschaft dafür, daß ihnen dies Schicksal ihrer schwerer geprüften Lugauer Cameraden erspart geblieben ist: bei allen diesen Abschiednehmenden war das Frühstück noch so unversehrt in den Taschen, wie es ihnen die Frau, die Mutter, die Schwester zur Morgenschicht mit auf die Fahrt gegeben hatte!

Das große Grab[1] draußen hatte inzwischen auch eine einigermaßen andere Physiognomie gewonnen; es sah weniger roh, weniger steinbruchartig aus, als neulich, seine Ränder waren geglättet, auf dem östlichen breitete ein aus Laubgewinden errichtetes Kreuz seine Arme wie segnend aus über den improvisirten Friedhof und die Zweihundertunddreiundzwanzig, die in ihm schlafen, und von den Särgen schimmert nur noch da und dort eine unbedeckte Querwand zwischen den Steinschichten hervor. Ein eigenthümliches Geschick hat es gefügt, daß unter jenen Zweihundertunddreiundzwanzig auch der Mann mitschlummert, der so manchem seiner bergmännischen Genossen die letzte Ruhestätte bereitet hat: der Döhlener Todtengräber. Er wurde unter den Erstickten im Hoffnungsschacht gefunden, er mit seinem Sohne, und hatte sich gleichsam seine Grabschrift selbst geschrieben. „Hier liegt Vater und Sohn!“ stand von seiner. Hand an einem Schachtstempel angeschrieben.




„Der erste Act des herzergreifenden Trauerspiels ist zu Ende,“ schloß der bezirksärztliche Bericht von der Katastrophe. Wenn auch in anderem Sinne, sagt dasselbe auch der Berichterstatter der „Gartenlaube“; vor der Hand hat er von der Unglücksstätte Neugesehenes und Neuerlebtes nicht zu berichten. Es ist daher vielleicht der geeignetste Moment, einige Details nachzutragen, die in seinen letzten Mittheilungen keinen Raum finden konnten, und einen kurzen Rückblick auf das Begebniß zu werfen, so weit es in seinen Ursachen und Wirkungen bis jetzt ermittelt worden ist, denn auch jetzt muß ein Endurtheil über die Katastrophe noch ausgesetzt bleiben, bis von völlig unparteiischen Fachmännern ausführliche Berichte darüber vorliegen. Vorläufig kann die nicht sachlich competente Presse nur soviel constatiren, daß „im Staate Dänemark“ doch Eines oder das Andere „faul“ gewesen ist, vielleicht mehr, als man anfangs geglaubt hat. Und sie hat die Pflicht, dies zu constatiren, denn die Sicherheit von Tausenden von Arbeitern, die an sich in noch weit höherem Grade als Soldaten und Seeleute tagtäglichen Lebensgefahren ausgesetzt sind, hängt von durchgreifenden Reformen im Betriebe des sächsischen und speciell des Burgker Kohlenbergbaues ab. Das Unglück von Burgk ist in seiner Ursache in keine Parallele zu bringen mit dem von Lugau – unleugbar aber ist den entzügelten Naturgewalten, denen Menschenwille und Menschenkraft machtlos gegenüber stehen, nicht allein die Schuld der beispiellosen Katastrophe vom zweiten August beizumessen.

Schon in meinen: ersten Bericht habe ich auf eine gewisse laxe Praxis hingedeutet, die jedenfalls nicht ohne Einfluß auf das Unglück geblieben ist; fachliche Darstellungen, denen ich die Verantwortung ihrer Anschuldigungen überlassen muß, sprechen jetzt noch von ganz anderen Mißständen und Mangelhaftigkeiten auf den Burgker Werken, die zum Theil die unerhörte Tragödie in Scene gesetzt haben: von einer ungenügenden Wettercirculation, ohne welche bei dem Tiefbau der Steinkohlenschächte von einer Sicherheit der Arbeiter auch nicht im Entferntesten die Rede sein könne, und ganz besonders von dem Fehlen jener künstlichen Ventilatoren, mittels deren man gegenwärtig nicht blos in Belgien und England, im Saarbecken und in Westfalen, sondern auch in anderen Gruben des Plauenschen Grundes die beständige Lufterneuerung in den tiefen Kohlenschächten im Gange

[573]

Die Bestattung der Verunglückten beim Segengottesschacht von Burgk.
An Ort und Stelle aufgenommen von Huth in Leipzig.

[574] erhält. Mehr noch, es scheint erwiesen zu sein, daß der Hoffnungsschacht, der einzige Ausweg für die abziehenden Wetter, nicht blos Tags vorher, sondern sogar am Tage des Unglücks selbst wegen einer Schachtreparatur zugebühnt und somit für Wetterzug und Menschen unzugänglich gewesen ist!

Unter allen Umständen ist daher, zur Ehre des sächsischen Bergbaues, eine strenge, von jedweder Privatrücksicht freie und unabhängige Untersuchung der möglichen Ursachen des beispiellosen Massenunglücks geboten, welches zweihundertundneunundsiebenzig wackeren Bergleuten – merkwürdiger Weise ist selbst heute die Zahl derselben nicht über allen Zweifel festgestellt! – das Leben kostete und nur durch einen Zufall nicht noch viel zahlreichere Opfer forderte. Dieser glückliche Zufall war das weit und breit bekannte und besuchte Volksfest der „Dresdener Vogelwiese“, eine beträchtliche Anzahl der Arbeitsmannschaft der beiden Schachte hatte sich bis zum frühen Morgen unter den Buden und Zelten am linken Elbufer umhergetummelt und so die Frühschicht verschlafen. Ohne diesen besonderen Umstand hätten die bösen Wetter anstatt der zweihundertundneunundsiebenzig vielleicht vierhundert und mehr Opfern in der „mit Nacht und mit Grauen bedeckten“ Tiefe den Tod gebracht!

