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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[513]

No. 33.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Verlassen und Verloren.

Historische Erzählung aus dem Spessart.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)

„Alle Teufel!“ hatte unterdeß der Capitain Lesaillier, an eines der Fenster stürzend und es aufreißend, ausgerufen … „Heda, Leute, wer kommt uns da auf den Leib? Was giebt’s?“

Mehrere von der Mannschaft liefen heran.

„Es sind diese verdammten Bauern – dieses Gesindel – sie schießen in den Hof herein!“ schallte es ihm entgegen.

„Pest! Etienne und Ihr beiden Andern kommt herein und übernehmt die Bewachung unserer Gefangenen – Ihr steht mir mit Euren Köpfen für sie, merkt Euch das.“

Damit stürzte der Capitain und der Wachtmeister davon, um, während die drei Chasseurs eintraten, die Vertheidigung des Platzes zu leiten.

Die Angreifer hatten mit wohlgezielten Schüssen zwei in der Allee vor Goschenwald abgestellte Posten von ihren Pferden heruntergeschossen. Dann waren sie auf das Thorgebäude zugestürmt, hatten aber beim Anblick der großen Zahl Reiter, welche sich auf dem Hofe befanden, Kehrt gemacht; sie hatten an dem Bergabhang über der Allee verdeckte Stellungen hinter den Baumstämmen genommen und schossen von daher in den Thoreingang hinein. Capitain Lesaillier eilte, einen Theil seiner Leute in den Thorvorbau zu senden; er stieg selbst mit ihnen in des Schössers Zimmer da oben, das die Allee beherrschte, hinauf; er ließ auf die versteckten Feinde aus den Reitercarabinern seiner Leute Feuer geben – aber er sah bald, daß es ein unnützes Pulververbrennen war. – Er kam nach kurzer Zeit in die Halle zurück.

„Diese vermaledeiten Banditen!“ rief er aus. „Wer mir nur sagen könnte, wie viel von ihnen in dem Gehölze stecken, von diesen heimtückischen Strauchdieben! Madame, haben Sie den Muth, trotz ihrer Kugeln den Ausmarsch zu wagen? Nein, Sie haben es nicht! Verfluchte Lage! Ich muß aufbrechen, ich muß … Lepelletier – wo ist Lepelletier?“

Lepelletier war auf dem Hofe, wo er seine Reiter aufsitzen ließ.

„Lepelletier!“ schrie ihm der Capitain durch das offene Fenster zu, „nehmen Sie fünfzig Mann als Tête, rücken Sie damit aus – in scharfem Trabe – das Gesindel wird Sie angreifen, es wird Sie auf Ihrem Vormarsch rechts und links hinter den Gebüschen begleiten, Sie werden so seine ganze Aufmerksamkeit absorbiren … später folge ich mit den Frauen und Gefangenen!“

„Während wir die Kugeln in den Leib bekommen – wie das Strohbündel die Flöhe des Fuchses – ich denke mit Verlaub, mein Capitain, wir thäten besser, uns hier im Hofe zu verschanzen und abzuwarten, ob die Canaille den Muth hat, uns hier offen anzugreifen!“

„Oder bis sie Verstärkung erhält, uns in dieser Bicoque abwürgen zu können!“

„Es ist mein Rath, mein Capitain … nichts für ungut – Niemand hat Lust sich zum Kugelfang herzugeben …“

Der Capitain stampfte mit dem Fuße.

„Und Etienne, Du?“ rief er den einen der drei Chasseurs an, die er vorher hereingerufen, und die sich an den untern Tisch gesetzt hatten.

„Wenn Sie meine Meinung wollen, mein Capitain, ich denke wie der Wachtmeister!“ sagte der Sergeant Etienne, leicht die Finger an den Tschako legend. „Entweder wir brechen Alle miteinander auf, oder bleiben miteinander – wenn diese Damen unsern Schutz nicht aufgeben wollen, so müssen sie auch unsere Gefahren theilen!“

Der Capitain sah nach der Uhr.

„Fast sieben Uhr,“ rief er aus … „dann vorwärts, Lepelletier, zum Aufbruch! – Wir wollen abreiten – lassen Sie aufsitzen – wir wollen uns durchschlagen!“

„Mein Gott,“ rief hier Frau Marcelline, „fällt Ihnen denn gar nicht ein, Lesaillier, daß wir die Gefangenen dort haben?“

„Und die Gefangenen, was ist mit ihnen, Madame?“

„Wenn wir den Hof verlassen und es fällt ein Schuß auf uns, so senden Sie einen Parlamentair an das Bauernvolk draußen – lassen Sie ihnen bedeuten, sobald ein zweiter Schuß falle, würden Sie die Gefangenen niederschießen lassen!“

Capitain Lesaillier blickte die Dame ein wenig überrascht an.

„Ich weiß nicht,“ antwortete er dann, ob der General …“

„Für die Gutheißung des Generals bürge ich!“ versetzte Frau Marcelline stolz … „haben Sie ein weißes Sacktuch, es an Ihren Säbel als Parlamentairflagge zu binden?“

Mille diables, der Einfall ist gut, mein Capitain,“ sagte der Wachtmeister, „ich fürchte nur, die Bauern werden sich verdammt wenig daraus machen – es ist besoffenes Gesindel!“

„Aber wir können uns von besoffenem Gesindel nicht länger hier festhalten lassen wie Mäuse in der Falle!“ rief der Capitain – „also vorwärts – aber was ist da, welcher Lärm ist dies?“

Der Capitain wandte sich bei diesem Ausruf der hinteren Thür des Raumes zu, durch welche vorher so ahnungslos die [514] zwei österreichischen Officiere eingetreten waren – es wurde da ein plötzlicher lauter Lärm vernehmbar, Waffengeklirr und Aufstoßen von Gewehrkolben.

„Ah … im rechten Augenblick!“ rief Sztarrai aus – „ich denk’, es ist Muga oder Bubna …“

„Unsre Kaiserjäger!“ sagte der ‚General Teschen‘ aufspringend.




7.

Die Thür war aufgeflogen, österreichische Officiere mit gezogenen Degen drängten herein, hinter ihnen grüne Kaiserjäger mit ihren Stutzen und grünen Federbüschen an den aufgeklappten Filzhüten – man sah über ihren Köpfen fort und durch die geöffnete Thür den ganzen Gang draußen voll dieser Hüte und Federbüsche. … Die Officiere stürmten heran in der offenbarsten Aufregung.

„Königliche Hoheit!“ rief ein großer, stark gebauter Mann, „da sind Sie – Gott sei gelobt …“

„Sagen Sie lieber: da sind wir!“ antwortete lächelnd die Königliche Hoheit, der junge General – „Sie kommen just recht, man überlegte hier eben, ob es gegen die Bauern helfen werde, wenn man uns todtschieße – Bubna und Muga haben Sie wohl herbeigebracht?“

„In der That, Hoheit; wir hatten uns eben erst in Marsch gesetzt, wie Lieutenant Graf Bubna den Befehl überbracht, als der Husar von der Stabswache mit Eurer Hoheit Pferden herangesprengt kam, und …“

„Wo ist Kinsky?“ fiel die Hoheit ein.

„Er muß mit der Tête seiner Bataillone in diesem Augenblick unten im Thal, diesem Edelhof gegenüber, angelangt sein; uns führte der Husar auf einem kürzeren Fußsteig zur Hinterseite dieses Hauses …“

Während rasch diese Worte gewechselt wurden, stand der Capitain Lesaillier wie vom Schlag getroffen da – der Wachtmeister und die anderen Chasseurs hatten sich, ihre Säbel in der Faust, in eine Gruppe zusammengedrängt.

Sacré mille tonnerres, wir sind in einen saubern Leimtopf gefallen, Capitain!“ rief der Wachtmeister aus.

Madame Marcelline war aufgesprungen, das blasse Entsetzen in allen Zügen.

„Hoheit? – Der Erzherzog!“ stammelte sie.

„Der Reichsfeldmarschall Erzherzog von Oesterreich und Herzog von Teschen,“ sagte der junge Mann, indem er sich lächelnd vor ihr verbeugte, „wie Sie sehen, heute nicht im Bett, Madame, und deshalb so glücklich, sich Ihnen jetzt ohne Incognito vorstellen zu können. …“

Er wurde unterbrochen durch Carabinerschüsse und lautes Geschrei der Chasseurs draußen, die den vom Garten her eingedrungenen Feind jetzt bemerkt hatten und heranstürmten, ihren Officier herauszuhauen – die Kaiserjäger warfen sich ihnen entgegen, man hörte in der Vorhalle ein wüstes Getümmel beginnen.

„Mein Capitain,“ rief der Erzherzog dem Franzosen zu, „Sie haben gesehen, gehört, daß Sie von stärkeren Streitkräften auf allen Seiten umringt sind. Bringen Sie Ihre Leute zur Ruhe, lassen Sie kein unnützes Blut vergießen – lassen Sie Ihre Mannschaft sich ruhig im Hofe aufstellen und alsdann kehren Sie zurück, ich habe mit Ihnen zu reden!“

„Hoheit,“ entgegnete der Capitain, „eine französische Schwadron giebt sich nicht gefangen, und wenn auch zehn Erzherzoge oder Reichsfeldmarschälle es ihr gebieten – wir sind umzingelt, zum Teufel, was schadet’s, wir werden uns Luft machen! Lassen Sie mich mit diesen meinen Leuten zu meiner Mannschaft auf den Hof hinaus – ich habe Ihnen vorhin aus Großmuth Ihren Degen gelassen und verlange jetzt von Ihrer Großmuth, daß Sie mich zu meiner Mannschaft hinauslassen …“

„Ich habe Ihnen gesagt, daß Sie sich hinausbegeben sollen …“

„Mit diesen meinen Leuten?“

„Mit Ihren Leuten da, wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben, daß Sie draußen Waffenruhe herstellen – Bubna, gehen Sie mit und halten Sie unsere Leute zurück – und daß Sie wiederkommen, damit ich weiter mit Ihnen rede. Ich habe Ihnen nicht gesagt, daß ich von Ihnen die Ergebung auf Gnade und Ungnade verlange. …“

Der Capitain stürmte mit seinen Leuten hinaus; der eine der Adjutanten des Erzherzogs folgte ihm, man hörte draußen ihre Stimmen fluchend und wetternd durch den Lärm schreien und das Getümmel legte sich.

Die Chasseurs kehrten, wie man durch die Fenster sah, zu ihren Pferden zurück, der Wachtmeister trieb die letzten und kampflustigsten vor sich her und hatte bald die ganze Schaar im Sattel. Der Capitain aber, der sich, sobald er Ruhe hergestellt, von allen zuerst auf sein Pferd geworfen hatte, sprengte dicht an das offene Fenster der Halle heran und schrie herein:

„Nun, meine Königliche Hoheit, bitte ich um das, was Sie mir sagen wollten! Ich werde hier draußen an der Spitze meiner Leute ein besseres Verständniß dafür haben, als da drinnen in Ihrer Gewalt – ne vous en déplaise!“

„Mein lieber Capitain,“ antwortete der Erzherzog lächelnd, „Sie verkennen meine Absichten. Sie hätten ruhig zurückkehren können. …“

„Ich habe mein Ehrenwort zurückzukehren nicht gegeben!“

„Nein, aber Sie geben das, so lange wir unterhandeln, Waffenruhe halten lassen zu wollen?“

„Ich gebe es!“

„Wohl denn, so hören Sie. Sie sind mit Ihrer Schwadron abcommandirt zur Beschützung dieser Dame hier?“

„Das bin ich!“

„Und wenn ich Sie zwänge, die Waffen zu strecken, so würde die Dame nicht allein weiter zu ziehen wagen, ich hätte mich selber der Aufgabe zu unterziehen, sie zu beschirmen …“

„Ich müßte sie Ihrem Schutz, Ihrer Ritterlichkeit anempfehlen, Hoheit!“

„Und sie scheint in dieser Beziehung ein wenig verwöhnt, mein Capitain?“

„Es wäre Mangel an Erziehung, wenn ich Eurer Königlichen Hoheit widerspräche.“

„Wer ist die Dame?“

„Sie ist die Gattin des Schöffen und zeitigen Reichsschultheißen Vollrath zu Frankfurt am Main.“

„Des Reichsschultheißen, eines dem Hause Oesterreich so verbundenen und, so viel ich weiß, auch treu ergebenen Mannes?“ rief der Erzherzog aus. „Madame,“ wandte er sich an Frau Marcelline, „ich hätte nicht geglaubt, in Ihnen eine so erbitterte Feindin zu finden.“

„Hoheit,“ stammelte Frau Marcelline, weiß wie ein Tuch und nur höchst mühsam so viel Athem gewinnend, um reden zu können, „ich kann nichts als meine Verzweiflung ausdrücken, daß ich so unbesonnen …“

„Daß Sie so unbesonnen sich in eine Lage brachten, wo Sie nun meinem Schutze übergeben sein sollen! Beruhigen Sie sich, Sie sollen der Ritterlichkeit eines Mannes, den Sie so hassen, wie mich, nichts zu verdanken haben.“

„In der That, Capitain,“ wandte der Erzherzog Karl sich durch’s Fenster an den französischen Officier zurück, „ich habe nicht die geringste Lust, mich länger der gefährlichen Nähe einer solchen Feindin, wie Madame uns ist, auszusetzen. Ich überlasse sie sehr gern Ihrem weiteren Schutz, und damit Sie diesen ausüben können, ziehen Sie ungehärmt mit Ihren Leuten davon. Wie Sie mir meinen Degen gelassen, lasse ich Ihnen die Waffen. Aber ziehen Sie sofort ab.“

Der Capitain Lesaillier senkte vor dem Erzherzog die Spitze seines Säbels.

„Königliche Hoheit, das sind Bedingungen, die ich annehmen kann. Ich danke Ihnen dafür, Sie werden einen Verkünder Ihres Ruhms und Ihres Edelmuths mehr in der Welt haben.“ …

„Ich kämpfe nicht um den Ruhm, mein Capitain, sondern um die Freiheit des Reichs von hochmüthigen Feinden – das ist Alles, was uns je die Waffe in die Hand drücken wird gegen die, welche nichts hindert, unsere Freunde zu sein.“

Der Erzherzog entließ den Capitain mit einer stolzen Verbeugung des Hauptes, und dann sagte er zu Frau Marcelline: „Und nun, Madame, brechen Sie auf.“

Madame hatte ihre Farbe, ihren Muth wiedergefunden.

„Aber ich gehe nicht, ohne diese meine …“ sie stockte, „meine Gefangene,“ rief sie dann, „ohne sie!“

„Was hat das Mädchen verbrochen?“

„Soll ich das hier Eurer Hoheit berichten, diese lange erschütternde [515] Geschichte, während alle diese Zeugen umherstehen und während Sie mich zu raschem Aufbruch mahnen …“

„Nein, nein, Madame, Sie haben Recht, ich begehre Ihren Bericht nicht, ich verlange nicht, mich in Ihre Angelegenheiten zu machen, gehen Sie mit Gott, nehmen Sie das junge Mädchen mit sich, ich habe keine Veranlassung, es gegen Sie in Schutz zu nehmen, es hat entweder sehr verrätherisch oder sehr unbesonnen und leichtsinnig gehandelt, als es mich hierher führte, gehen Sie! Lieutenant Muga, führen Sie die Dame fort und befehlen Sie dann den Bauern draußen, die Schwadron Chasseurs fortziehen zu lassen, ohne sie anzugreifen! Bringen Sie mir sodann den Anführer der Bauern her.“

Der zweite Adjutant des Erzherzogs verbeugte sich vor der Dame. Frau Marcelline wandte sich zu Benedicte mit einem barschen, scharfen „Komm!“ und Benedicte erhob sich gefaßt. „In Gottes Namen,“ sagte sie leise, „Sie werden mich zu Niemand anders bringen können als zu meinem Vater, und er mag über mich richten!“

Die drei Frauen entfernten sich, von dem Lieutenant geleitet, aus dem Raum.

Wenige Minuten nachher waren sie draußen auf den Rücken der Pferde gehoben; der Trupp der Chasseurs setzte sich in Bewegung und verschwand unter dem Thorbogen von Haus Goschenwald.

„Sie waren sehr großmüthig, Hoheit!“ sagte jetzt der General Sztarrai.

„Ich denke, wir haben der Gefangenen genug, lieber Freund, und wo wären wir mit den Weibern geblieben? Es ist besser so; lassen Sie jetzt die Bataillone von Kinsky nach meinen ursprünglichen Befehlen vorgehen und ihren Marsch beschleunigen, der Abend kommt heran. Die Compagnie Kaiserjäger mag sich hier in diesem Hause und auf dem Hofe einrichten, ich will sie zu meiner Bedeckung bei mir behalten; auch die Stabswache soll hierherbeordert werden, ich werde die Nacht über hier mein Hauptquartier aufschlagen, veranlassen Sie das Nöthige, Sztarrai!“

Der General wandte sich den Adjutanten und Officieren, die vorhin in den Raum gedrungen, zu, um ihnen die Befehle des Erzherzogs zu übermitteln; mehrere von ihnen eilten davon und das sonst so stille Goschenwald wurde im Lauf des Abends und der Nacht von all’ dem Getreibe, dem Hin- und Hereilen von Officieren, Ordonnanzen und Fourieren, dem Aufstellen von Posten, dem Ankommen und Abreiten von Adjutanten erfüllt, das ein Hauptquartier charakterisirt. Der alleingebietende gestrenge Herr Schösser mußte erleben, wie er zu einem Nichts schwand, um das sich Niemand auch nur so viel kümmerte, als wenn er, statt eines fossilen Reichstruppen-Lieutenants, ein an der Decke aufgehängter, ausgestopfter Seehund oder Haifisch gewesen. Frau Afra sah ihre Kammern erschlossen, ihre Schränke aufgerissen, ihre Vorräthe weggenommen, ihre Betten und Leintücher umhergeschleppt, ihr Küchengeräth durcheinander geworfen, als ob der jüngste Tag angebrochen und der liebe Gott, der sonst einem rechtschaffenen und ordentlichen Weibe beisteht, schon zum letzten Gericht davongegangen!

