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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[529]

No. 34.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Verlassen und Verloren.

Historische Erzählung aus dem Spessart.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)

„Und nun Du, Krippauer, und Deine Knechte und der mit dem Aermel da, Ihr seid die Proviantmeister,“ sagte Wilderich. „Geht und holt einen der Proviantwagen, welche die Franzosen haben stehen lassen müssen, weil wir ihnen die Pferde todtgeschossen haben; es stehen ihrer genug die Heerstraße entlang.“

„Es stehen ihrer genug da, das weiß ich,“ entgegnete der Krippauer, „aber wie bring’ ich einen herauf?“

„Hilf Dir selbst! Sieh, daß Du ein Paar herrenlose Pferde auffängst; oder nimm Dir Leute genug mit, daß Ihr den Wagen selber heraufziehen könnt –“

„Gut, ich geh’ ja schon!“ antwortete der Krippauer, „aber ich muß mehr Hülfe haben als den zerrissenen Schulmeister hier und meine zwei Knechte –“

„Freiwillige vor!“ rief es.

Ein Dutzend waren bereit, dem Krippauer zu helfen, und der Haufen eilte davon, weiter die Schlucht hinab.

Als sie abzogen, ließ sich unten, von der Heerstraße her ein plötzliches lebhaftes Kleingewehrfeuer hören – die Spitze der österreichischen Colonne mußte eben unten eingetroffen sein und in den marschirenden Haufen der Feinde ihre Salven schleudern.

„Jetzt wird’s da unten ein gutes Durcheinander geben!“ rief der Forstläufer Sepp, „wenn der Krippauer sich nur aus dem Gemeng herausholt, was wir brauchen! – wär’ schlimm, wenn bei der Affaire nicht so viel Arbeitslohn herauskäm’.“

Unter diesen Ausrufungen hatte die Schaar – es mochten etwa noch hundertundfünfzig Köpfe sein – sich in die Mühle gedrängt und in alle Räume des kleinen Gebäudes ergossen … das heißt, so viel von ihnen hineingingen, denn ein großer Theil mußte draußen bleiben, weil der Platz drinnen nicht reichte. Gevatter Wölfle schleppte eilig mit den Seinen Stroh und Heubündel auf den freien Raum vor seiner Mühle, damit die Männer sich drauf lagern konnten; diese waren thätig, seinen Holzschuppen zu plündern und Reisig und Scheitholz herbeizuschleppen, um vor der Mühle ein großes Wachtfeuer anzuzünden; nach kurzer Zeit flammte es in heller Gluth in die Höhe und die Bauern lagerten sich in malerischen Gruppen umher.

In malerischen Gruppen – es konnte nichts in der That frappantere Bilder bieten, als dies kleine Bivouac bewaffneter Bauern, die von einer heißen und blutigen Tagesarbeit ausruhten, in wunderlich bunten Kleidungsstücken, mit staub- und rauchgeschwärzten Gesichtern, mit den verschiedensten und seltsamsten Waffen neben sich, müde, hungrig, durstig und doch in der tollsten Laune, in der ganzen Erregung eines triumphreichen Tages, wie sie einen ähnlichen in ihrem Leben nicht gesehen, inmitten eines großen geschichtlichen Ereignisses, wie sie nie inmitten eines ähnlichen selbsttheilnehmend und werkthätig helfend gestanden.

Es war nach und nach dunkel geworden. Die Flammen fingen an greller und glühender die altergeschwärzte Mühle, die Bergwände und die Gruppen der Männer umher zu beleuchten und jenes eigenthümlich intensive Grün der Baumwipfel hervortreten zu lassen, das der Baum an den Stellen, wo er hell beleuchtet ist, dem rothgoldenen Glanz nächtlichen Lichtscheins entgegenhält.

Von drunten her tönten noch immer Flintenschüsse, aber sie wurden seltener und seltener, die Nacht schien auch dort unten Ruhe zu gebieten; die Oesterreicher sandten einen Haufen Fouragiere herauf, von denen die Bauern erfuhren, daß sie weiter unten in der Schlucht bivouakiren wollten … die Fouragiere sollten Heu und Stroh zum Lager herbeischaffen einige von ihnen nach den ihnen nachkommenden Proviant- und Gepäckwagen ausschauen – sie mußten weiter ziehen, die Mühle und das Forsthaus hatten keine Hülfe für sie; nur Gevatter Wölfle’s Holzschuppen spendete ihnen eine Beisteuer an getrocknetem Holz für ihre Beiwachtfeuer.

„Wo der Krippauer bleibt?“ rief der mit dem umgewendeten Rock, nachdem ein Theil der Oesterreicher aufwärts weiter und ein anderer mit Scheiten und Reisigbündeln beladen abwärts gezogen war; „ich fürchte, geräth der mit seinem erbeuteten Proviantwagen unter diese Cameraden drunten, so werden sie uns nicht viel drin lassen!“

„Weshalb nicht gar,“ antwortete der Krepsacher, „’s sind ehrliche Ober-Oesterreicher, gute Bursche, deutsches Blut, keine Welsche und Kroaten – solche, weißt Du, von denen dem Sepp seine Geschichte geht …“

„Dem Sepp seine Geschichte? Und wie lautet Deine Geschichte, Sepp? Her damit!“ sagte der Umgewendete.

„Kannst sie haben, Jochem, sie ist kurz genug,“ versetzte Sepp. „Es waren ihrer drei von diesen Völkern im Quartier bei einem Bauer; der hat ein silbernes Crucifixbild über dem Bett hangen. Sagt am anderen Morgen der Eine heimlich zum Andern: ‚Host Du g’sehen – Herrgott, silbernes, in der Kammer?‘

[530] – Sagt der Andere: ‚Hob i schon!‘ – Sagt der Dritte ‚Host Du g’hobt!‘“

Ein lautes Gelächter folgte, das in einen allgemeinen Hurrahruf überging, als jetzt der Krippauer mit seinen Leuten, die sich mit Stricken vor einen französischen Fourgonwagen gespannt hatten, auftauchte. Alle eilten ihm entgegen, um Hand anzulegen und den Wagen bis zu dem Wachtfeuer vor der Mühle heraufzubefördern.

„Teufel, der ist gut beladen,“ rief der Krepsacher.

„Ich mein’s,“ sagte der Krippauer, der jetzt mit den Seinen verschnaufend nebenher ging und sich die Stirn wischte, „ob er schwer ist! … Wir haben auch einen guten ausgesucht – könnt’s uns danken!“

„Ist Gepäck drin?“ fragte der Umgewendete.

„Es ist Alles drin,“ versetzte der Krippauer; „es muß solch ein Generalsküchenwagen sein, und es schaut aus drin wie in der Vorrathskammer des Abts von Neustadt; das Herz soll Euch aufgehen, Ihr Männer, wenn Ihr dreinschaut … hat dies Franzosenpack was Ehrliches zusammengeraubt!“

Und das Herz ging den Männern auf, als sie den Fourgon öffneten und seinen Inhalt plünderten. Brod und Würste, Gebackenes, kaltes Geflügel, Pasteten, Kuchen, Flaschenkörbe mit Bocksbeuteln, genug wurde aus dem Innern herausgelangt, um die ganze Mannschaft satt und – trunken zu machen. Dazu silbernes Geräth und Teller und Trinkgeschirr – das letztere diente zuerst, überströmt von dem Inhalt des goldenen Main- und Steinweins, der aus den Bocksbeuteln floß.

„Hurrah, es lebe das heilige römische Reich!“ rief der Knirps, der Krepsacher, aus, nachdem er ein Krystallglas halb geleert, „das ist Gewächs von der Harfe, denk’ ich, hab’s nie besser bekommen – so laß ich mir die Franzosenjagd gefallen!“

„Klagst jetzt nicht mehr, daß man den Kerlen nicht die Haut abziehen und sie nicht als Hasen schmoren kann?“ lachte der mit dem zerrissenen Aermel, der Schulmeister.

„Nein – so kann’s fortgehen – morgen und alle Tage,“ versetzte der Knirps, den Rest hinunterschluckend. „Ich denk’, wir machen so weiter! Was haben wir auch die Soldaten, die Oesterreicher, nöthig? Wenn Jedermann von uns Bauern wäre wie ich, und drei Gulden sich’s kosten ließe für Schießpulver – Jedermann von den Förstern und Bauern im ganzen römischen Reich, wir schlügen die Franzosen allein zum Land hinaus und nachher, dann gingen wir über den Rhein und in ihr Land hinein und machten’s dort, wie sie bei uns. Steinwein wie diesen da haben sie freilich nicht – aber was sie haben, wird auch nicht schlecht sein, und es ließ sich probiren!“

„Armer Tropf!“ sagte der Schulmeister, „meinst Du, die großen Herren ließen Dich ruhig Dein Pulver verknallen und auf Deine Faust nach Frankreich marschiren, damit, wenn Du heimkämst, Du nachher das große Maul führtest? Jetzt, weißt, haben sie uns losgelassen, weil sie uns brauchen können, wie die Hunde, wenn die Räuber auf den Hof kommen. Später werden sie Dich schon wieder an die Kette legen!“

„Ah bah, wenn wir Alle zusammen hielten – könnten wir nicht damit anfangen, daß wir die großen Herren erst einmal an die Kette legten?“

„Weshalb nicht gar,“ fuhr der Krippauer dazwischen, „wer sollt’ sie dann füttern? Die Sorte frißt zu viel!“

„Nun, so sähen wir’s den Franzosen ab, wie sie sich drüben ihre großen Herren vom Halse schaffen; die haben’s doch gekonnt!“ antwortete der Krepsacher, sich das Maul mit einem Biß in ein kaltes Feldhuhn stopfend.

Wilderich trat in diesem Augenblick in den Kreis und unterbrach diese Reden, die bewiesen, daß der gestrenge Schösser nicht so ganz Unrecht hatte, wenn er behauptete, das Volk im Lande sei von den Republikanern mit Gedanken angesteckt, die in den Zeiten seiner siegreichen Ausmärsche wider den Reichsfeind noch nicht erfunden waren.

Wilderich war in seiner Wohnung drüben gewesen, für die Unterkunft der Verwundeten zu sorgen, nach Margarethe und dem Kinde zu sehen, die gegen Abend aus einem Fluchtversteck im Walde zurückgekommen waren, und seine Vorbereitungen für seine Reise zu treffen.

„Wo bleibt Ihr, Commandant?“ riefen ihm die Bauern entgegen, „eßt und trinkt!“

„Ich habe in meinem Hause gegessen und getrunken,“ versetzte er und zog den Krippauer am Wamms zur Seite.

„Krippauer,“ sagte er dabei, „hört, ich muß Euch verlassen.“

„Verlassen – Ihr – uns – jetzt? Zum Teufel, das wäre nicht recht, Commandant!“

„Und doch muß ich. Ich muß nach Frankfurt. Fragt mich nicht weshalb!“

„Das möcht’ ich doch wissen …“

„Wohl denn, weil der Erzherzog mir einen Brief dahin gegeben.“

„Der Erzherzog? Nun, wenn das ist – aber wie wollt Ihr nach Frankfurt kommen – durch das Franzosengewühl auf allen Straßen, die dahin führen?“

„Ich denk’, ich werd’s möglich machen – ich muß eben! Unterdeß führt Ihr die Leute, wollt Ihr, Krippauer?“

„Ob ich will … fragt lieber, ob ich kann? Sie werden nicht auf mich hören!“

„Sie sollen auf Euch hören, ich werd’s schon machen.“

„Da bin ich begierig, wie Ihr’s machen wollt, daß die Respect vor dem Krippauer bekommen!“

„Hört nur – tretet neben mich an’s Feuer.“

Wilderich trat mit dem Krippauer in die Runde der Gelagerten und rief: „Ihr, Ihr Leute hier, seid ruhig … hört mich an!“

„Still, der Commandant will reden, er wird uns sagen, ob wir sie an die Kette legen oder abthun sollen, wie die Franzosen,“ schrie der Krepsacher.

„Ich muß,“ hob Wilderich an, „ich muß Euch verlassen, brave Freunde! Ihr seid mir gefolgt, habt mir gehorcht und gute Manneszucht gehalten. Dafür dank’ ich Euch. Jetzt muß ich Euch verlassen, weil ich von dem Erzherzog und Reichsfeldmarschall einen Brief bekommen habe, den ich nach Frankfurt bringen muß!“

„Ach, redet nicht so,“ fiel der Schulmeister ein. „Ihr dürft von der Compagnie nicht desertiren, Hauptmann!“

„Ich desertire auch nicht, ich nehme nur Urlaub; und unterdeß laß ich Euch einen Lieutenant, dazu hab’ ich den Krippauer erwählt, denn der ist ein wackrer Mann, stark wie Zehn und ist in seiner Jugend auch eine Weile Soldat gewesen bei den Hohelohe’schen! Wollt Ihr ihm folgen wie mir?“

Die Bauern schwiegen theils verdutzt, theils mißvergnügt, bis Wilderich fortfuhr. „Na, meint Einer, er ist nicht der Stärkste, so komm’ er vor und schlage sich mit dem Krippauer … wenn ihn Einer niederringt, so soll der mein Lieutenant werden! Hat aber Keiner jetzt den Muth dazu, so gehorcht ihm nachher auch! – Nun, hat Keiner Lust? Wie ist’s mit dem Krepsacher? Schaust ja so tückisch drein! Kremp’ doch Deine Hemdärmel auf!“

Die Anderen lachten und: „Es lebe der neue Obercommandant, es lebe der Krieg, es leben die Franzosen und ihre Küchenwagen!“ schrie es bald durcheinander.

„Siehst’s nun, Du Knirps von Krepsacher,“ raunte der Schulmeister diesem zu, „daß es gute Wege hat mit dem an die Kette legen? Eben wollten sie noch alle großen Herren köpfen und jetzt lassen sie sich einen auf die Nase setzen, um den sie sich nicht den Teufel zu scheeren brauchten, und sie kuschen Alle zusammen und schreien gehorsam: Es lebe der Krippauer! Weshalb nicht: Es leben alle Esel?“

„Na, laß sie doch – wenn sie das schrieen, müßt’st Du ja eine Dankrede halten, Schulmeisterlein, krummbeiniges,“ sagte der Krepsacher verdrießlich.

Wilderich hatte sich unterdeß entfernen wollen, aber der Krippauer hielt ihn.

„Wär’ besser,“ sagte er, „Ihr würft erst einen Blick in den Fourgon da und sähet, was Alles noch d’rin ist … es sind Koffer, Papiere, kleine Kisten d’rin – muß ein vornehmer Officier gewesen sein, dem der Wagen gehört hat, und Ihr thätet gut, zu sehen, ob darunter nichts ist, was von Wichtigkeit und was an’s Hauptquartier abgeliefert werden muß.“

„Könnt Ihr nicht selber nachsehen – ich habe Eile, fortzukommen!“

Der Krippauer schüttelte den Kopf. „Es wird’s halt nicht thun, Revierförster; was mich angeht, so ist der Teufel sicher, daß ich ihm meine Seele nicht verschreib’ … oder er müßt’ mit drei Kreuzen vorlieb nehmen.“

[531] Wilderich ging zum Wagen, stieg behende hinein und ließ sich aus der Mühle, da es zu dunkel geworden, um noch genau sehen und lesen zu können, eine Laterne bringen, die er im Innern des Wagens auf den Boden desselben stellte.

„Schulmeister,“ rief er dann von seiner Höhe herunter, „ich nehme an, Ihr könnt lesen …“

„Nicht allzu gut!“ antwortete lachend der Krepsacher statt des Schulmeisters, „mit dem Lesen stockt’s ein wenig bei ihm und mit dem Schreiben hapert’s, nur das Kopfrechnen, wie viel Würst’ es ausmacht, wenn zu Martini von fünfzig Kindern jed’s zwei bringt, das versteht er, gelt, Schulmeister?“

„Du hast ein Schandmaul, Krepsacher,“ fiel der Schulmeister ein, „ich lese gedruckte Bücher so gut wie der Herr Cooperator und auch Geschriebenes, zeigt nur her, Revierförster.“

Der Schulmeister schwang sich in den Fourgon und begann in den Schriftbündeln und Mappen zu stöbern, die neben Koffern und anderen Effecten eines Officiers in dem Wagen lagen.

„Das ist ja Alles französisch!“ sagte er nach einer Weile. „Hol’s der Henker – für das Häuflein Würst und alle zwei Jahr zu Sanct-Michelstag einen neuen Rock von der Gemeinde, werd’ ich am End’ auch noch Spanisch reden sollen, das mag die Gemeinde sich anderswo bestellen!“

Der Schulmeister warf die Papiere bei Seite und machte sich mit einer verschlossenen Schatulle zu thun.