Von allen den am letzten zweiten August zur Frühschicht angefahrenen Steigern und Häuern, Zimmerlingen, Förderleuten und „Hundejungen“ haben sich, wie die Zeitungen bereits erzählt, im Ganzen nur fünf Personen retten können: zwei der erwähnten Hundejungen und drei Zimmerlinge, d. h. Bergleute, welche das Holzwerk in den Schachten herzustellen und in Ordnung zu halten haben. Von den ersteren, den beiden Jungen, ist wenigstens über einige kleine Einzelheiten unmittelbar nach der Explosion Licht verbreitet worden. Sie sind unter den letzten der Anfahrenden gewesen; als sie von der „Tagesstrecke“ her in den Schacht kommen, schlägt ihnen alsbald der Schwaden entgegen. Natürlich machen sie sofort Kehrt, um wieder „zu athmen im rosigen Licht“; auf ihrem Eillaufe aber, dicht an der Eingangsthür, treffen sie den Steiger Schenk, der, mit Anstrengung aller seiner Kräfte, schon so weit zurückgedrungen ist, doch jetzt erschöpft, einen Zipfel seines Grubenkittels vor dem Munde, um sich gegen die bösen Gase zu schützen, am Boden kauert. Mit matter Stimme fleht er die beiden Jungen an, ihn mitzunehmen, da er selbst nicht mehr fortkönne, allein die Jungen waren zu schwach, den Mann hinwegzuschleppen, mochten auch wohl denken, daß jede Secunde Verzug ihre eigene Rettung gefährden könnte, und rannten weiter. Wer möchte sie darum der Unbarinherzigkeit zeihen? Als man im Laufe des Nachmittags unter unsäglichen Schwierigkeiten von der Ostseite her in den Bau des Hoffnungsschachtes eindrang, fand man den Steiger umgesunken an der Ausgangsthür liegen. Sein „Geleuchte“ stand schon außerhalb des Eingangs, ein Beweis, daß er selbst sich fast schon in Sicherheit befand, aber an der Schwelle der Rettung erschöpft umgefallen und erstickt war.

Dieselben beiden Jungen haben auch von einer That berichtet, die man in ihrer einfachen Großartigkeit ohne weiteres als heroisch bezeichnen muß. Auf ihrem Wege in’s Freie trafen sie den Fördermann Wenk, welcher ebenfalls nicht mehr weit zur Rettung hatte. Da fällt ihm ein, daß sein Arbeitscumpan noch drinnen im Schachte ist.

„Ich will meinen Cameraden holen,“ sagt der edle Mann, geht in die Wetter zurück und findet darin seinen Tod wie alle Anderen.

In den ersten Tagen nach dem Unglück war die Arbeit natürlich mit offenbarer Lebensgefahr verknüpft – allein auch da hat sich keiner der Bergleute dieser Pflicht entzogen. Von einem ganz besonderen Muthe zeugt die inzwischen wohl von allen Blättern, freilich nicht ganz gleichlautend, berichtete That des jungen Camillo Paul, eines Sohnes des Burgk’schen Rechnungsführers. Noch vor elf Uhr Morgens drang, wie mir erzählt wurde, der kaum zwanzigjährige junge Mann, vom Rettungseifer getrieben, in den Schacht ein; etwa sechszig Ellen vom Eingang aber stürzte er, von den bösen Gasen betäubt, wie todt zusammen. Lautlos lag er da; einem Cameraden, einem gewissen Günther, gelang es aber, ihn bis nahe an das Mundloch des Schachtes zu schleppen. Hier verließen den Retter indeß die Kräfte und er mußte, wollte er selbst nicht in den Wettern umkommen, eiligst das Weite suchen. Achtundzwanzig Stunden lang blieb nun der unglückliche junge Mann verlassen im Schachte liegen – in welcher Todesangst, kann man ermessen! – bis zwei der Beamten, welche zufällig nahe der Mündung des letzteren standen, ein mattes, wehklagendes Wimmern vernehmen; ein Bergmann wagte es darauf die Ursache dieser Schmerzenslaute zu erforschen, und so brachte man den blos vierundzwanzig Fuß von der Mündung aufgefundenen kühnen Jüngling wieder zu Tage. Er hat nachher längere Zeit mit dem Tode gerungen, wie mir sein eigener Vater erzählte, ist aber jetzt bereits der völligen Genesung nahe. Man hat dem wackeren jungen Mann nicht geglaubt, als er versicherte, aus der Schachttiefe noch Hülferufe gehört zu haben: jetzt, wo man weiß, daß die Armen noch bis ein Uhr drunten am Leben waren, wird seine Aussage wohl an Wahrscheinlichkeit gewonnen haben.