Der Erzherzog hatte sich in der Ecke hinter dem großen Tische niedergelassen und ließ ein Portefeuille, das einer der Officiere gebracht, öffnen – er begann eben, die Blätter und Papiere, die es enthielt, meist nur mit Bleistift beschriebene Zettel, vor sich auszubreiten, um darnach Befehle zu dictiren, als plötzlich ein verwildert aussehender Mann in grüner Jägertracht, das Gesicht geschwärzt vom Pulverrauch, die wirren blonden Haare zurückgestrichen, die Kleider bestäubt und alle Zeichen der Erregung in seinem Wesen, vor ihm auftauchte – der Adjutant Bubna hatte ihn hergebracht und folgte ihm, um ihn mit den Worten vorzustellen:

„Der Revierförster Wilderich Buchrodt, der Anführer der Bauern, den Königliche Hoheit zu sprechen verlangten.“

„Ah – der brave Mann, der uns so sehr im richtigen Augenblick zu Hülfe kam!“ sagte der Erzherzog, ihn fixirend. „Ohne Sie und Ihre Leute wär’ es uns schlimmer ergangen, mein lieber Herr Revierförster – man war just im Begriff, uns als Gefangene abzuführen, als Ihre Kugeln in das Hofthor schlugen … ich wollte Ihnen das selbst sagen, wackrer Mann … ich bin Ihnen dankbar, und kann ich etwas für Sie thun, so sagen Sie es mir!“

„Königliche Hoheit, ich verdiene diesen Dank, der mich sonst so glücklich machen würde, nicht ganz.“

„Sie konnten freilich nicht ahnen, daß ich den Versuch machen würde, von der Straße, die über Gemünden und Lohr führt, aus auf die Rückzugslinie des Feindes zu operiren … und daß ich dabei in eine solche Lage gerathen sei …“

„In der That nicht,“ entgegnete Wilderich. „Ich wollte Haus Goschenwald schon früher besetzen, aber meine Leute ließen sich aus dem Kampfe da unten nicht fortbringen. Erst als ich erfuhr, daß sich Franzosen in dieses Thal geworfen, folgten sie mir, um Haus Goschenwald zu sichern.“

„Und der Zufall wollte, daß Sie Haus Goschenwald gerade in dem Augenblick zu Hülfe kamen, als sich der Reichsfeldmarschall darin in den Händen der Franzosen befand …“

„Der Zufall allerdings,“ fiel Wilderich ein; „denn meine Absicht war, Jemand anders aus den Händen der Franzosen zu erretten.“

„Jemand anders? Und wer wäre das?“

„Ein junges Mädchen, von dem ich zu meiner Verzweiflung eben höre, daß Eure Hoheit sie den Händen der Feinde überlassen und von einer wider sie aufgebrachten zornigen Frau haben fortführen lassen – Ihr Adjutant erzählte mir Alles – und, Königliche Hoheit, das setzte mich in Verzweiflung, denn ich kenne dieses Mädchen; ich bin in tiefster Seele überzeugt, daß sie des Schutzes, den sie hier mit der besten Empfehlung einer hochstehenden Frau zu suchen kam, so würdig wie bedürftig ist …“

„Sie kennen das Mädchen?“

„Ich kenne sie – ich habe nur wenige Male mit ihr zu sprechen das Glück gehabt, aber hinreichend, um die Hand dafür in’s Feuer strecken zu wollen, daß …“

„Ihr Herz,“ unterbrach ihn lächelnd der Erzherzog, „steht wenigstens schon im Feuer, in vollen Flammen, wie ich sehe – nun, ich will Ihnen glauben, obwohl …“

„Königliche Hoheit hegen den Verdacht wider sie, daß Sie geflissentlich von ihr getäuscht worden – aber das ist ja gar nicht möglich; hätte die Unglückliche geahnt, daß, während sie von diesem Hause entfernt war, Franzosen hier eingerückt seien und inmitten dieser Franzosen die Frau, welche ihre Todfeindin zu sein scheint, bei Gott, sie würde doch nicht so thöricht gewesen sein, hierher zurückzukehren, hierher Eure Königliche Hoheit zu geleiten!“

„Also Sie glauben, das junge Mädchen habe die Anwesenheit der Chasseurs nicht gewußt?“

„O gewiß, gewiß ist es so – ich selbst war vor wenig Stunden hier und gab der Demoiselle Benedicte die Versicherung, daß ich über Goschenwald wachen, für ihre Sicherheit einstehen wolle … und doch, o mein Gott, weshalb kam ich zu spät! Aber das Gefecht unten an der Verrammelung der Heerstraße war so scharf und hitzig, ich konnte meine Leute nicht aus dem Gefecht herausziehen, sie waren gar nicht fortzubringen – erst als wir uns vor den stärker nachdringenden Franzosen – das Gros der Division Lefebvre kam eben heran – zurückziehen mußten und wir erfuhren, daß sich eine Abtheilung in die Mühlenschlucht gezogen, erst da brachte ich meine Leute hierher, früh genug, um noch zu verhindern, daß Eure Königliche Hoheit nicht entführt wurde, aber nicht früh genug …“

„Was soll ich nun aber bei der Sache thun, mein lieber Mann?“ fiel ihm der Erzherzog in’s Wort – „was geschehen ist, ist geschehen – ich bedaure es um Ihretwegen, aber ich kann es nicht wieder gut machen – die Chasseurs sind fort, Ihre Demoiselle Benedicte mit ihnen – sie sind beritten und Ihre Bauern nicht …“

„Freilich, das ist eben meine Verzweiflung – sie haben einen Ausweg aus diesem Thal gesucht, der sie bald in’s Freie führt – verfolge ich sie mit meinen Bauern, so kann ich höchstens ihnen noch einige Leute tödten – sie anhalten nicht! Aber wenn Eure Königliche Hoheit Cavaliere …“

„Mein lieber Mann,“ unterbrach ihn der Erzherzog lächelnd, „solch’ ein Verliebter wäre im Stande, zur Rettung seiner Demoiselle die gesammte kaiserliche Armada in Marsch zu setzen – lassen Sie mir meine Cavalerie, wo ich sie gebrauche! …“

„Aber unterdeß …“

„Ich habe auch,“ fuhr der Erzherzog, ohne auf Wilderich’s Unterbrechung zu achten, fort, „ich habe auch diesen Chasseurs [516] mit sammt ihren Weibern einmal den ungehinderten Rückzug verstattet und zugesagt – das ist nicht mehr zu ändern …“

„Aber,“ fiel Wilderich in größter Erhitzung wieder ein, „Euer Hoheit Adjutant sagte mir, daß jene Frau das arme Mädchen als eine Verbrecherin mißhandelte, und Gott weiß, welches Schicksal dasselbe nun bedroht, wenn Niemand auf der Welt da ist, sich ihrer anzunehmen.“ …

„Hm,“ versetzte der Erzherzog nachsinnend und für sich – „die Frau ist die Gattin des zeitigen Schultheißen in Frankfurt … man könnte am Ende bei diesem intercediren.“ …

„Solch ein zorniges, rachsüchtiges Weib ist zu Allem fähig!“ rief Wilderich in seiner Verzweiflung aus.

Der Erzherzog warf einen Blick auf ihn – dann sagte er in heiterem Tone.

„Ich sehe schon, ich werde etwas thun müssen, um wegen dieser Demoiselle, dieser verfolgten Unschuld, bei einem Mann, dem ich Dank schuldig bin, nicht gar zu sehr als herzlos und alles Gefühles baar in Verachtung zu gerathen! Seien Sie ruhig, ich werde Ihre Dame unter meinen persönlichen Schutz stellen.“ …

Er nahm eines der vor ihm liegenden weißen Blätter und begann rasch zu schreiben. Die Worte lauteten:

 „Mein lieber Schultheiß!
Ich verfolge den Feind unablässig und werde, so Gott will, am Abend des 7. Septembers vor den Thoren von Frankfurt sein – ich rechne dabei auf Ihren Einfluß und Ihre Autorität über Ihre Mitbürger, daß diese nicht zögern, mir trotz der französischen Streitkräfte, welche alsdann noch dort sein könnten, sofort und ohne Zögern die Thore zu öffnen, nöthigenfalls die Oeffnung derselben erzwingen. Sagen Sie Ihren Mitbürgern, welche sich von dem gewaltthätigen Feind sollten einschüchtern lassen, daß die Herrschaft desselben zu Ende ist und meine siegreiche Armee sich sonst die Thore von Frankfurt mit jenen Maßregeln der Gewalt öffnen wird, die für die Bürgerschaft sehr verhängnißvoll werden können.

Ich vertraue, mein lieber Schultheiß, darin auf Ihre bewährte Anhänglichkeit und Hingebung für das Haus Oesterreich und das deutsche Vaterland!

Außer diesem wende ich mich an Sie mit einem persönlichen Begehren. Ihre Gemahlin hat unter Umständen, welche dieselbe Ihnen berichtet haben wird, unter französischer Escorte eine Demoiselle Benedicte mit sich fortgeführt, nachdem sie diese mit Beschuldigungen beladen, deren Bedeutung mir nicht bekannt geworden ist.

Ich habe Theil an dem Schicksal dieses Mädchens zu nehmen gewichtige Veranlassung bekommen, und würde es als eine besondere mir erwiesene Courtoisie und Rücksicht betrachten, wenn dieselbe mit Humanität behandelt und über sie nicht eher irgend ein Entschluß gefaßt würde, als bis ich nach wenigen Tagen persönlich meine Vermittlung in der Angelegenheit derselben eintreten lassen könnte. Ich vertraue darin auf Ihre Gesinnungen, mein lieber Schultheiß, und bin Ihr wohlgewogener Reichsfeldmarschall Karl Erzherzog.“ 

Der Erzherzog faltete und siegelte den Brief; während er die Adresse schrieb, sagte er:

„Ich hoffe, dies wird Sie beruhigen, lieber Mann. Die Frau, in deren Gewalt sich das Mädchen befindet, ist die Gattin des Schöffen und zeitigen Schultheißen Vollrath zu Frankfurt – ohne Theilnahme dieses Mannes wird ihr nichts geschehen und sie wird sicher sein von dem Augenblick an, wo dieser Brief in die Hände dieses Mannes gelangt. Sehen Sie also, daß Sie möglichst rasch und ungehindert nach Frankfurt und trotz der Franzosen hinein kommen und dem Herrn Vollrath diesen Brief übergeben. Haben Sie den Muth?“

„Den Muth, Hoheit?“

„Nun ja – die Reise wird nicht ohne Gefahr für Sie sein …“

„Ich weiß es. Wenn die Franzosen einen Brief Eurer Königlichen Hoheit bei mir fänden …“

„Würden sie Sie nicht viel besser als einen Spion behandeln.“

„Man wird ihn nicht finden – das sei meine Sache!“ .

„Wohl denn – so gehen Sie mit Gott; warten Sie noch, um sich einen Passirschein geben zu lassen, damit Sie durch die Vorposten unserer Armee gelassen werden, wenn Sie zurückkehren wollen.“

„Ich bitte darum!“

„Sztarrai, fertigen Sie ihn aus!“ sagte der Erzherzog.

Dann wandte er sich wieder seinen Depeschen zu. Sztarrai füllte ein kleines Formular, das er aus einer der von dem Adjutanten vor ihn gelegten Mappen nahm, aus und reichte es Wilderich. Dieser steckte es nebst dem Briefe des Erzherzogs zu sich und sagte:

„Ich danke Euer Hoheit aus voller Seele.“

„Schon gut, mein lieber Mann; suchen Sie mich wieder auf, um mir zu berichten, wie es Ihnen ergangen und wie der Dame und Ihre Angelegenheiten stehen.“

Wilderich verbeugte sich und ging eilig davon.




8.

Als er draußen wieder bei seinen bewaffneten Bauern war, berichtete er ihnen des Erzherzogs Dank, und wie sehr ihr Angriff auf die Chasseurs diesem im richtigen Augenblick zu Hülfe gekommen. Jetzt waren sie unnütz hier oben. So setzte sich der Trupp wieder in Bewegung und zog neben der österreichischen Infanterie-Colonne, die der Erzherzog in die Flanke des rückziehenden Feindes vorgehen ließ und die jetzt in voller eilig vorwärts dringender Bewegung war, über die Bergeinsattelung in die Mühlenschlucht hinein und weiter hinab gegen die Heerstraße.

„Was meinet Ihr Mannen,“ rief, als sie am Forsthause und der Mühle angekommen waren, einer der Leute, „wenn wir hier Schicht machten?“

„Zum Teufel ja,“ sagte ein Anderer, der Forstläufer Sepp, „ich hab’s satt hier neben diesen Oesterreichern sich herzuquetschen und den Gänsemarsch zu machen –“

„I freilich, die können ja das Geschäft jetzt da unten selber abmachen,“ rief ein hochstämmiger Bauer, der eine Flinte über dem Rücken und eine andre in der Hand trug, eine erbeutete französische Muskete – „ich hab’ aus meinen zwei Blasrohren heute sieben todt und fünf angeschossen – macht just ein Dutzend und das ist genug; den Dreizehnten, bei meiner armen Seele, müßt’ ich beichten!“

„Der Krippauer hat Recht!“ sagte ein kleiner untersetzter Kerl, dem der eine Aermel seines Wamses zerrissen an der Seite herabbaumelte, „wir machen Feierabend und brechen in des Gevatter Wölfle’s Mühle ein – die anderen, die nicht Raum mehr drin finden, können im Forsthaus Unterschlupf finden für die Nacht –“

„Wo ist der Wölfle … und wo ist der Commandant?“ wurde jetzt von allen Seiten gerufen.

„Hier ist der Commandant!“ antwortete die Stimme Wilderich’s aus den hinteren Reihen. „Macht Halt vor der Mühle!“

Bald war der ganze Trnpp vor der Mühle versammelt – Gevatter Wölfle ging als Quartiermacher hinein, während Wilderich die Verwundeten unter der Schaar vorrief – es waren ihrer vielleicht zwanzig, die Streifschüsse ober Schrammen erhalten und sich so gut wie’s ging mit Tüchern und Lappen verbunden hatten – einzelne, die im Laufe des Tages schwerer verwundet worden, hatten sich gleich fortbegeben, um ihre Wohnungen im Gebirge aufzusuchen – ein paar auch lagen todt und noch unbestattet in den Büschen, man überließ ihren Verwandten, sie zu suchen und zu holen.

„Mit den Verwundeten,“ rief Wilderich, „geht der Chirurgus in meine Wohnung, in’s Forsthaus drüben. Da ist mehr Raum für sie, und sie können sich da ordentlich verbinden lassen; wo die Anderen bleiben, da wird’s nicht angehen so gut in dem Lärm und Tumult, den diese machen werden. – Chirurgus!“

„Hier!“ rief ein wie ein Grobschmied aussehender Mann; er war in der That Schmied in einem der nächsten Dörfer, und weil er nebenbei Pferd und Rind curirte, in Ermangelung eines gelehrteren „Pflasterkastens“ zum Chirurgus der Truppe bestellt.

„Geht hinüber und laßt meine Margareth Euch Leinen und was Ihr bedürft, geben – sorgt dafür, daß sie nicht zu viel trinken – und nun zieht ab!“

Der Trupp der Verwundeten setzte sich, von dem Curschmied geführt, in Bewegung.

(Fortsetzung folgt.)


[517]
Schöne Geister und schöne Seelen.
2. Henriette Herz und Schleiermacher.

Es war der geniale Prinz Louis Ferdinand von Preußen, der einst die schöne Henriette Herz bei der Hand nahm und sie der berühmten Schriftstellerin Frau von Staël mit den Worten vorstellte. „Betrachten Sie diese Frau, sie ist nie geliebt worden, wie sie es verdiente.“ Der Prinz ahnte nicht, daß nur kurze Zeit nachher sein Bruder, der schöne heldenhafte Prinz August, in einem Liebesverhältnis zu der Freundin der Frau von Staël stehen werde, der berühmten Schönheit Julie Recamier, von welcher man ja auch sagen konnte, daß sie nie so geliebt worden war, wie sie es verdiente, denn selbst der Prinz August liebte sie nicht ganz so, sonst würde er trotz ihrer Weigerung ihre Hand zu erringen gewußt haben!


Henriette Herz.
Nach der Natur von Anton Graff.


Die Schönheit von Julie Recamier ist sehr oft geschildert worden, die von Henriette Herz sehr selten; so schön beide Frauen waren, ähnlich können sie sich nicht gesehen haben! Henriette Herz war jüdischer Abkunft und sah aus wie Königin Esther, während Julie Recamier eher einer Hebe glich. Ein Portrait, von dem berühmten Anton Graff gemalt, zeigt uns das regelmäßig schön, aber kräftig geschnittene Oval und eine ganz geradlinige Nase, große dunkle, leuchtende Augen und einen kleinen rothen über weißen Zähnen lächelnden Mund in dem Gesicht von Henriette Herz, das außerdem noch durch eine Fülle wallender schwarzer Locken verschönt wird. Ihre Gestalt war nach Aussage von Augenzeugen, die sie noch gekannt haben, wenn auch in hohem Alter, über die gewöhnliche weibliche Größe hinaus, dabei aber füllereich und zugleich schlank. Sie hielt sich im achtzigsten Jahre noch kerzengerade und liebte es, statt der Altenweibermützen einen stolzen Turban zu tragen, über den sie von Splitterrichtern oft verspottet worden ist.

In den Aufzeichnungen, die sie aus ihrer Jugend hinterlassen hat, spricht sie ein gewisses naives Erstaunen über ihre eigene Schönheit und die Wirkung derselben aus, ohne irgend eine Art von Eitelkeit oder Selbstüberhebung dabei an den Tag zu legen. Sie war schon als Kind so schön, daß die Juden in Berlin sie sehr oft bei Festlichkeiten von ihren Eltern sich erbaten. So hat sie auch mehrmals hohen Personen Gedichte überreichen müssen, namentlich auch als sechsjähriges Kind der Prinzessin Amélie, Schwester Friedrichs des Großen, deren schielende Augen bei großer Freundlichkeit einen widerlichen Eindruck auf das scharfbeobachtende Kindesauge machten. Die Prinzessinnen des königlichen Hauses liebten es damals sehr, jüdische Feste mitanzusehen, deshalb war Prinzeß Amélie bei einem Lauberhüttenfest erschienen und die Königin Ulrike von Schweden, ihre Schwester, bei einer jüdischen Hochzeit, wo ihr ebenfalls das schöne Judenkind Henriette vorgestellt wurde.