Au citoyen Duvignot, Général de Brigade,“ las Wilderich unterdeß und fand den Namen wiederholt auf einem großen Theile der Blätter, die ihm unter die Hände kamen … der Wagen mußte der Gepäckwagen eines Brigadegenerals Duvignot sein. Wilderich rief dem Krippauer zu, er solle einem der österreichischen Officiere melden, daß man allerlei Rapporte und andere Dienstpapiere eines Generals erbeutet und es den Oesterreichern überlasse, ob sie sich darum kümmern wollten oder nicht, als ein heftiger Krach ihn sich wenden und auf den Schulmeister blicken ließ.

Dieser stand hinter ihm, die geöffnete Schatulle im Arm, er hatte mit seinem starken Taschenmesser den Deckel aufgesprengt. Obenauf in der Cassette lag ein Bündel Papiere in gelbem Umschlage und mit einem grünseidenen Bande umwunden; darunter lagen einige Geldrollen, ein Medaillon mit dem Miniaturportrait einer Frau, Ringe, ein paar goldene Taschenuhren, eine Tabatière, ein paar alte Notizbücher und einige Briefe; es schien die kleine Schatzkammer des Generals Duvignot zu sein.

„Halt, Schulmeister,“ rief Wilderich nach einer flüchtigen Durchmusterung. „Das ist etwas, was ich brauchen kann!“

„Glaub’s, daß Ihr’s brauchen könnt’, Revierförster … aber wir andern können’s auch brauchen … ich denk’, wir theilen ehrlich.“

„Wir sind keine Räuberbande, Schulmeister,“ sagte Wilderich, die Cassette unter den Arm nehmend … „ich brauch’s, um es diesem General Duvignot wieder zustellen zu können.“

„Dem General? Kennt Ihr ihn denn?“

„Nein – nicht mehr als jeden andern.“

„Nun also!“

„Hör’, ich muß in Frankfurt hinein – weiß der Himmel, wie ich’s anfange, durchzukommen. Da soll mir dies Ding da dienen – ich werde sagen, ich woll’s dem General wieder zustellen – es wird mir als Paß dienen. Darum nehm’ ich’s – behüt Dich Gott, und die Uebrigen – ich muß fort!“

Er sprang behende vom Wagen herunter, schritt mit dem Kistchen davon in die Dunkelheit hinein, und war bald den Augen des ihm betroffen nachblickenden Schulmeisters verschwunden.

So lange die Vorräthe in dem Generalfourgon vorhielten, blieb es laut und lebendig im einsamen Bauern-Bivouac. Als sie aber erschöpft waren, machte sich auch die Erschöpfung bei den Männern geltend. Sie begannen an ihre Nachtruhe zu denken; die, welche aus der Mühle gekommen, um ihr Recht auf einen Beute-Antheil wahrzunehmen, zogen sich allgemach dahin zurück, andere suchten Dach und Fach unter dem Holzschuppen und der Rest lagerte sich um’s Feuer.

„Sorgt dafür, daß das Feuer hübsch im Flackern bleibt, die Nacht ist kalt!“ sagte der Krippauer; „Du Schulmeister und der Krepsacher, Ihr sollt’s schüren!“

„Danke!“ erwiderte der Schulmeister verdrießlich … „ich hab’ Schlaf nöthig so gut wie die Andern!“

„Na, dank’ doch dem Herrn Obercommandanten, daß er uns nicht anbefiehlt, der sämmtlichen Mannschaft für morgen die Schuh’ zu putzen!“ lachte der Krepsacher, „dafür sind wir ihnen just gut; Du, der Schulmeister, und der Krepsacher, dem der Hof vergantet ist, die sind die letzten in der Gemeinde!“

„Gott weiß es,“ versetzte der Schulmeister, „das kommt dabei heraus, daß man ein Studirter und Gelehrter ist, nachher kann man der Gemeind’ die Schuhe putzen!“

Der Krepsacher stützte sein Kinn auf den Arm und blickte lange sinnend in das Feuer. Nach einer Pause und während die Andern einschliefen, sagte er:

„Du, Schulmeister!“

„Was hast?“ fragte dieser, aus dem Einnicken auffahrend.

„Was meinst, wenn wir ihnen das Fener so groß schürten, daß der Wind die Funken auf des Müllers Schindeldach jüg? Der Wind bläst grad’ aus der richtigen Ecke!“

„Bist von Sinnen?“

„Ich denk’, der Krippauer hätte dann warm genug für die Nacht,“ antwortete der Krepsacher lachend. „Es sind mehr alte Hütten abgebrannt in diesen Tagen im Spessart! Eine mehr oder weniger, was schadet’s? Geh’, hol’ Scheite und Reisig!“

„Bist ein Boshafter, Du!“ sagte der Schulmeister, einen ängstlichen Blick von der Seite auf den Krepsacher werfend. – „Aber wer kommt denn dort?“

An der andern Seite der Schlucht, jenseits des Bachs rauschte es im Gestrüpp; Gerölle kollerte nieder; es mußte Jemand da durch die Sträuche brechen.

Die beiden allein noch wachenden Männer blickten gespannt in die Dunkelheit … nach einer Weile wurde eine wie hüpfend sich bewegende Gestalt sichtbar, die zum Bache niederkam, ihn leicht übersprang und über den Wiesenstreif diesseits zum Feuer herankam.

„Das ist Einer … der hinkt; man sollt’ sagen, der mit dem Klauenfuß wär’s,“ sagte der Krepsacher.

„Mag schon sein – denn los ist er im Spessart seit gestern und heute!“

Der mit dem Klauenfuß war aber der hinkende nächtliche Waldgänger doch nicht; es war ein starker untersetzter Mann mit einem dreieckigen Hut auf dem – man sah’s, als er in den Bereich des Lichtscheins der Flammen kam – sehr vollen und pockennarbigen Gesichte, aus dem ein Paar kleine Augen verschmitzt hervorblitzten.

„Wer bist … woher kommst?“ fragte ihn der Krepsacher, als er vor ihnen stand.

„Wie heißt, wohin willst, was ist die Parole?“ antwortete der Fremde kaustisch. „Ich seh’, Ihr haltet Mannszucht und laßt Niemand durch! Mir kann’s recht sein, wenn Ihr mich anhaltet, ich will auch nicht weiter durch, und bleib’ schon bei Euch!“

Er legte sich ohne Weiteres zwischen die Beiden und warf seinen Hut neben sich auf den Boden.

„Wie das schnarcht und schläft!“ sagte er auf die umherliegenden Gruppen blickend. „Ich kann’s nicht; mich läßt’s nicht ruhn! Ich hab’s im Geblüt. Das Geblüt läßt mich nicht schlafen. Leg’ ich den Kopf auf den Arm, so saust’s, als ob mir das Mühlrad da durch die Schläf’ ginge. Ist’s Euch auch so, Euch, daß Ihr wacht?“

Der Schulmeister und der Krepsacher sahen schweigend den seltsamen Passagier an, endlich sagte der Schulmeister:

„Hast nicht mitgethan? Du bist ja ohne Gewehr?“

„Gewehr? Wozu soll ich’s schleppen? Ich denk’, Ihr Spessarter verknallt Pulver genug, meines kann ich sparen. Beim Haufen vom Weißkopf, dem Waldmeister, herwärts Bischbrunn bin ich gewesen. Da ist Pulver genug verknallt. Und nachher, weil ich nicht schlafen konnt’, bin ich weiter gangen, abseits von der Straße, an den Bergseiten her und über die Leithen. Dacht’ mir’s schon, daß ich da ihrer etzliche finden könnt’, arme verwundete Teufel, halbtodte Marodeurs, die sich da in die Sträucher verkrochen; ich wollt’ ihnen helfen …“

„Du wolltest ihnen helfen?“ rief der Krepsacher aus … „helfen, den Franzosen? Bist kein guter Deutscher?“

„Ein Oberpfälzer bin ich … was schiert mich Deutschland? Meine Ochsen haben’s verbrannt, und die Stallmagd, das Urschel, ist auch hin. Ich geh’ wegen meiner Sach’, und nicht wegen Deutschland! Mir recht, wenn’s Euch so viel’ Schüss’ Pulver werth ist!“

[532] „Was willst denn hier bei uns?“ fragte der Krepsacher.

„Was ich will? Ihre siebzig will ich … und noch einen dazu, damit ich nachher nicht denk’, ich könnt’ mich verzählt haben. Brauch’ kein Gewehr dazu … das thut’s auch!“

Der Mann hob an der Seite seinen grünen Kittel in die Höhe, und zog aus der Tasche seines ledernen Beinkleids den schwarzen Griff eines Messers hervor.

Der Krepsacher sah den neuen Cameraden verwundert an. Dem Schulmeister, schien es, war der Mann unheimlich geworden – er rückte mit scheuem Blick von dem Fremden weiter ab.




9.

Es war am folgenden Nachmittage, als ein französischer Chasseur auf einem hohen, starken, aber sehr abgetriebenen Pferde auf der von Hanau nach Frankfurt führenden Straße sich der letzteren Stadt näherte. Statt des Mantelsacks war hinter seinem Sattel mit einem Strick eine kleine Cassette von polirtem Holz festgebunden, unter der ein schaumiger Streif von Schweiß über die Flanken seines keuchenden Pferdes niederfloß. Er selbst sah bestäubt und in der von einem langen Feldzuge mitgenommenen Uniform marode genug aus, ohne dadurch in der Hast nachzulassen, womit er sich neben den die Straße bedeckenden und aufgelöst durcheinander marschirenden Truppen, Artilleriezügen, Munitions- und Proviant-Colonnen seinen Weg bahnte. Oft, wenn er die sich müde fortschleppenden Infanteristen in den Graben drängte, oder der Kopf seines Pferdes die Schulter eines Officiers streifte, oder sein Stiefel in die Seite eines alten Troupiers stieß, wurde er angefahren, wurden ihm Haltrufe zugedonnert, oder wurde eine Salve von Flüchen ihm nachgesandt. Er ließ sich dadurch nicht beirren und hastete weiter, so rasch es die steifgewordenen Knochen seines müden, gestachelten Gauls vermochten.

Und so kam er vorwärts – es war vier Uhr, als er zwischen zwei Bataillonen leichter Infanterie, welche kaum mehr die Hälfte ihrer Mannschaft hatten, mit Mühe sich durch das Allerheiligen-Thor der alten Reichsstadt durchdrängte.

Die Stadt war gefüllt von Truppentheilen der geschlagenen Sambre- und Maas-Armee; alle Häuser waren voll Einquartierung; auf den Straßen drängten sich die neu einmarschirten Heersäulen und Abtheilungen mit solchen durcheinander, die am Morgen Befehl bekommen, den Flüchtigen Raum zu machen und weiter zu marschiren und die nun fluchend und erbittert sich ihren Officieren widersetzten, schrieen und tobten; mit anderen, die sich bereiteten, auf freien Plätzen, auf der Zeil und dem Roßmarkte zu campiren, und die hier Stroh zusammenschleppten, Feuer anzündeten, requirirte Nahrungsmittel zusammenschleppten. Alle Straßen standen voll abgespannter Fuhrwerke und Geschütze – Officiere schrieen Befehle, Adjutanten sprengten mit eiligen Aufträgen daher, auf den Trottoirs lagen Reihen von Maroden, die nicht mehr die Kraft gehabt, sich aufrecht zu erhalten und sich ihr Quartier zu suchen. Dazwischen wurden Wagen mit Verwundeten in die improvisirten Spitäler gefahren, todte Pferde auf Schleifen weggeschafft – es war ein wildes und wüstes Durcheinander, dies Pandämonium, wie es nur eine geschlagene Armee darstellen kann.

Wilderich, den wir in der Chasseuruniform erkannt haben, sah betroffen und ein wenig ängstlich in dies Gewirre, vor dem der souveräne Bürger, der reichsunmittelbare Frankfurter sich scheu und angstvoll in’s Innerste seiner Häuser zurückgezogen hatte; dieser hatte noch zu gut im Gedächtniß, was der frühere Einmarsch der Franzosen auf sich gehabt hatte – im vorigen Juli, als Kleber mit drei Divisionen genaht war, seine Bomben in die Stadt geschleudert und, nachdem hundertundzweiundvierzig Häuser in Asche gelegt waren (am 16. Juli), seinen Einzug gehalten hatte – der riesige Kleber, dessen Kopf wie eine Standarte seine Bataillone überragte.

Wilderich wußte nicht wohin, wo für sich und sein Pferd ein Unterkommen finden. Endlich beschloß er, sich wenigstens des Letzteren auf jeden Fall zu entledigen – er ritt durch ein offenes Mauerthor, welches er wahrnahm, in einen Hof hinein, in dem ein paar Pulverwagen in Sicherheit gebracht waren und ein Artillerist als Schildwache auf- und abschritt.

„Habt Ihr nicht Raum für ein Pferd in dem Stall drüben?“ fragte er den Mann mit dem geläufigen Französisch, das er sich in seiner Heimath angeeignet.

„Seht zu,“ versetzte dieser, „fragt nicht erst lange!“

Wilderich sprang aus dem Sattel und führte sein Pferd in die Stallung. Alle Plätze waren besetzt – auf einer hohen Streu vor den Pferden lag ein Dutzend schnarchender Artilleristen.

„Wohin wollt Ihr?“ rief ihm eine deutsche Stimme zu – es war ein Mensch in einem Wamms und mit einer blauen Schürze, der aus der Ecke des Hofes heran kam.

„Ich will in einen Stall für mein Pferd und in irgend eine Kammer, ein Gelaß zum Verschnaufen für mich – da ist ein Kronthaler für Euch, wenn Ihr mir dazu verhelft!“

Der Mann besah das Geldstück und sagte dann im reinsten Sachsenhäuser Dialect:

„Nun, Ihr sprecht ja ein ehrliches Deutsch, von dem welschen Schweinsgesindel, den Hundsföttern, bekommt man sonst so was nicht zu besehen – wie kommt Ihr denn drunter?“

„Wie so Mancher!“ versetzte Wilderich. „Wollt Ihr mir helfen?“

„Meine eigene Kammer kann ich Euch überlassen – im Giebel dort über dem Stalle; das Pferd bindet draußen an die Mauer an – ich will hernach sehen, wo ich’s lasse!“

Wilderich folgte seinem Rath und ließ sich alsdann von ihm zurück in das Stallgebäude, über eine schmale Holztreppe auf den Boden und von da in eine durch einen Breterverschlag vom übrigen Raume abgeschiedene Kammer geleiten.

„Ihr seid der Hausknecht?“ fragte er hier.

„Hausknecht im grauen Falken.“

„Ein Wirthshaus also?“

„Fragt Ihr danach? Das Schild über der Thür ist doch groß genug! Ein gutes Wirthshaus für Mann und Gaul, wenn nicht just wie heute der Teufel los ist, und Alles drunter und drüber geht!“

„Gut denn, so darf ich hoffen, Ihr verschafft mir ein wenig zu essen und zu trinken hierher; ich verschmachte und verhungere beinahe!“

„Ihr – Einer von den Franzosen – nun freilich, unterwegs im Spessart drüben sollt Ihr wohl nicht viel Verdauliches zu schlucken bekommen haben – ich will sehen, was ich noch finde.“

Der Hausknecht ging und Wilderich streckte sich in dem alten Stuhl vor dem schmutzigen Tisch unter dem einzigen kleinen Fenster aus. Er knöpfte seine Uniform auf und legte den Kopf auf die Stuhllehne zurück, um eine Weile die Augen zu schließen und sich dem vollen Gefühl seiner Ermüdung hinzugeben. Trotz der Aufregung und Spannung, in der er sich befand, würde ihn der Schlaf befangen haben, so sehr er dagegen kämpfte, wenn nicht der Hausknecht zurückgekommen wäre mit einem kleinen Korbe, worin er Bier, Brod und ein wenig kaltes Fleisch trug.

„Das ist Alles, was die Frau Wirthin hergeben will,“ sagte er mürrisch, „es giebt schmale Bissen heut in Frankfurt – auch müßt Ihr einen Gulden zahlen für den Bettel!“

„Es ist genug für mich!“ antwortete Wilderich, indem er dem Knecht das Verlangte gab. – „Könnt Ihr mir beschreiben, wo der Schöffe Vollrath wohnt?“

„Der Schöff Vollrath – der Herr Schultheiß wollt Ihr sagen – der wohnt auf der Zeil, der Katharinenkirche gegenüber, dicht an der Eschenheimer Gasse.“

„Ich danke Euch. Und noch Eins: habt Ihr von einem General Duvignot gehört? … Ihr wißt wohl nicht, ob er unter den französischen Anführern in der Stadt ist?“

Der Mann maß ihn mit mißtrauischen Augen.

„Nun, mir kann’s Eins sein!“ sagte er dann.