Von dem fürchterlichen Knalle, welchen die Explosion verursacht habe, ist viel gesprochen und geschrieben worden, ja man versicherte mir bei meiner ersten Ankunft auf dem Bahnhofe zu Potschappel, man habe die Detonation bis hier unten, mithin drei Viertel Stunden von den Schächten entfernt, in erschreckender Deutlichkeit vernommen. Alle diese Angaben beruhen indeß auf Täuschung; einer der obersten Beamten der Burgk’schen Kohlenwerke erklärte mir vielmehr, daß man in Burgk selbst, ja daß er in seiner den Schächten noch weit näheren Wohnung nicht das leiseste Geräusch gehört habe. Blos die aus dem Segen-Gottesschachte aufquellende dicke Rauchsäule habe etwa ein Viertel nach fünf Uhr Morgens Kunde gegeben von dem Unglück ohne Gleichen. Welche entsetzliche Gewalt aber die Explosion gehabt, beweisen nicht nur die in beiden Schachthäusern vorn Luftdruck zersprengten Fenster, sondern hauptsächlich das auseinander getriebene Mauerwerk unten in den Schächten und die zu förmlichen Schutthaufen zerschellten „Hunde“. Wer jemals Gelegenheit gehabt, diese aus den dicksten Bohlen zusammengefügten, mit schweren Eisenbändern beschlagenen, auf festen Rädern ruhenden Kohlenförderungswagen zu sehen, der wird danach die furchtbare Kraft der Explosion ungefähr bemessen und begreifen können, daß die dem Entstehungspunkte der Schlagwetter zunächst befindlichen Bergleute nur als unkenntliche Menschentrümmer aus der Tiefe heraufgewunden worden sind.

Die Verunglückten vertheilen sich auf fünfundzwanzig Gemeinden, die sämmtlich einen Umkreis von wenigen Stunden einnehmen. Die volkreichste davon bildet das stattliche Dorf Deuben, wo die meisten Bergleute des Plauenschen Grundes Quartier genommen haben. Hier allein hat die Katastrophe neununddreißig Frauen zu Wittwen und hundertundsechsundzwanzig Kinder zu Waisen gemacht, zehn davon aus einer Familie! In Eckersdorf sind zwei Häuser ihrer sämmtlichen Bewohner beraubt und die Gemeinde selbst ihres Vorstandes und ihrer Vertreter. Zusammen beträgt die Zahl der Hinterbliebenen, d. h. der Hinterbliebenen, denen die Versorger entrissen sind, achthundertfünfundsiebenzig, zweihundertundeinundzwanzig Wittwen, sechshundertundfünfzig Kinder und vier arbeitsunfähige Mütter, die von ihren Söhnen ernährt wurden und nun gleichfalls dem öffentlichen Mitleide anheim gegeben sind. Die Menge der Leidtragenden im Allgemeinen, der Väter, denen ihre Söhne, der Geschwister, welchen die Brüder, der Bräute, denen die Geliebten genommen sind, sie Alle, welche zwar nicht ihre materiellen Versorger und Erhalter, aber ihr theuerstes Besitzthum auf dieser Erde verloren haben, verloren mit Einem Schlage – wer zählt sie zusammen? Weit, weit über tausend Trauernde auf einem Gebiete von wenig über eine Quadratmeile! Wer denkt ihn aus in seiner ganzen unerschöpflichen Fülle, diesen Jammer, wie ihn ein einziger Moment über eines der anmuthigsten und rührigsten Gelände des anmuthreichen und rührigen Sachsenlandes heraufbeschworen hat?

Die nackte Noth des Lebens kann und wird die öffentliche Mildthätigkeit lindern, das thun die reichen Spenden dar, mit denen man bereits diesseit und jenseit des Maines der unglücklichen Wittwen und Waisen im Plauenschen Grunde gedenkt, wenn es auch immer schlimm bleibt, daß diese lediglich auf den guten Willen guter Menschen angewiesen sind, daß kein Gesetz die Grundbesitzer zu ihrer Erhaltung zwingt. Wäre dies der Fall, als dann würde sicher geschehen, was menschliche Einsicht zur Verhütung ähnlicher Katastrophen wie die vom zweiten August anzuordnen und einzurichten vermag.

Möge die hoffentlich zu erwartende gründliche Untersuchung herausstellen, daß Besitzer und Leiter der Burgker Kohlenwerke [575] wenigstens nicht allzuweit hinter den Leistungen zurückgeblieben sind, welche sie im Interesse ihrer Arbeiter, jener Tag um Tag, dem Tod beherzt und ergeben in’s Auge schauenden Bergleute, zu erfüllen haben, und möge das Unglück dazu beitragen, diesem so achtungswerthen Theile unseres Arbeiterstandes genügendere Bürgschaften für ihre Sicherheit schaffen, als ihnen bisher geboten worden sind, damit sich der „schwarze Diamant“ nicht verwandle in den „schwarzem Fluch“!

H. S.




Blätter und Blüthen.


Aus Abraham Lincoln’s Leben. Während des letzten amerikanischen Krieges lag der Oberst eines New-Hampshire-Regiments in einem kleinen virginischen Städtchen am sogenannten Lazarethfieber schwer krank darnieder. Kaum hatte seine Frau Nachricht davon erhalten, so machte sie sich auf den Weg, den geliebten Mann zu pflegen, und gelangte nach unsäglichen Schwierigkeiten auch glücklich bis zu ihm. Ihre Gegenwart und sorgsame Pflege brachten den Kranken in kurzer Zeit so weit, daß er nach Washington transportirt werden konnte.