Die Eitelkeit des kleinen Mädchenherzens wurde durch solche Schaustellungen natürlich sehr geweckt, und die sonst braven Eltern kannten keine Vorsicht in diesem gefährlichen Punkt der Erziehung, sie gestatteten es sogar, daß die neunjährige Henriette in einem öffentlichen Concerte Clavier spielte, wo man sie mit Beifall überschüttete, nicht weil sie gut spielte, sondern weil sie schön aussah; auch kam es vor, daß die Kleine mit einem alten französischen Tanzmeister auf großen Bällen Tänze aufführte und so sehr die allgemeine Bewunderung erregte, daß die Zuschauer auf Tische und Stühle stiegen, um besser sehen zu können. Wie tief der Eindruck dieser schmeichelhaften Erlebnisse war, geht daraus hervor, daß die Greisin sich ihrer noch sehr wohl zu erinnern wußte und gern davon erzählte. Auch erregte das frühreife Kind in der Schule sowohl wie auf der Straße die Bewunderung der männlichen Jugend Berlins in einer Weise, die denn doch die arglosen Eltern zu größerer Vorsicht antrieb. Die kleine Henriette wurde nicht mehr in die Schule geschickt, sondern im Hause unterrichtet, theilweis von ihrem geistvollen Vater, dem Doctor de Lemos, einem Juden portugiesischer Abkunft, von dem die Tochter offenbar die eigenthümliche Schönheit geerbt hatte. Sie schilderte ihn oft und gern als eine der merkwürdigen Figuren von Berlin; er trug nämlich stets einen Sammtrock mit goldenen Tressen besetzt, seidene Strümpfe, Schnallenschuhe, einen dreieckigen Hut über eine Allongenperrücke und echte Spitzen an den Händen und der Brust. Die hohe edelgeformte Gestalt, die feierliche Haltung, die er seiner Würde als Arzt angemessen fand, und das schöne regelmäßige Gesicht mit dem milden Ausdruck machten sich in diesem altmodischen, aber malerischen Costüm ganz vortrefflich. Wenn der Diener mit der hellen Stocklaterne durch die damals noch sehr schlecht beleuchteten Straßen von Berlin vor ihm herging, blieben alle Leute auf seinem Wege stehen, sahen ihm erstaunt nach, aber lachten niemals. Noch schöner fand ihn die zärtliche Tochter im Hause, [518] wo er einen rothseidenen Schlafrock und eine turbanartige rothe Mütze trug. Er besaß einen vollendet feinen Anstand, den der wahren Bildung, nie kam ein heftiges Wort über seine Lippen, sein Charakter wie sein ganzes Leben waren fleckenlos.

Er bildete Henrietten fast zu einer Gelehrten, namentlich was Sprachen anbelangt; sie lernte Lateinisch, Französisch, Englisch und Hebräisch, letzteres freilich wohl mehr aus Rücksicht auf den Religionsunterricht, der damals von den orthodoxen Juden in hebräischer Sprache ertheilt wurde. Mit der Mutter harmonirte Henriette viel weniger, es war eine heftige, launenhafte und kränkliche Frau, die Mann und Kinder zu quälen verstand; doch hat Henriette ihr bis in's späte Alter die größte Rücksicht und Liebe bewiesen.

Schon mit zwölf Jahren erhielt die kleine Henriette zwei Heirathsanträge; der erste ging von einem abenteuernden Juden aus, der wahrscheinlich die erblühende Schönheit des Kindes zu bösen Zwecken benutzen wollte. Nachdem er den Eltern von seinen Reichtümern vorgeprahlt hatte, namentlich von Mohren und wilden Thieren, die er in fernen Weltteilen besäße, verschwand er plötzlich und stahl dem Vater seiner kleinen Auserwählten eine goldene Schnupftabakdose.

Wenige Monate später hielt ein sehr geachteter Arzt, der Hofrath Marcus Herz, um Henriette an; ohne sie lange zu fragen, gaben die Eltern, die noch viele Kinder zu versorgen hatten, ihre Einwilligung, und die Kleine war ebenfalls stolz und zufrieden, so früh schon Braut zu werden. Der Bräutigam wartete indessen noch beinahe drei Jahren ehe er sie heimführte; Henriette erzählte immer, daß ihr Brautstand sehr langweilig gewesen wäre. Jeden Abend mußte sie am Spieltisch sitzen und zusehen, wie ihr Verlobter mit den Eltern Karten spielte. Er beachtete sie kaum und nannte sie nur „das Kind“. Dadurch erschien er ihr viel älter als er war; sie zählte fünfzehn, er doppelt so viel Jahre, also dreißig, was für einen Mann doch keineswegs alt zu nennen ist; freilich erschien er auch sonst nicht in günstiger körperlicher Beschaffenheit neben ihr; er hatte eine hohe Schulter, auch war er klein und häßlich. Trotzdem ist sie ihm aber immer eine liebevolle und treue Gattin gewesen; wenn sie auch zuweilen die Klage nicht unterdrückte, daß ihrer Ehe die Romantik der Liebe gefehlt hat. Für ein Frauenherz ist diese Romantik der Sternenglanz an dem Himmel des Lebens, für die es nur einen Ersatz giebt: die Liebe eines Kindes. Die schöne Henriette Herz sollte aber auch diesen Ersatz nicht kennen lernen, ihre Ehe blieb kinderlos. Sie empfand darüber einen lebhaften Schmerz, indessen wurde er durch ihre reine und kräftige Seele bald überwunden und sie gewann die Einsicht, daß ihr noch manche Glücksmöglichkeit zu Gebote stand, namentlich aber, daß freundschaftlicher Umgang mit liebenswerten Menschen und geistige Beschäftigung mit Literatur und Kunst reiche Fundgruben von Lebensgenuß für sie waren.

Das Haus des Hofrath Herz, dem er die Zierde einer jungen schönen Frau gegeben hatte, wurde bald der Sammelplatz der besten Gesellschaft Berlins. Nicht nur Künstler und Schriftsteller, wie Schadow, Reichhardt, Zelter, Moritz, Engel, Graf Christian Bernstorff, Gentz, v. Brinckmann, Dohm, Leuchsenring, die beiden Schlegel, die Humboldts, auch politische und theologische Namen bildeten ihren Kreise der preußische Minister Graf Dohna-Schlobitten und Schleiermacher müssen hier besonders hervorgehoben werden, weil sie am meisten Einfluß auf Henriettens Leben ausgeübt haben.

Der Graf und Minister war der leidenschaftlichste Verehrer und der protestantische Theologe der treueste Freund der schönen Jüdin. Der Ehegatte derselben, Marcus Herz, verließ sich so sicher auf ihr starkes Pflichtgefühl und ihr reines Gemüth, daß er alle Huldigungen, die ihr dargebracht wurden, ruhig lächelnd gewähren ließ. Der heitere Kreis talentvoller und vornehmer junger Männer, der sich übrigens auch im Verein mit eben solchen Frauen in seinem Hause zusammen fand, gereichte ihm selbst zu großem Vergnügen. Es wurde vorgelesen philosophirt, gedichtet, gesungen und auch mitunter getanzt. Ja, in den Erinnerungsblättern von Henriette Herz findet sich auch die Erwähnung eines Abends, an welchem Alexander von Humboldt sie im Tanzen einer neuen Menuette unterrichtete! Sie hatte ihn dagegen im Hebräischen unterrichtet„ und er datirte seine Briefe in dieser Sprache von seinem einsamen Gute Tegel, das er „Schloß Langeweile“ nannte, weil er sich so lebhaft nach den geistreichen Kreisen des jüdischen Salons sehnte. Die beiden Humboldts waren übrigens damals kaum zwanzigjährige Jünglinge, ihre fast kindliche Zufriedenheit mit der höchst einfachen Geselligkeit der Berliner Schöngeister ist dadurch hinreichend erklärt.

Im Hause des Hofrath Herz ging es für damalige Zeit sehr elegant her, seine reiche Praxis gewährte ihm die Mittel dazu. Leider war er jedoch viel zu freigebig und vergaß, daß er ohne Vermögen das kostbare Leben in Berlin begonnen hatte. Als er unerwartet im besten Mannesalter starb, hinterließ er seine schöne Frau beinah mittellos; nur eine kleine Wittwenpension und einige kleine Capitalien besaß sie, um sich selbst, ihre alte Mutter und eine unverheirathete Schwester zu ernähren. So ward sie abermals im Schicksal der Recamier ähnlich, die auch den Wechsel von Reichthum und Armuth durchkosten mußte.

Um ihre geringe Einnahme zu vermehren, behielt sie den Pflegebefohlenen ihres verstorbenen Mannes, Ludwig Baruch, im Hause; derselbe wurde später als Ludwig Börne eine deutsche Celebrität. Damals war er noch ein verhülltes Geisteslicht und galt für einen egoistischen, eitlen, kleinen Faullenzer. Er hielt sich Studirens halber in Berlin auf, that aber nichts und blieb oft tagelang auf seinem Zimmer eingeschlossen. Zu Henriettens Schrecken enthüllte sich eines Tages sein seltsames Benehmen er versuchte einen Selbstmord durch Arsenik und entdeckte ihr vorher seine Liebe. Sie war über zwanzig Jahre älter als er und bemühte sich, ihn zur Vernunft zurückzubringen, aber er war unzugänglich dafür, beharrte bei seiner Leidenschaft und machte einen zweiten Mordversuch auf sich selbst. Die kluge Frau verhinderte auch diesen wie den ersten und ließ heimlich seinen Vater kommen, der ihn gewaltsam mitnahm und in einer befreundeten Familie in Halle unterbrachte. Ludwig Börne erkannte bald, wie richtig und würdig Henriette sich gegen ihn benommen hatte, und blieb ihr zeitlebens mit achtungsvoller Freundschaft ergeben.

Als Wittwe erhielt sie auch noch einen andern Beweis, wie mächtig und dauernd die Empfindungen der Bewunderung waren, die sie einzuflößen vermochte. Der Graf Dohna-Schlobitten machte ihr einen ehrenvollen Heirathsantrag, nachdem er während der Lebenszeit ihres Mannes seine Liebe für sie stets in den Schranken des Zartgefühls und der Wohlanständigkeit gehalten hatte. Sie lehnte jedoch seine Hand ab, weil sie damals sich noch nicht entschließen konnte, Christin zu werden; ihre alte strenggläubige Mutter würde dadurch unzweifelhaft den Todesstoß empfangen haben. Aus gleichem Grunde verzichtete sie auch auf die Aussicht, Erzieherin bei der Prinzessin Charlotte, nachherigen Kaiserin von Rußland, zu werden, eine glänzende Stelle, die ihr Freund Delbrück für sie erwirken wollte.

Um die Einschränkungen , die sie sich als Wittwe auferlegen mußte, zu erleichtern, wetteiferten ihre zahlreichen Bekannten mit Einladungen. Namentlich war die Herzogin Dorothea von Curland, diese wahrhafte Beschützerin der Intelligenz, eifrig bemüht, sie in ihr Haus zu ziehen. Sie mußte der jüngsten Tochter, der nachherigen berühmten schönen Herzogin von Sagan, Unterricht im Englischen geben und genoß dafür alle Annehmlichkeiten der feinsten und geistreichsten Geselligkeit, welche die hohe Dame in Berlin eingeführt hatte. Namentlich bestrebte sich dieselbe, den peinlich fühlbaren Unterschied der Stände zu verwischen in ihrem Salon, sie gab oft der Lehrerin ihrer Tochter einen vielbeneideten Ehrenplatz neben der allerdings eben so humanen wie interesanten Prinzessin Louise von Radziwil und lud Schauspieler, Schriftsteller, Künstler und Beamte mit bürgerlichen Namen zu der hoffähigen Gesellschaft.

Die abhängige und sorgenvolle Lage, in welche Henriette Herz als Wittwe versetzt wurde, gab auch ihrem langjährigen treuen Freunde Schleiermacher Veranlassung, ihr noch näher zu treten als bisher. Er half ihr bei einigen Uebersetzungen aus dem Englischen, die sie zur Vermehrung ihrer Einnahme unternommen hatte, und suchte sie auf jede Weise zu fördern. Sie lehrte ihm dagegen italienische und französische Conversation. Schleiermacher war schon im Jahr 1796 mit ihr und ihrem Mann innig befreundet; er wohnte damals an der Oranienburger Chaussee und war noch Prediger an der Charité. Das Herz'sche Ehepaar wohnte in der neuen Friedrichsstraße und sah des Abends mit Besorgniß den schwächlichen kleinen Mann den weiten Heimweg antreten. Um ihn einigermaßen vor den Gefahren desselben zu schützen, [519] schenkte ihm Henriette eine kleine Laterne, die er in’s Knopfloch hing und dann wie ein Glühwürmchen durch die Finsterniß wandelte. Er war durch den Grafen Dohna-Schlobitten, bei dessen Eltern er Hauslehrer gewesen, in das Herz’sche Haus eingeführt worden und hatte sehr bald ein Seelenbündniß mit Henrietten geschlossen. Er zeigte ihr alle seine Schriften, bevor er sie drucken ließ, und schrieb ihr fast täglich Briefe, auch wenn sie an demselben Orte wohnten. Als sie nach ihres Mannes Tode eine kleine Sommerwohnung im Thiergarten bezog, blieb er oft den ganzen Tag draußen bei ihr, um mit ihr zu lesen, zu arbeiten oder spazieren zu gehen.

Es konnte nicht fehlen, daß ein so seltenes, inniges Verhältniß Aussehen erregte und falsch gedeutet wurde. Zuerst warnte Friedrich Schlegel, der damals in einem ähnlichen mit Dorothea Veit stand, den Freund und suchte ihm zu beweisen, daß er eine Liebesleidenschaft für Henriette Herz hege; dann schrieb ihm seine Schwester Nanni und machte ihm dringende Vorstellungen über seine Neigung zu derselben.

Schleiermacher erzählte selbst, daß er stundenlang gelacht habe über Schlegel’s Behauptung, und seiner Schwester schrieb er eine lange Widerlegung ihrer Ansicht. „Die Herz ist von Charakter und Gemüth fest und still, so daß sie sich auf sich selbst verlassen kann und meiner nicht bedarf. Ich gehöre aber doch in anderer Rücksicht zu ihrer Existenz, ich kann ihre Einsichten, Ansichten und ihr Gemüth ergänzen, und so thut sie mir. Etwas Leidenschaftliches wird aber zwischen uns nie vorkommen, da sind wir wohl über die entscheidendsten Proben hinweg. Unser Verhältniß ist eine recht vertraute herzliche Freundschaft … Hätte ich sie heirathen können, so wäre es gewiß eine Capitalehe geworden, vielleicht nur gar zu einträchtig … Aber es ist zwischen uns von Mann und Frau gar nicht die Rede. Sie hat nie eine Wirkung auf mich gemacht, die mich in der Ruhe des Gemüths hätte stören können. Wer sich etwas auf den Ausdruck des Innern versteht, der erkennt gleich in ihr ein leidenschaftliches Wesen. Und wenn ich blos dem Einfluß des Aeußeren Raum geben wollte, so hat sie für mich gar nichts Reizendes, obgleich ihr Gesicht unstreitig sehr schön und ihre kolossale, königliche Figur so sehr das Gegentheil der meinigen ist, daß, wenn ich mir vorstelle, wir liebten und heiratheten uns, ich immer etwas Lächerliches und Abgeschmacktes dabei finden würde, worüber ich mich nicht leicht hinwegsetzen könnte.“ An einer anderen Stelle sagt Schleiermacher, er käme sich zuweilen vor wie ein kleiner Arbeitsbeutel am Arme der großen Herz. Diese selbst dachte ebenso unbefangen über ihr Verhältniß zu ihm und erzählt in ihren Erinnerungsblättern, daß man in Berlin eine Carricatur darauf gemacht habe; man bildete nämlich auf einem Spaziergang das ungleiche Paar ab, indem man der Herz statt Sonnenschirm Schleiermacher’s Figürchen in die Hand gab. Beide haben herzlich darüber gelacht, wie sie versichert, hinzusetzend. „Wir haben uns gegenseitig oft darüber ausgesprochen, daß und warum wir kein anderes Gefühl für einander hegen konnten, als diese schöne innige Freundschaft.“ Uebrigens war Schleiermacher auch beinahe vier Jahre jünger als Henriette, ein Unterschied des Alters, der für ein Liebesverhältniß auch nicht günstig ist.

Der wirksamste Grund seiner Unempfindlichst für Henriettens Schönheit lag aber wohl darin, daß er gerade damals eine heftige Leidenschaft für Eleonore Grunow empfand, eine Frau, die in unglücklicher Ehe mit einem Amtsbruder Schleiermacher’s lebte und ernstlich an eine Scheidung dachte, um letzteren zu heirathen. Die Herz, die sonst so tugendstrenge Frau, war die Vertraute der Liebenden und fand nach damaliger sentimental-unmoralischer Anschauungsweise kein Unrecht in ihren Plänen, so wie sie auch die Scheidung ihrer Freundin Dorothea Veit und ihre Verheirathung mit Friedrich Schlegel befördert hatte, ohne zu ahnen, daß sie ein Unrecht gut hieß, dessen Schuldlast die Tochter des Philosophen Mendelssohn reuevoll in den Schooß des Katholicismus getrieben hat.