„Was kann Euch Eins sein?“

„Wie Ihr in den grünen Rock da hineingekommen seid!“

„Wie ich da hineingekommen bin?“ antwortete Wilderich. „Nun, Ihr mögt’s wissen, was soll ich Euch ein Geheimniß daraus machen, daß ich das Zeug nicht alle Tage trage! Ich hatte in Frankfurt zu thun, und um nicht auf dem Wege aufgehalten zu werden, habe ich meinen Rock ausgezogen, den Rock eines Revierförsters im Spessart, und habe einem erschossenen Chasseur seine Uniform genommen und mir sein Pferd eingefangen – damit kam ich am besten weiter! Ein guter Deutscher wie Ihr wird mich nicht verrathen.“

(Fortsetzung folgt.)
[533]
Eine neue Schulbank.
Von Dr. C. H. Schildbach


Soll ich mich rechtfertigen, daß ich mit einem scheinbar so untergeordneten Gegenstand vor die Leser unseres deutschen Weltblattes trete? Daß mir als orthopädischem Arzt diese Angelegenheit von Interesse ist, wird Jeder natürlich finden; daß dieses Interesse aber kein einseitig befangenes ist, sondern von allen Culturvölkern getheilt zu werden verdient, kann nur Derjenige in vollem Maße würdigen, welcher von den Beziehungen der Schulbank zur Gestaltung und den Lebensverrichtungen des jugendlichen Körpers nähere Einsicht gewonnen hat.

Kunze's neue Schulbank.

Das große Publicum, als welches wir hier die sämmtlichen Eltern schulpflichtiger Kinder aufrufen, entbehrt ohne Zweifel bis heute jeden Einblick in die Gefahren, welche durch die falschen, den Erfordernissen des kindlichen Körpers nicht entsprechenden Einrichtungen von Tisch und Bank der Schulen dem Leib und dadurch auch dem Geiste ihrer Kinder drohen, denn hätten sie diesen Einblick, so könnten unmöglich jährlich Hunderttausende und Millionen Kinder immer wieder zu den alten Schulbänken geführt werden, ohne daß nur einmal die Besorgniß ausgesprochen würde, ob an so mancher Beeinträchtigung der Gesundheit der Kinder nicht in irgend einer Weise die Schule schuld sei, in welcher sie so viele Zeit zubringen müssen.

Dieser Aller Theilnahme und Aufmerksamkeit wünsche ich auf die eine Thatsache hinzurichten, daß ich in unserem wegen seiner Schulen so hochgepriesenen Leipzig selbst über tausend Schulkinder untersucht und sehr wenige darunter gefunden habe, die nicht irgend eine seitliche Abweichung der Wirbelsäule zeigten!

Und was ist die Ursache dieser doch wahrlich sehr beklagenswerthen Erscheinung? Hauptsächlich der unverhältnißmäßige Abstand des inneren Tafel- und vorderen Bankrandes (Distanz), zwischen welchen die Herren Pädagogen gar so gern Raum genug sehen, damit das Kind dort aufrecht stehen könne. Man beachte freundlichst die Folge dieser Einrichtung. Ich fand an Leipziger Subsellien eine Distanz von acht bis achtzehn Centimeter, das erstere, geringste Maß in einer ersten Knabenclasse, das letztere, enorm hohe in einer vierten Mädchenclasse. Das Sitzen aber auf solchen Bänken ohne Lehne wird den Kindern sehr unbequem Mehrere Stunden nach einander sich straff aufrecht erhalten können sie nicht; zunächst sinken sie ein, so weit es der Rücken hergiebt; dann fängt auch diese Stellung unangenehm zu werden an und sie suchen eine Stütze. Die einzige, die sich ihnen darbietet, ist die Tafel; um diese zu erreichen, rutschen sie auf der Bank vor bis zur äußersten Kante, – die sich an solchen Bänken ganz glatt gescheuert zeigt, während die hintere Hälfte derselben gar keine Spuren der Abnutzung an sich trägt –, und stemmen die Arme auf den Tisch, welche nun dem Oberrumpf und dem Kopf eine neue Stütze gewähren und der Wirbelsäule einen Theil ihrer Last abnehmen. Mit der Nöthigung zu dieser Stellung wird die unbequeme Bank zu einer schädlichen; der Rücken biegt sich krumm, besonders in seiner untern Hälfte, der Oberkörper sinkt zwischen den Schultern so weit als möglich herab und Brust und Leib erleiden einen bedenklichen Druck. Wird bei dieser Stützung des Körpers zugleich geschrieben, so stellen sich die Schultern ungleich und auch der Körper wird einseitig gebogen und verdreht; dann [534] bleibt es nicht bei krummem Rücken und flacher Brust, sondern der Körper wird zugleich schief, woraus sich mit der Zeit wirkliche Entstellung entwickeln kann. Das ist kein Phantasiebild, sondern Ergebniß der Beobachtung fast aller Orthopäden!

Ich brauche wohl nicht mit ausführlichem Nachweis zu schildern, welche Nachtheile daraus entstehen, wenn das Kind seine ganze Schulzeit hindurch, also mindestens sechstausend Stunden, oft das Doppelte und mehr, auf ungeeigneten Bänken sitzt; wagt es doch Niemand mehr ernstlich zu bestreiten, daß schlechte Haltung, oft bis zum Schiefwuchs sich steigernd, flache Brust, mangelhaftes Athmen und in Folge dessen ungenügende Blutbildung in der Mehrzahl der Fälle von der Schulbank herzuleiten sind, und daß Kurzsichtigkeit und Verdauungsbeschwerden ebenfalls häufig auf dieselbe Ursache zurückgeführt werden müssen.

Natürlich hat es auch an Vorschlägen zur Abhülfe nicht gefehlt, von Schriftstellern der letzten fünf Jahre sind auf’s Genaueste die gesammten Maßverhältnisse bestimmt worden, welche den Schulbänken je nach der Größe der Kinder zu geben seien, und mit seltner Einstimmigkeit wurden die Grundzüge neuer Constructionen von ärztlicher Seite gebilligt, und was hier auf die Beobachtung am Lebenden gegründet war, fand von Seiten des Anatomen H. Meyer in Zürich seine weitere wissenschaftliche Bestätigung durch das Experiment.

Wer aber etwa geglaubt hatte, daß damit diese Sache erledigt sei, erkannte bald, daß er im Irrthum gewesen; was den Aerzten gefiel, wollte darum noch lange nicht auch den Schullehrern gefallen, und nicht der Lorbeer des Sieges war es, was den Streiter für die Schul-Gesundheitspflege erwartete, des Sieges über Irrthum und Schlendrian, sondern neuer Kampf mit den nun hervortretenden Anfordernden der praktischen Pädagogik. Verlangten z. B. wir Aerzte, daß die Schultafel in ihren Verhältnissen der Größe des Schülers angepaßt werde, so hatte man dagegen das Bedenken, daß dann die Kinder nicht nach Aufführung und Leistungen umrangirt werden könnten. Die ärztliche Forderung, daß, um einen guten Sitz zu ermöglichen, die Tafel ziemlich tief stehen und geneigt sein müsse, begegnete dem Einwurf, daß dabei die Bücher leicht herunterrutschen würden und daß die Lehrer sich zu stark vorbeugen müßten, wenn sie die auf der Tafel liegende Arbeit des Schülers besichtigen wollten. Und gar auf das „pädagogisch“ und „sanitätlich“ unerläßliche Aufstehen der Kinder gedenken die Lehrer auf keinen Fall zu verzichten; es galt also auf Mittel zu sinnen, um die Forderungen der Aerzte den pädagogischen Rücksichten anzupassen.

Was ist Alles versucht worden, um diese Aufgabe zu erfüllen! Scharniere nach verschiedenen Systemen, um die untere Hälfte der Tafel hinaufzuklappen, mancherlei Verschiebungsvorrichtungen für die Tafelplatte, Verschiebbarkeit der Sitze, Klappsitze – alle diese Auskunftsmittel sind praktisch versucht und noch viele andere ersonnen worden, aber dennoch ist es nicht gelungen, beiden Theilen gerecht zu werden. Ich selbst, der ich den hiesigen Stadtrath in dieser Angelegenheit zu berathen hatte, war nach längeren Versuchen und Verhandlungen nahe daran, auf die Lösung des Problems in der gesuchten Richtung zu verzichten und eine Verschmälerung der Bank als Auskunftsmittel vorzuschlagen, wobei zwar die Schüler ein Opfer an Bequemlichkeit des Sitzens hätten bringen müssen, jedoch die von uns geforderten Maß- und Abstandsverhältnisse von Tafel, Bank und Lehne unverändert geblieben und doch einige Zoll Raum vor der Bank zum Aufstehen gewonnen worden wäre.

Da kam Hülfe von einer Seite, wo Niemand sie gesucht hätte; einem Kaufmann war gelungen, was die zunächst betheiligten Lehrer und Aerzte vergebens versucht hatten. Herr Ernst Kunze in Chemnitz hatte, als es sich um Ausstattung eines neuen Schulhauses handelte, als Mitglied des betreffenden Stadtverordneten-Ausschusses auf Anschaffung zweckmäßiger Schultische an Stelle der gebräuchlichen angetragen und sich erboten, die dazu nöthigen Angaben zu machen. Auch ihm ist die Erfahrung nicht erspart geblieben, daß diese Sache nicht so leicht sei, wie er sie sich gedacht hatte; aber er besaß zum Glück Erfindungsgeist, Mittel und zähe Geduld und Ausdauer in hinreichendem Maße, um ungefähr ein Dutzend Probebänke nach einander zu construiren und herstellen zu lassen und so hat er endlich eine Bank zu Stande gebracht, welche von dem betheiligten Schuldirector sofort als das Ideal einer Schulbank bezeichnet und in seinem neuen Schulhause eingeführt worden ist und die diejenigen meiner Collegen welche sie gesehen haben und von mir befragt werden konnten, ebenso wie mich selbst wahrhaft entzückt hat.

Das Wesentlichste an dieser Kunze’schen Schulbank ist die Theilung der Tafel in einzelne Platten von der Breite, wie sie zum Schreiben erforderlich ist, und die Verschiebbarkeit jeder Platte. Nachdem eine Schiebevorrichtung für die ganze Tafel, die ich versuchsweise hatte herstellen lassen, deshalb nicht gebilligt worden war, weil die nothwendige Gleichmäßigkeit und Gleichzeitigkeit bei der Handhabung der Verschiebung bei Schülern nicht vorausgesetzt werden könne, erwog ich selbst den Gedanken, jede einzelne Platzbreite beweglich zu machen, verwarf ihn aber bald wieder, weil mir die Vorrichtung zu complicirt, kostspielig und zu leicht zerstörbar erschien. Die Kunze’sche Schiebeplatte aber ist so einfach und dauerhaft zusammengesetzt, läßt sich, wenn Ausbesserungen vorzunehmen sind, so leicht herausnehmen und erfüllt gleichzeitig verschiedene Aufgaben in so vollkommener Weise, daß ihr gegenüber alle früheren Bedenken sofort verschwinden.

Zu einer so ausführlichen Beschreibung dieser Bank, wie sie der Tischler braucht, um dergleichen neu anzufertigen, ist hier nicht der Platz[1] für geboten aber halte ich es, auf die Eigenthümlichkeiten hinzuweisen welche die Vorzüge der neuen Bank vor allen bis jetzt gebräuchlichen oder vorgeschlagenen bedingen und sie eben zu dem Ideal machen, welches sie in meinen Augen ist.

Auf den ersten Blick zeigt die Tafel wenig Besonderes. Sie läßt einen kleinen Zwischenraum zwischen sich und der Bank, wie wir ihn überall finden, ist etwas geneigt, wie es ebenfalls schon jetzt die meisten Tafeln sind, und läßt an ihrem vorderen Ende den ebenen Raum vermissen, in welchem gewöhnlich die Tintenfässer eingelassen sind. Sehen wir aber genauer hin, so fällt uns auf, daß jeder Platz durch eine schmale Leiste vom anderen oder vom seitlichen Ende der Tafel getrennt ist, und bei weiterer Untersuchung entdecken wir am vorderen Abschnitt der Tafelplatte ein stählernes Knöpfchen, welches sich seitlich verschieben läßt. Haben wir dies gethan, so können wir die Tafelplatte zwischen den Leisten um einige Zoll zurückschieben, bis sie den vorderen Rand der Bank um ungefähr Zollesbreite überragt. Hier läßt sie sich durch Zurückschieben des Knöpfchens wieder befestigen und kann nun zum Schreiben benutzt werden. Vor ihrem vorderen Abschnitte ist durch die Verschiebung ein etwas vertiefter Raum sichtbar geworden, welcher zur Aufnahme von Federn und Stiften bestimmt ist und am rechten Ende ein eingelassenes Tintenfaß zeigt. In allen Stunden, in welchen es nichts zu schreiben gabt, bleiben die Platten eingeschoben, Schreibmaterial und Tinte sind vor Staub und spielenden Schülerhänden geschützt und jeder aufgerufene Schüler kann sich ohne Hinderniß erheben. Beginnen aber Stunden, in welchen die Schüler zu schreiben haben, so müssen sie die Platten zurückschieben, denn sie können sonst nicht zur Tinte gelangen, und sind somit gezwungen – was nachlässigen Lehrern gegenüber von Wichtigkeit ist –, die Tafel in der Gestaltung zu benutzen, welche zum Schreiben die bequemste ist und zugleich beinahe von selbst eine gute Schreibhaltung sichert. Dabei hat diese Einrichtung noch den Nebenvortheil, daß sie eine Ueberfüllung der Bänke unmöglich macht, denn man kann sie eben nicht mit mehr Schülern besetzen, als Bänke vorhanden sind.

Was an der Bank am meisten in die Augen fällt, sind die Lehnen. Dieselben bestehen hier nicht aus Querleisten, sondern sind massiv, für jeden Schüler einzeln auffallend schmal, aber, da sie zur Stütze der Lendengegend der Schüler bestimmt sind, nicht zu schmal, und im oberen Drittel nach vorn etwas gewölbt, darunter ausgeschweift. Zu ihrer Befestigung ist der hintere Rand der Bank und eine zwischen dieser und dem Fußboden quer laufende Verbindungsleiste benutzt. – Diese Lehne erfüllt alle Bedingungen, welche die Wissenschaft an solche zu stellen hat, übt auf den sich an sie Lehnenden nirgends einen lästigen Druck aus und gestattet jedem Schüler, der seinen Platz verlassen will, dies durch Uebersteigen der Bank ohne Störung eines Nachbars zu bewerkstelligen.

[535] Das Fußbrett, welches an der Kunze’schen Bank blos die Breite einer Fußlänge hat und unter der Tafel befestigt ist, muß viel breiter sein und bis unter die Bank hinterreichen, denn der Schüler soll auf ihm auch gehen und stehen können, und wenn er sitzt, so ist nicht zu verlangen, daß er seine Füße immer auf derselben Stelle ruhen läßt; er hat vielmehr das Bedürfnis des Wechsels der Stellung und will seine Füße bald vor-, bald zurücksetzen. – Ganz entbehren läßt sich das Fußbrett schon deshalb nicht, weil ohne ein solches die Bänke in den niedern Classen für Auge und Hand des Lehrers zu niedrig sein würden, und weil in allen Classen die Füße der Schüler im Winter wärmer auf Fußbrettern ruhen, unter welchen sich erwärmte Zimmerluft befindet, als auf dem gewöhnlich nicht so warmen Fußboden. Aus letzterm Grunde stimme ich Herrn Kunze nicht bei, wenn er an den Bänken für die größern Schüler die Fußbretter für entbehrlich hält.

Viel Noth haben uns Bankverbesserern die Bücherbretter gemacht, weil sich unter unsern tiefer und weiter zurückstehenden Tafeln kein genügender Raum dazu fand. An der Kunze'schen Bank dagegen ist ganz vorn in dem Raume zwischen Bücher- und Fußbrett ein Brettchen angebracht, auf welches die Ranzen mit Benutzung einer darüber angebrachten Latte gelehnt werden können.

So ist denn für Alles gesorgt, was von Seiten der Wissenschaft wie der Praxis gefordert und vom Techniker geleistet werden kann. Nun gehört nur noch die rechte Einsicht und der gute Wille bei der Benutzung der Bank dazu, um der Kinderwelt ihre Vortheile zu sichern. Eine Bank, die ohne Zuthun des Menschen Alles allein besorgt, läßt sich einmal nicht erfinden. Zunächst muß die Bank der Größe der Kinder, die sie benutzen sollen, angemessen und deshalb in einer Anzahl verschiedener Nummern in jeder Schule vorhanden sein. Zu Anfang jedes Halbjahrs werden die Kinder gemessen und mit den ihrer Größe entsprechenden Bänken versehen. Diese Arbeit ist so schnell erledigt, daß auch stark belastete Lehrer im Hinblick auf das dabei so augenfällig in Frage kommende Wohl der Kinder sich gewiß nicht vor ihr scheuen werden; und wenn die Anschaffung solcher Bänke etwas mehr Geld kostet, als man bisher für solche Zwecke zu verwenden sich gewöhnt hat, auch einige Reservebänke vorhanden sein müssen, weil nicht immer die gleiche Anzahl Kinder in dieselbe Größen-Kategorie fällt, so sind das für die Gemeinden wahrscheinlich auch keine unübersteiglichen Hindernisse.