Auf dem Potomacstrome stieß jedoch das Dampfschiff, auf welchem der kranke Officier, Oberst Scott und seine Frau Passage genommen hatten, mit einem größern Fahrzeuge zusammen und sank. Die Mannschaft und fast alle Soldaten am Bord wurden gerettet, im Getümmel der Katastrophe kamen aber Scott und seine Gattin auseinander und die Letztere fand ihren Tod in den Wellen. Der unglückliche Mann ließ alle möglichen Anstrengungen machen, die Leiche des theueren Weibes zu finden, allein vergeblich. Der graue, tosende Strom weigerte sich, die Todte herauszugeben, und der vor Schmerz fast wahnsinnige junge Officier sah sich genöthigt, ohne die geliebte Todte seine Reise nach Washington fortzusetzen. Erst acht Tage später empfing er die Kunde, daß der Leichnam seiner Frau an das Ufer gespült worden sei und von den Umwohnern für ihn bewahrt werde.

Es war damals gerade ein sehr kritischer Moment des großen Kampfes und das Kriegsministerium hatte den nordstaatlichen Truppen jedweden Verkehr mit den Südstaaten auf das Strengste untersagt. Umsonst bat also der Oberst den Kriegsminister um Urlaub nach Virginien.

„Unmöglich, ganz unmöglich!“ entgegnete ihm Stanton; „Niemand darf in Privatangelegenheiten jetzt den Strom hinab. Unsere gegenwärtige Lage gebietet die allerstrengsten Maßnahmen, und lediglich persönliche Interessen dürfen der großen Nationalsache in keiner weise hindernd in den Weg treten, das brauche ich Ihnen nicht erst zu sagen. Ihr Unglück geht mir zu Herzen, allein es ist einmal eine schwere, gefährliche, kritische Zeit. Lassen Sie mithin die Todten ihre Todten begraben!“

Alle weiteren Vorstellungen des Obersten blieben fruchtlos; der Kriegsminister schnitt sie mit seinem unerbittlichen „Unmöglich“ ab.

Da entschloß sich Scott, seine Sache direct dem Präsidenten vorzutragen; zwar hatte er auch für diesen Schritt nur schwache Hoffnung, er wollte aber doch nichts unversucht lassen, was ihm möglicher Weise zu einer Erlaubniß seiner traurigen Reise verhelfen könnte. Unverzüglich fuhr er denn nach dem weisen Hause. Es war spät am Samstagabend, und Lincoln bereits nach seinem kleinem Landsitze Soldier’s Rest (Kriegers Ruhe) abgereist, wo er meist den Sonntag zuzubringen pflegte.

Ohne sich zu besinnen, brach Scott nach der nur wenige Stunden von der Stadt liegenden Villa auf. Der Präsident war damals mit Arbeit und Sorge überbürdet, und es geschah wohl, daß er unter einer solchen Last und von allen erdenklichen Anliegen von Tausenden von Menschen gequält, seine natürliche gute Laune verlor und sich, ganz wider sein eigentliches Temperament, vom Aerger zu momentaner Grämlichkeit und Härte hinreisen ließ.

In einer solchen Stimmung fand ihn unglücklicher Weise unser Oberst. Lincoln sah den Eintretenden mit finsteren, forschenden Augen an und unterbrach den Redenden barsch, als dieser kaum seine Bitte vorzutragen begonnen hatte.

„Geht mich nichts an,“ sagte er heftig. „Fragen Sie den Kriegsminister.“

„Ich bin schon bei ihm gewesen, Herr Präsident,“ erwiderte Scott kleinlaut; „er will nichts für mich thun.“

„Sie sind bei ihm gewesen, haben Ihren Bescheid erhalten und wagen dennoch bis zu mir zu dringen! Soll ich denn keinen Augenblick Ruhe haben? Will man mich auch hier, in meiner kleinen Privatwohnung, Zoll für Zoll zu Tode quälen? Stanton hat ganz recht daran gethan, wenn er Ihnen eine abschlägige Antwort gab. Ihr Verlangen ist unvernünftig, Oberst!“

„Aber, Mr. Lincoln, ich dachte, Sie würden mit mir fühlen.“

„Mit Ihnen fühlen. Gott im Himmel! Ich habe mit fünfmalhunderttausend Menschen zu fühlen, die zehnmal unglücklicher sind als Sie. Es ist eben Krieg, wissen Sie das nicht? Noth und Kummer ist jetzt unser Aller Loos; tragen Sie Ihren Antheil davon, wie es einem Mann und Soldaten geziemt. Mit einem Worte – lassen Sie Ihre Frau, wo sie ist. Wollte der Himmel, ich wäre auch schon in Ruhe wie sie!“

Damit lehnte sich der Präsident, müde und abgehetzt, in seinen Stuhl zurück, schloß die Augen und winkte mit der Hand, daß sich Scott entfernen sollte.

Der Oberst verbrachte eine schlaflose Nacht und dachte wieder und immer wieder, der Präsident sei ebenso hart, wie er häßlich war. Erst gegen Morgen schlummerte er ein, und als er erwachte, war es schon ziemlich spät. Noch hatte er sich nicht völlig angekleidet, da klopfte es laut an seine Thür. Er öffnete, und wer malt sein Erstaunen, als er den Präsidenten vor sich stehen sieht!