Wie Schleiermacher als christlicher Prediger sich über seine Liebe zu einer verheirateten Frau selbst absolviren konnte, bleibt ein ungelöstes Räthsel in dem Leben dieses merkwürdigen, sonst so klaren Geistes. Er war ganz außer sich, als Eleonore Grunow endlich, um ihr Gewissen zu beschwichtigen, sich weigerte ihn zu heirathen. Er machte ihr aus ihrer Tugend ein Verbrechen und behauptete, er sowohl wie sie würden aus Kummer über das zerrissene Verhältnis sterben, was jedoch keineswegs eintraf. Eleonore, die jedenfalls eine bedeutende Frau war – sie hat einige der geistvollsten Briefe über die Lucinde geschrieben, durch deren Herausgabe Schleiermacher so viel Aufsehen und Tadel erregte –, verschwand im Dunkel eines streng zurückgezogenen Lebens, und der verzweifelte Geliebte fand – theilweis durch die Vermittelung seiner Freundin Henriette Herz – eine beglückende Heirath mit der jungen Wittwe des Predigers von Willich. Er starb am 12. Februar 1834, und ist durch die Feier seines hundertjährigen Geburtstages im vorigen Jahre wieder ein berühmter Gegenstand allgemeiner Besprechung geworden, wodurch wir überhoben sind, mehr Einzelheiten seines Lebens hier zu geben. Nur sei noch erwähnt, daß Henriette Herz durch ungetrübte Freundschaft bis zuletzt mit ihm verbunden war; sie ließ sich gleich nach dem Tode ihrer Mutter taufen, längst darauf vorbereitet durch den Umgang mit dem christlichen Lehrer und Freund. Eine Reise nach Rom, wo sie zwei Jahre verweilte und allgemein ausgezeichnet wurde, war ihre letzte große Lebensfreude. Nach Berlin zurückgekehrt, hatte sie manche Sorgen und Schmerzen zu ertragen. namentlich klagte sie über die Einschränkungen, die sie sich ihrer geringen Mittel wegen auferlegen mußte. In Italien hatte sie bei einer alten, kränklichen, häßlichen Signora Dionigi jeden Abend eine ausgewählte Gesellschaft junger und alter Männer und vornehmer Frauen gefunden, die alte Dame hatte ihnen nichts zu bieten als „Verstand und eine Oellampe“. Daß man in Deutschland sich damit nicht begnügen wollte, beklagte Henriette mit schmerzlicher Ironie; sie hatte in der That auch nicht viel mehr zu geben und die Gesellschaft, die so zahlreich bei dem guten Essen und Wein im Hause ihres Mannes erschienen war, verließ sie immer mehr. „Wäre ich jetzt so reich und so vornehm, wie ich früher schön war,“ seufzte sie oft, „so würde ich nicht so verlassen, sondern noch allgemein gefeiert sein.“

Hauptsächlich schmerzte es sie aber, daß sie auch ihren Hang zum Wohlthun einschränken mußte, als sie kein Geld mehr geben konnte, gab sie wenigstens Unterricht an unbemittelte junge Mädchen und verschaffte ihnen dann gute Stellen als Erzieherinnen. Sie war dadurch so populär geworden, daß auch einmal ein armes Dienstmädchen in ihr Gärtchen kam und fragte: „Wohnt hier die Hofräthin Herz, die die Mädchens vermietet?“

Mit dem zunehmenden Alter mußte sie jedoch diese erheiternde Wirksamkeit aufgeben, sie wurde kränklich, ihre Bekannten und Freunde starben vor ihr her und ihre Mittel nahmen rasch und rascher ab, da es in Berlin immer theurer wurde und ihre Krankheiten viel Kosten verursachten. Die Greisin sah sich oft in wirklicher Geldverlegenheit, suchte dieselbe jedoch möglichst geheim zu halten. Aber der einstige Jugendgenosse und treue Freund, Alexander v. Humboldt, erfuhr dennoch davon und wendete sich im Jahre 1845 an Friedrich Wilhelm dem Vierten von Preußen, von dem er wußte, daß er durch seinen Erzieher Delbrück zuweilen den Namen der edlen Frau gehört hatte. Der König ergriff den Gedanken, ihr in ihrer Noth beizustehen, mit lebhafter Freude und „erhöhte durch die zarte und schonende Form der Gabe noch die pecuniäre Bedeutung,“ wie J. Fürst, der treffliche Biograph von Henriette Herz, erzählt. In einem Handbillet an den Cabinetsrath Müller erklärte der König. „Da die Hofräthin Herz, eine Frau, deren Namen er schon in frühster Kindheit mit so viel Hochachtung habe aussprechen hören, selbst nichts erbeten habe und überhaupt die ganze Sache ohne ihr Wissen geschehen sei, so fände er es angemessen, keine Cabinetsordre hinsichtlich der Bewilligung an sie selbst zu richten, vielmehr die ganze Angelegenheit durch Herrn v. Humboldt gehen zu lasten.“ So erhielt denn die alte Frau ganz unerwartet ein bedeutendes Geldgeschenk gleich und fünfhundert Thaler jährliche Pension aus der Privatschatulle des Königs. Eine neue Lebensfreudigkeit kam über sie, als die lastende Sorge von ihr genommen war und die ehrenvolle Theilnahme des königlichen Gebers sich auch noch durch einen persönlichen Besuch in ihrer kleinen Sommerwohnung im Thiergarten betätigte. Sie starb an Altersschwäche am 22. October 1847 im vierundachtzigsten Lebensjahre.

v. Hohenhausen.



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Unser Aller Herrin und Gebieterin.

Was wir sind ohne diese Herrin? – Die Wasseruhr. – Das Nonplusultra derselben. – Die Zeitmesser der Barbaren: Kieselhelm, Furchenzähler, Lagerwachen und Rosenkranzbeten. – Sanduhr und Stundenglas. – Die erste Schlaguhr. – Nürnberger Eier. – Federtaschen- und Repetiruhren. – Der englische Chronometer.

Es war während meiner letzten Sommerfrische; ich hatte einen Ausflug in das höhere Gebirg gemacht und war den ganzen Morgen und über den Mittag hinüber derb marschirt. Eben wanderte ich durch einen prachtvollen, aber etwas düstern und melancholischen Tannenwald, ringsum war Alles still, nur ab und zu erklang der Lockruf einer Amsel, dem ein anderer antwortete; da fiel mir plötzlich ein, daß ich ja um sieben Uhr Abends wieder unten im Thale auf der Eisenbahnstation sein müßte, wenn ich noch heut’ in mein zeitweiliges Asyl heimkehren wollte. Der Sonne nach mußte Fünf längst vorüber sein, und ich hatte noch einen weiten Weg bis zu meinem Ziele. Hastig griff ich nach der Uhr in meiner Westentasche, um genau zu sehen, wie ich meine Schritte fortab zu reguliren hatte, damit ich rechtzeitig an Ort und Stelle gelange – doch die treue Begleiterin auf meinem Lebenswege, die ordnende Freundin meiner freudevollen und leidvollen Stunden, sie versagte mir diesmal ihren Rath, sie war stehen geblieben. Meine Situation war nicht eben beneidenswert allein in einem großen Walde, auf dessen verschiedenen Pfaden ich mich möglicher Weise verirrt hatte, weit und breit kein Dorf, kein Haus, aus welchem der Schlag einer Glocke zu mir heraufdringen konnte, bei herannahender Dämmerung, mit dem Bewußtsein, daß die Meinigen mich heut’ bestimmt zurückerwarteten in unserer Villeggiatur daheim und sich zweifelsohne mit den phantastischesten Vorstellungen über mein Ausbleiben ängstigen, an Stürze in Schluchten und Gewässer, an Räuberattaken und andere Unglücksfälle mehr denken würden. So wuchs meine Unruhe mit jedem Schritte und die Minuten wurden mir zu Stunden, nervös, aufgeregt, athemlos wie ich war.

Und aller Noth und Sorge wäre ich überhoben gewesen, hätte sich meine Uhr nicht unglücklicher Weise in den Kopf gesetzt, einmal zu rasten – denn noch vollauf rechtzeitig langte ich auf der Station an – um mir so recht durch die Praxis ad oculos zu demonstriren, was für hülflose Geschöpfe wir in unserer Dampf- und Telegraphenära abgeben würden, stünde uns nicht die kleine tickende Freundin in der Tasche rathend und beschwingend zur Seite. Ja, was sollten wir anfangen ohne die Uhr? Kann doch dieser Zeitmesser geradezu als die Triebfeder der Civilisation bezeichnet werden, ist er doch mit allen unseren Bedürfnissen so innig verwachsen, so vollständig der Regulator unserer gesammten Arbeiten und Geschäfte, daß wir gewissermaßen seine Sclaven geworden sind und ohne ihn einen Zustand socialen Lebens uns ebenso wenig denken können, wie wir uns vorzustellen vermögen, daß es fliegende Vögel ohne Fittige giebt, oder daß sonst etwas Unmögliches möglich und wirklich ist. –

Das erste Volk, welches den Tag in gewisse Abschnitte getheilt zu haben scheint, waren die Assyrer; sie erfanden die Wasseruhr in einer für jedwede genauere Zeitbestimmung viel zu weit rückliegenden Periode. Nur so viel steht fest, daß der Apparat bereits vor dem Sturze des ersten assyrischen Reiches vorhanden war, denn von den frühesten persischen Autoren erfahren wir, daß man in Niniveh unter der Regierung Phul’s, oder, wie er mit allgemeiner bekanntem Namen auch heißt, Sardanapal’s des Zweiten, des ersten Herrschers des zweiten assyrischen Reiches, die Wasseruhr kannte und benützte. Dieselbe war nichts weiter als ein ehernes Gesäß von cylindrischer Gestalt, welches mehrere Kannen Wasser aufnehmen konnte. Durch eine seiner Wände war ein sehr kleines Loch gebohrt, durch das die Flüssigkeit langsam hindurch träufeln konnte, und zwar derart, daß sich das Gefäß des Tags etwa fünf bis sechs Mal entleerte. Unter Phul besaß der königliche Palast zu Niniveh und jeder der Hauptbezirke der Stadt eine Wasseruhr von der geschilderten Form und Beschaffenheit. Sie wurden sammtlich zu gleicher Zeit, oder mindestens möglichst zu gleicher Zeit, gefüllt auf das Signal eines Wächters, der hoch auf einem Thurme postirt war, den Aufgang der Sonne zu verkünden, und standen den ganzen Tag unter der Obhut gewisser Beamten, welche die Obliegenheit hatten, sie von Neuem zu füllen, sobald sie leer wurden. Zu jedem dieser Zeitmarkirungsämter gehörte ein völliges Corps von Ausrufern, die bei jeder Neufüllung der Uhren durch die Straßen eilten und dies Factum zu Nutz und Frommen der Bewohnerschaft vermeldeten.

Auf solche Weise gelangte man zu einer annähernden Schätzung der fliehenden Zeit. Die Intervalle zwischen Füllung und Entleerung der Gefäße hießen „Wachen“ und umfaßten wahrscheinlich eine Dauer von zwei bis zwei und einer halben Stunde. Allein kaum läßt sich annehmen, daß die verchiedenen Wasseruhren auch nur einigermaßen miteinander Schritt hielten; die Schwierigkeit, mit der Hand Gefäße von genau derselben Größe herzustellen, sie mit Oeffnungen von völlig gleichem Durchmesser zu durchbohren und mit Wasser von ganz der nämlichen Dichtigkeit zu versorgen, – das Alles muß ein sehr unregelmäßiges und ungleichförmiges Arbeiten der Maschinerie hervorgebracht haben.

Mehrere Jahrhunderte hindurch blieb die Wasseruhr oder Klepsydra in diesem primitiven Zustande, und erst als in Alexandria der Sonnenweiser erfunden war, erfuhr sie eine verbessernde Wandelung. Um dieselbe Zeit versah sie ein Aegypter von Memphis mit Zifferblatt und Zeiger. Der letztere drehte sich um einen Zapfen und communicirte mit einer Schnur, an welcher ein Korkschwimmer befestigt war. Wie das Wasser abträufelte, so fiel dieser Schwimmer mit ihm, und die dadurch größer und größer werdende Spannung der Schnur bewirkte, daß sich der Zeiger mit leichtem Ruck drehte, etwa in der Art des Secundenzeigers an einer unvollkommen fabricirten Taschenuhr. In der Theorie war diese Verbesserung entschieden höchst verdienstlich, in der Praxis jedoch noch ziemlich mangelhaft, denn die alte Schwierigkeit, mit einander Schritt haltende Uhren zu erlangen, verdoppelte und verdreifachte sich nur, sobald man das System durch Zeiger, Schnur und Schwimmer complicirte. Um ein gleichzeitiges Arbeiten zu sichern, hätte Schnur und Draht der verschiedenen Uhren auf das Haar genau von derselben Länge und Stärke sein, hätten alle Zeiger die nämliche Größe haben und sich um Zapfen bewegen müssen, die sämmtlich an Höhe und Umfang sich durchaus gleich gewesen wären. Und hätte man auch dies Alles wirklich erzielt, dann blieb immer noch die Frage: wie es machen, daß Schwimmer und Schnur, Schnur und Zeiger in vollkommener Uebereinstimmung arbeiteten, da ja das kleinste Hinderniß, wie Rost oder Staub, die Beweglichkeit des Weisers hemmte und damit die Arbeit von Schwimmer und Schnur abschwächte?

Immer war die Erfindung von nicht zu unterschätzender Bedeutung, schon insofern, als sie anderen Verbesserungen den Weg bahnte und zur Vervollkommnung der Klepsydra durch ein Getriebe von kleinen Zahnrädern führte, die bald in Gebrauch kamen. Diese Räder fußten auf den Principien unserer Wassermühlen und machten die Hinzufügung eines zweiten Zeigers möglich, mit dessen Hülfe die einzelnen „Wachen“ in kleinere Abschnitte getheilt werden konnten. Damit aber hatte man das Nonplusultra der Wasseruhr erreicht, es datirt aus dem Jahre zweihundertundfünfzig vor Christo, und Aegypten, welches der große Uhrenmarkt jener Zeit geworden war, versandte die neuen Instrumente zu fabelhaften Preisen nach den verschiedenen Ländern des Orients. Als im Jahre 62 vor Christo Pompejus als Sieger über Tigranes, Antiochus und Mithridates in Rom einzog, war eine der werthvollsten Trophäen, welche er unter den Schätzen des Königs von Pontus mitbrachte, eine Klepsydra, die nach der in Rom gebräuchlichen horologischen Methode Stunden und Minuten bezeichnete. Der Cylinder, welcher als Wasserbehälter diente, war von Gold, ebenso das Zifferblatt; die Zeiger waren mit kleinen Rubinen besetzt und jede der Zahlen, welche die vierundzwanzig Stunden angaben, aus einem Sapphir geschnitten. Die Uhr muß von ungeheurer Größe gewesen sein, denn der Cylinder brauchte täglich nur einmal gefüllt zu werden. Noch niemals hatten die Römer etwas Aehnliches gesehen, und als Pompejus das kostbare Beutestück im Hauptsaale des Capitols aufstellen ließ, mußte eine starke Wachmannschaft daneben postirt werden, um es vor der indiscreten Neugier des Publicums zu schützen.

Auf den Sturz des römischen Reiches folgte bekanntlich eine [521] Zeit gänzlicher Finsterniß, in welcher Wissenschaft und Kunst und Alles, was das Leben schmückt und verschönt, in Vergessenheit und Verfall sanken. Unsere germanischen Vorfahren, die in die kaiserliche Stadt als Sieger eindrangen, hatten ihre besonderen und sehr ursprünglichen Methoden, die Flucht der Zeit zu markiren; von Stunden und Minuten wußten sie nichts. Um Wasseruhren zu erfinden, waren sie lange nicht gebildet genug, und Sonnenuhren, selbst wenn sie solche besessen hätten, dürften ihnen in ihren Wäldern und Sümpfen, wo das Tagesgestirn nur selten einmal in hellem Glanze sichtbar wurde, von geringem Nutzen gewesen sein. Nichts destoweniger aber mußten sie wissen, wann sie ihre rohen Mahlzeiten zu bereiten, wann sie sich zum Cultus ihrer Götter zu versammeln und wann sie die Wachposten abzulösen hatten, die am Saume ihrer Ansiedelungen aufgestellt zu sein pflegten. Um dies zu bewerkstelligen, ersannen sie das folgende Verfahren. Mit Tagesanbruch, wenn der Häuptling des Lagers oder Dorfes sich von seinem Thierfell erhob, kam ein junger Sclave, setzte sich am Eingang der Hütte nieder und stellte zwei Helme vor sich hin, von welchen der eine mit Kieseln gefüllt, der andere leer war. Sein Geschäft bestand nun darin, daß er diese Kiesel einen nach dem andern, und nicht zu schnell, vom ersten Helm in den zweiten warf, worauf er von einem andern Sclaven abgelöst wurde, der die gleiche Operation wiederholte. So ging es mit Leeren und Füllen der beiden Helme fort bis Sonnenuntergang. Da die Helme in der Regel sehr groß, die Steine aber durchschnittlich sehr klein waren, so muß der Proceß des Ueberwerfens von einem Behälter in den andern wohl zwei gute Stunden, vielleicht noch mehr in Anspruch genommen haben; es ist daher wahrscheinlich, daß die alten Germanen, gleich den Asyern, ihre Tage in sechs Theile oder Wachen teilten. War ein Helm entleert, so verkündete man dies Begebniß dem Lager dadurch, daß man, an der Thür vor der Häuptlingshütte, mit dem Schwerte an den Schild schlug. Der Schall tönte durch das ganze Lager, und sämmtliches Publicum wußte dadurch, daß die Stunde des Mittagsessens oder der Götterverehrung gekommen war.

Allein dies war nicht die einzige Art und Weise, auf welche unsere Ureltern die Zeit bezeichneten. Es gab vielmehr noch eine Menge anderer Mittel und Wege dazu, je nach den verschiedenen Oertlichkeiten und Stämmen verschieden. Da wo die Beschäftigung des Landmanns vorwaltete, rechnete man nach der Zahl der Furchen, die er mit dem Pfluge ziehen, oder, war es zufällig Erntezeit, nach der Quantität der Halme, welche er mähen konnte. In jenen Städten, wo sich noch ein schwacher Ueberrest von römischer Cultur erhalten hatte, ward die Zeit durch Wächter verkündet. Sowie der Tag kam, brach ein Soldat zu Fuß – war der Ort umfänglich, wohl auch zu Roß – auf und hielt seinen Umgang um die Stadt. Hatte er denselben beendet, so war der erste Zeitabschnitt, die erste Wache, vorüber der Soldat rückte in sein Quartier heim und stieß laut in die Trompete, während ein zweiter sich auf den Weg machte, die Stadt zu umwandern oder zu umreiten. Und diese Umzüge währten ununterbrochen fort Tag und Nacht, mit dem einzigen Unterschiede, daß nach Sonnenuntergang kein Trompetenstoß mehr erfolgte und daß dann nicht ein einzelner Soldat, sondern eine Rotte von zehn bis zwölf Mann den Umgang vollzog.

Als ein letztes Beispiel von barbarischer Zeitmessung wollen wir noch die in den Klöstern des Abendlandes, deren erstes bekanntlich vom heiligen Benedict im Jahre fünfhundertdreiundzwanzig unserer Aera gestiftet wurde, gebräuchliche Methode anführen. Die Mönche pflegten nämlich die Zeit nach der Anzahl von Gebeten zu berechnen, welche sie abplärren konnten, wodurch die sogenannten Rosenkränze in Aufnahme kamen. Jeder Mönch hatte so viele „Paters“ und "Aves“ herzusagen, wie sich Perlen an seiner Schnur befanden, und da, wenn wir nicht irren, die orthodoxe Perlenzahl dreiunddreißig zu sein pflegte, das heißt je eine für jedes Lebensjahr unseres Religionsstifters, so war das Abbeten des Rosenkranzes das Werk von guten anderthalb Stunden. Ganz wie bei den erwähnten Zeitwächtern löste nun ein Mönch den andern ab, und die Beendigung jeder einzelnen „Vigilie“ wurde durch Anschlagen der Capellenglocke verkündigt, – eine Sitte, welche, beiläufig, in gewissen Klöstern noch heutigen Tages besteht.