Die neue Bank ist, wie ich bei anderer Gelegenheit durch Wiedergabe der oben erwähnten, von Hermann Meyer construirten Zeichnung augenfällig nachweisen werde, kein Zwangsstuhl; die Kinder können daher auch auf ihr schlecht sitzen, wenn sie durchaus wollen; auf den bisherigen Bänken aber sind sie zu schädlicher Körperhaltung gezwungen. Auf der Kunze’schen Bank ist die normale Haltung zugleich die bequemste und am wenigsten ermüdende und wird darum bei einiger Nachhülfe von Seiten der Lehrer bald allgemein werden, während bisher alles Reden auch des sorgsamsten Lehrers über gesundes und schönes Sitzen der Kinder auf die Dauer Nichts fruchten konnte.

Sobald der Lehrer darauf hält, daß die Kinder auch beim Schreiben – welches natürlich ausnahmslos an der ausgezogenen Platte zu geschehen hat, Fühlung mit der Lehne behalten und ihre Ellbogen nicht auf die Tafel bringen, ist schon die Hauptsache gethan; wenn der Rücken unten eine Stütze hat, die Tafel nahe vor dem Körper ist und nur die halben Vorderarme auf derselben ruhen, so unterbleibt das Buckelmachen meist von selbst. Nur der Kopf des Schreibenden bedarf noch einiger Aufsicht, damit er nicht auf die Seite sinke. Auf diese seine Schiefstellung hat aber nicht die Bank, sondern – außer der Gewöhnung – die Lage des Schreibebuches besonders Einfluß. Liegt dasselbe zu schräg, so ruht gewöhnlich der rechte Ellbogen des Schülers auf der Tafel und der Kopf hängt nach links, wenn es dagegen, was manche Lehrer zu erzwingen suchen, gerade vorgelegt wird, also mit seinen Rändern gleichlaufend den Kanten der Tafel, so nehmen die Kinder links Ellbogen und Schulter in die Höhe und neigen den Kopf nach rechts. Da der schreibende Arm nicht an der Brust, sondern an der Schulter angewachsen ist, so darf man sich nicht wundern, wenn das Papier fast vor allen Schreibenden etwas schräg liegt. Uebersteigt diese Schrägstellung nicht das Viertel eines rechten Winkels, so können die Schultern und die Augen ohne Anstrengung beiderseits gleich hoch gehalten werden.

Auch hier bedarf die Schule der Unterstützung des Hauses. Der Tisch, an welchem die Kinder ihre schriftlichen Arbeiten machen, soll gerade Kanten haben; als Stuhl, welcher um etwa zwei Zoll unter den Tisch geschoben sein muß, dient am besten ein hoher Clavierstuhl mit niedriger Lehne. Ist ein solcher nicht zu haben, dann ist bei allen noch nicht Erwachsenen der Sitz durch Kisten oder Bücher so weit zu erhöhen, daß der Tisch dem Schreibenden nur bis an die Taille reicht. Am sichersten findet man das Maß der Sitzhöhe dadurch, daß man den Sitzenden einen Ellenbogen auf den Tisch erheben und den Vorderarm querüber legen läßt. Bei richtiger Tisch-, bezüglich Sitzhöhe berührt dann der auf dem Tisch liegende Vorderarm ohne vorherige Erhebung der Schulter zugleich die Vorderfläche des Körpers; ist der Tisch zu hoch, so zeigt sich ein Zwischenraum zwischen Vorderarm und Körper. – Wo schlechte, vorgeneigte Haltung vorhanden ist, möge man auch zu Hause der Schreibefläche eine geringe Neigung von ungefähr eins zu sechs geben, wie die Schulbänke sie haben; ein stellbares Pultchen ist dazu am geeignetsten.

Ich beanspruche nicht, daß man Alles, was ich hier gesagt, ohne Weiteres als unumstößliche Thatsache hinnehme; das aber glaube ich erwarten zu dürfen, daß die geschilderte Schulbank jetzt allseitig Beachtung und Prüfung finde. Besonders Schuldirectoren und die Schulbehörden des Staats und der Gemeinde sind, wie ich meine, verpflichtet, näher an die Sache heranzutreten; und sind sie dabei zu demselben günstigen Urtheil gelangt, wie ich, so mögen sie mit Freudigkeit und Thatkraft Hand an's Werk legen, damit wir endlich einmnal wenigstens in dieser Beziehung unsere Schuldigkeit thun gegen unsere Kinder.




Die Kunst in den Hütten der Armuth.

Von Ferd. Hey’l.

Ein Sommerausflug führte uns auf dem Wege nach Süd-Baiern und Tirol durch München. Wir hatten die Sehenswürdigkeiten der bairischen Residenzstadt, welche uns größtentheils schon alte Bekannte waren, bereits seit einigen Tagen in unserem Touristen-Gedächtniß wieder aufgefrischt, als man uns von befreundeter Seite den Besuch der Ausstellung des „Vereins für Ausbildung der Gewerke“ dringend anrieth, der denn auch noch desselben Tages unternommen wurde. Gar viel des Guten und Trefflichen fanden wir in diesen Räumen aufgestapelt, eine glänzende Beweisführung, daß man im Baierlande auch Anderes zu Wege zu bringen vermag, als Bierbrauen und Biertrinken. Die Mannigfaltigkeit der ausgestellten Gegenstände war uns ebenso überraschend, als die treffliche Ausführung derselben. Unter den der Kunst verwandten Gegenständen fielen uns vor Allem ein Pocal und eine gothische Weinkanne auf, beide in Apfelbaumholz geschnitzt und künstlerisch in Zeichnung und Ausführung, so daß wir sofort den Einfluß eines Münchener Künstlers, mindestens bei dem Entwurf, voraussetzten.

Die Zeichnung des Pocals zeigte ein auf schönen ornamentalen Verschlingungen ruhendes Faß, auf dessen mit einer Trauben- und Weinblätterguirlande umschlungenem Deckel ein trunkener Landsknecht ruhte. Auf dem Faß, unter einem Reliefwappen, fand sich der Spruch.

„In dem Wein ist Wahrheit! und –
kommt der Wahrheit auf den Grund!"

Die Kanne, in Wahrheit ein Meisterwerk der Holzschnitzkunst und den Pocal womöglich in Zeichnung und Durchführung noch überbietend, bildete im Querschnitt ein reguläres Achtecke in den gothisch reich ornamentirten acht Feldern waren die acht Strophen des folgenden originellen Spruches vom Wein in schön ausgeführter Reliefschrift angebracht:

[536]

„Der Wein, des Weinstocks edle Gabe,
Soll, wie Erfahrung lehrt, vier Religionen haben:
Lutherisch soll er sein, rein, lauter aus dem Faß,
Calvinisch aufgeklärt in einem vollen Glas,
Katholisch zeig’ er uns in Wundern seine Stärke,
An unserm Magen übend stets gute, warme Werke.
Auch soll er, wie ein Jude, nur ungetaufet sein;
So schließt ein gut’ Glas Wein vier Religionen ein.“

Das achtseitige Prisma ruhte auf einem reich ornamentirten Sockel und war oben von einer rundum laufenden Weinrebe eingefaßt, welche in ihren Verschlingungen die Wappen der acht Kreise Baierns trug. Den Deckel der Kanne bildete ein Tournierhelm, welcher sich im Visir öffnete. Der Helm selbst war vom bairischen Löwen gekrönt, der in seiner Pranke das Landeswappen hielt und zwischen zwei heraldischen Flügeln trotzig hervorschaute. Den Henkel der Kanne stellte ein dem Styl des Ganzen entsprechender Rebstab dar.

Daß wir es hier mit keinem der gewöhnlichen Erzeugnisse allbekannter Holzschnitzwerkstätten zu thun hatten, leuchtete beim ersten Anblick ein. In früheren Jahren besuchten wir mit Interesse die Holzschnitzereien der Schweiz, die Etablissements der Gebrüder Wirth in Brienz, die ebenso bekannten Werkstätten der Herren Michel Ablanalp und Johann Flück in Brienz und das Lager des Herrn Wald bei Thun. Wir haben Gelegenheit gehabt, die in der Schweiz anerkannt tüchtigsten Schnitzer, die Gebrüder Bury in Ringgenberg und Zurfluh in Rosenlauibad, welche die besten Gemsengruppen liefern, so wie Johann Huggler in Brienz, der große Fertigkeit in der Figurensculptur besitzt, und Andreas Baumann, den besten Blumenschnitzler der Schweiz, in Ausübung ihrer Kunstfertigkeit in ihren eigenen Werkstätten zu bewundern, und nicht zu leugnen ist, die Genannten haben jener wenigstens für die schweizerischen Gebirgsgegenden so nützlichen Thätigkeit eine gewisse Kunststufe erobert, welche in jeder Beziehung ehrend genannt werden darf.

Die Kunstschnitzerei ist in den Bergen der Schweiz erst seit etwa fünfzig Jahren eingebürgert und von da erst nach Tirol und Südbaiern verpflanzt worden. Hier standen wir vor einem Erzeugniß bairischer Kunstthätigkeit und überrascht fanden wir weder den Namen des ausführenden Künstlers noch jenen des Zeichners den beiden Gegenständen beigegeben, wie dies doch bei den anderen Werken der Ausstellung größtenteils der Fall war; ein einfacher Zettel zu Füßen der beiden Kunstwerke besagte nur „Erstlingswerke der gewerblichen Zeichenschule in Partenkirchen.“ Dies war eine Mittheilung, wohl geeignet, unserem Reiseplan eine kleine Aenderung einzuschieben. Erinnerlich war es uns, daß die Regierung des Cantons Bern durch Errichtung von Zeichenschulen der Industrie der Holzschnitzerei erst eine eigentliche künstlerische Richtung gegeben, und hier winkte uns vielleicht die Entdeckung einer ähnlichen Bestrebung auf deutschem Boden und zwar in einer Gegend, wo Kummer und Elend nur allzu häufig die Hütte des armen Mannes heimsuchen. Unser Entschluß war bald gefaßt, ein paar Tage ist diese Entdeckungsreise schon werth.

Ein herrlicher Sommermorgen führte uns an den Ufern des Starnberger Sees vorüber nach Seeshaupt und durch ziemlich aussichtslose Strecken Flachlandes, die südbairischen Berge lockend im Hintergrund, nach Schlehdorf am Ufer des Kochelsees, und endlich am Walchensee hin, in die alte Grafschaft Werdenfels mit ihren Wetterstein- und Zugspitzgebirgen. Hier kommt ein Mißton über uns. Wie reich an Schönheiten ist das Land – und wie arm das Volk dieser Thäler und Berge! Daß hier früher der Wohlstand eines lebhaften Straßenverkehrs herrschte, dafür zeugen große Häuser mit mächtigen Thorfahrten und Lagerräumen: aber vom damaligen Leben, als noch der Haupthandelszug zwischen Deutschland und Italien durch Innsbruck, Mittenwalde und Partenkirchen führte, ist jetzt jede Spur verschwunden, in Partenkirchen hat sogar das Feuer zu deren Vertilgung geholfen, Viehzucht und Holzarbeiten sind der jetzige Nothbehelf dieser Gebirgler. In Mittenwalde, das prächtig am Fuße des Karwendelgebirges liegt, producirt man allerdings in kolossaler Masse Geigen, Guitaren und Cithern, und die Firmen Neuner u. Hornsteiner und Bader u. Comp. haben ihren Fabrikaten einen gewissen Ruf und vor allen Dingen tüchtigen Absatz verschafft. In den übrigen Orten und Hütten aber treibt der arme Gebirgsbewohner das einfachere und wenig einträgliche Geschäft des „Fasselmachens“ und „Schindelschneidens“, dem man in jeder Hütte begegnet. Seit aber ein Regierungs-Erlaß die Dachung mit Schindeln, der Feuergefährlichkeit wegen, verboten, schwand ein sonst ziemlich sicherer Erwerbszweig für den Arbeitsamen. Die Flößerei auf der Loisach und Isar hat ebenfalls bedeutend abgenommen und auch die früher so starke Ausfuhr von Gyps in Fässern hörte, der bedeutenden Frachten und Transportkosten halber, fast ganz auf.

Da war nun die Noth nahe und Hülfe dringend nöthig; seitens der Regierung wurde mancher Ausweg erwogen, aber es boten sich zur Abhülfe nur geringe Aussichten. Wenn auch im Ammerthal (Ammergau) die Holzschnitzerei lohnende Thätigkeit geschaffen, in Partenkirchen und Garmisch wollte es nicht gelingen sie einzubürgern. Der bairischen Regierung schwebten die günstigen Erfolge jener Kunstthätigkeit und industriellen Bemühungen in der Schweiz vor, welche den einsamen Gebirgstälern jenes Landes mindestens die Summe von einer halben Million Franken im Laufe eines Jahres zuführt, und wiederholt wurden Versuche angestrebt, diese Industrie hierher zu verpflanzen. Sie scheiterte an dem Mangel einer energischen Leitung dieser Unternehmungen, vor Allem aber an dem Mangel eines Absatzes für die in Zeichnung und Entwurf meist verfehlten Producte. Sämmtliche Leistungen auf diesem Gebiete beschränkten sich mit wenigen Ausnahmen darauf, die alten vom Großvater ererbten Muster zu verarbeiten, und die natürliche Folge war, daß diese Arbeiten von den Erzeugnissen der französischen, schweizerischen und sächsischen Etablissements bei Weitem überholt wurden. Der Staat legte sich in’s Mittel und leistete bedeutende Zuschüsse, mit welchen indeß auf die Länge der überhand nehmenden Armuth nicht gründlich abzuhelfen war.

Da führten der Zufall und die Zwecke einer Studienreise vom fernen Rheinstrome einen lebensfrischen, mit scharfem praktischen Blick begabten Musensohn Düsseldorfs in jene Berge, den die Fülle der in jener Gegend vorhandenen malerischen Motive auf längere Zeit dort gebannt hielt. Er erkannte bald, daß es zur Sicherung eines Erfolges der kunstindustriellen Bemühungen der bairischen Regierung zunächst darauf ankam, die bereits vorhandenen Schnitzer der Gegend durch künstlerische Vervollkommnung ihrer Erzeugnisse den Schnitzern des Auslandes concurrenzfähig zu machen, und daß weitere Mittel geboten werden müßten, um durch Ausdehnung des Geschäftsbetriebes und durch faßliche Anregung und Lehre die Liebe zu jener Beschäftigung den Bewohnern dieser Bergthäler im Allgemeinen einzupflanzen, um dann durch einen geregelten kaufmännischen Betrieb die Erzeugnisse dieser fast neu zu schaffenden Industrie günstig zu verwerten.

So gründete mit frischem Muth der Düsseldorfer Maler – Michael Sachs ist sein Name – im September 1866 zu Partenkirchen eine gewerbliche Sonntags-Zeichenschule, und zwar aus eigenster Initiative und mit wenig Mitteln, welche er selbst und auf seine Gefahr hin flüssig machte. Zunächst ging sein Bestreben dahin, den bei den meisten Gebirgsbewohnern – vermuthlich durch die steten Eindrücke ihrer malerischen Natur – in hohem Grade vorhandenen Formensinn zu wecken und zu veredeln.

In einem gewöhnlichen Schulzimmer der Ortsschule zu Partenkirchen und mit einigen vierzig Schülern wurde das Werk rüstig begonnen. Was an Mitteln fehlte, ersetzte die Lust und Liebe zur Sache, und vom schulpflichtigen Knaben bis zum verheiratheten Handwerker zeigte sich zu des Künstlers Freude ein reger Eifer. Die ersten Vorlagen und Modelle entwarf und fertigte Sachs selbst. Aber nicht lange währte es und das Bestreben des Künstlers wurde gewürdigt. Das königliche Bezirksamt, der Magistrat des Städtchens und die Geistlichkeit, welche in dieser Thätigkeit ihrer Pfarrkinder eine Gewähr für deren sittliche Hebung sofort erkannten, griffen dem Unternehmen fördernd unter die Arme.

Der Ministerialrat Dr. Stautner in München, schon früher dem Künstler befreundet, wandte dem jungen Institute eine warme Fürsorge zu. Seinen Bemühungen ist es zu danken, daß der Verein für Ausbildung der Gewerke, die Sonn- und Feiertagsschulen in München, sowie viele Private in der Residenz, sich des Unternehmens in dankenswertester Weise annahmen und werthvolle Geschenke an Vorlagen und Modellen der Partenkirchener Schule zufließen ließen.