Mit Thränen im Auge, blaß und aufgeregt, kam der gute Mann zu Ihm und ergriff seine Hand. „Ich habe Sie gestern Abend grausam behandelt, Oberst,“ hob Lincoln an, „ich komme, Sie um Verzeihung zu bitten. Ich war aber ganz und gar außer mir, zu Tode gehetzt von allen den Ansprüchen, die jetzt an mich gestellt werden. Geht mir gewöhnlich so Sonnabend Abends, da werde ich wild wie eine böse Katze. Ich muß Ihnen wirklich als der Gorilla erschienen sein, den die Rebellen aus mir machen. Wie Sie fort waren, da hat mir die Sache leid genug gethan! Ich habe die ganze Nacht kein Auge geschlossen, und so bin ich jetzt gleich selbst in die Stadt gefahren und will sehen, ob ich mein Unrecht wieder gut machen kann. Zum Glück habe ich Ihr Hôtel bald aufgefunden.“

„Wie gut Sie sind, Herr Präsident!“ sprach der Oberst in tiefer Bewegung.

„Nein, ich bin’s nicht; ich war vielmehr gestern Abend sehr schlecht. Und nie im Leben hätte ich’s mir selbst verzeihen können, wenn ich Ihnen das nicht gesagt. Ach, es war edel von Ihrer Frau, Oberst, daß sie hinabgekommen ist und Sie gepflegt hat! und Sie müssen ein guter Mann sein, daß ein solches Weib so viel für Sie riskiren konnte! Die Weiber sind die wahren Schutzengel der Nation – ’s ist wahrhaft heroisch, was sie in diesem Kriege vollbracht haben! Aber jetzt kommen Sie. Mein Wagen wartet unten; wir wollen nach dem Kriegsministerium fahren und mit Stanton sprechen.“

Mit den wärmsten Worten machte der Präsident den Anwalt für den Obersten und erwirkte nicht blos dessen Urlaub, sondern erlangte, daß ein expresses Dampfschiff den Potomac hinabgesandt wurde, um die Leiche des treuen Weibes in Empfang zu nehmen und feierlich nach Washington zu führen.

„Die Menschlichkeit,“ sagte Lincoln, während sein Gesicht von herzliche, Mitgefühl strahlte, „die Menschlichkeit muß höher stehen, als die Rücksichten der Politik und selbst als das Kriegsgesetz – wenn es sich um Fälle handelt, wie dieser da.“

Und Zum Erstaunen des Obersten ließ er es damit noch nicht bewenden; er bestand vielmehr darauf, selbst mit nach den Docks Zu fahren, um zu sehen, ob seine Befehle auch pünktlich vollzogen würden. Eine nervöse Angst schien ihn zu erfüllen, man könne dem Werke der Pietät vielleicht doch noch Hindernisse in den Weg stellen. Und nicht eher ging er von dannen, als bis das Schiff zum Auslaufen bereit war und bis er sich mit eigenen Augen überzeugt hatte, daß dessen Officiere seinem „Freunde, dem Obersten Scott“ alle Aufmerksamkeit und Rücksicht angedeihen ließen. Dann schüttelte er dem Abreisenden herzlich die Hand.

„Gott sei mit Ihnen, mein lieber junger Mann,“ sprach er abschiednehmend, – „ich hoffe, Sie werden nun weiter keine Schwierigkeit haben in dieser traurigen Angelegenheit … und, Oberst, vergessen Sie den gestrigen Abend nicht!“ –

Weit fern von Washington auf einem stillen Dorfkirchhofe in New-Hampshire wird ein gewisses Grab sorgfältig gehütet und gepflegt von treuer Liebe. In jedem April aber erzählen die Veilchen, welche den grünen Hügel umduften, nicht allein von den Tugenden der Schläferin, die unter dem Rasen ruht – sondern mahnen auch an den großen, unvergeßlichen Präsidenten, dessen edlem Leben die Kugel eines Meuchelmörders ein so jähes Ende bereiten sollte.




Der Doppelgänger. Vom Aberglauben wähnen wir uns Alle frei. Geisterbeschwörer und Wunderdoctoren sind uns widerwärtig, ihr Hokuspokus lächerlich. Keiner von uns riskirt es in einer „gebildeten“ Gesellschaft unserer Tage, den Ahnungen, Vorbedeutungen, Geistererscheinungen etc. das Wort zu reden, es müßte denn aus Lust am Widerspruch geschehen, oder aus Neigung, durch Vertheidigung paradoxer Ansichten die Gewandtheit seiner Zunge zu zeigen, oder auch in der Absicht, die Gesellschaft zu foppen und ihre Tactfestigkeit auf die Probe zu stellen. Von Allem also, was nach Aber- und Wunderglauben schmeckt, wollen wir absolut Nichts mehr wissen. Darüber vergessen wir freilich nicht selten, daß den meisten Spuk- und Wundergeschichten irgend eine wirkliche Thatsache zu Grunde liegt, die allerdings ungenau beobachtet und durch eine zuchtlose Phantasie in’s Ungeheuerliche verzerrt und vergrößert worden ist.

Ich erlaube mir, einen an sich zwar unbedeutenden, weil in den Zeitraum weniger Secunden zusammengedrängten, aber wohl verbürgten und durch die Auffindung seiner Ursache belehrenden Vorgang dieser Art mitzutheilen. – Es handelt sich um das weltberühmte „zweite Gesicht“ oder das „Doppeltsehen“, auch wohl „Doppelgängerei“ genannt.