Ein Jahrhundert nach dem Untergang des römischen Reiches war die Gewohnheit, Stunden und Minuten zu markiren, in Westeuropa völlig verschwunden, und ohne die Staaten des Ostens, in denen die Flamme der Wissenschaft noch matt glimmte, während der Occident ganz und gar im Dunkel lag, würde vielleicht alle Horologie außer Cours gekommen sein. Dem berühmten Kalifen von Bagdad, Harun-al-Raschid, gebührt das Verdienst, Europa die alte Wasseruhr wieder geschenkt zu haben. Ein Zeitgenosse Karl’s des Großen, sandte er diesem im Jahre 807 eine prachtvolle Klepsydra zum Zeichen seiner Freundschaft, allein man scheint das merkwürdige Geschenk zunächst mehr bewundert und angestaunt als nachgeahmt zu haben, denn wir finden keine Erwähnung von im Frankenstaate fabricirten Wasseruhren bis auf Philipp, der im eilften Jahrhundert über das heutige Frankreich herrschte. Der Grund dieser auffälligen Erscheinung ist möglicher Weise darin zu suchen, daß kurz vor dem Regierungsantritte Karl’s des Großen die Sanduhr erfunden worden war und daß man diesen Apparat für bequemer und einfacher erachtete, als die Klepsydra.

Jener Mann, welcher die Jahrhunderte verloren gegangene Kunst der Glasbereitung wieder erfand, war auch der Verfertiger der ersten Sanduhr. Es war ein Mönch, Namens Luitprand, in einem Kloster zu Chartres, und so wie er das erste Sandglas herstellte, genau so sind die Sanduhren bis auf den heutigen Tag geblieben. zwei birnenförmige Gläser, die an den schmäleren Enden miteinander verbunden sind. So wie der Sand von dem einen in das andere Glas hinabgeronnen war, wurde die Verrichtung umgekehrt und die Operation begann von Neuem. Kurze Zeit nach dem Empfange von Harun-al-Raschid’s Wasseruhr ließ Kaiser Karl eine Monstersanduhr herstellen, auf welcher die Stundenabschnitte durch dünne rothe Linien bezeichnet waren. Dies gilt als das erste "Stundenglas“. Es brauchte alle zwölf Stunden blos einmal umgedreht zu werden, und wenn wir annehmen dürften, daß es mit derselben Sorgfalt geblasen war, die man heutzutage aus die Verfertigung unserer kleinen Eiersanduhren wendet, so würde es an Genauigkeit unseren besten Ankeruhren nicht viel nachgestanden haben. Hört man doch noch jetzt mannigfach die Behauptung ausbrechen, daß die Sanduhr der beste aller bisher erfundenen Zeitmesser ist.

England, welches heute in vorderster Reihe steht, wo es sich um technische Erfindungen und Verbesserungen handelt, bediente sich damals noch einer Reihe alter, primitiver und unbeholfener Methoden, die Zeit zu messen. König Alfred, der von 872 bis 900 regierte, hatte sicherlich von den fränkischen Stundengläsern gehört, möglicher Weise auch selbst ein solches besessen, da die Mönche und Pilger, die fortwährend zwischen Deutschland und England hin und her wanderten, wohl kein Jahrhundert hätten verstreichen lassen, ohne ein Modell der neuen Erfindung mit über den Canal hinüber zu tragen. Dennoch erdachte König Alfred eine eigentümliche, höchst ursprüngliche Zeitmessungsmethode, er markirte die Zeit nämlich durch das Verbrennen einer in eine Laterne gestellten Kerze, deren Docht aus einer Binse bestand, wie dergleichen Lichter noch jetzt in England hie und da auf dem Lande im Gebrauch sind. Etwas Unzweckmäßigeres und zugleich Kostspieligeres als diese Art der Zeitmessung läßt sich aber gar nicht vorstellen. Ein solches Binsenlicht kann damals kaum unter zwei bis drei Groschen unseres heutigen Geldes herzustellen gewesen sein, und da man den Talg noch nicht zu raffiniren verstand, so müssen alle Mittel gefehlt haben, die Zeit zu bestimmen, in welcher eines dieser Lichter verbrannte. Das eine flackerte und schmolz vielleicht eine Stunde, während ein anderes sich in zehn Minuten verzehrte. Erst fast zwei Jahrhunderte später wurde das Sandglas in England allgemein eingeführt und Richard Löwenherz brachte, wenige Jahre vor seiner Thronbesteigung, die erste Wasseruhr aus Frankreich in sein Heimathland herüber.

In den nächsten beiden Jahrhunderten machte die Horologie sehr unmerkliche Fortschritte, bis unter König Karl dem Fünften von Frankreich, im Jahre 1374, die erste wirkliche Schlaguhr das Licht der Welt erblickte. Ihr Verfertiger war ein gewisser Henri de Vie, ein Araber von Geburt, welcher in Frankreich den christlichen Glauben angenommen hatte. Seine Uhr hatte riesige Dimensionen, sie wog mehr als fünfhundert Pfund! Froissart, der bekannte Chronist, giebt uns eine ausführliche Beschreibung der schweren Maschine, die im runden Thurm des königlichen Palastes (jetzt Palais de Justice) ihren Platz fand und mehrere Monate hindurch Tag für Tag Schaaren von Neugierigen herbeizog. [522] Der Künstler empfing zum Lohn eine lebenslängliche Pension von dreihundert Goldkronen jährlich und ward in den Adelsstand versetzt – der erste Künstler, welchem diese Ehre in Frankreich zu Theil wurde.

Von jetzt an verbreiteten sich große Schlaguhren für öffentliche Gebäude über ganz Europa, allein erst Anfangs des sechzehnten Jahrhunderts sehen wir kleinere Zimmeruhren in Gebrauch kommen. Die erste, die man kennt, ging 1518 als Geschenk des Julius von Medici, des nachmaligen Papstes Clemens des Siebenten, an König Franz den Ersten von Frankreich aus Florenz nach Paris. In demselben sechzehnten Jahrhundert war es auch, daß Purbach, 1500, die Horologie zuerst bei astronomischen Berechnungen in Anwendung brachte. Sechzig Jahre später ließ der dänische Astronom Tycho de Brahe, der Lehrer unseres großen Kepler, auf seiner grandiosen Sternwarte zu Cranniesburg eine Schlaguhr errichten, die sowohl Minuten als Secunden zeigte.

Die Erfindung von Taschenuhren war der Herstellung von Zimmeruhren um ein paar Jahre vorausgegangen. Wie Jedermann weiß, gilt unser Nürnberger Landsmann Peter Hele als der Erfinder der Taschenuhr, des sogenannten Nürnberger Eies, dessen erstes im Jahre 1490 verfertigt worden sein soll. Es waren diese Nürnberger Eier gar schwerfällige, dicke, unführliche Apparate, nicht mit Unrecht ihrer Gestalt wegen mit den Kartoffeln verglichen, und es währte beinahe einhundertundfünfzig Jahre, ehe ein Schotte, Namens Graham, das cylindrische „Echappement“ ersann und damit der Taschenuhr eine etwas acceptablere, obschon noch immer ziemlich unbequeme Form gab. Den größten, wir möchten fast sagen den letzten Fortschritt in der Kunst der Horologie verdanken wir Hugens von Zülichem, der freilich nur einen Gedanken ausführte, dessen Ruhm dem unsterblichen Galilei gebührt. Wir meinen die Benützung der Pendelbewegung. Hugens überreichte den Generalstaaten der Niederlande im Jahre 1657 die Beschreibung einer auf Galilei’s Pendellehre gegründeten Uhr und schenkte, zugleich die Spiralfeder beifügend, hierdurch der Welt eine Erfindung, die unbedingt zu den vollkommensten zählt, die jemals gemacht worden sind: denn eine bewunderungswürdigere und zugleich einfachere Maschine als die Pendeluhr läßt sich kaum denken.

Die Federtaschenuhren endlich, so wie wir sie heutzutage tragen, sind von einem Engländer, Namens Hooke, 1658 erfunden worden, und achtzehn Jahre darauf fabricirte ein Holländer in Amsterdam die ersten Repetiruhren. Seitdem ist bis zu unserem gegenwärtigen Jahrhundert, dem wir den Chronometer und die Secundenuhr mit Hemmfeder schuldig geworden sind, kein nennenswerter Fortschritt in der Kunst der Horologie zu verzeichnen, ja, wir vermögen kaum abzusehen, daß sich überhaupt noch eine höhere Entwicklung derselben erwarten läßt, es müßte denn ein Peter Hele oder ein Hugens der Zukunft eine Uhr herausdüfteln, welche, durch Elektricität in Bewegung gesetzt, uns die Mühe des Aufziehens erspart.

Bis in die erste Hälfte unsers Jahrhunderts hinein hatte Genf den Ruf, die vorzüglichsten Taschenuhren der Welt in den Handel zu bringen, gegenwärtig hat es jedoch, vom Wunsche einer billigen Production verführt, diesen Nimbus in etwas eingebüßt und ist von England und von Frankreich überflügelt worden. Das letztere liefert die kostbarsten und elegantesten Damenuhren, das erstere steht namentlich in der Herstellung von Chronometern unerreicht da. Ein englischer Chronometer ist in der That ein Ding fast absoluter Vollkommenheit, was nicht Wunder nimmt, wenn wir erfahren, daß sämmtliche Chronometer, insbesondere die amtlich benützten, vom Vorstande der Sternwarte zu Greenwich geprüft und mit dessen Namensunterschrift oder Handzeichen approbirt werden müssen. Alle Schiffschronometer haben auf der erwähnten Sternwarte eine Probezeit von sechs Monaten bis zu einem Jahre, in manchen Fällen sogar von zwei Jahren, zu bestehen, bevor sie das Liceat über See zu gehen erlangen. Während dieser Probezeit unterliegen sie einer ganzen Folge von Experimenten, werden allen möglichen Witterungswechseln ausgesetzt und müssen sich in Feuer und in Wasser bewähren, so daß der Mann, der ein solches stichhaltig befundenes Instrument gemacht hat, gewiß mit vollem Rechte den Namen eines Künstlers beanspruchen darf. Wem also „Zeit“ wahrhaft „Geld“ ist, der kaufe sich in England einen Chronometer, vorausgesetzt, daß er die dazu nöthigen unterschiedlichen Pfunde Sterling durch Befolgung seines Grundsatzes sich bereits erworben hat, nicht erst mit Hülfe derselben erwerben will.




Die Genesene.


Sie war so gut! Der Himmel war’s ihr schuldig,
Daß er sie leben und genesen ließ.
Sie litt so lang und litt es so geduldig,
Daß oft sie selbst zu klagen uns verwies.

5
„Bist du noch wach? So geh’ doch schlafen, Rette!

Du hörtest mich noch immer, wenn ich rief:
Die Medicin!“ sprach sie, „dann geh’ zu Bette,“
Und stellte sich, als ob sie wieder schlief.

Das waren Nächte! Winternächte, lange,

10
Wenn drauß’ der Sturmwind um die Dächer schnob

Und heulend umtrieb auf dem alten Gange
Und schier die Fenster aus den Angeln hob!
Im Ofen knisterte das Holz; ein Leben
Rang mit dem Tode; durch dies Schlafgemach,

15
So traut es war, sah man doch leise schweben

Den Engel, der die Lebensblüthen brach.

Ein Hüsteln und dann wieder tiefe Stille,
Ein Seufzer, und dann sprach sie was im Traum.
Der Wohlgeruch der römischen Camille

20
Durchfloß des Zimmers matterhellten Raum.

Zuweilen flackerte das Licht, es däuchte
Ein Bild des Lebens uns, das auch so lag,
Und zu erlöschen drohte wie die Leuchte;
Doch drauß’ indeß entdämmerte der Tag.

25
Es kam der Tag, und mit ihm neues Hoffen,

Es kam der Arzt, und neue Zuversicht,
Dann war’s als liege wieder vor uns offen
Die weite Welt im schönen Sonnenlicht.
Es durften an ihr Bett die Kinder kommen,

30
Sie kamen von der Schule, wangenroth

Vom Winterweh’n; ach, wie der Guten, Frommen
Zum Gruß die kleinen Händchen Jedes bot!

Jetzt ist es Frühling, jubelnd in die Lüfte
Schwingt sich der Lerche Lied zum Himmelsblau;

35
Nimm hier des Gartens erste Blumendüfte,

Du auferstand’ne, junge, schöne Frau!
Erfrische Dich an ihrem Duft, erheit’re
An ihren Farben Dich, daß Deine Brust,
Vergnügt in die Natur sich froh erweit’re

40
Zum Vollgenuß der neuen Lebenslust.


Hermann Lingg.
[523]

Deutsche Kneipen.[1]

Nr. 1. In der Belltafel zu Breslau.

Wer einmal nach Breslau, der alten Hauptstadt von Preußisch-Schlesien, gekommen ist, der wird gewiß nicht unterlassen haben, hatte er nur einige Neigung für berühmte Denkmäler der deutschen Vorzeit, die vielen Sehenswürdigkeiten der uralten Stadt, welche einst neben Venedig und Nürnberg das europäische Handelsmonopol besaß, in Augenschein zu nehmen. Wir denken dabei an den ehrwürdigen Dom zu Sanct Johann, an die Kreuz- und Sandkirche, die Elisabeth- und Dominikanerkirche, sowie an das herrliche Rathhaus, eine der schönsten Zierden Breslaus, unter dem der weltberühmte „Schweidnitzer Keller“, der vom Volksmunde „der Schwein’sche“ genannt wird, sich befindet. All’ diese Merkwürdigkeiten und noch viele andere wird der Fremde bewundert haben, aber selten wird er nach dem sogenannten „Schießwerdergarten“ gewandert sein, und war er wirklich dort, hat er gewiß Nichts von der Breslauer „Belltafel“ gehört oder gesehen, einer länger als dreihundert Jahre bestehenden Bürger-Gesellschaft, deren Verfassung und Zweck so eigenthümlich und absonderlich, daß eine nähere Beschreibung derselben, welcher diese Zeilen gewidmet sind, den Lesern der Gartenlaube nicht uninteressant sein dürfte.

Auch wir befanden uns mehrere Jahre in Breslau, ohne jene Gesellschaft näher zu kennen, deren endlichen Besuch wir der liebenswürdigen Einladung eines Freundes verdanken, der zufällig jene Gesellschaft kennen lernte. Hell und klar brannte in den letzten heißen Tagen des April die Nachmittagssonne auf die Schornsteine Breslaus hernieder, als die buntbewegte Menge wie die gläubigen Pilger zum fernen Gnadenbilde hinaus wanderten vor das Oberthor, welcher Stadttheil Breslaus deshalb so heißt, weil dort kein Thor zu finden, um die schattigen Alleen des großen dort belegenen Parkes aufzusuchen und sich nach des Tages Mühen an dem braunen Gerstensafte oder dem Trank der Levante zu erquicken und dort spazieren zu sitzen. Der „Schießwerdergarten“, oder wie er einfach genannt wird, „das Schießwerder“, ist ein unfern der alten Oder gelegener Park nebst Schießplatz, der früher der Schützen-Brüderschaft eigentümlich gehörte, seit aber in den Besitz der Stadtcommune gekommen, als welcher er nunmehr unter der Verwaltung einer aus der Stadtverorbueten-Versammlung gewählten Schießwerder-Deputation steht. Von dem Menschenstrome fortgetrieben, kamen auch wir in den Schießwerdergarten und suchten nachdem wir uns leiblich erquickt, die berühmte „Belltafel“ auf. Endlich fanden wir in dem nach der Roßgasse zu belegenen Theile des Parks ein Gebäude, welches aus zwei Abtheilungen besteht, der kürzeren von einunddreißig Fuß Länge und sechszehn Fuß Breite, in welcher die Spieler sich aufhalten, und der längeren von fünfundfünfzig Fuß Länge und acht Fuß Breite, in welcher die eigentliche Belltafel, von der die Gesellschaft ihren Namen führt, aufgestellt ist. Das mit Gas beleuchtete Gebäude ist aus massivem Mauerwerk erbaut, während der Raum, den die Tafel selbst einnimmt, mit schiebbaren Glasfenstern, nach Art der Treibhäuser, versehen ist.

So wie wir den vorderen Raum betreten und uns die Erlaubniß erbeten hatten, dem Spiel beizuwohnen, kam uns der Inspector der Gesellschaft, ein alter, ehrwürdiger Mann in weißem Halstuch und hoher, schwarzer Sammetmütze mit Schirm und Troddel, freundlich entgegen, reichte uns zum Gruß feierlich die Hand, während ein anderes Mitglied der Gesellschaft aus einem an der rechten Wand lehnenden Fasse den Ehrentrunk credenzte, der nach althergebrachter Sitte nur aus sogenanntem Faßbier (einem braunen Dünnbier ohne Schaum) bestand, da die Gesellschaft, hartnäckig an dem Brauch ihrer Altvordern hängend, jedem anderen neueren Getränk, vornehmlich aber dem Branntwein, den Eingang streng verwehrte. Wie einfach, leicht und unschädlich gleitet das wässrige Naß hinab in die durstigen Kehlen und begeistert die ehrenfesten Belltafel-Brüder für Ehre und Vaterland, für Patriotismus, immer neue Steuern und besonders für ihr Spiel! Der vordere Raum des Gebäudes ist mit allerlei Emblemen und Gedenktafeln geschmückt, von denen besonders drei sich auszeichnen, die, an wichtige Ereignisse in der Gesellschaft erinnernd folgende Inschriften tragen: „Sei uns willkommen! 1846.“ „Dreihundertjährige Jubelfeier der Belltafel-Gefellschaft 1565-1865.“ „Denkst Du daran, Du dreißigjähr’ger Schütze, Kaufmann Gottfried Pauser, 7. Juli 1853?“ An der schmalen Seite des ganzen Raumes links vom Eingange ist ein hölzerner thronartiger Sessel, der sogenannte „Kanzlerstuhl“, angebracht, zu welchem man eine Stufe hinansteigt, und es herrscht hier die Sitte, daß jeder Gast, welcher zufällig auf demselben sich niederläßt, eine „Buße“ nach eignem Belieben zur Gesellschaftscasse zu zahlen hat, wofür sein Name, Stand, Wohnort und Beitrag in einem besondern Buche verzeichnet wird. Gerade dem Eingange gegenüber hängt eine schwarze Tafel mit kleinen Fächern, in welche hölzerne Blättchen geschoben werden, auf denen die Namen der einzelnen Steine, mit welchen gespielt wird, geschrieben stehen, und jeder Spieler wird nach dem Namen seiner Steine während des Spieles genannt und aufgerufen. Rechts von jener Tafel ist eine Fallthür angebracht, die in einen unter dem Gebäude liegenden Keller führt, der zur Aufbewahrung und Kühlung des Bieres bestimmt ist.