Der König von Baiern und die Königin-Mutter, welche alljährlich die prachtvollen Umgebungen Partenkirchens zur Sommerfrische [537] aufsuchen, erfuhren von den Bemühungen des uneigennützigen Gründers jener Schule, unterrichteten sich persönlich von den in kurzer Zeit erreichten Resultaten und reiche Geldspenden waren die nächste Folge ihrer unverhohlen ausgesprochenen Anerkennung. Ein Erfolg zieht den andern nach sich. Die ursprünglich so anspruchslos begonnene Unternehmung hatte nach allen Seiten die Theilnahme wachgerufen. Die bairische Regierung erkannte sehr bald die Tragweite dieser Bestrebungen und ordnete – außer einem namhaften Beitrag an klingenden Mitteln – die Gründung von Zeichenschulen im Ammergau, in Mittenwalde und Garmisch, an – letzterer Ort ist nur eine Viertelstunde von Partenkirchen entfernt. – Sämmtliche Schulen wurden unter die einheitliche Leitung des Gründers, der Partenkirchener Schule gestellt, in welch’ letzterer Sachs nach wie vor auch persönlich den Unterricht ertheilt.

Doch die Regierung ging in ihrem Interesse an dem jungen Institute noch weiter. Dem talentvollsten Schüler J. Bader, Sohn des die Holzschnitzerei bereits seit langen Jahren betreibenden Kunstdrechslers Bader in Garmisch, wurde ein Stipendium bewilligt, damit er sich auf der Kunstgewerbeschule zu Nürnberg zum Schnitzlehrer für den ganzen Bezirk ausbilde. Mit diesen Erfolgen wuchs auch der Muth der Gemeindebehörde. In kurzer Zeit entstanden in Partenkirchen, Garmisch und Ammergau für die Verhältnisse der Ortschaften brillante Zeichensäle. Die Schülerzahl stieg in Partenkirchen auf fünfundsechszig, jüngere und ältere Leute, die Anstellung eines tüchtigen Hülflehrers gestattete die Eintheilung der Schulbedürftigen in drei Curse, welche nach Alter und Fertigkeit geschieden wurden.

Zur Zeit wird wöchentlich sieben Stunden Zeichenunterricht ertheilt[WS 1] und zwar im Freihandzeichnen, Linearzeichnen und Zeichnen nach Modellen, eben so viel Stunden sind dem Unterricht in der Schnitzerei bestimmt. Die Schüler erhalten außerdem Anleitung zu selbstständigen Entwürfen von allen in das Fach der Kunstschnitzerei einschlagenden Ornamenten und Motiven. Die übrigen Stunden des Tages betreibt jeder Einzelne seine häuslichen Geschäfte. Zwischen dürftigem Ackerbau und Viehzucht theilt sich die Thätigkeit des Tages, die Zeichenstunden und der Unterricht in der Schnitzerei gelten als Erholung; Dank der anziehenden Art und Weise, wie der Unterricht zur Erholung gestaltet wird.

Wir hatten Gelegenheit, die Leistungen der Schüler zu prüfen, und gestehen gern, daß alle unsere Erwartungen übertroffen waren. Die erreichten Erfolge sind um so höher anzuschlagen, als der Lehrer genöthigt war – mit sehr wenig Ausnahmen – den Unterricht im Zeichnen mit lauter Neulingen zu beginnen, denen Bleistift und Papier in dieser Nutzanwendung bis dahin unbekannte Dinge waren. Die Regierung des Landes und der Vorstand des Vereins für Ausbildung der Gewerke in München erkannten die errungenen Resultate öffentlich an, und die unendliche Mühe zweier vollen Jahre, wie die pecuniären Opfer des Gründers erhielten dadurch den reichsten Lohn, daß die Einrichtungen sich bewährten, daß der Magistrat von Partenkirchen außer der Zeichenschule ein stattliches Local zum praktischen Unterricht im Schnitzen und Modelliren herrichtete, daß die Regierung eine jährliche bedeutende Subvention für diese Bestrebungen auswarf und die Schulen zu Districtsschulen unter oberster Leitung des Staates erhöht. Die Schnitzerschule zu Partenkirchen ist Centralschule für den ganzen Amtsbezirk Werdenfels und nimmt talentvolle junge Leute gratis als Schüler auf, um sie zu tüchtigen Holzschnitzern heranzubilden.

Zur Zeit leitet die Verwaltung des ganzen gewerblichen Unternehmens ein Verwaltungsrath unter Vorsitz des Bezirksamtmanns Fischer, welcher die ganze Angelegenheit von Beginn an mit größtem Eifer gefördert. Eine kaufmännische Commission besorgt den Vertrieb der angefertigten Schnitzwaaren und führt die mercantile Korrespondenz. Für die Beschaffung tüchtiger und zweckentsprechender Modelle können jetzt ohne Gefahr bedeutende Kosten aufgewendet werden, und die segensreiche Unternehmung hat somit, einer von allen Hülfsmitteln entblößten Gebirgsgegend einen Erwerbszweig geschaffen, welcher den natürlichen Anlagen der Bewohner und den vorhandenen Materialien des Landes vollkommen entspricht. Die drohende Verarmung jener Bergthäler scheint gehoben, der Absatz der gefertigten Schnitzwaaren, welche sich nunmehr schon kühn mit den entsprechenden Erzeugnissen der Schweiz messen können, ist in stetem Zunehmen, besonders nach Norddeutschland (vor Allem nach Berlin) haben sich die Absatzwege geöffnet. Der lebhafte Fremdenbesuch Südbaierns in den Sommermonaten unterstützt die Ausfuhr wesentlich, da der Fremde nunmehr auch hier findet, was die Schweiz als Erinnerungszeichen dem Touristen aller Orten zu bieten gewohnt ist. – In der Schweiz beschäftigt die Holzschnitzerei mehrere Tausend Menschen und ein Blick auf die mancherlei Gegenstände, welcher sich diese Industrie in neuerer Zeit bemächtigt hat, zeigt deutlich, daß dieselben Anklang und Absatz finden. Sehen wir ganz von den sogenannten Nippsachen und Spielereien ab, wir finden Holzschnitzwaaren, wie Cassetten, Holzkasten, Rahmen, Lesepulte, Verzierungen und Ornamente für Haushaltungsgegenstände, Salatlöffel, Uhrgehäuse, Spiegelrahmen, Lichtschirmträger, Necessaires, Consolen, Schreibzeuge, Näh- und Zündholzbüchsen bis zu den kleinsten Gegenständen, aller Orten in Benutzung, ein Beweis, daß diese Industrie sich festen Boden erobert hat.

Der König von Baiern lohnte die redliche Mühe und segensreiche Thätigkeit des Gründers jener Institute im Kreis Werdenfels durch einen entsprechenden Gehalt und die Verleihung des Professortitels.

Warum wir der Gartenlaube die Entstehungsgeschichte dieser gemeinnützigen Bestrebung mitgetheilt haben? Weil sich auch für anderwärts gar Vielerlei aus diesen Mittheilungen verwerthen läßt! Trägt doch ein Volksblatt in der Regel mehr zur Verbreitung nachahmungswerther Einrichtungen bei, als gelehrte Abhandlungen und bureaukratische Experimente es vermögen.

Auf dem Westerwalde, einem rauhen Gebirgsländchen am rechten Ufer des Rheines, versuchte die vormalige Regierung des Landes Nassau die Einführung der Holzschnitzerei. Sie fing aber, ähnlich der bairischen Regierung in früheren Jahren, diese Versuche bei dem Ende an; sie errichtete mit ziemlichen Kosten Schnitzerschulen, während die Zöglinge vom Zeichnen oder von dem Entwurf eines Modells auch nicht die leiseste Ahnung hatten. Erst die Grundlage und dann die Ausführung! Diese Lehre predigt die Central-Schnitzerschule zu Partenkirchen mit beredten Worten und mit beweisenden Thaten. Und diese Lehre ist auch in gleichem Sinn bei vielen ähnlichen Bestrebungen unserer Tage auf anderm Felde nicht genug zu beherzigen.

Ein Hinweis auf den Umstand, daß wir in Bezug auf Gegenstände der Holzschnitzerei nicht mehr im Auslande zu suchen brauchen, was jetzt auf bairischem, auf deutschem Boden hervorgebracht wird, dürfte vielleicht unseren Mittheilungen einen weiteren bescheidenen Werth verleihen; lenken sie doch die Blicke zugleich auf jene Hütten der bairischen Alpen, in welchen eine Stütze der Armuth und eine Pflegestätte der Kunst sich zu gleicher Zeit für die Bewohnerschaft aufgethan.




Aus meinen Erinnerungen.

Zwei Hochstapler in Berlin.
Von Franz Wallner.

In den Jahren 1855 und 1856 tauchten in Berlin verschiedene mysteriöse Persönlichkeiten auf, welche fremdem Eigenthum auf ganz originelle Weise gefährlich wurden. So zum Beispiel Constantin Simonides, von dessen traurigem Ende in Afrika im tiefsten Elend jüngst deutsche Zeitungen Kunde brachten. Er hatte durch seine großartigen Fälschungen die ganze gelehrte Welt in Athem erhalten, nachdem es ihm gelungen war, das Palimpsest des Uranios und andere Schätze der Wissenschaft so täuschend echt hinzustellen, daß selbst die sachverständigen Vorstände des Britischen Museums in London, der Universität in Oxford und der Akademie der Wissenschaft in Berlin dadurch getäuscht wurden und sich für die Falsificate viele Tausende von Thalern herauslocken ließen. Die Professoren C. Tischendorff und W. Dindorf in Leipzig hatten das Verdienst, diesen unerhörten Betrug zu entlarven, wenn auch [538] Alexander von Humboldt schon früher als Zweifler auftrat. Gerade im Begriff nach England durchzubrennen, in dem bereits gepackten Koffer noch die vom Professor Lepsius in Berlin für Ueberlassung des Palimpsest erschwindelte Summe, wurde der geniale und hochgelehrte Verbrecher in Leipzig von dem bekannten Polizeichef Dr. Stieber verhaftet und nach Berlin transportirt.

Man fand bei ihm eine Unzahl gefälschter alter Handschriften und Correspondenzen mit Männern der Wissenschaft nach allen Welttheilen, nach Griechenland, Aegypten, England etc. Ich weiß mich nicht mehr genau auf das Resultat dieses merkwürdigen Criminalprocesses zu erinnern, glaube aber nicht darin zu irren, daß ihm die Gerichte, trotz ähnlicher von ihm früher verübter Betrugsfälle nichts anhaben konnten, da ihm nicht nachgewiesen werden konnte, daß seine energische Behauptung, er habe das Palimpsest des Uranios im guten Glauben an die Echtheit des Manuscriptes verkauft, auf Unwahrheit basire, trotzdem, daß bei ihm der vollständige Fälschungsapparat, die aus verrosteten Nägeln verfertigte Tinte, die Rohrfedern, deren er sich bedient, das präparirte Material zu den Manuscripten etc. vorgefunden wurde, ebenso sein lithographirtes Portrait mit „Stern und Ordensband“, zu welch letzterem er ebenso wenig berechtigt war, wie zu dem angemaßten Doctortitel. Sein Abenteuer in Berlin aber hatte zu viel Lärm in der Welt gemacht, er zog es vor zu verschwinden von dem bisherigen Schauplatz seiner Thaten, und ließ nur das Bedauern hinter sich, daß so eminente Fachgelehrsamkeit nicht zu besseren Zwecken verwendet worden sei. Unlängst, nach einer langen Reihe von Jahren, taucht der Name „Simonides“ wieder in den Zeitungen auf, welche melden, daß der Abenteurer einer schlimmen Hautkrankheit im fernen Welttheil erlegen sei. –

Mit ungleich geringerem Aufwand von Geist und Wissen, aber mit weit größerer Frechheit spielte, fast um dieselbe Zeit, der sogenannte Prinz von Armenien seine kurze Rolle in Berlin. Am 11. October 1855 sandte dieser angebliche Prinz von Armenien dem damaligen Staatsanwalt Nörner – auch diesen deckt bereits der Rasen – eine Denunciation gegen seine Hauswirthin zu, eine Frau Mahlmann, oder Mehlmeyer, nach welcher dieselbe einen an ihn gerichteten Brief, „eine wichtige Depesche seines Flügeladjutanten Amur Khan“ aus London, heimlich eröffnet und gelesen habe. Diese Verletzung des Briefgeheimnisses brachte der hohe Würdenträger zur Kenntniß der Behörden und trug auf gesetzliche Bestrafung der Verbrecherin an.

Nörner begab sich in die Wohnung der Beschuldigten und fand an dieser eine sehr einfache, verstandesbeschränkte arme Frau, welche durchaus nicht fassen konnte, daß sie sich eines Vergehens schuldig gemacht, als sie den für sie in unverständlicher Sprache adressirten, unlesbaren Brief eröffnet habe. Der Brief könne auch keine Wichtigkeit haben, meinte sie, denn der Prinz habe ihn in ihrer Stube hingeworfen und liegen lassen. Mit dieser Entschuldigung, deren Richtigkeit auf der Hand lag, übergab sie dem Staatsanwalt einen auf ordinärem Papier geschriebenen Wisch „die Depesche des Flügeladjutanten Amur Khan“, welcher sich aber als grober Mahnbrief einer Parfümerie-Handlung „Hovender“ in London entpuppte, in welchem der Prinz in derber Weise aufgefordert wird, zwei Töpfe Haarpomade zu bezahlen, welche er auf Borg entnommen. Die Böswilligkeit der Denunciation lag auf der Hand, aber der Grund derselben blieb selbst dem scharfen Verstande Nörner’s verschlossen. Nur Stieber, der damalige Cristrinal-Director, dem die Sache gemeldet wurde und für welchen der ganze Apparat der Verbrecherwelt ein offenes Buch ist, fand sogleich das Wahre heraus, indem er mit apodiktischer Gewißheit erklärte:

„Der Mann ist ein Schwindler und hat die Absicht einer königlichen Behörde ein officielles Schreiben herauszulocken, welches die Adresse: ,An Se. Hoheit den Prinz von Armenien’ an der Stirne trägt, um dies Actenstück später als Legitimation zu gebrauchen.“

Zur Bestätigung dieser Ansicht lief eine zweite Denunciation gegen die Mahlmann ein, worin in pikirter Weise eine Beschwerde ausgesprochen wurde, daß man die Anzeige eines hochgestellten Mannes von Seiten der königlichen Staatsanwaltschaft nicht einmal einer Antwort werth gehalten habe.

Inzwischen hatte man Erkundigung über die Person des angeblichen Prinzen eingezogen und erfahren, daß derselbe in sehr ärmlichen Umständen und ganz ohne Legitimation sich in Berlin aufhalte.

Nun hielt es Dr. Stieber an der Zeit, gegen den Unbekannten vorzugehen. Auf eine artige mündliche Einladung des Polizei-Commissars Rakenstein, sich im Directions-Bureau der Criminal-Polizei einzufinden, erschien am nächsten Tag ein behäbiger, wohlgenährter, aber nichts weniger als prinzlich aussehender Mann, trotz des Sternes, den er auf der Brust des schwarzen, ziemlich abgetragenen Fracks befestigt hatte.

„Ich bin der ‚Prinz von Armenien‘, melden Sie mich Ihrem Chef,“ herrschte er dem im Vorzimmer Stieber’s arbeitenden Beamten zu.

Wie einen zum Besuch erwarteten Bekannten empfing Stieber den Abenteurer, ließ sich von ihm noch einmal die Geschichte der erbrochenen Depesche seines Adjutanten „Amur Khan“ erzählen, die sichtlich in gewinnsüchtiger Absicht, von seiner Hauswirthin geöffnet worden sei. Ferner theilte er, einmal zutraulich geworden, dem Chef der Criminal-Polizei mit, er sei durch einen eigenhändigen Brief der Königin von Georgien an Se. Majestät den König von Preußen empfohlen worden und hoffe wieder in den Besitz seiner Länder und zu dem viele Millionen betragenden Staatsschatze zu gelangen, welche der Kaiser von Rußland ihm gestohlen habe.

Hier entfernte sich Dr. Stieber, indem er sich die Erlaubniß ausbat, einen Augenblick „nur zur Ertheilung eines geschäftlichen Auftrages“ sich in’s Vorzimmer begeben zu dürfen.

Im weiteren Verlauf des Gespräches wußte der schlaue Polizist das Gespräch auf den Ordensstern des Prinzen zu lenken, und um die Bedeutung desselben zu fragen, obgleich er längst in demselben das Commandeurkreuz des portugiesischen Christusorden erkannt hatte. Es wäre der „armenische Hausorden“, den jeder armenische Prinz schon in der Wiege erhält, lautete die unbefangene Antwort.