Als Einsender dieser Zeilen im Winter des Jahres 1857 in Jena studirte, lernte er einen fleißigen jungen Theologen C. H. aus A. in Thüringen kennen, der, mit bedeutendem Sprachtalent begabt, unter der Leitung der berühmten Forscher Baum und Schleicher mit seltener Ausdauer und großem Erfolge linguistischen Studien oblag.[2] – An einem kalten und sehr nebligen Decemberabend von einem Besuch bei guten Freunden zurückgekehrt, trat H. um acht Uhr in sein angenehm durchwärmtes [576] Zimmer, zündete die Lampe an, machte sich’s im Hauskleide bequem und rückte, nachdem er die Pfeife in Brand gesetzt, in der Absicht, in die Winternacht hinein zu studiren, seinen bücherbeladenen Arbeitstisch an den warmen Ofen.

Einige Male hatte er rauchend und von der Zerstreuung der Abendstunden sich sammelnd das Zimmer durchmessen; schon war der abgerissene Faden des Studiums wieder angeknüpft, und, in eine Makame des Hariri vertieft, zogen die Gedanken des Nordländers aus dem heimischen Winternebel über Land und Meer hinaus nach dem sonnigen Arabien, da unterbrach sein Sinnen ein äußerst trivialer Gedanke: der Gedanke an das während der Tageszeit offen stehende und auch jetzt noch nicht geschlossene Schlafkammerfenster.

H. trat in die Kammer, schloß das Fenster und kehrte schleunigst in die warme Stube zurück. Da blieb er, den Griff der Kammerthür noch in der Hand, wie angewurzelt stehen. Er sah sich selbst, – sein leibhaftiges zweites Ich sich gegenüber stehen. Da war sein rothcarrirter Schlafrock, da die in der linken Hand gehaltene Pfeife, die offene Weste, der selbst im Winter entblößt getragene schlanke Hals, das hervortretende Kinn mit dem noch dünnen Bärtchen, die schmalen Wangen, doch, wie es ihm scheinen wollte, bleicher als die seinigen. Augen und Stirn seines unheimlichen Gegenübers wurden von ihm nicht gesehen, da er, im Augenblicke des Eintretens in seinen Stoff auf’s Neue vertieft, den Blick etwas gesenkt gehalten hatte.

Drei, vier Secunden stand der Spuk, dann zerrann er in Luft, aus der er entstanden zu sein schien. Mechanisch schloß H. die Kammerthür. Dem sonst außerordentlich jugendkräftigen und durchaus nicht zu nervösen Zuständen hinneigenden jungen Manne bebten die Kniee. Still setzte er sich auf dem Sopha nieder, und wenn er auch nicht, wie weiland Chamisso, der Dichter, dem Gespenste Platz machte und „zu weinen in die Nacht hinausschlich“, so war’s doch für dieses Mal mit dem Arbeiten vorbei. Die ausgegangene Pfeife in der Hand, saß er, wie er mir am andern Morgen gestand, anfänglich in einem Zustande dumpfen Hinbrütens, dann aber grübelnd bis tief in die Nacht hinein in seiner Sophaecke. Ein noch nie gekanntes Gefühl der Furcht war über ihn gekommen. Er fürchtete sich, sein nächtliches Lager aufzusuchen, er fürchtete sich aber auch, das Zimmer zu verlassen, um etwa unter fröhlichen Commilitonen Vergessenheit im edlen Gerstensaft zu suchen. Konnte das Spukgebilde nicht wiederum dastehen, wenn er um Mitternacht heimkehrte?

Selbstverständlich suchte der erschütterte Geist meines Freundes seine Sammlung in dem beharrlichsten Nachspüren nach irgend einer Erklärung der Erscheinung, die er nicht wegleugnen, nicht zur optischen Täuschung stempeln konnte. Nach stundenlangem Grübeln glaubte er endlich die Ursache des sonderbaren Phänomens gefunden zu haben. Er theilte sie mir am folgenden Tage mit und ich erlaube mir, den Erklärungsversuch meines Freundes H., dem ich meinen Beifall nicht versagen kann, den Lesern der Gartenlaube zur freundlichen Beurtheilung vorzulegen.

Als H. in das Zimmer zurückkehrte, drang aus der von außen mit Nebelluft gefüllten Kammer ein durch den Rand der geöffneten Thür scharf begrenzter feuchtkalter Luftstrom in senkrechter Lage in die warme und trockene Stubenatmosphäre. Auf diese von Wassertheilchen erfüllte Luftschicht fielen die Strahlen der am Ofen stehenden Lampe. Zwischen beiden – nämlich der Lampe und der feuchtkalten Luftschicht – stand einige Secunden lang, während er die Kammerthür schloß, Freund H., den Rücken der Lampe, das Gesicht dem eindringenden Nebel zugewendet. Die Erscheinung, die ihn schreckte, scheint nun nichts Anderes als sein eigenes Spiegelbild auf der senkrechten, durch das etwas schräg von hinten einfallende Lampenlicht erhellten Nebelwand gewesen zu sein.

Sollte wohl nicht manche „wirklich passirte“ Schauergeschichte vom „zweiten Gesicht“ ähnlichen, sehr natürlichen Vorkommnissen ihren Ursprung verdanken?