Wenden wir uns nun zu dem Spiel, das der Gesellschaft den Namen gab, selbst. Der Apparat dazu besteht aus einer zwanzig Ellen langen und zwei Fuß breiten, in der Mitte muldenartig vertieften Tafel (Bahn), die oben und unten einen Schieber, die sogenannte „Krippe“, und eine mit Graphit geglättete Oberfläche hat. Wie uns versichert wurde, ist die eigentliche Tafel bereits dreihundertundvier Jahre alt. Auf dieser Tafel nun wird mit runden eisernen, auf beiden Seiten gestählten, sehr glatten Steinen, deren jedem auf seiner oberen Seite eine Figur, wie z. B. eine Rose, der König Salomo, ein Brettschneider, Adler, Napoleon der Erste, ein Herz, eine Fortuna, ein Schlüssel, Elephant, Schwan, eine Blume, eine Venus oder Victoria eingeprägt ist, wonach der Stein und der mit dem Stein Spielende während des Spieles genannt wird, eine Art Kriegsspiel ausgeführt, in der Art, daß zwei Parteien einander bekämpfen und der Letzte der geschlagenen Partei, nach Verhältniß auch Mehrere, ein „Schriftel“ oder eine „Bleischrift“, d. h. einen Strafstrich neben seinem Namen auf der Wandtafel angeschrieben bekommen. An der Spitze jeder der beiden an Spielerzahl einander gleichen Parteien steht ein Kanzler, jeder einzelne Spieler fällt dieser oder jener Partei durch das Loos des Würfels zu, welches die Kanzler werfen. Sind die Parteien an Zahl ungleich, so spielt der Kanzler für die vacante Stelle so lange, bis ein neuer Spieler eintritt. Jeder Spieler erhält zwei Steine, von denen die meisten Privateigenthum sind, während auch einige der Gesellschaft gehören. Der Kanzler der Partei A ruft nun einen Spieler, z. B. Rose auf, der aussetzen muß, während der Kanzler der Partei B einen, z. B. Venus nennt, welcher entweder diesen Stein durch seinen eigenen von der Tafel in die oben offene Krippe werfen, oder demselben wenigstens zuvorkommen muß. Kommt er vor, so hat die Partei A so lange zu spielen, bis ein Stein der ihrigen den vordern Feind entweder getroffen hat, oder auch ihm zuvorgekommen ist, während dann auf gleiche Weise die Partei B nachfolgt. Beide Parteien kämpfen gegeneinander so lange, bis die eine keine Steine mehr besitzt und also besiegt ist. Die besiegte Partei begiebt sich nun an die obere Krippe, die geschlossen wird, nachdem man die [524] untere öffnete, und spielt die Steine wieder herein. Der Spieler, dessen beide Steine beim Hereinzielen zurückstehen, oder einer zurück und der andere in der Krippe ist, ist Verlierer des Spieles und bekommt auf der Wandtafel neben seinem Namen ein „Schriftel“, das heißt einen Strafstrich. Während bei unserm Billard Kugeln vermittelst eines Stockes (Queue) aufeinander geschleudert werden, muß man hier glatte Eisenstücke gegeneinander werfen, und es ist nicht zu leugnen, daß dies Spiel von ebenso großem Interesse ist, als es, wie wir selber erprobten, eine ganz außerordentliche Geschicklichkeit erfordert; namentlich weil der Bogen auf der concaven Fläche, welche der mit der bloßen Hand geschobene Stein zu machen hat, um zu seinem Ziele zu gelangen, sehr genau berechnet werden muß. In diesem Interesse, wie in jener Uebung mag es liegen, daß jenes Spiel, das den Nichtkennern oft als unbedeutend erscheint, trotz alledem eine mehr als dreihundertjährige Dauer zu erlangen vermochte, und von den jetzigen sechsundvierzig Mitgliedern der Gesellschaft, die sowohl dem mittleren als höheren Bürgerstande angehören, mit einem Eifer und einer Wichtigkeit verfolgt wird, als ob das Wohl Europas davon abhinge.

Leider ist uns der Ursprung dieses ganz eigenthümlichen Spieles, trotz aller Nachforschungen, nicht bekannt geworden, ebenso wenig der des Namens, welcher zwischen „Bell-, Belle- und Belke-Tafel“ variirt. Als wir darum einen alten Herrn aus der Gesellschaft befragten, setzte uns dieser sehr scharfsinnig auseinander, daß 1815 in Frankreich Bell „schön“ geheißen habe; also „Bell-Tafel“ so viel als „schöne Tafel“ bedeute. Wir glauben annehmen zu dürfen, daß jenes Spiel wohl der Vorläufer und Stammvater des heutigen französischen „Billard“ sein möge. Unsres Wissens ist nur noch in Schweidnitz dies uralte Spiel zu finden und wohl mit den Schießübungen von Schweidnitz nach Breslau übergesiedelt. Nach der allgemein verbreiteten Meinung soll das hiesige Spiel früher den Mönchen im Kapuzinerkloster zur Ergötzung gedient haben; daß es aber frühzeitig in Verbindung mit den Schützenbrüdern gestanden habe, beweist eine Stelle aus einer Schützenverordnung im Zwinger vom Jahre 1657, wo es unter Anderem im Paragraph 6 also heißt: „Sollen diejenigen Schützen, so zugeleget haben, nicht erst bei verbrachtem anderen Rennen mit dem Rohr und beim anderen Rennen mit dem Stahl (Armbrust) sich einfinden, wie oftmals geschehen ist, daß sie sich auf der Belke-Tafel oder anderer Kurzweil über die Zeit aufhalten und hernach, wenn die meisten Schüsse mit dem Rohr ganz, und mit dem Stahl die Hälfte verbracht, erst kommen und ihr Schießen angetreten haben, da es nun ferner geschiehet, sollen selbige nicht allein nicht zugelassen, sondern auch ihrer Zulage gänzlich verlustig sein!“ Das Kapuzinerkloster wurde aber erst in den siebenziger Jahren des siebenzehnten Jahrhunderts errichtet. Es ist demnach eher anzunehmen, daß die Mönche das Spiel von den Schützenbrüdern entlehnten, als daß dies umgekehrt geschah.

Wie dem nun auch sei, so bleibt das Alterthum des Spieles doch erwiesen, und so weit man davon Kenntniß hat, standen die „Belkenisten“ oder „Belltafel-Brüder“ stets mit der bürgerlichen Schützengilde in Verbindung. Gehört es doch bis auf den heutigen Tag zum guten Ton, daß die Schützenkönige, wenn sie ihre Würde antreten oder ablegen, auch die Belltafel in Augenschein nehmen, ebenso, wie auch jeder neue Oberbürgermeister und Polizeipräsident Breslaus dort den Ehrentrunk entgegenzunehmen pflegt. Zu dem Neubau eines massiven Belltafelgebäudes, zu welchem man im Jahre 1826, den 6. Juni, den Grund legte, wurde das Geld aus der Schießwerdercasse gegeben, theilweise aber aus der Casse der Gesellschaft vorgeschossen.

Was die Aufnahme in die Belltafel-Gesellschaft betrifft, so enthalten darüber die zur Aufrechthaltung der Ordnung existirenden, gegenwärtig aus vierundsiebenzig Paragraphen bestehenden, theils allgemeine, theils Spielregeln betreffenden Statuten, welche mit der größten Strenge und Pünktlichkeit aufrecht erhalten werden, die Bestimmung, daß, weil das Belltafel-Spiel seit dem Jahre 1565 ein Bürgerspiel, nur ein hiesiger, unbescholtener Bürger das Recht habe, als Mitglied einzutreten, und ihm dann freistehe, Gäste einzuführen; jedoch müssen, wie es wörtlich heißt, diese dem Bürgerrange und guten Ruf nicht nachstehen, wofür das Mitglied haften muß. Jeder zur Mitgliedschaft sich meldende ehrsame Bürger muß drei Monate vorher mitgespielt haben und einer Ballotage sich unterwerfen und ist nur mit mindestens zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen aufgenommen; falls aber Jemand die gesetzliche Stimmenzahl nicht erlangt, so steht es ihm frei, jeder Zeit als Gast mitzuspielen. Außerdem bestimmt Paragraph 59: „Da doch gewiß jedes Mitglied das größte Vergnügen am Spiel findet, solches aber bei der alle Jahr mehr neu zutretenden Mitgliederzahl verhindert würde, auch die Räumlichkeiten des Belltafellocals es nicht gestatten, so haben wir die Zahl der Mitglieder auf sechsundsechzig festgesetzt; jeder neu sich Meldende kann nicht eher eintreten als bis ein Mitglied ausscheidet oder stirbt, unbehindert bleibt es aber jedem Mitgliede, einen Gast einzuführen!“

Die Einschreibegebühr für ein eintretendes Mitglied beträgt einen Thaler zwei und einen halben Silbergroschen, und derjenige, welcher sich seine Steine selber mitbringt, die aber den vorhandenen genau konform sein müssen, hat für jeden Stein außerdem zwei und einen halben Silbergroschen an die Casse zu zahlen. Wie streng die Theilnahme der Mitglieder controlirt wird, beweist, daß alltäglich die Namen der beim Spiel thätig gewesenen Personen in ein besonderes Buch eingetragen werden. Die obere Aufsicht und Leitung über Local und Mitglieder ist in den Händen eines Inspektors, der aus den Mitgliedern gewählt wird und das Stammbuch sowie alle übrigen Gesellschaftsschriften in Verwahrung hat, das Spiel gründlich verstehen muß und, sofern ihn nicht Krankheit entschuldigt, allwöchentlich fünf Male mitzuspielen verpflichtet ist. Außerdem führt derselbe auch das große Insiegel, welches zwei Büchsen und einen Bogen mit Pfeil zeigt, an welchem sich der Buchstabe W (Wratislavia, Breslau) befindet. Diesem Inspektor zur Seite wirken ein Vorsteher und sechs Kanzler, welche in seiner Abwesenheit abwechselnd ihn vollständig vertreten.

In Bezug auf das Benehmen der Mitglieder verordnet Paragraph 9: „Jedes Mitglied verpflichtet sich, in der Gesellschaft stets Ruhe und Einigkeit zu erhalten.“ Paragraph 10: „Wer dagegen zänkisch im Spiel, gegen seines Kanzlers Anordnung öfters widerspenstig, gegen die umgebenden Mitglieder sich ‚ruhe-störrisch‘ beträgt, ja vielleicht gar schimpft, wird von dem Inspektor ernstlich gewarnt, von seinem unhöflichen Betragen abzulassen; ist dieses fruchtlos, geht sein Anrecht an die Gesellschaft und des Spieles so lange verlustig und kann nicht eher wieder von den Kanzlern verwürfelt werden, als bis er vor der Gesellschaft Abbitte gethan.“ Auch das Fluchen wird nach öfterer Wiederholung mit zwei und einem halben Silbergroschen Strafe belegt; ebenso ist auch das Wetten beim Spiel untersagt. Die in Faßbier bestehende Zeche wird im Ganzen berechnet, und außer dieser Zeche zahlt jedes anwesende Mitglied noch einen Beitrag von sechs bis neun Pfennigen.

Hinsichtlich des Spiels selbst schreibt Paragraph 25 der Statuten wörtlich vor: „Wenn eine Partei auf den von der anderen Partei ausgesetzten ersten Stein das Spiel verloren, so wird ihnen, sobald sie den ersten Stein hereingespielt, ein ,Polst (Glockenzeichen) geläutet’ und mit Abnehmung des Hutes mündliche Vermerkung gemacht. Dieses Läuten und Hutabnehmen soll keineswegs als Lohn gelten, sondern das Entgegengesetzte und die Vermerkung, sich künftig besser zu halten!“

Einen andern Beweis, wie wichtig den Belltafelmitgliedern ihr Spiel ist, liefert Paragraph 35, der ausdrücklich vorschreibt: „An jedem Tage werden beim letzten Spiele, sobald von draußen der erste Stein gespielet, drei kleine Polsten geläutet und nach dem Läuten mit den Worten ,Feier-Abend des Herrn!’ beendet, wo alsdann jeder Spieler nach den Worten ,Feier-Abend!’ die Kopfbedeckung abnehmen muß, bei zweieinhalben Silbergroschen Strafe!“ – Dies ist eine kurze Schilderung unseres Besuches der „Breslauer Belltafel-Gesellschaft“ wie des Spieles, welcher Schilderung wir noch schließlich einige Verse aus einer Ermahnung beifügen, die sich in dem Stammbuche nach dem Paragraph 18 der älteren Statuten findet:

„Ihr Herren, die Ihr hier an diesem Ort erscheinet,
Und diese schöne Lust zu üben mit vermeinet,
Nehmt dieses Sprüchlein hier als eine Vorschrift an,
Das Spiel erfordert sie, damit nicht Streit sein kann.
Von Spielern wird der Stein an jeden Ort getrieben,
Kein Nachschub darf hier sein, sonst wird es angeschrieben;
Den, der das Spiel verspielt, trifft alsdann auch die Reih’,
Daß er der Erstere beim neuen Ansatz sei.
Ein Jeder hüte sich, daß er darin nicht fehlet,
Sonst wird ihm eine Schrift davon mehr angezählet.
Halt’ diese Regeln werth und lebet stets in Fried’,
Und wer die Zech’ verspielt, sei auch damit vergnügt.

W.



[525]

In der Belltafel zu Breslau.
Nach der Natur aufgenommen von Adolf Eltzner.

[526]

Blätter und Blüthen.


Ein Autograph Franz Schubert’s. Ich habe die Reichen nie ihrer Geldschätze wegen beneidet; ich habe mich dem Spruche des Paters in Wallensteins Lager. „contenti estote, begnügt Euch mit Eurem Commißbrode," unschwer mit ruhiger Resignation gefügt. Nur in einem Falle läßt mich meine Philosophie ganz und gar im Stiche; da verwandelt sich die Milch meiner frommen Denkart in gährend Drachengift, – wenn ich einer Auction von Autographen beiwohne, die Schätze sehe, die da ausgeboten werden, und die triumphirend glücklichen Mienen derjenigen bemerken muß, denen die volle Börse das höchste Gebot erlaubt, um das Kleinod davonzutragen. Welch’ ein wunderbares Interesse haben doch für mich, wie für so viele Tausende, die Handschriften berühmter Personen! Worin liegt es denn nur? Ach! in gar vielen Dingen, – zunächst in einer Menge Fragen. Wie hat er geschrieben? Deutlich – undeutlich in großen oder kleinen Zügen? groben oder feinen? unordentlichen oder geregelten, schief- oder geradlinigen? Hat er geändert, zugesetzt, weggestrichen, hat er Fahnen gemacht? Wie bewegte sich seine Hand beim Schreiben – fuhr sie eilig, hastig, flüchtig über das Papier umher, stockend oder ruhig, besonnen, sicher etc. etc.? Ist das Autograph die erste unmittelbare Niederschrift, oder wurde es nach einem Concept copirt?

Alle diese Fragen sind schon interessant an sich, denn was wäre uninteressant an einem großen Manne?

Aber damit ist die Anziehungskraft für die Autographenliebhaber noch nicht erschöpft. Für Alle besonders nicht, die in demselben bezüglichen Fache schaffen. Da treten die Folgerungen hinzu, die Vermuthungen, die man aus jenen Aeußerlichkeiten, den Schriftzügen, auf das innere Walten des Geistes beim Schaffen zu ziehen angeregt wird.

Eine eilige, flüchtige Hand zum Beispiel wird, denken wir, natürlich den gediegenen Inhalt eines talentreichen oder genial-schöpferischen Geistes vorausgesetzt, auf eine schnelle und leichte Productionskraft schließen lassen. Sichere, feste, gleichmäßig regelmäßige Schriftzüge scheinen ein ruhigeres, langsameres, besonnener überlegendes Schaffen anzuzeigen. Aenderungen ausgestrichener Stellen, Einschiebsel zwischen den Zeilen, oder gar vielfache Fahnen am Rande mögen als Kennzeichen gelten, daß sich dem Verfasser die Gedanken zuerst meist noch in unsicherem, zweifelhaftem Wesen, unzutreffendem Ausdruck und ungeglätteter Form vorstellen Alle diese und mehrere dergleichen Verschiedenheiten zeigen die vermiedenen Handschriften bedeutender Geister, und wenn die daraus geschöpften Vermuthungen auf die Geistesweise und Arbeitsmethode derselben auch keine unwiderleglichen sind, so werden gänzliche Täuschungen dabei doch nur höchst selten vorkommen. Eine solche wäre zum Beispiel allerdings, wenn man aus den Mozart’schen reinlichen, fast ohne alle Aenderungen bestehenden ersten und einzigen Niederschriften seiner Werke auf die ebenso leichte und sichere Hervorbringung derselben schließen wollte; denn es ist hinlänglich bekannt und beglaubigt, daß er sie erst lange Zeit mit sich herumtrug, und erst, wenn sie sich im Kopf vollständig ausgestaltet hatten, nieder-, eigentlich nur abschrieb, wie unter Anderen die einzige Niederschrift der Partitur der Zauberflöte beweist, in welch’ umfangreichem Werke äußerst wenige Aenderungen zu bemerken sind. Beethoven dagegen arbeitete in ganz entgegengesetzter Weise, machte viele Skizzen vorher, arbeitete sie aber hauptsächlich erst während des Niederschreibens aus, und veränderte dann die ursprünglichen Intentionen in so vielfacher Weise, daß es oft recht schwer, ja unmöglich wird, aus dem Gewirre der verschiedensten über-, unter-, neben-, und zwischengeschriebenen, radirten und wiederum corrigirten Lesarten, und dazu noch an sich in kaum zu entziffernden Krakelfüßen, die eigentliche definitiv von ihm festgestellte Lesart herauszufinden.

Ein Unicum nun wohl in Hinsicht auf Schaffensweise und Niederschrift ist unter allen Tondichtern Franz Schubert, der genialsten Componisten einer in allen Gattungen der Tonkunst, und „der begnadigtste Liedersänger aller Zeiten", wie ihn Otto Gumprecht in seinen trefflichen musikalischen Charakterbildern nennt. Franz Schubert brütete nicht vorher, wie Mozart, im Kopfe, er entwarf auch nicht Skizzen und änderte vielmals, wie Beethoven, sondern er sah an jeder tondichterischen Aufgabe im Augenblick das Wahre, Rechte, seine unbeschreiblich rege Empfindung und allezeit willig ergiebige Phantasie stellten ihm die schönste ausgeprägteste Gestalt unmittelbar vor, und er brachte dieselbe schnell, aber in sicherer, reinlicher und regelmäßiger Handschrift auf das Papier.