Nach einer Stunde des wechselreichsten Zwiegesprächs, gegen den Schluß desselben nur unterbrochen durch einen Beamten, der seinem Chef eine leise Meldung und ein Schriftstück brachte, wollte sich „der Prinz“ entfernen, als ihn, schon zwischen Thür und Angel, Director Stieber bat, einem Beamten, der die Ehre haben würde, ihn zu begleiten, seine Legitimationspapiere mitzugeben.

Zuerst in hochfahrender Weise, dann bei der eisernen Festigkeit des Criminalisten, ahnend, daß er durchschaut sei, etwas kleinlauter, erklärte er, er habe gemeint, seine Stellung schütze ihn vor derlei Polizeinergeleien, man möge sich bei Sr. Majestät dem König nach ihm erkundigen.

„Das ist bereits während unseres Gespräches telegraphisch geschehen,“ antwortete Stieber mit leisem ironischem Lächeln, „Und es thut mir leid, daß Se. Majestät nicht nur Nichts von dem Empfehlungsschreiben der Königin von Georgien weiß, sondern daß man im königlichen Cabinet so unwissend ist, die absolute Behauptung aufzustellen, eine solche existire gar nicht.“

Sein Paß, erwiderte er, und seine Legitimationspapiere seien ihm ebenfalls vom russischen Kaiser gestohlen worden.

„Auch dies muß ich bestreiten,“ entgegnete mit dem Behagen einer mit einer Maus spielenden Katze der hartgesottene Criminalist, „die russische Gesandtschaft stellt in einer hier eben eingetroffenen telegraphischen Antwort alle Ihre Behauptungen nicht nur entschieden in Abrede, sondern behauptet auch, daß Sie von derselben namhafte ‚Almosen’ empfangen hätten.“

Das Resultat dieses Besuches war die Verhaftung des angeblichen Prinzen von Armenien und ein monatelanger heftiger Kampf zwischen den gewaltigen Mitteln der Polizei und der frechen Schlauheit eines Abenteurers. Trotzdem, daß dem Letzteren Zug für Zug der Boden seiner erlogenen Existenz unter den Füßen weggezogen wurde, brachte jeder Tag eine ungeahnte Erfindung, eine neue unglaubliche Behauptung. Große Summen mußten zur Erforschung dieses Lügengewebes hinausgeworfen werden, trotzdem man von der Zwecklosigkeit dieser Vergeudung im Voraus überzeugt war. Einem kecken Schachspieler gleich versuchte der „Prinz von Armenien“ die Polizeigewalt „matt“ zu machen, und seiner bodenlosen Unverschämtheit gelang dies seltene Kunststück am Ende wirklich.

Wir haben oben schon erwähnt, welche Märchen er über sein Verhältniß zum Kaiser von Rußland, zum König von Preußen, zur fabelhaften „Königin von Georgien“, ferner über seinen armenischen Ordensstern der Polizei aufzutischen wagte; man fand [539] unter seinen Papieren einen Brief mit einem preußischen Thalerstück gesiegelt, der in französischer Sprache die Aufschrift trug: „Depesche des Fürsten Petrosbey an Se. Königl. Hoheit den Prinzen von Armenien“, und einen abgelaufenen Paß auf einen Engländer „Amur Khan“. Es wurde durch die betreffenden Gesandtschaften erwiesen, daß er unter letzterem Namen in London und Brüssel eine zahllose Menge Betrügereien verübt habe und in Belgien von der Zuchthauspolizei zu fünf Jahren Gefängniß verurtheilt worden sei. In Paris hätte er sich mit einem gefälschten holländischen Paß auf den Namen Johannes Joseph aufgehalten, war dort im Jahre 1850 wegen Schwindeleien durch Ministerialbefehl ausgewiesen und später wegen unbefugter Rückkehr nach Frankreich mit zwei Monat Gefängniß bestraft worden. Der Leipziger „Illustrirten Zeitung“ bot er mit seltener Frechheit fünf Thaler an, damit sie ihn unter dem Namen „Prinz Silvanesian“ verherrliche; in dem genealogischen Kalender machte er den mißlungenen Versuch, sich unter dem Namen „Adjutant Fürst Petrosbey“ unter die Reihen hoher Häupter einzuschmuggeln; ja selbst Berlin hatte er vor einer Reihe von Jahren zum Schauplatz seiner Thaten erkoren, hatte damals zur Abwechslung unter dem Namen „Fürst Koricoz“ betrügerische Schulden gemacht, war im Arrest gesessen und durch den Polizeipräsident v. Puttkammer verwiesen worden. Der Schneidermeister Kohn unter den Linden, welcher die Identität dieses Fürsten Koricoz mit dem jetzigen „Prinz von Armenien“ auf das Allerbestimmteste behauptete, war damals von dem schlauen Gast auf die raffinirteste Weise um eine sehr namhafte Summe beschwindelt worden.

Sollte man nicht glauben, daß unter der Wucht dieser gravirenden Thatsachen auch das verstockteste Abenteurergemüth zusammenbrechen und zum Geständniß bewogen werden würde? Zumal als die Untersuchungshaft – ob mit Recht oder Unrecht, will ich dahin gestellt sein lassen – im Arbeitshause stattfand, und Se. Hoheit der Prinz von Armenien zu den gesetzlichen niedrigen Dienstverrichtungen angehalten wurde, da der armenische Staatsschatz nur aus sechs Thalern bestand und nicht zum Unterhalt des höhen Herrn ausreichte. Seine Antworten lauteten dahin, „daß er nun alle und jede Auslassung verweigere, da er einsehe, daß alle preußischen Beamten von seinem Feinde, dem Kaiser von Rußland, bestochen seien, daß man ihm seinen Staatsschatz stehlen würde, wenn er den Versteck desselben nachwiese, und er es daher vorziehe, sich in sein Schweigen zu hüllen und, wie er schon so oft gethan, als Märtyrer seines guten Rechtes zu leiden.“

Dabei blieb er nun unverbrüchlich stehen und setzte die Polizei dadurch in nicht geringe Verlegenheit. Trotz der enormen Kosten, welcher in dieser verhältnißmäßig so unbedeutenden Sache aufgewendet worden waren, konnte man dem Abenteurer nichts nachweisen als Führung falscher Titel, Würden und Orden – Vergehen, die nur mit einer nicht allzu langen Gefängnißstrafe geahndet werden konnten. Die weitere Untersuchung würde dem Justizfonds ungeheure Ausgaben verursacht haben und zwar ohne Zweck. Man lehnte es daher „aus Zweckmäßigkeitsgründen“ ab, den Fremdling vor Gericht zu stellen, nahm von weiterer gerichtlicher Verfolgung Abstand und ließ den „Prinzen ohne Land und Namen“ über die Grenze frei, mit der ernstlichen Verwarnung, das preußische Land je wieder zu betreten. Die erlittene Haft wurde ihm als Strafe (??) angerechnet. Der Abenteurer hatte so recht eigentlich die Polizei mürbe gemacht, nicht sie ihn; unter einem Hinckeldey wollte dies etwas bedeuten.

Das war das nüchterne Ende einer geheimnißvollen Begebenheit, welche damals in Berlin ungeheures Aufsehen erregte und zahllose Pro und Contra hervorrief.

Wer war dieser Prinz von Armenien? Das ist ein Mysterium geblieben bis auf den heutigen Tag, das außer ihm selbst wohl Niemand zu lösen im Stande sein dürfte. Aller staatsanwaltliche, criminaldirectoriale und polizeiliche Scharfsinn scheiterte an diesem Räthsel. Seit der Unbekannte aus Preußen „gegangen wurde“, ist er verschollen und auf der Weltbühne großer Städte nicht wieder aufgetaucht. Seine versteckten Anspielungen, nach welchen Preußen für die Beschimpfung seiner Person Genugthuung, „die selbst einen Krieg nicht ausschloß,“ werde geben müssen, sind ohne Erfolg geblieben, weder die „Königin von Georgien“, noch „der Schah von Persien“ haben sich ihres Schützlings angenommen, der trotz seiner auffallenden Persönlichkeit seit vierzehn Jahren von der Landkarte weggefegt erscheint, und nur im Neuen Pitaval oder in Bülow’s Buch über geheimnißvolle und räthselhafte Menschen ein Denkmal finden wird. Keiner aber wird je die Frage beantworten können: „Wer war der Prinz von Armenien?“




Der Baumwürger.
Von Gustav Wallis.

Mit Unrecht beschuldigt man Menschen und Thiere allein eines ihnen angeblich angeborenen Vernichtungstriebes, der den Frieden des stillen Stein- und Pflanzenreichs durch ihren unaufhörlichen Kampf um die Existenz störe; auch dieser Naturfriede ist nur ein schöner Traum, seitdem wir in der sanften Pflanzenwelt Gewächse kennen gelernt, welche an Mordlust den wildesten Geschlechtern der Raubthiere nicht nachstehen und von den Naturkundigen selbst mit dem Namen „Würger“ bezeichnet werden: das ist der Schling- oder Baumwürger in Brasilien. Nicht ohne Rührung, aber auch nicht ohne ein besonderes Gefühl, durchmischt mit stillempfundenem Mitleid und innerer Entrüstung, können wir neben seinen Opfern ihn ansehen, der in der Reihe der tropischen Pflanzenformen eine so grausame Rolle spielt.

Ein Baum lebt auf einem andern Baume; er bemächtigt sich räuberisch seiner Stütze, überwältigt und erdrückt sie, um sie zu Staub zu vernichten, während das Opfer bei selbst größerer Ueberlegenheit sich nicht vor dem tyrannischen Uebermuthe zu schützen vermag. Wiewohl dieser würgende Baum dem äußeren Ansehen nach ein Schmarotzer, so ist er es im wissenschaftlichen Sinne doch nicht, da man, streng genommen, unter solchen nur diejenigen Gewächse begreift, die aus den Säften der Individuen, auf denen sie vorkommen, ihre Nahrung ziehen, oder doch mit dem fremden Leben eine engere Verschmelzung eingehen, ähnlich wie beim Pfropfen durch Wildling und Edelreis bewirkt wird. Die europäische Flora rechnet als bekanntere Beispiele die Mistel und die Flachsseide hierher. Die Gestalt, unter welcher dies Naturwunder – ein lebendes Denkmal irdischer Größe und Vergänglichkeit – auftritt, ist nicht immer gleich. In den gewöhnlichsten Fällen steigen zwei Bäume wie ein enggeschlossenes Zwillingspaar in Brüderlichkeit neben einander auf. Einer derselben jedoch schlingt mörderisch seine Arme um den andern, ihn dem Tode zu überliefern und um hernach siegend über den Resten des Gefallenen seine Krone ausbreiten zu können. Oder es erscheint der Tyrann, in Form eines Maschenwerkes schmiegsam wie fließendes Blei um den Stamm des Andern ausgegossen. Diese Art Erdrosselung ist die wirksamste, am schnellsten den Untergang des Genossen herbeiführende. In beiden Fällen aber sind die Bildungen von gleich überraschender Wirkung, so wunderbarer wie rätselhafter Natur, daß selbst dem geübten Blicke es schwer fällt, zwischen dem richtigen Mein und Dein zu unterscheiden. Ja, es ereignet sich, daß der Feind, wie im Kampf ermüdet, von seinem Vorhaben abzustehen scheint, indem er in einem Bogen nach der Erde sich verästelt und dort einwurzelt, nur um mit größerer Kraft gerüstet seine Kriegsoperationen desto sicherer fortsetzen zu können.

Was nun die Entstehung und das Werden dieser Erscheinung betrifft, so verdankt sie ihr Dasein fast immer nur äußeren Zufällen, zu denen jedoch die Mittel und Wege von der fürsorglichen Natur schon vorgezeichnet liegen. Vögel, Fledermäuse und andere Thiere verzehren die genießbaren Früchte des Baumräubers, und so gelangt der Same leicht an den Ort seiner zukünftigen Bestimmung. Er wird entweder am Stamme abgestreift oder mit den Excrementen der Thiere abgelegt. Hier nun wurzelt, harmlos und bescheiden anfangs, ein junger Sprößling; ein Würmchen am Stamme, treibt er genügsam die ersten Blätter, und noch beachtet Niemand das kümmerliche Wesen, das sich an seine Pflegemutter anzuklammern sucht. Doch wehe! Der kleine Unhold lohnt die erwiesenen Dienste schlecht! Gleichwie beim gezähmten

[540]

Die Weinpalme im Kampf mit dem Baumwürger.
Nach der Natur aufgenommen.

[541] Tiger der Blutdurst nur schlummert, nicht unterdrückt ist, um früher oder später unausbleiblich an seinem Herrn sich zu versündigen, so sehen wir auch dem Baumwürger schon zeitig die mörderischen Triebe eingepflanzt. Denn kaum über das erste Kindesalter hinaus, legt er auch schon seine Arme um das Opfer, der erste Schritt seiner verbrecherischen Laufbahn ist geschehen; und damit hat er bereits sein Spiel gewonnen! Die Arme halten ihn fest und kein Sturm entführt ihn seiner Stätte mehr. Mit doppelter Kraft gehoben, dehnt er sich nun rasch in die Höhe, rascher als seine Pflegerin es einst vermochte. Von Zeit zu Zeit wachsen ihm, höher hinauf, neue Armpaare, deren Zweck um so unfehlbarer ist, als sie bei ihrem Zusammentreffen in einander zerfließen und solchergestalt einen einzigen festen Ring bilden. Ihre Verschmelzung geht so gründlich vor sich, daß sie keine Spuren der Einigung zurücklassen.

Mit der zunehmenden Ausdehnung und Stärke dieser Armwurzeln beginnen die Folgen der Zerstörung sichtbar zu werden; denn während das umschlossene Opfer an den freien Stellen sich noch auszudehnen vermag und sich über und unter den Schlingen Anschwellungen bilden, entstehen die grellsten Contraste im Hinblick auf die weniger entwickelten Theile. Die Zerstörung schreitet unaufhaltsam vor, fast sich überflügelnd, durch verschiedene Umstände mehr oder weniger begünstigt. Der Kampf um das Leben ist jedoch so hartnäckig, daß der Unterdrückte dem Sieger oft erst weicht, nachdem die Kronen Beider gleiche Größe haben und vollkommen in einander verwachsen sind.

Der freien Lebensthätigkeiten nicht mehr befähigt, senkt der Besiegte endlich lebensmatt sein vorhin noch so freudig erhobenes Haupt. Er wird ein Spiel der Stürme und anderer zerstörenden Elemente. Ein Ast wird nach dem andern aus der Höhe in die Tiefe hinabgeschleudert, bis nur noch der kahle Rumpf als redendes Zeugniß der Schandthat zu verbluten übrig bleibt. Nun, wo der Verräther den Gipfel seines Triumphes erreicht zu haben sich rühmen könnte, hebt die Periode seines eigenen schmachvollen Unterganges an. Auf eigenen Füßen zu schwach, tragen ihn auch die Reste des Erdrosselten nicht mehr, da diese langsam zu vermodern beginnen, um nun an dem überlebenden Despoten das Werk der Vergeltung zu üben. Ein Gerippe nur noch, schwankt der durchlöcherte Bau, ein kümmerliches Dasein fristend, sich selbst zur Last und unter den übrigen Bäumen des Waldes seinem Schicksal preisgegeben. Noch einmal schüttelt der Sturm die zerbrechlichen Glieder, und mit krachendem Getöse stürzen sie zusammen, über den Trümmern des Vorangegangenen ihr eigenes Grab findend.

Der selbstmörderische Baumwürger.
Nach der Natur aufgenommen.

Nur wenn wir uns die Principien vergegenwärtigen, nach denen die Gebilde des üppigen tropischen Pflanzenlebens entstehen und vergehen, wo Eins mit dem Andern um sein Dasein ringt, wo räthselhafter Weise über modernden Trümmern ununterbrochen neue Formen treiben, und wo ein beständiges gegenseitiges Zerstören und Wiedergebären in der schaffenden Natur stattfindet: dann nur sind wir im Stande, das Schroffe in den Gegensätzen des besprochenen Phänomens weniger schroff zu finden und in gemildertem Lichte eine Erscheinung zu betrachten, welche ohne diese Milderung die Einbildung auch des stumpfesten Gemüthes wachrufen muß.