Zusatz der Redaction. Ob sich durch die Eigenschaft der Netzhaut unseres Auges, daß das Bild eines wenigstens eine bestimmte Zeit lang betrachteten Gegenstandes sich ihr einprägt und daß sie den Eindruck desselben lange genug festhält, um ihn, namentlich wenn der Blick rasch von dem hell beleuchteten Gegenstande auf eine im Dunkel stehende Wand fällt, dort auf Secundenlänge wieder erscheinen zu lassen, – nicht auch bisweilen dieses sogenannte „zweite Gesicht“ erzeugen könne, darüber würde von einem Fachmann eine Auskunft willkommen sein. Erinnert wurden wir an diese „Trugbilder“ durch ein gleichbetiteltes Werkchen von Dr. A. Besell (Stuttgart, bei Rieger), welches eine Anleitung, Erscheinungen, auf optischer Täuschung beruhend, nach Belieben hervorzurufen und eine wissenschaftliche Erklärung derselben giebt.




Rollwenzelei. Jeder Reisende, der Baireuth und seine Umgebung, insbesondere die Eremitage zu besuchen Gelegenheit hatte, wird nicht unterlassen haben, auf dem Wege zur letzteren auch das als Jean Paul’s in Nr. 1 der Gartenlaube von 1863 in Bild und Wort verherrlichter Lieblingsaufenthalt weltbekannt gewordene Rollwenzelhaus, namentlich aber das Arbeitszimmer desselben, welches in seinem ursprünglichen Zustande erhalten ist, sowie seinen Arbeitstisch, etliche Sessel, ein Sopha, einen Spiegel, ein eigenhändiges Manuscript des Dichters, seine Büste, sein Original-Bildniß und ein werthvolles, vom historischen Verein gestiftetes Album in Augenschein zu nehmen.

Dieses Zimmer soll nun, da es Privateigenthum ist und dem derzeitigen Besitzer weder für dessen Instandhaltung noch für das zeitraubende Vorzeigen irgend welche Entschädigung geleistet wird, seinem Zwecke entfremdet und zu anderweitigem Gebrauche eingerichtet werden. Sollte sich in dem so hochgebildeten Baireuth – ähnlich wie in Leipzig ein Schillerverein zusammengetreten ist, welcher nicht nur [[Friedrich Schiller|Schiller]’s Geburtstag jährlich als öffentliches Fest begeht, sondern vor Allem das Wohnhäuschen Schiller’s in Gohlis käuflich erwarb, baulich erhält und als ein kleines Museum von Schillerandenken sehenswerth gemacht hat – nicht ein Jean-Paul-Verein aufthun können, um seine Sorge den Jean-Paul-Erinnerungen in und um Baireuth zu widmen? Ihm würden dann sicherlich Verehrer des Dichters allerwärts gern sich anschließen, um durch Beiträge die Zwecke desselben zu unterstützen, und die Stadt, deren Eigenthum und Obhut einst König Ludwig die Erzbildsäule dieser größten Berühmtheit derselben übergab, würde schwerlich einem solchen Verein mit ihrer Theilnahme und Unterstützung fern bleiben.

Die Redaction der Gartenlaube glaubt im Sinne Vieler zu reden, wenn sie dies als eine Bitte an die dazu berufenen und durch ihre Bildung verpflichteten Kreise Baireuths ausspricht.




Protest gegen literarischen Diebstahl. Es ist ein Vorrecht der Diebe, daß sie sich nicht zu schämen brauchen, und wer einzig auf den Baarabwurf der Neugierde speculirt, läßt sich darin nicht durch Gebote des Rechts und der Ehre stören. – Trotz der ausdrücklichen Erklärung der Dichterin der „Reichsgräfin Gisela“, veröffentlicht in Nr. 7 der Gartenlaube mit den deutlichen Worten:

„Nach den traurigen Erfahrungen, welche die Verfasserin mit den Dramatisirungen ihrer früheren Erzählungen gemacht hat, müssen wir im Auftrage derselben von vornherein gegen jede Dramatisirung der gegenwärtigen Novelle ‚Reichsgräfin Gisela‘ Protest einlegen.
Die Redaction.“     

hat die Dramatisirungsspeculation dieses Mal in Berlin sogar noch ein Uebriges geleistet: schon vierzehn Tage vor Ausgabe der beiden letzten Schlußnummern der Erzählung war die dramatisirte Gisela einstudirt und das Theaterstück fix und fertig in den Händen der Darsteller, ja man hatte sogar die Stirn, das neue Stück folgendermaßen anzuzeigen:

„Sonntag.0 Zum ersten Male: Reichsgräfin Gisela. Schauspiel in 4 Acten, nach dem gleichnamigen Roman bearbeitet von E. Marlitt“ –

stellte somit die Dichterin selbst als die Bearbeiterin des dramatisirten Werkes hin!

Was soll man zu diesem Treiben sagen, das in seiner wahrhaft verhöhnenden Ungenirtheit so weit geht, eine völlig unberufene und unberechtigte Arbeit auf die Bühne zu bringen, während die Dichterin den Ausgang der künstlerisch so vollendet abgeschlossenen Schöpfung noch nicht einmal niedergeschrieben hatte? Ist das nicht der höchste Grad von Rücksichtslosigkeit, die niedrigste Nichtachtung gegen ein Kunstwerk, das man des Bestehlens doch so werth hält?