So schrieb der Achtzehnjährige in einer kurzen Nachmittagsstunde gleich beim Entstehen im Geiste, also frisch geschaffen feinen „Erlkönig“, diese „Verklärung der Goethe’schen Ballade in Tönen“ nieder, seinen am volkstümlichsten gewordenen, wenn nicht gar seinen gelungensten Gesang. Nur ein wiederholtes Durchlesen der Goethe’schen Worte, in immer sich steigernder Aufregung, erzählt Joseph Spann, der Freund, der bei der Entstehung desselben zugegen gewesen, hatte genügt, um das Gebilde derselben in Tönen vollendet vor seine Seele zu stellen, und in rastlosem Vollzuge folgte die nur noch mechanische Arbeit des Niederschreibens. Am Abend desselben Tages schon sang er die neue Composition seinen Freunden vor.

Wenn nun schon, wie jede Autographen-Auction zeigt, Briefe berühmter Männer, selbst die kürzesten wenige Zeilen enthaltenden, und keineswegs immer an Inhalt bedeutend, theuer bezahlt werden, so kann man sich denken, was ein Tonkünstler für das vollständige Manuscript des „Erlkönigs“ bieten würde, der die Mittel dazu besäße. Gut und gern seine hundert Thaler. Aber auch dafür war es nicht, es war überhaupt nicht zu haben. Und jetzt – wird uns die genannte Handschrift durch den Verlagsbuchhändler Wilhelm Müller in Berlin für den Preis von – zwanzig Neugroschen geboten! Allerdings ist es nicht die Urschrift Schubert’s selbst, aber mit Hülfe einer jungen Kunst, der Photo-Lithographie, ein so treues Abbild derselben, daß man kaum an den Unterschied zwischen Urschrift und Copie denken kann.

Ein noch besonders erhöhtes Interesse gewinnt aber gerade dieses Autograph durch den Umstand, daß von dem „Erlkönig“ zwei Niederschriften existiren. Schubert componirte ihn Ende 1815 oder spätestens 1816, während derselbe erst im Jahre 1821 im Stich erschien. Aus dieser Zwischenzeit, wenn nicht vielleicht unmittelbar vor dem Druck, wird wohl die zweite Originalhandschrift stammen (im Besitz der Fr. Dr. Clara Schumann, der Glücklichen!), welche den „Erlkönig“ in der altbekannten Gestalt zeigt. Was diese gegen die erstere Verschiedenes bietet, hat der Vorredner zu der Photo-Lithographie, Franz Espagne, angegeben, worauf wir verweisen müssen. Interessanter ist (für uns wenigstens) die hier gebotene erste Niederschrift, als ursprünglichste Intention, und der Vergleich derselben mit der zweiten Bearbeitung Schubert’s. Wahrlich, der Herr Verleger ist der Wohltäter des größten Theils der musikalischen Menschheit geworden, denn seine Idee wird natürlich ergriffen und nachgeahmt werden, und so mögen, ach, wie Viele von nun an des Wonnegefühls theilhaftig werden können, das bis jetzt nur äußerst wenigen Wohlhabenden vergönnt ward, Autographen berühmter Tondichter selbsteigen zu besitzen und sich an ihrem Anblick fort und fort erfreuen zu können.

L.




Der erste Staatsstreich Napoleon's des Ersten. In seiner ausgezeichneten Geschichte Napoleon’s des Ersten erzählt Lanfrey aus der Jugendzeit des Kaisers einen wenig bekannten Vorgang, der, an und für sich unbedeutend, das Interesse in besonderem Grade in Anspruch nimmt, einmal wegen der Folgen, die er für die militärische Laufbahn Napoleon’s hatte, dann, weil er mit seltener Schärfe im Jüngling die charakteristischen Züge des Mannes erscheinen läßt. Der Einsatz bei diesem Staatsstreich ist nicht wie am 18. Brumaire das Schicksal Frankreichs, sondern nur die Majors-Epaulette und noch dazu die Epaulette eines Majors in der Bürgerwehr.

Ein hervorstechender Zug im Charakter des jungen Napoleon war das tiefe Gefühl für das Land seiner Geburt, für Corsica, dessen letzte Kämpfe gegen die französische Herrschaft in seinem ersten Lebensjahre spielen. Trotz seiner späteren Erziehung in Frankreich aus französischen Militärbildungsanstalten, war Napoleon in seinem Inneren ein Corse geblieben: auf die hervorragenden Männer dieses Landes, namentlich auf den General Paoli, den letzten corsicanischen Staatsmann, blickte er mit Bewunderung, und um den Kampf Paoli’s und Corsicas zu rechtfertigen, ließ er sein erstes politisches Manifest (im Jahre 1791), den „Brief an Matteo Batta Juoco“, erscheinen. Zu wiederholten Malen kehrte Napoleon, zumal als die Revolution die Ordnung in der französischen Armee gelockert hatte, auf längere Zeit nach der heimatlichen Insel zurück, nicht ohne, namentlich in Ajaccio, mehrfach eine hervorragende Rolle zu spielen.

Dort befand er sich auch gerade, als das Gesetz über die Bildung von Bürgerwehren in Corsica eine überaus lebhafte Bewegung hervorgerufen hatte. Der höchste Posten in der Bürgerwehr von Ajaccio. der eines Bataillonsführers, war damals das Ziel der Bestrebungen Napoleon’s; gab diese Stellung doch sichere Bürgschaft für seine Popularität und damit ein Pfand für sein weiteres Avancement in einer Zeit, wo die Volksgunst die Quelle jeder Macht bildete. Allein diese Stellung wurde Napoleon von anderen reichen und einflußreichen Mitbewerbern streitig gemacht, die bessere Aussichten auf Erfolg zu besitzen schienen. Marius Peraldi und Pozzo di Borgo waren die Führer seiner Gegner, und auf ihrer Seite standen die angesehensten Männer der Stadt. Aber Napoleon verstand diesem Nachtheil durch seine Rührigkeit abzuhelfen. Er entwickelte, um sich neue Anhänger zu gewinnen und die schon gewonnenen festzuhalten, eine für seine Jahre außerordentliche Regsamkeit und Schärfe des Geistes; er kaufte die, die käuflich waren; die es nicht waren, suchte er in Furcht zu setzen; Geld, Versprechungen, Drohungen, Familieneinfluß, Alles bot er auf, um die Wähler zu gewinnen.

Bald war die Stadt in zwei sich kampfbereit gegenüberstehende Lager getheilt und die Anzahl der Anhänger Napoleon’s der seiner Gegner fast gleich. Die Bevölkerung allein gewonnen zu haben, genügte indessen nicht. Die Constituante in Paris hatte Commissare mit der Organisation der Nationalgarden beauftragt, und die in Ajaccio ausgebrochenen Spaltungen wiesen diesen Vertretern der Centralgewalt eine vermittelnde Stellung an und gaben ihnen den entscheidenden Einfluß auf den Ausgang der Wahlen; wer sie zu Gegnern hatte, war verloren. Ihre Ankunft wurde daher mit Ungeduld erwartet.

Endlich kommen sie an; aber der bedeutendste von ihnen, Murati, nimmt bei Marius Peraldi, Napoleon’s Hauptgegner, sein Absteigequartier. Das hieß soviel als sich offen für die Bewerbung dieses aussprechen, ohne jedoch einen sträflichen Druck auf die öffentliche Meinung auszuüben. Napoleon empfand diesen unvorhergesehenen Schlag tief. Er schien finster, niedergeschlagen, unentschlossen. Den Dingen freien Lauf lassen, hieß den Gegnern den gewissen Sieg einräumen; Widerstand leisten war nicht weniger gefährlich. Er verbrachte einen großen Theil des Tages im Zwiegespräch mit seinen intimsten Vertrauten; unruhig und aufgeregt, wagt er nicht einen Entschluß zu fassen und versucht sich mit halben Worten verständlich zu machen, in der Hoffnung, man werde ihm die Verantwortlichkeit eines gewagten Entschlusses abnehmen. Aber als Niemand ihm entgegen kommt, entschließt er sich, selbst zu handeln.

Als gegen Abend die Peraldi bei Tisch sitzen, wird plötzlich an die Thür des Hauses geklopft. Ein Diener öffnet, und sofort dringen Bewaffnete auf die erschreckten Tischgenossen ein. Murati hatte die Flucht ergriffen; er wird eingeholt und mit Gewalt in das Haus Bonaparte’s geführt, wo dieser voll Unruhe den Ausgang des kühnen Handstreichs abwartete. Er bemeistert seine Bewegung und empfängt mit ruhiger Miene und erkünstelter Freundlichkeit seinen Gefangenen.

[527] „Ich wollte,“ sagte er ihm, „daß Sie frei, ganz frei sein sollten. Im Hause der Peraldi waren Sie es nicht.“ Verblüfft von diesem Gewaltstreich und Allem, was er im Fall einer Widersetzlichkeit anzudrohen schien, hielt es der Commissar nicht geeignet, Protest einzulegen, und noch weniger, dorthin zurückzukehren, woher er gekommen.

Am folgenden Tage fand die Wahl statt, und Napoleon Bonaparte wurde zum Führer des Bataillons gewählt. Als Pozzo di Borgo von der Tribüne herab gegen die dem Commissar zugefügte Gewalt und gegen die Einschüchterungen, welche die Gültigkeit der Wahl beeinträchtigt, Verwahrung einlegen wollte, zerrte man ihn an den Beinen herunter und trat ihn mit Füßen; er verdankte seine Rettung nur dem Dazwischentreten Napoleons! Im schwindelerregenden Wirbel der Ereignisse zu Paris wurde der ganze Vorfall unterdrückt und Napoleon behielt sein Commando, das in dieser Weise erworben war und ihm den Weg zu seinem späteren Vorgehen erschloß.

Gewiß hat Lanfrey Recht, wenn er sagt: „Hätten die Fünfhundert am Vorabend des 18. Brumaire diesen Zug aus Bonaparte’s Leben gekannt, sie würden wahrscheinlich nicht in St. Cloud zusammengetreten sein.“ Daß in Corsica indessen der Ruhm des kaiserlichen Landsmanns bald das richtige Urtheil über den erzählten Hergang blendete, zeigen die unserm Ohr fast satirisch klingenden Worte, mit denen der Ueberlieferer dieser Geschichte, ein richterlicher Beamter in Corsica, seine Erzählung schließt. „Das Gefühl für Ehre, Tugend und Freiheit war seinem (Napoleon’s) Herzen tief eingeprägt.“ Am 18. Brumaire jedenfalls nicht weniger als am Vorabend der Wahl in Ajaccio!

W.




Aus deutschen Erziehungsanstalten. Am Pfingstfest, dem Fest der Freude, brach der Tod in Baden-Baden eine blühende Rose. Ein junges Mädchen, die Tochter eines Grafen, starb an der Auszehrung. Nur kurze Zeit vor dem Tode des Mädchens waren die Eltern nach der vornehmen Erziehungsanstalt am Rhein geeilt, um das kranke Kind abzuholen. Die tückische Krankheit hatte lange an ihrem Opfer gezehrt. Wie konnten die Eltern ihren Liebling so lange in fremden Händen lassen, statt ihn zu Hause zu pflegen? Die Vorsteherin hatte den Eltern die Krankheit verheimlicht, das Mädchen verhindert, über sein Leiden Zu klagen, die daraus bezüglichen Briefe unterschlagen oder so lange zurückgewiesen, bis der Bericht des Zöglings den wünschen der Vorsteherin entsprach.

Es war ein katholisches Institut, welches mit einem Nonnenkloster in Verbindung stand. Wollte man etwa den eigentlichen Zustand der Hinsiechenden zu höheren Zwecken mißbrauchen? Jene unnennbare Sehnsucht, welche bei den Schwindsüchtigen entsteht, wo der Seele Flügel wachsen, so daß sie nur von Reisen nach fernen Ländern träumt, wie der Vogel, der schlafend im Käfig die Flügel regt, als flöge er über’s blaue Meer nach den Palmen seiner Heimath, jene unsägliche Sehnsucht, sollte sie dazu dienen, ein schwärmerisches Verlangen nach inniger Gemeinschaft mit dem „himmlischen Bräutigam", nach dem verklärten Leben der Entsagung, nach dem „ewigen Schleier“ zu erwecken, und hatte man erst erschreckt durch die allzu raschen Fortschritte des Uebels, aus Furcht vor einem den materiellen Interessen der Anstalt schädlichen Todesfall sich der Schwerkranken zu entledigen gesucht und plötzlich die Eltern benachrichtigt? Diese Frage mag Jeder beantworten nach seinen Erfahrungen. Mir ist es zunächst um Eines zu thun: den Betrug zu constatiren, welcher der ganzen Sache zu Grunde lag. Dieser Betrug, diese gewissenlose Fälschung herrscht in vielen deutschen Erziehungsanstalten, besonders für Mädchen, und zwar in protestantischen Instituten wie in katholischen.

Ob es in Frankreich und England geschieht, weiß ich nicht; in der französischen Schweiz würde ein solcher Despotismus nicht geduldet. In vielen Mädcheninstituten Deutschlands also gehen sämmtliche Briefe der Schülerinnen durch die Hände der Vorsteherin, werden von dieser selbst oder einer mit der Spionage betrauten Lehrerin gelesen; gefallen sie nicht, so müssen sie so lange umgeschrieben werden, bis man sie in Gnaden annimmt und für würdig hält, den Eltern von den Fortschritten des Kindes Zeugniß zu geben. Es giebt sogar Anstalten, wo die Briefe der Eltern und Geschwister geöffnet werden in einem mir sehr bekannten, eines großen Rufes sich erfreuenden Institute gingen solche Briefe oft spurlos verloren und gelangten nie an ihr eigentliches Ziel.

Es scheint fast überflüssig, auf alle verderblichen Folgen dieses Systems hinzuweisen, und doch ist es nöthig, denn da sich so viele Eltern diesen Mißbrauch gefallen lasten, Zeigen sie damit, daß sie sich gar keine Rechenschaft von dessen Wirkungen geben. Diese Folgen berühren aber sowohl die geistige als die sittliche Entwickelung der Zöglinge, mitunter haben sie auch nachtheiligen Einfluß auf die Gesundheit.

Ich frage Jedermann auf sein Gewissen, ob er einen Brief, einen Aufsatz ordentlich schreiben kann, wenn Jemand hinter ihm sieht und ihm über die Achsel auf’s Papier sieht? Es ist dies ein intellektueller Zwang, welcher die Schwingen der Phantasie lähmt, dem Verstande seine Freiheit und damit seine Ruhe und Klarheit raubt. Man kann nicht so schreiben, wie man schreiben würde. Das beweist, daß der Belauschte nicht frei ist in seinen geistigen Bewegungen.

In Erziehungsanstalten, besonders in solchen, deren Programm so schöne Phrasen enthält, wie „Anleitung zu selbstständigem Denken“, „freie Entwicklung der geistigen Anlagen" etc., werden solche Versprechungen mit Füßen getreten, indem man gerade da, wo es sich nicht um Vearbeitung eines überlieferten Stoffes, um Beschreibung des Frühlings etc. handelt, sondern um frische unmittelbare Wiedergabe persönlicher Eindrücke, indem man gerade da, sag’ ich, dem Hirn eine eiserne Schraube ansetzt.

Solche Briefe werben freilich keine Schreibfehler enthalten, sind vielleicht ganz correct stilisirt, allein ich für meinen Theil würde lieber ein paar Schreibfehler mit in Kauf nehmen, welche Frau Ottilie Wildermuth so hübsch „die blauen Kornblumen im Felde“ genannt hat, ich möchte lieber einen incorrecten, alle möglichen Phantasiesprünge machenden, nicht mit der Logik des Verstandes, sondern mit der des Herzens geschriebenen Brief, von dem ich sagen könnte. le style c’est l’enfant, d. h. der Brief ist der getreue Abdruck des jeweiligen Geisteszustandes und Charakters meines Kindes, als einen steifen, am Sonntag zwischen der Predigt und dem Spaziergang abgefaßten controlirten und corrigirten Aufsatz des Zöglings dieser oder jener berühmten Erziehungsanstalt, welcher unter Anderm und ganz zufällig auch mein Kind ist. Dadurch wird alle Individualität verwischt, das Eigenleben verkümmert; an die Stelle des Menschen tritt eine Nummer, wie es buchstäblich in einigen dieser Anstalten zu geschehen pflegt, gerade als wären es Casernen ober Spitäler.

Noch weit schädlicher sind die moralischen Folgen. Man erzieht die Kinder zur Heuchelei, zur Lüge, man erstickt das kindliche Vertrauen. Das Kind darf und wird nie etwas sagen, was der Vorsteherin nur irgendwie unangenehm ist. Es leidet an Heimweh. Eine einzige Klage, ein einziges Wort der Sehnsucht würde das Kindesherz erleichtern, ihm Luft machen. Nein, es muß es unterdrücken aus Furcht, die Vorsteherin zu beleidigen, da diese es als ein Zeichen von Unzufriedenheit ansehen würde. Das Kind leidet Hunger. In wie vielen dieser Anstalten werden die Mädchen gerade im Alter, wo sie einer kräftigen Nahrung am besten bedürfen, mit abgesottenem Rindfleisch, Kartoffeln und Mehlspeisen gestopft, aber nicht genährt! Wird das Kind klagen? Beileibe nicht. Das wäre ein Majestätsverbrechen.

Das Mädchen schließt sich an eine Freundin an, es möchte sich den Eltern, einer Schwester, einer früheren Freundin gegenüber aussprechen über diesen köstlichen Schatz, möchte die Freundin preisen, kurz das gewiß unschuldige und heilige Gefühl dieser Liebe aussprechen. O nein, es hütet sich davor, wie vor dem Feuer. In einer mir bekannten Anstalt werden die Mädchen, sobald sie sich enger an einander anschließen, getrennt und zu denen gesellt, die sie am wenigsten leiden mögen. Dagegen werden die Mädchen sich bei der Vorsteherin ober der Lehrerin einzuschmeicheln suchen, werden deren Schwächen benützen, zum Beispiel die Eifersucht auf andere Lehrerinnen, über die man nun loszieht. So wird die Aufrichtigkeit unterdrückt und in schlimmen Fällen in Lüge, in fade Schmeichelei verwandelt; das innige Band, welches die Kinder mit den Eltern verknüpft, wird gelockert oder zerrissen. Und der Grund, der Vorwand dieses Systems? Eine Vorsteherin antwortete mir einst: „Wir würden die Hälfte unserer Zöglinge verlieren, wenn wir sie schreiben ließen, was sie wollen. Die meisten gehen nur mit Widerwillen von Haus weg in die Pensionen und fänden tausenderlei Lügen über die Anstalt, um nur wieder loszukommen.“ Gesetzt auch, es wäre so schlimm: gut, so soll die Hälfte wieder nach Hause gehen. Besser werden solche Kinder, welche schon die Neigung zur Lüge mitbringen, durch das gerügte System nicht. Gerade diese werden am meisten heucheln und, wie ich von einer Schülerin nach ihrem Austritt erfuhr, am schnellsten Mittel finden, sich für den Zwang zu entschädigen und heimlich zu schreiben.