Ein gewiß interessantes Beispiel solcher Erdrosselung bieten uns die im Bilde vorgeführten nebeneinander stehenden Mauritia- Palmen, welche Ansicht den unteren Theilen des Itapicuru- Flusses im nordöstlichen Brasilien nahe dem Aequator, entnommen ist. Spricht nicht aus dem Bilde des anscheinend unselbstständigen Wesens eine Ueberlegung, eine Kriegslist heraus, deren berechnende Absicht, von der der Baumgattung eigenen Dehnbarkeit und Schmiegsamkeit begünstigt, um so gewisser erreicht wird? Der Würger, nicht zufrieden, rechterseits seinen Zweck erreicht zu sehen, sandte schon frühzeitig eine Helfershand aus, um mit ihr später unter vereinten Kräften den Prachtbau auch der zweiten edlen Gestalt herabzustürzen die in so würdiger wie prunkloser Majestät noch stolz ihr Haupt in die Lüfte trägt! Wenn schon unter allen Bäumen die Palmen am längsten dem Würger Widerstand zu leisten pflegen, so macht doch die in Rede stehende Mauritia – auch Weinpalme genannt – eine Ausnahme. Sie besitzt nur in ihrer Rinde außerordentliche Härte; das Innere dagegen ist weich und schwammig. Den schönen Namen „Weinpalme“ hat dieser Baum darum erhalten, weil der äußere Breimantel der zierlich beschuppten Früchte zur Darstellung eines beliebten gegohrenen Getränkes Verwendung findet, das zwar keineswegs mit Wein verglichen werden kann, der Wissenschaft aber dennoch Veranlassung gab, eine Art dieser Gattung mit dem Namen „vinifera“ zu belegen.

Auf den wunderbaren, aus dem Geschlecht der Feigenarten stammenden Schlingbaum zurückzukommen, so wurde derselbe von dem Brasilianer ganz bezeichnend mit dem Namen Cipó-matador (wörtlich Schlingwürger) bezeichnet. Er gehört aber nicht, wie man mehrfach angenommen hat, einer einzigen Species, sondern mindestens drei verschiedenen, wie ich schon beobachtet, an. Es ist dies um so weniger befremdend, als die Eigenschaft des Kletterns, die große Genügsamkeit auf dürftigem Boden, sowie die Dehnbarkeit, gewissermaßen das Modelungsvermögen im Anschluß an fremde Gegenstände, selbst an Steine, einen wesentlichen Charakter der ganzen Familie ausmachen. Aehnlichen Charakter, jedoch weniger gewaltsam im Anblick, finden wir in Brasilien auch noch bei einigen Gliedern der in den Tropen zu hohen Bäumen anwachsenden, der Malvenfamilie verwandteu Bombacineen; ferner bei mehreren Clusia-Arten, die alle Eigenschaften eines wahren Schmarotzers zeigen, weil sie auf Kosten ihres Gastfreundes ein fettes glänzendes Blatt, große prachtvolle Blumen tragen, wie auch noch oft dem fremden Haushalte eine Menge seltsam geformter Früchte zu danken haben.

Nicht weniger auffällig macht sich der Cipó-matador, wenn er, zufällig einer Mauer entsprossen, gegen die ihm feindlichen [542] Elemente ankämpfend heranwächst. Alsdann bewahrt er zwergartigen gedrungenen Habitus, er quält sich zu einem Flachwuchse, die sonderbarsten Verzerrungen bildend, und während er durch alle Steinfugen seine Wurzeln treibt, bereitet er, anstatt sich mehr und mehr zu befestigen, sich selbst mit der Mauer zugleich unvermeidlich Ruin, indem ein gelegentlicher Sturm den ganzen Bau über den Haufen wirft.

Wie aber, möchte der Leser fragen, wenn ein solches Gewächs aufkeimt, ohne überhaupt eine Stütze in nächster Nähe zu haben?

Dann bietet es das Bild der lächerlichsten Einfalt. Es entsteht dann allerdings ein Baum, der anfangs wie jeder andere in Selbstständigkeit gerade und ohne Mißbildung aufwächst. Lange aber unterdrückt er seine angeborenen Triebe nicht, denn aller Consequenz zuwider treibt er, wie unsere kleinere Abbildung zeigt, auch ohne Stütze Arme und Wurzeln aus dem Stamme, sucht endlich an sich selbst sein Würgsystem in Anwendung zu bringen und betrügt sich solcher Art früher oder später um seine eigene Existenz.




Die schlagenden Wetter bei Burgk.

Bericht von der Unglücksstätte.

„Dreihundert Menschen verunglückt in den Kohlenwerken des Plauen’schen Grundes!“ - so lief am Morgen des zweiten August ein dumpfes Gerücht durch unser Dresden und warf einen grellen Mißklang in die eben begonnene Volkslust der bekannten „Vogelwiese“. Es sträubte sich das Herz, die entsetzliche Botschaft zu glauben, bis noch vor Abend authentische Nachrichten die erste Kunde in ihrem ganzen Umfange bestätigten, die Kunde von einem Unglück, wie es in solcher Massenhaftigkeit die Chronik des Bergbaus noch nicht verzeichnet hat, und das in demselben kleinen Sachsenlande, wo der „schwarze Diamant“ nur vor fünfundzwanzig Monaten erst seine Hekatomben gefordert, wo noch lange die Wunde nicht vernarbt ist, welche die Katastrophe von Lugau geschlagen hat!

Der „Plauen’sche Grund“, bekanntlich das hinter dem unweit Dresden gelegenen Dorfe Plauen sich öffnende, von Nordosten nach Südwesten laufende Thal der Weißeritz, welches jetzt die von der sächsischen Hauptstadt über Tharand nach Freiberg und Chemnitz führende Eisenbahn durchschneidet, bildet in seinem mittleren Theile ein sanft gehügeltes stundenbreites Gelände, in welchem sich Haus an Haus reiht und die stattlichen Gebäude der verschiedenen Dörfer und Ortschaften sich gewissermaßen zu einer einzigen ansehnlichen Stadt vereinigen; dieser Plauen’sche Grund zählt zu den bedeutendsten Industriebezirken des gewerbthätigen Sachsens. Zu den umfänglichsten Steinkohlenschachten des ganzes Grundes gehören die etwa dreiviertel Stunde südwestwärts von Potschappel bei dem Dorfe Burgk gelegenen Werke des Freiherrn von Burgk, die von den vorletztes Jahr im Plauen’schen Grunde gewonnenen etwa sechs Millionen Scheffeln Steinkohle allein zwei Millionen und siebenmalhunderttausend Scheffel zu Tage förderten und jetzt mehr als achtzehnhundert Arbeiter beschäftigen. Diese Burgk’schen Gruben nun, und zwar die Schachte „Neue Hoffnung“ und „Segen Gottes“ sind der Schauplatz des entsetzlichen Trauerspiels geworden, welches sicherlich bis in die zweite und dritte Generation hinab den zweiten August des Jahres 1869 zum größten Unglückstag des sächsischen Bergmanns stempeln wird.

Der Morgen war wunderschön, das Thal lag im wonnigsten Sonnenlichte und die Rauchfahnen aus den vielen hohen Fabrikschloten glänzten wie vergoldete Wolken, als ich, von der „Gartenlaube“ zur Unglücksstelle abgesandt, in Potschappel dem Bahnzuge entstieg. Ein alter Bergmannsinvalid harrte auf der Station der ankommenden Fremden und führte sie hinaus nach der Schreckensstätte, um so sich durch das Unglück seiner Cameraden ein paar Groschen zu verdienen.

Etwa eine Viertelstunde über Potschappel erblickt man am Fuße des Windbergs, dem beträchtlichsten Höhepunkte des Plauenschen Grundes, das ansehnliche Dorf Burgk oder Großburgk, mit seinem Schlosse, dem Wohnsitz des Freiherrn gleichen Namens, mit seinen mannigfachen Verwaltungs- und Beamtengebäuden und den vielen schmucken Privathäusern. Rechts an der Straße steht das „Huthaus“, der Versammlungsort der Bergleute, ehe sie anfahren. Kaum hatten wir die Blicke dem in allen Berichten von der Katastrophe genannten grauen Gebäude zugewandt, so sahen wir zwei Rüstwagen langsam die Straße herabfahren und neben und hinter ihnen Gruppen von Männern und Frauen einhergehen.

„Da bringen sie die Ersten,“ sprach unser greiser Führer und wischte sich eine Thräne aus dem verwetterten Gesicht. Dann zog er fromm seine Mütze ab und ließ den Zug vorüber.

Ja, es waren die Ersten, die ersten Särge nämlich, die mit den sterblichen Ueberresten von vier der Verunglückten dem nahen Friedhofe von Döhlen zugefahren wurden, zu dessen Kirchspiele Burgk mit seinen Kohlenwerken gehört.

„Die Frau dort,“ flüsterte mir der alte Bergmann zu, „hat mit einem Schlage den Mann, drei Söhne und drei Brüder verloren! Sie ist von Niederhäßlich am südlichen Fuße des Windbergs da.“

Die Frau hatte keine Thränen, mit versteinertem Antlitz wie eine Medusa zog sie ihren Passionsweg, aber dieser stumme Schmerz, diese ergreifende, thränenlose Verzweiflung – sie waren erschütternder, als der laute, erleichternde Jammer der Andern, und die starren Züge der Unglücklichen haben sich meinem Gedächtniß unverlöschlich eingeprägt.

Immer häufiger wurden jetzt die Gruppen uns begegnender jammernder und klagender Frauen und Mädchen. Mit jedem Schritte vorwärts wurde unser Gang zur Stätte des Unglücks schwerer.

Wir bogen jetzt in einen steilen Bergpfad ein und stiegen am Abhange des Windbergs in die Höhe. Endlich stehen wir am Ziele, rechts vor uns ist der „Neue-Hoffnung-Schacht“ und etwa tausend Schritte weiter liegen die Bauten des „Segen Gottes“; dazwischen der lange Stollen, der beide Schächte verbindet.

Es ist ein ausgedehntes Terrain, das wir nun betraten, von jenem unheimlich öden, ruß- und dampfgrauen Anblick, wie er allen dergleichen Kohlengruben und Bergwerken eigen zu sein pflegt. Eine Eisenbahn führt uns zur Linken nach der Station von Potschappel hinunter und zweigt sich in mehrere Nebenschienenwege nach den einzelnen Schächten ab, so daß jeder dieser letzteren seine Producte in directer Communication den großen Verkehrsplätzen draußen zusenden kann. Und auf diesen Bahnen rollen die Kohlenwagen hin und her, schnauben die Locomotiven, pfeifen die Schaffner, als habe es keinen zweiten August gegeben!

Auch die weite Hochfläche ist sehr belebt, aber von einem schmerzlichen Leben. Männer und Weiber sitzen in trübem Hinbrüten auf den Schlackenfeldern, gehen und kommen und nicken sich wehmüthig zu oder schütteln leidbewegt die Köpfe. Weiter vorn am Neuen Hoffnungsschacht aber hat sich dichtgedrängt ein buntes Menschengewühl zusammengeschaart. Gensd’armen und Militärposten sperren die Schachtgebäude und Kohlenschuppen gegen das andrängende Publicum ab, um nur die Angehörigen der Verwundeten zur Schauderstätte zuzulassen.

Auch mir wurde natürlich zunächst der Eintritt in die vom Cordon umzogenen Räume verweigert, bis ich, nach wohl stundenlangem Umherirren von einem Gebäude, einem Schuppen, einer Förderungsbrücke zur andern, mit Hülfe meines Geleiters einen der höheren Bergbeamten ausfindig gemacht und bei ihm mich gehörig legitimirt hatte. Mein Auftrag von Seiten der „Gartenlaube“, ich darf es wohl sagen, verschaffte mir die besondere Berücksichtigung, daß mir ein Steiger zum Begleiter auf einem Gang durch die Werke mitgegeben wurde.

In solchem Geleite trat ich denn meine weitere Wanderung an. Ueber eine Art von Brücke, die zum Transport der Kohlenwagen dient, ging es zunächst dem Lagerschuppen zu. Hier werden die Kohlenvorräthe aufgespeichert, jetzt war er zum Todtenhause umgeschaffen. Welches Schreckbild wartete meiner, sobald ich mir durch die Reihe jammernder Weiber und Kinder Bahn gebrochen hatte, die, gleich einer Schirmwand, die Todten umgaben! Ich habe die Morgue auf dem großen Sanct Bernhard in der Schweiz, habe die Morgue in Paris gesehen, – doch was sind ihre Schrecken gegen die grausige Scene in diesem Kohlenschuppen!


[543] Auf grünen Birkenbüschen, denselben Büschen, mit denen der Bergmann die „schlechten Wetter“ aus den Gruben zu wedeln pflegt, waren, Einer an den Andern, die entstellten Körper von dreizehn der Verunglückten gebettet: zum Theil verbrannt, mit blutigen Wunden an Kopf und Gliedern, hie und da schon verkohlt, braun oder vielmehr rauchgrau, in einer Farbe, welche vom Neger, vom Mulatten, vom Malaien, von allen diesen Menschenracen etwas an sich hatte und doch wieder von jeder natürlichen Färbung der Menschenhaut so ganz verschieden war, – so lagen die sterblichen Ueberreste der armen Bergleute da – ein Bild, dessen Graus sich nicht beschreiben, aber auch nie wieder vergessen läßt, das in aller seiner Furchtbarkeit vor mir steht, sowie ich nur die Augen schließe! Eine der Leichen, eine merkwürdig angeschwellte Gestalt, mit dickgedunsenem Gesichte und aufgerissenem Munde, schien man soeben erst hereingeschafft zu haben, sie lag außer der Reihe der Uebrigen und – noch überrieselt mich’s kalt, wenn ich daran denke! – ich stolperte über die weitausgebreiteten Füße des Unglücklichen. Und neben diesem schauderhaft entstellten Leichnam, der kaum noch den Anblick eines Menschen darbot, kniete ein junges Weib und badete die verstümmelten, blutig zerrissenen Finger des Todten mit heißen Thränen.

„Mein Wilhelm, mein guter Wilhelm!“ schluchzte die Arme. „Ja, es ist mein Wilhelm. Ach, ich möchte mich gleich lebendig zu ihm in den Sarg legen … es ist ja zu entsetzlich! Und es war am Montag nach acht Wochen seine erste Schicht wieder; er hatte zwei Monate krank gelegen und fuhr zum ersten Mal wieder an … und da muß ihn das Wetter erschlagen!“

Aehnliche Scenen, wenn auch vielleicht minder laut und lebhaft, spielten sich in allen Ecken des Todtenschuppens ab; überall Weinen und Wimmern, überall ein Schmerz, der sich nicht in Worte fassen läßt! Die Leidtragenden waren meist junge Frauen oder alte Mütterchen, denn sämmtliche der hier auf Grün gebetteten Todten waren junge Männer von zwanzig bis dreißig Jahren gewesen, sogenannte Förderleute, denen es obliegt, die von den Häuern an den „Orten“, das heißt an den Stellen, wo eben abgebaut wird, losgehauenen Kohlen in die „Hunde“, eisenbeschlagene Holzwagen auf kleinen Rädern, zu füllen und auf den „Strecken“ bis dahin zu bringen, wo sie mittels Dampfkraft in die Höhe gezogen werden. Und da jammerte nun manche Mutter, welcher der verhängnißvolle zweite August alle ihre Söhne geraubt; da stand aufgelöst in Schmerz manches junge Weib mit dem Erstgeborenen auf dem Arme, der seinen Vater verloren hatte, noch ehe er den Namen desselben lallen konnte; da wischte sich manche hochbetagte Greisin die stillen Thränen aus den blöden Augen, über den kalten schwarzen Mann gebeugt, welcher die einzige Stütze ihres Alters gewesen war! Ach! so rufe ich wieder und wiederum aus, wo ist die Feder gewaltig genug, um solchen Ueberschwang von Leib und Weh zu schildern?

Die Stelle, von wo die Katastrophe ihren Ausgang nahm, glaubt man zu kennen, man weiß, daß der Segen-Gottesschacht Räume umschließt, in denen sich Schlagwetter bilden; warum nun aber diese letzteren plötzlich so ungeheuere Dimensionen annahmen, darüber läßt sich, wie schon erwähnt, bis jetzt Positives noch nicht behaupten. Möglich, daß die Explosion aus längst abgebauten und durch Mauerwerk von den noch im Gange befindlichen Orten sorgsam abgesperrten Stellen kam und nach Zersprengung der schirmenden Scheidewände sich nach dem Arbeitsschachte verbreitete. Gewiß scheint die als vortrefflich bekannte Leitung der Burgk’schen Kohlenwerke kein Vorwurf zu treffen, wenn sich auch, wie mir erzählt wurde, in den letzteren Jahren eine Praxis eingeschlichen haben mag, die vielleicht nicht durchaus zu billigen ist. Früher fuhren nämlich an jedem Morgen nach einem Feiertage, also auch jeden Montag, Obersteiger und Steiger mit ihren Davy’schen Sicherheitslampen zuerst in den Schacht ein und ließen keinen Arbeiter eher zu, als bis sie sich überzeugt hatten, daß keine schlagenden Wetter vorhanden waren, die sich leicht anzusammeln pflegen, wenn längere Zeit keine Bewegung im Schachte stattgefunden hat. Neuerdings aber pflegen die Förderleute den vor der Frühschicht abgehaltenen Verlesungs- und Andachtsversammlungen im Huthause nicht mehr anzuwohnen, sondern sich immer sofort in den Schacht zu begeben, um soviel „Hunde“ wie nur möglich mit Kohlen füllen zu können, da sie nach der Anzahl der beladenen Wagen bezahlt werden. Kohlen sind von den vorhergehenden Schichten immer noch genugsamer Vorrath losgebrochen übrig, so daß das Werk der Hundefüllung ohne Verzug beginnen kann. Auch am zweiten August sind die Förderleute zuerst in die Schachte gedrungen; ob sie nun mit ihren Blendlichtern die Gase entzündet haben, wer mag das entscheiden, nachdem Keiner, der über den Ursprung des Unglücks vielleicht einigen Aufschluß ertheilen könnte, mehr unter den Lebenden ist?