Was aber gegen solches literarisches Diebsgelichter thun! Verklagen? In Deutschland schützt den Autor gegen solche Brandschatzung seines geistigen Eigenthums kein Gesetz! Das Stück hat bereits ein Dutzend volle Häuser gemacht, der Plagiarius hat den klingenden Erfolg im Beutel, die Dichterin das Nachsehen für eine etwaige eigene Dramatisirung ihres Werkes! Aus der öffentlichen Brandmarkung seines verbrecherischen Treibens macht sich derartiges Raubgeschlecht sehr wenig, wenn nur der Fang ein lohnender und erfolgreicher war. Es trägt’s kaum noch aus, es öffentlich zu beklagen, daß Rechts- und Ehrgefühl in solchen Kreisen so tief darniederliegen.


Kleiner Briefkasten.

Frau E. T. in P-g. Das bereits früher empfohlene Pensionat für junge Damen der Frau Dr. Beta in Berlin, deren Adresse Sie verloren haben, ist noch Königgrätzerstraße 48. Auf Meldung erhalten Sie genaue Auskunft.

A. H. in Saarbrücken. Ihren Wünschen wird am besten entsprochen sein durch Becker’s Weltgeschichte, 8., bis auf die Gegenwart fortgeführte Ausgabe. Herausgegeben von Adolf Schmidt. 18 Bde. Leipzig, Duncker und Humblot.

A. H. in Cbg. Schreiben Sie uns sofort das Nähere, wir glauben Ihnen den Verkauf verbürgen zu können.


Für die Hinterbliebenen der verunglückten Bergleute des Plauenschen Grundes

gingen ferner ein: Collecte unter den Arbeitern der Seidenzwirnerei J. Dürsteler in Wezikon (Schweiz) 3 Thlr.; A. Cramer in Jeßnitz 1 Thlr.; L. G. in Couvet (Schweiz) 3 Thlr.; Sammlung beim 9. Stiftungsfest des Turnvereins in Lich (Oberhessen) 6 Thlr. 8 Ngr. 5 Pf. (11 Fl. rhein.); L. G. in Leipzig 5 Thlr.; Albert A. in Brooklyn 10 Thlr.; W. in Wittenberg 3 Thlr.; M. R. in Leipzig 5 Thlr.; Mtn. in Torgau 2 Thlr.; Fr. Sch. in Bamberg 5 Thlr.; Geschäftspersonal der A. Wiede'schen Buchdruckerei 7 Thlr. 26 Ngr. 5 Pf.; G. in Mutterstadt (Rheinpfalz) 2 Thlr.; aus Neu-Sanitz 3 Thlr.; H. B. in Grabow 1 Thlr.; Hochzeits-Sammlung am 15. August in Markneukirchen 4 Thlr. 15 Ngr.; von den Knaben der Selecta in Weißensee 3 Thlr.; aus Burgau (Baiern) 1 Thlr.; N. N. in Oldenburg 1 Thlr.; Eduard K. 1 Thlr.; E. Grauert in Neu-Ruppin 2 Thlr.; aus Schildberg 15 Ngr.; Pueschel in Olberndorf 1 Thlr. 15 Ngr.; W. S. in Marburg 2 Thlr.; Sammlung von der Expedition der Gubener Zeitung 40 Thlr. (Summa sämmtlicher Eingänge: 627 Thlr. 16 Ngr. 5 Pf.) Die Redaction. 


Inhalt: Verlassen und Verloren. Historische Erzählung aus dem Spessart. Von Levin Schücking. (Fortsetzung.) – Ein Dilettanten-Verein und sein Dirigent. Von Prof. J. C. Lobe. Mit Portrait. – Zwei Mönche einer protestantischen Hochschule. 2. Ein Jesuitenzögling und Jünger vom heiligen Barnabas. Von Friedrich Hofmann. – Die schlagenden Wetter von Burgk. Zweiter Bericht von der Unglücksstätte. Mit Abbildung. – Blätter und Blüthen: Aus Abraham Lincoln’s Leben. – Der Doppelgänger. – Rollwenzelei. – Protest gegen literarischen Diebstahl. - Kleiner Briefkasten. - Quittung über neue Eingänge für die Hinterbliebenen der verunglückten Bergleute des Plauenschen Grundes.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. - Verlag von Ernst Keil in Leipzig. - Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Zu unserer Illustration von der Grabstätte hinter dem Segengottesschacht und zu dem im vorigen Artikel hierüber Mitgetheilten müssen wir hier noch die Erklärung fügen, daß die große Gruft wohl gegen fünfzehn Fuß tief aus steinigem Boden ausgehauen werden mußte und daß am Rande derselben sich nach beseitigtem Steingerölle Vertiefungen bildeten, welche man däzu benutzte, um die ersten (etwa sechzehn) Särge zur Hälfte da hinein zu schieben, während man die andere Hälfte später mit Stein- und Sandgeröll überdeckte. Unser Bild zeigt mehrere solcher halbvergrabener Särge.
  2. Der Redaction habe ich Namen und Geburtsort desselben zu beliebigem Gebrauche mitgetheilt. Wenn C. H.. wie ich hoffe, noch lebt und nicht Dolmetscher einer europäischen Gesandtschaft im Orient geworden ist, so wird er wohl als würdiger Pfarrer in irgend einem thüringischen Dorfe hausen. Ich grüße ihn freundlich!

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: verändliche