Berechtigt ein materieller Verlust eine Vorsteherin, ihre heilige Aufgabe zu profaniren und mit dem auf Prospecten stereotyp gewordenen Versprechen, die Eltern des Kindes zu ersetzen, so frivole Komödie zu spielen? Wenn Eltern ihre Kinder einer Anstalt anvertrauen, so setzt dies Vertrauen zu dem Leiter der Anstalt, zu dem dort herrschenden Geiste voraus. Haben sie dies Vertrauen nicht bloß auf flüchtige Empfehlung von Bekannten ober auf Reclamen hin, sondern durch gewissenhafte Erkundigung und Erwägung des Spruches „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, gewonnen, so werben sie auch die Klagen der Kinder nicht auf’s Gerathewohl für baare Münze halten, sondern erst die Beschwerden untersuchen, ehe sie ihnen Folge geben.[2]

Ein gewissenhafter Vater, eine Mutter, welche ihr Kind lieb hat, wird nie zugeben daß man ihr Kind um das Beste betrügt, was es hat, um seine Einfalt, seine Aufrichtigkeit, seine Kindlichkeit, sein Vertrauen, vielleicht gar um seine Liebe. Dieser Raub geschieht aber nach meiner innigsten Ueberzeugung, wenn man den Vorstehern erlaubt, die Briefe der Kinder, das süße Geschwätz, die naive Plauderei, die volle Hingabe, das Sichergehenlassen des Gemüthes, den Ruf der Sehnsucht, die schüchtern leise Ahnung, die Logik des Herzens, die ungeschminkte Freundschaft, die jugendliche Schwärmerei für die ewigen Ideale des Lebens zu vernichten und dagegen ein einseitiges, uniformirtes, in der Geistercaserne dressirtes Denken, kindisches Prahlen mit Vielwisserei, abgezirkelte ängstliche Darstellung des äußerlich Erlebten zu erzeugen und so das von den Eltern ersehnte, oft theuer erkaufte, auf dem Prospectus und in jedem Geschäftsbriefe heilig versprochene „Erziehungsresultat“ gründlich zu vereiteln. Das geschieht, wenn die Briefe der Zöglinge geöffnet, gelesen, corrigirt und so gefälscht werden.

Eugène Peschier.




Gefeiert und vergessen.

Aber Vater und Mutter sind lange todt,
Es kennt mich jetzt Keiner mehr.

Wie oft schildert man uns die zauberhaften Salons der gefeierten Sängerinnen des Tages, wo sie in rauschenden Seidenroben mit atlasbeschuhten Füßchen auf kostbaren Teppichen wandeln, so sorglos, so lächelnd, so launenhaft, als ob die Rosen immer blühten und man niemals jenes alte traurige Lied gesungen:

„Scheint die Sonne noch so schön,
Einmal muß sie untergehn"

Und dennoch kommt für alle diese schönen und beneideten Göttinnen eine Zeit, wo es „still und dunkel“ wird, wo die Triller und Läufer verstummen

[528] wo das Gold des einstigen glänzenden Namens erlischt und die Welt die große Sängerin vergißt, als ob sie nie gelebt.

Es war am Ostersonnabend, als ich die Treppe eines alterthümlichen Hauses in der Leipziger Straße in Berlin hinaufstieg, um nach der Wohnung der kaiserlich österreichischen Kammersängerin, Frau Therese Grünbaum, geborene Müller, zu fragen. Man wies mich höher hinauf bis in den dritten Stock. Ein freundliches Mädchen übernahm es, auf meine Anfrage, mich bei der Tochter des Componisten der „Sonntagskinder“ zu melden. In ein kleines, einfach ausgestattetes Zimmer geführt, wurde mir der Bescheid, die einst so berühmte Sängerin werde sogleich erscheinen. Die Märzsonne schien hell herein, am Fenster blühten Primeln, ein Veilchenstrauß stand auf dem Tisch. An den Wänden hingen verschiedene Portraits, Stiche und Lithographien, es war eine schlichte Walhalla, die Bilder gefeierter Componisten, Sängerinnen und Sänger längst vergangener Tage. Um den einen oder anderen Rahmen zog sich ein Immortellenkranz. Auf dem Fenstertritt stand ein geöffneter Nähtisch mit einer weiblichen Arbeit, Bücher lagen daneben, alles war so einfach bürgerlich wie bei einer guten, deutschen Hausfrau. Ueber dem Sopha ein größeres Aquarell, das lieblichste Frauenköpfchen, die anmuthigste Gestalt im weißen Kleide, die kürzlich verstorbene Enkelin Wenzel Müller’s, der einstige Liebling der Berliner, die Nachtigall Caroline Grünbaum. Keine Spur in dem ganzen Zimmer von den vergangenen glanzvollen Tagen, keine prätensiöse Erinnerung an das reiche Leben einer gefeierten Sängerin. Ringsumher nur Verstorbene, wie eine heitere kleine Grabcapelle erschien mir der ganze Raum, wie eine friedliche Insel in dem rauschenden Strome des Berliner Lebens, der da unten vorüber wogte.

Plötzlich öffnete sich eine Seitenthür und rasch und lebhaft trat eine kleine Frau grüßend auf mich zu, eine zierliche Hand streckte sich mir entgegen, und ich schaute in ein liebes, altes Frauenantlitz, umrahmt von einem weißen schlichten Häubchen, ein Gesicht das an die Denner’schen oder Dow’schen Portraitköpfe erinnerte, fein ausgeführt, mit klaren und zugleich warmen Augen. Es war die Tochter Wenzel Müller’s, die von Wien auf den Händen getragene, einst so entzückende Sängerin Therese.

Und wir fingen an miteinander zu plaudern, herzlich und lebendig, als ob wir uns Jahre lang gekannt. Sie sprach mit großer Frische und mit der sanftesten, angenehmsten Stimme. Wie aufmerksam hörte ich zu, und während sie so redete, rauschte es zuweilen empor wie ein Vorhang, und fremde glänzende Gestalten zogen vorüber. Die bekanntesten und berühmtesten Namen tauchten auf. Sie hatte alle ihre Träger gekannt, gesehen, gehört, die Tochter des Volkscomponisten, die unter Karl Maria von Weber’s Leitung gesungen, und deren Hand die kleine Henriette Sontag geküßt! Einen wahren Schatz von Reliquien und Erinnerungen bewahrt Frau Therese, und wie Sonnenschein zieht es über ihr Gesicht, wenn sie von jenen Zeiten redet, die längst dahin sind. Alle ihre Gedanken bewegen sich um die Gestalt ihres Vaters, er ist der hellste Stern an dem Himmel ihres Daseins, sein Andenken, sein Ruhm ihr höchstes Heiligthum. Mit welcher tiefen, leuchtenden Zärtlichkeit redete sie von ihm, und immer wieder von ihm!

Seit Jahren schon hörte sie keine Musik mehr – „ich kann’s nicht mehr vertragen,“ klagte sie, – aber sie liest, was man über Musik und Musikanten schreibt, mit lebhaftem Interesse und schüttelt oft lächelnd oder unwillig den Kopf über die wunderlichen Leute, die da die Dinge so ganz anders schildern, als sie wirklich waren. Ja, wer sie nur immer fragen könnte! – Ihr Gedächtniß ist noch so treu, sie erinnert sich der Begebenheiten wie der Menschen mit staunenswerther Klarheit. – Aber tief ist zugleich ihre Pietät für ihre Todten. „Es giebt so viele Dinge in dem Leben der berühmten Männer und Frauen, von denen die Welt nie und nimmer etwas zu erfahren braucht,“ rief sie lebhaft. Viele Schmerzen haben ihr Herz getroffen. Sie verlor ihre geliebte, so glücklich verheirathete Tochter und einen hochbegabten, musikalischen Enkel, und pflegt jetzt ihren kranken Gatten. Weit hinter ihr liegt die Welt des Scheins, wie ein Traum steht in ihrer Seele jene singende, klingende Glanzzeit ihres Lebens, und mit einem heitern Tone sagte sie: „Meine bescheidene Rolle auf Erden ist nun bald ausgespielt.“

Von ihren eigenen Triumphen redete sie nur als Antwort auf directe Fragen, aber während sie von dem Wirken und Schaffen des geliebten Vaters sprach, sah man doch den kleinen, reizenden Schmetterling Therese neckisch umhergaukeln, wie sie als fünfzehnjähriges Mädchen, mit der süßesten Stimme der Welt, den Oberon in Wranitzki’s Oper und die Lilla in Martin’s „cosa rara,“ sang. Schon im Alter von fünf Jahren zwitscherte sie wie ein Vogel in den Opern ihres Vaters und Kauer’s die für sie geschriebenen Kinderrollen. Ganz Wien betete sie an, und doch erwähnte sie ihre Leistungen nur im Zusammenhang mit denen des Vaters. Selten wurde eine Sängerin so früh schon und während ihrer ganzen Wirksamkeit so gefeiert und bewundert, wie Therese Grünbaum.

Als sie mich zum Abschiede zu dem Bilde Wenzel Müller’s führte, da sagte sie schalkhaft lächelnd: „Sehen Sie sich einmal das gute Gesicht dort an, den lieben Kopf mit dem weißen Haar, – nicht wahr, er sieht ganz anders aus, als man ihn in den Büchern beschrieben hat? Eine häßliche Perrücke haben sie ihm aufgesetzt, und als einen Mann, der Nichts auf sich hält, malten sie ihn! Und das Alles ist doch nicht da auf meinem Bilde!“

Nein, es war Nichts von alledem da, sie hatte Recht, die zärtliche Tochter. Kein verschobenes Jabot, keine geniale Unordnung der Toilette. Liebenswürdig und heiter, und doch wilder würdevoll, erschien er mir in seinem Ausdruck, und in dem ehrwürdigen Schmuck des weißen Haares, und ich war betrübt und beschämt und bat dem freundlichen Greisengesicht im Stillen ab, daß auch ich ihm, was die Tochter mir längst verziehen, in Gedanken eine häßliche Perrücke aufgesetzt.

E. P.




Marlitt’s Gold-Else ist so eben in fünfter Auflage erschienen. Wie wir hören, beabsichtigt die Verlagshandlung noch eine schön illustrirte Pracht-Ausgabe mit Zeichnungen eines bekannten Meisters erscheinen zu lassen, doch dürfte dieses Buch, dessen Herstellung viel Zeit erfordert, kaum vor dem Herbst nächsten Jahres auf den literarischen Markt kommen.




Bock’s Briefkasten.

An Herrn Landwirth Gr. in B. Ueber die homöopathische Behandlung kranker landwirthschaftlicher Nutzthiere haben Sie, Herr Gr., an mich einen so liebenswürdigen Brief geschrieben, daß Sie mir wohl erlauben, einige Stellen daraus zu veröffentlichen. Herr Gr. schreibt : „Vor einigen vierzig Jahren, als ich glaubte die Landwirthschaft erlernt zu haben, wozu natürlich das Quacksalbern der Schäfer, Kuhhirten und Schinder mit gehörte, hatte ich eine solche Passion für diese letztere Branche gefaßt, daß ich beschloß von der Landwirthschaft abzugehen und Thierarzt zu werden. Ich nahm deshalb bei einem Thierarzt Unterricht. Es dauerte jedoch nicht lange, da sagte mir dieser brave, aufrichtige Mann: ,Lieber Gr., kehren Sie wieder zur Landwirthschaft zurück, Sie sind nicht Charlatan genug, um bei der Thierheilkunst Ihr Glück zu machen.‘ Das war ein Blitzstrahl in die finstere Nacht des Aberglaubens, der so zündete, daß er bei mir den Aberglauben der Quacksalberei total verbrannte. Ich ging zur Landwirthschaft zurück, beobachtete und forschte, wobei es mir sehr als klar wurde, daß alle Curmethoden große Aehnlichkeit hatten mit den unendlich vielen Mitteln, welche gegen die Tollwuth der Hunde als wirklich helfend empfohlen sind. Fort also mit dem ganzen Plunder Aber da stieß ich auf großen Widerspruch und auf Anfechtungen. Ich mochte wollen oder nicht, ich mußte mich zu irgend einer Curmethode bekennen; und das that ich denn auch und wendete mich zur Homöopathie. Und warum mußt’ ich mich zu irgend einer Heilmethode bekennen? Um mich gegen Schaden zu schützen. Denn ich machte wiederholt die Bemerkung, daß, wenn ich den kranken Thieren nichts eingab, meine eigenen Leute den Patienten heimlich Gifte und schädliche Mittel eingaben, und daß diese, wenn dann ein Thier starb, auch noch behaupteten, das käme nur daher, weil es keine Medicin bekommen hätte. Dem trat ich aber bald dadurch entgegen, daß ich vorgab, ich gebrauchte recht starke homöopathische Mittel, wovon dem kranken Thiere höchstens einmal täglich oder nur aller zwei oder drei Tage einige Tropfen gegeben werden dürften. Ich that dabei recht heimlich und wichtig, gab aber nur einige Tropfen reinen Wassers. Das half denn bei den meisten vorkommenden Krankheitsfällen, die Leute bekamen Vertrauen zu mir und ich schließlich einen solchen Ruf, daß aus Nah und Ferne Bauersleute zu mir kamen und für ihr krankes Vieh ein homöopathisches Mittel forderten, was ich ihnen denn in Gestalt reinen Wassers mit geeigneten Vorschriften und Verhaltungsregeln verabfolgte. Soweit in der Provinz Sachsen. Als ich später nach Westphalen übersiedelte, ging derselbe Schwindel hier auch gleich wieder an. Dem mußte ich aber aus politischen Gründen ein ,Halt‘ entgegensetzen, und dazu benutzte ich folgenden Umstand. Meinem Herrn Pastor hatte ich öfter, auf sein Verlangen und seiner Haushälterin Wunsch, bei vorkommenden Krankheitsfällen seines Rindviehes, mit gutem Erfolge mein so sehr gepriesenes homöopathisches reines Wasser gegeben, und als bei Gelegenheit dieser gute Herr die Homöopathie für eine hochzuschätzende Gottesgabe, pries und es mir zum Verdienst anrechnete, daß ich so leicht die geeigneten Mittel bei jeder Krankheit treffe, so erwiderte ich ihm: ,Er sei als katholischer Geistlicher doch ein schlechter Christ, da er mir mehr zutraue, als dem lieben Gott und erklärte ihm dann, daß ich seinen kranken Thieren nichts als einige Tropfen reinen Wassers gegeben hätte und überhaupt nichts Anderes gebrauchte, da mein Vertrauen auf Den größer wäre, der die Thiere krank gemacht, als auf die von den Menschen erdachten Mittel. Dadurch erreichte ich denn meinen Zweck vollständig, denn von diesem Augenblick an war es natürlich aus mit meiner Kunst und ich wurde nicht mehr um ein homöopathisches Mittel angesprochen.“ Nun, was sagen Sie hierzu, Herr Landwirth G. L. in P.?




Kleiner Briefkasten.


M. R. D. zu M. Besten Dank, verehrter Landsmann, für die Benachrichtigung. Also auch in Holland blüht der literarische Diebstahl! Sie verbinden uns sehr, wenn Sie sich bemühen wollen, uns eine Liste derjenigen holländischen Zeitschriften zu verschaffen, welche die Novellen der Gartenlaube ohne Weiteres als holländische Originalarbeiten bringen und so an Verfasser und Verleger des deutschen Werks zugleich zu Spitzbuben werden. Wir werden diese journalistischen Strauchritter Mann für Mann an den Pranger marschiren lassen und dafür sorgen, daß auch ein holländischer Pranger darunter sei.


  1. Unter diesem Titel wird die Gartenlaube eine Reihe Schilderungen der geschichtlich interessantesten Kneipen Deutschlands bringen. Sogenannte Restaurationen, moderne Wirthshauslocale sind selbstverständlich davon ausgeschlossen. Wir können übrigens wohl mit Recht annehmen, daß die große Mehrzahl der Leser der Gartenlaube zu denjenigen Geistern gehört, welche, auch wenn ihnen nicht selbst das Glück geblüht, in Künstler- und Studentenzeiten ihre Jugend zu verbringen, sich doch gern an deren Lebensfrische und dem kernigen Ausdruck derselben erfreuen. Viel von dieser Frische und diesem Kern vereinigt sich seltsamerweise in der Bezeichnung der Oertlichkeit, wo Beide am häufigsten sprudeln: dem berühmten Kraftwort „Kneipe“. Nur ein Philister kann dabei an eine Zange, und damit an zwicken und Verkürzen denken! Nein! Die einfachste Erklärung und die harmloseste und die volkswitzigste über die Verwandtschaft zwischen den Begriffen Wirthshaus und Kneipe giebt uns das erste beste Wörterbuch, welches uns belehrt: eine Kneipe sei ein Werkzeug zum Einklemmen und Festhalten. Ja! Das ist die richtige Bezeichnung: wo man in den Kreis der Genossen eingeklemmt und von Stoff und Lust festgehalten wird, das ist der Begriff und der Beruf der Kneipe, und so ist Kneipe auch die rechte Benamsung dieses Berufs. Künstler und Gelehrte können aber unmöglich die Herberge ihrer seligsten Erinnerungen mit einem Worte bezeichnen, dessen die Schriftsprache sich nicht mit allem Anstand bedienen könnte. Und darum wagen wir getrost die obige Ueberschrift.
    D. Red.
  2. Letzteres dürfte allerdings sehr zu empfehlen sein. Kinder von 12, 14 und 16 Jahren, die noch erzogen werden sollen, sind in ihren Urtheilen über Lehrer und Lehranstalten jedenfalls so unreif und noch so vielen Selbsttäuschungen unterworfen, daß man ihnen niemals unbedingt Glauben schenken darf, auch wenn man das Kind als noch so trefflich geartet kennt.
    D. Red.