Auf dem Schienenwege, der beide Schachte verbindet, wanderte ich nun dem „Segen Gottes“ zu. Waren die Eindrücke, welche ich auf der „Neuen Hoffnung“ empfangen, ergreifender, erschütternder, herzbrechender Natur gewesen – sie traten weit zurück vor der Gewalt der mich hier auf „Segen Gottes“ empfangenden. Hier war die eigentliche Schauderstätte, der wahre Ort des Entsetzens, gegen dessen Bilder weit im Hintergrunde blieb Alles, was ich auf dem Neuen-Hoffnungsschacht beobachtet. Schmerz und Erschütterung wichen hier gewissermaßen dem nackten Grausen!

Der Segen-Gottesschacht erscheint stattlicher als der von „Neue Hoffnung“, sein Dampfschlot erhebt sich stolzer in die Lüfte und der Complex seiner Bauten ist umfänglicher und ansehnlicher. Höher gelegen als „Neue Hoffnung“, gewährt er, unweit der viel besuchten „Goldenen Höhe“, zugleich eine prachtvolle Aussicht auf die Elbhöhen und die Berge des Plauenschen Grundes. Der Menschenzusammenfluß war womöglich noch zahlreicher als auf dem andern Werke, aber unerbittlich wehrten die hier auch zahlreicher aufgestellte Soldatenwachen, Gensd’armen und Werkbeamten Alles ab, was nicht durch specielle Ermächtigung oder von Berufswegen zum Zulaß berechtigt war; selbst die Hinterbliebenen der Verunglückten suchte man, in anzuerkennender Menschlichkeit, thunlichst von der Schreckensstätte abzuhalten Der Anblick, der ihnen bevorstand, wäre ja mehr gewesen, als die Meisten zu ertragen vermocht hätten!

In einem hohen Kuppelbau des Werkes hängen zuvörderst an riesigen eisernen Ketten, dann an halbarmdicken Tauen die Gestelle, auf welche die „Hunde“ gesetzt werden, um die losgehauenen Kohlen aus einer Tiefe von achthundert Ellen heraufzufördern, und zwar derart, daß immer ein Gestell hinunter, das andere heraufläuft. Eine mächtige Dampfmaschine setzt das Hebewerk in Bewegung und einer der Arbeiter unten giebt durch den Druck einer Feder, welche mittels einer Leitung mit einer in der Kuppel des Gebäudes angebrachten Glocke in Verbindung steht, das Zeichen, wenn unten der Kohlenwagen zum Heraufziehen bereit ist, damit die Dampfmaschine zum Förderungswerke angelassen werden kann. In der Bergmannssprache heißt die Vorrichtung und das Gebäude selbst, welches sie umschließt, die Kaue. Gleich neben dem Hebeapparat führt eine Mündung in den Schacht hinab, durch welche auf Leitern in denselben hinabgestiegen werden kann.

In dieser Kaue nun faßte ich Posto, sie war der Schauplatz des Grausens, eines Grausens, wie es die Phantasie keines Höllenbreughel’s, die Nachtstückromantik keines Hoffmann schauerlicher und unheimlicher ersinnen könnte. Neben mir stand und saß auf den um die Wände laufenden Bänken eine ziemliche Anzahl von Personen, größtentheils Mitglieder von Behörden und höhere Bergbeamte aus Freiberg; am Thore drängte sich Kopf an Kopf das Publicum, durch die Bajonnete der Soldaten vom Einströmen zurückgehalten. Aber ringsum herrschte Grabesschweigen, höchstens, daß ab und zu Einer oder der Andere mit seinem Nachbar leise flüsterte, Alles blickte auf das Hebewerk, welches jetzt keine „Hunde“ förderte, sondern für ihre schmerzliche Bestimmung eigens dazu construirte kleine hölzerne Wagen, und lauschte auf das Signal von unten herauf, sobald ein eigenthümlich grausiger, hohlgurgelnder Ton verkündet hatte, daß das Gefährt in die Thiefe hinab gelangt war. Kling! ging’s jetzt, das Zeichen, daß das Personal oben „Achtung“ zu geben hatte, weil ein Transport erfolgen sollte. Eins, zwei, drei – Alles hielt den Athem an und zählte weiter – vier, fünf, sechs Glockenschläge! Sie bedeuteten, daß eine Leiche heraufzuheben war, während blos drei Glockenschläge verkündeten, daß nur „Berge“, das heißt Kohlenabraum und Bruchschutt, ausgefördert werden sollten.

Alles trat nun näher an die Gitterschranke, welche den Hebeapparat von dem übrigen Raum absperrt, und blickte hinab, obgleich in dem nächtigen Dunkel des Schachtes sich nichts erkennen ließ; langsamer und immer langsamer rollte das Seil, endlich kamen die schweren Ketten zum Vorschein, die Männer, denen die gräßliche Arbeit obliegt, die heraufgewundenen Menschenüberreste [544] in Empfang zu nehmen und weiter zu fahren, stellten sich in Positur, und – da erscheint er, der schauerliche kleine Wagen, und drinnen liegt ein schwarzer, von der Verwesung zersetzter, schon halbzerbröckelter, pestilenzialische Dünste aushauchender Gegenstand, der noch vor wenigen Tagen ein athmender, vielleicht fröhlicher und glücklicher Mensch gewesen ist! Der Anblick ist so grauenhaft, so über jede Beschreitung entsetzlich, daß Einem förmlich das Blut in den Adern stockt und man seiner Nerven ziemlich sicher sein muß, um es zu wagen, sich dem Eindrucke länger auszusetzen.

Acht der Verunglückten oder vielmehr, was von ihnen noch übrig war, habe ich auf diese Weise an’s Tageslicht schaffen sehen, doch nur ein einziger der emporgewundenen Körper hatte noch eine einigermaßen erkennbare Menschengestalt, alle anderen waren nur Menschenbrocken; bei dem Einen fehlte der Kopf gänzlich, bei einem Anderen war er bereits so in Fäulniß zerflossen, daß sich kein Theil desselben mehr unterscheiden ließ; bei einem Dritten war der Kopf zu einer mumienhaften Winzigkeit zusammengeschrumpft, ohne daß ein Zug des Gesichtes wahrnehmbar blieb; dem Vierten fehlten Arme und Beine, sammt und sonders aber sahen sie so tiefschwarz aus wie die dunkelste Pechkohle, welche die Armen jemals losgehauen hatten, und überall quoll schon die Jauche der Verwesung heraus.

Ich will die Leser der Gartenlaube nicht mit noch detaillirterer Ausmalung dieser Schauerbilder foltern, nur das muß ich noch hinzusetzen daß, da bei der in der Tiefe herrschenden großen Hitze die Verwesung auf das Rapideste fortschreiten muß, von Stunde zu Stunde die Leichenaufförderung schwieriger wird und schließlich nur noch einzelne kleine Stücke der einstigen Menschenkörper oder widerliche Breimassen an die Oberfläche kommen werden. Von einem Recognosciren dieser Trümmer kann selbstverständlich nicht mehr die Rede sein, es ist darin sicher nur zu loben, daß die leitenden Behörden, wie ich schon bemerkte, auch die Angehörigen der Verunglückten so viel wie möglich von Ort und Stelle fern zu halten trachten. In den letzten Tagen hat man denn auch keinen dieser kleinen Leichenwagen zu Tage gebracht, den man nicht schon unten sorgfältig mit einem Tuche bedeckt hätte, um den entsetzlichen Anblick allen Augen zu entziehen.

So wie einer dieser traurigen Transporte aus dem Gestelle genommen war, fuhr man ihn auf den zur Förderung der Hunde dienenden Eisenschienen schleunigst dem nahen Kohlenschuppen zu. Hier ward er „ausgeschüttet“ und, so schnell wie es sich nur immer thun ließ, ohne alle sonst üblichen Proceduren, in einen der bereit gehaltenen Särge geworfen, von denen die Tischler der gesammten Nachbarschaft immer neuen Vorrath nach Segen-Gottes schaffen. Unmittelbar hinter dem Schuppen aber waren einige zwanzig Menschen beschäftigt, aus dem harten Gestein eine große Grube auszuhauen, und zwischen diesen Steinen, nicht in die weiche Erde, werden nun, nachdem, wie es anfangs geschah, die Bestattung auf dem Friedhofe von Döhlen längst nicht mehr möglich ist, die armen Häuer und Förderleute zum letzten Schlummer gebettet. Unaufhörlich folgen sich hier die Leichenzüge; sang- und klanglos tragen stämmige Männer schnellen Schritts den Sarg heran und schieben ihn dicht an den vorhergehenden zwischen die Steine, während die Hacken der Arbeiter rüstig fortpicken, das Leichenfeld zu erweitern, um für neue Schläfer Raum zu gewinnen. Als ich am Rande des schauerlichen Massengrabes stand und schmerzbewegt und von Grauen erfüllt die Reihe der Särge überschaute, so weit die Steinschicht sie nicht schon dem Blicke verbarg, waren ihrer neunundvierzig, die im Kalke bei einander standen. Drüben am andern Ufer schauten einige wenige Gruppen von Männern und Frauen in dumpfem Weh in die Grube hinab, – es war, als wenn das Grausen auch ihnen jeden lauten Ausbruch des Kummers erstarren machte. Nur zwei junge Männer, augenscheinlich keine Bergleute, schrieen laut auf vor Schmerz und wühlten sich verzweiflungsvoll in den blonden Haaren.

„Denken zu müssen,“ stöhnte der Eine, „daß unter diesen gräßlichen, schwarzen, verkohlten, verstümmelten Leichen unser Vater ist – ach, Du Gott da oben, wie kannst Du uns das auferlegen!“

Ich frug einen der Umstehenden, wer die jungen Leute seien; es waren die Söhne eines Hauers vom Segen-Gottesschacht, dessen Leiche man nach einigen Anzeichen allerdings mit ziemlichem Grunde in einem der letzten Särge vermuthen konnte.[2]

Die Ausdünstung wurde von Minute zu Minute entsetzlicher, so entsetzlich, daß ich noch am Abende, in stundenweiter Entfernung den Geruch des Pesthauchs in meinen Kleidern hatte, trotzdem, daß durch Ausgießung verdünnter Carbolsäure sowohl unten im Schacht selbst, als oben bei den Leichen alles Mögliche für Desinfection – auf sanitätspolizeiliche Anordnung – geschah. Auch meines Bleibens am Orte des Grauens konnte nicht länger sein, ich warf noch einen Blick auf Grab und Kaue und schritt, unter einem heranziehenden Gewitter, bei den Stößen eines heftigen Wirbelwindes, welcher der Scenerie etwas noch Unheimlicheres verlieh und die Schwefeldünste aus den Coaksöfen weit über die Hochfläche jagte, daß mir schier der Athem verging, nach Burgk hinab. Unten auf einer Wiese am Fuße des Windbergs, da wo der Weg nach dem Dorfe einbiegt, saß eine ältliche Frau. Der Regen begann in großen Tropfen zu fallen, Blitz auf Blitz zuckte über den westlichen Himmel, und krachend dröhnte der Donner – sie achtete dessen nicht, sie achtete auch nicht aus die Bemühungen eines neben ihr stehenden Bergmanns, der sie aufzurütteln und mit fortzunehmen strebte. Den Kopf in die Hände vergraben, schluchzte sie krampfhaft, so daß sie von Zeit zu Zeit in die Höhe fuhr von der Erschütterung, die sie durchbebte. Leise näherte ich mich und sprach mit ihrem Begleiter: die Unglückliche hatte Mann und Sohn in der noch unzugänglichen Tiefe des Neuen-Hoffnungsschachtes liegen und ihren zweiten Sohn nur dadurch erhalten, daß ihn seit längerer Zeit – unheilbares Siechthum an’s Krankenlager fesselte!

Das sind nur wenige einzelne Beispiele des namenlosen Elends, welches der unheilvolle zweite August über den kleinen Bezirk von kaum zwei Stunden heraufbeschworen hat.

Ehe freilich diese meine Zeilen, die ich beklommen von dem Geschauten und Erlebten an Ort und Stecke niederschrieb, im Druck dem Publicum vorliegen, hat die Presse längst bis in die entlegensten Winkel unseres Vaterlandes hinein und weit über dasselbe hinaus ausführliche Meldung gethan von dem vernichtenden Naturereigniß; ich konnte mich daher blos auf ein Gesammtbild desselben und seiner Wirkung und auf Schilderung einzelner Scenen und Erscheinungen beschränken, wie sie mir persönlich entgegengetreten sind.


Tausend Wittwen und Waisen in einem Augenblick!

Fast um das Dreifache gräßlicher, als es vor dem Unglücksschacht zu Lugau war, ist über dem kohlenreichen Schooße des Windbergs bei Potschappel das Jammern des Elends und der Schrei der Verzweiflung. Von den viertausend Bergleuten des Plauenschen Grundes, jenes Natur- und Industrieparadieses in Dresdens Nähe, hat der alte Feind des Bergmanns, das böse Wetter, ihrer 274 mit einem Schlage vernichtet! Die Männer, die Väter, die Brüder, all’ die rüstigen Ernährer alter Eltern und hülfloser Weiber und Kinder, am zweiten August früh vier Uhr aus vielen Ortschaften des Grundes zur Tagesschicht herbeigeeilt, lagen schon um fünf Uhr todt in ihren beiden großen Gräbern, den zwei Nachbarschächten, deren Namen lauten: „Neue Hoffnung“ und „Segen Gottes“!

Hoffnung und Gottes Segen für tausend Wittwen und Waisen! Sind ehedem beide Gruben Beides gewesen vor der entsetzlichen Stunde, so wird für die Unglücklichen jetzt der älteste und tiefste Schacht der Hoffnung und des Segens, das liebevolle Menschenherz, sich öffnen und Trost und Hülfe durch dieselbe Hand der Wohlthätigkeit spenden, welche einst in Lugau so viele Thränen getrocknet hat. – Die Gartenlaube nimmt den alten Opferstock vor und bittet ihre Freunde und Leser um ihre Gaben!
Die Redaction der Gartenlaube. 




Vor Erscheinen des obigen Aufrufs gingen an Beiträgen bereits ein: Dr. A. Fränkel 3 Thlr. – Redaction der Gartenlaube 100 Thlr. – Familie K. 5 Thlr. – Prof. Bock 10 Thlr. – A. Fischer 7 Thlr. – A. Wiede 10 Thlr. – W. Schuwardt 1 Thlr. – Dr. Fr. Hfm. 3 Thlr. – Sammlung im Verein deutscher Locomotivführer während der Zusammenkunft in Leipzig 14 Thlr. 15 Ngr. – N. H. 2 Thlr. – A. St. in Göttingen 1 Thlr. – S. in E 2 Thlr. – C. S. 15 Ngr. – Sammlung gelegentlich eines Familienfestes in Schöneck i. S. 6 Thlr. 10 Ngr. – Ertrag einer Sammlung im Hôtel de France in Baden-Baden 100 fl. rhein. (57 Thlr. 4 Ngr. 3 Pf.) – Sammlung bei einem kleinen Festessen der Schützengesellschaft in Königssee 16 Thlr. – Ertrag eines vom Charakterkomiker Ad. Fleischmann aus Nürnberg im Schützenhause in Leipzig gegebenen Concerts 21 Thlr. 18 Ngr. – L. A. k. in Forst 1 Thlr. – X. Y. 3 Thlr. – (Summa: 264 Thlr. 2 Ngr. 3 Pf.)


  1. Nächstens wird im Verlag von Ernst Keil ein Schriftchen erscheinen, welches neben ausführlicher Begründung der ärztlichen Anforderungen an eine Schulbank und der Schilderung des langen, mühevollen, aber sicher interessanten Wegs der Versuche bis zur Kunze’schen Schulbank, zugleich eine Anweisung zur Construction der letzteren nebst allen Maßangaben bringen soll.
  2. Wir werden unseren Lesern eine an Ort und Stelle aufgenommene Abbildung dieses Begräbnisses in Holzschnitt und dann auch noch in einem Nachtrag zu dem Berichte Manches mittheilen, was hier aus Raummangel zurückgelegt werden mußte oder noch nicht ermittelt war.

Anmerkungen (Wikisource)