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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[497]

No. 32.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Schluß.)


32.

Während die junge Reichsgräfin Sturm das weiße Schloß und den aristokratischen Boden für immer verließ, ging der Minister in seinem Arbeitscabinet auf und ab – es sah aus, als zermartere der Mann sein Gehirn nach einem einzigen klaren Gedanken. Das Haar, das sonst einen glatten Bogen über der Stirn beschrieb, fiel wirr durcheinander – die Hand fuhr dann und wann, ganz gegen die Gewohnheit des eine tadellose Außenseite streng festhaltenden Diplomaten, in grimmiger Hast durch die parfümirten, graugesprenkelten Strähne.

Endlich warf er sich erschöpft an den Schreibtisch und begann zu schreiben. Die schöne, junge Braut mit den großen Taubenaugen und den Feldblumen in den Händen lächelte fort und fort von der Wand hernieder auf den Mann, dem allmählich leichte Schweißperlen auf die wachsbleiche Stirne traten, während die Zähne wie im Fieber hörbar zusammenschlugen, und die Hand, die sonst einem eisernen Willen auch in eisern starren, festen Linien gehorchte, krause, unsichere Hieroglyphen auf das Papier warf.

Schon nach wenigem Zeilen schleuderte er die Feder weit von sich, nahm den Kopf zwischen die Hände und rannte abermals in unbeschreiblicher Aufregung hin und wider. … War es doch, als scheue er sich vor dem zierlichen Tisch dort neben dem Fenster, der einen kleinen Mahagonikasten auf seiner runden Platte trug. Das Tischchen stand immer auf derselben Stelle, seit Baron Fleury das weiße Schloß sein eigen nannte und nach seinem Geschmack eingerichtet hatte, und der Mahagonikasten war der unzertrennliche Reisebegleiter Seiner Excellenz und befand sich auch im Bureau des Ministerhôtels zu A. stets in seiner Nähe. Während aber jetzt sein Fuß dem unscheinbaren Möbel sichtlich auswich, glitten die scheuen Augen immer wieder hinüber, als zucke aus dem kleinen Kasten ein magnetisch bezaubernder Schlangenblick. …

Und mit jeder vorüberrollenden Viertelstunde, welche die Pendule mit feinem, silbernem Klange unerbittlich pünktlich anzeigte, verdoppelten sich die Schritte des Auf- und Abwandernden, bis er plötzlich, wie mittels eines gewaltsamen Ruckes halb athemlos vor dem Tischchen stehen blieb und mit hastigen, unsicher tappenden Händen den Kasten aufschloß. … Er sah nicht hinein in das kleine, elegant ausgestattete Viereck – seine Augen irrten über den türkischen Fenstervorhang, wie wenn sie die orangegelben Arabesken zählen müßten, während seine Rechte einen Gegenstand ergriff und in die Brusttasche gleiten ließ.

Diese einzige Bewegung gab plötzlich, der haltlos zusammengebrochenen Erscheinung des Mannes einen Anschein von Entschlossenheit zurück. … Er schritt nach der Thür. Auf der Schwelle wandte er sich noch einmal um – durch die klaffende Thür und das schräg gegenüberliegende, geöffnete Fenster fuhr der Nachtwind und jagte die Flamme aus der auf dem Schreibtisch stehenden Kugellampe – sie züngelte nahe am Vorhang hin.

Der Minister stieß ein heiseres, hämisches Lachen aus; er verfolgte einen Augenblick die Flammenzunge, wie sie sich reckte und streckte und, um wenige Linien zu kurz, vergeblich an dem Stoff zu lecken versuchte – unwillkürlich streckte er die Hand aus, als müsse er ihr zu Hülfe kommen – bah, wozu? Das Schloß war zu einer enorm hohen Summe versichert, und die drunten tanzten, waren längst entflohen, bis die Flammen an den Plafondbalken fraßen und die Kronleuchter hinunterschleuderten! …

Er schloß die Thür leise und glitt auf den Zehen durch mehrere anstoßende Zimmer. Vor dem Boudoir seiner Gemahlin blieb er stehen und drückte das Ohr an die Thürspalte – leise Klagelaute drangen heraus. … Jetzt kam die namenlose Verzweiflung, die er bisher noch niedergedrückt und verbissen, zum Ausbruch und packte und schüttelte den lauschenden Mann. – Die Frau, die da drin so schmerzlich weinte, war sein Abgott, das einzige Wesen, welches er je geliebt und das ihn, den alternden Mann, noch jetzt mit ungeminderter, glühender Leidenschaft erfüllte.

Bis zur Unkenntlichkeit entstellt in seiner Erscheinung, drückte er geräuschlos die Thür auf und blieb auf der Schwelle stehen.

Da lag die schöne Titania auf ein Ruhebett hingestreckt. Sie hatte das Gesicht tief in die Kissen eingewühlt; über Busen und Rücken wogte das entfesselte, wundervolle nachtschwarze Haar, und die weißen, bis an die Schultern entblößten Arme hingen wie leblos über die atlasgepolsterte Lehne des Ruhebettes hinab – nur die kleinen Füße hatten offenbar nichts von ihrer Energie eingebüßt; sie standen auf dem zu Boden geschleuderten brillantenen Fuchsienkranz und schienen ihn in Atome zertreten zu wollen.

„Jutta!“ rief der Minister.

Bei diesen markerschütternden Lauten fuhr sie empor wie von der Tarantel gestochen. Mit einer wilden Geberde schüttelte sie das niederfluthende Haar aus dem Gesicht und stand plötzlich auf ihren Füßen – das Bild einer entfesselten Furie.

„Was willst Du bei mir?“ schrie sie auf. „Ich kenne Dich nicht! Ich habe nichts mit Dir zu schaffen!“ Sie deutete nach der Richtung des Salons, wo sie den Fürsten wußte, und stieß ein grauenhaftes Gelächter aus. „Ja, ja, die Wände haben Ohren gehabt, mein Herr Diplomat par excellence, und ich genieße das Vorrecht, das große Staatsgeheimniß um einige Stunden [498] früher zu wissen, als das staunende Publicum! … Die Hölle kann ihre Qualen nicht raffinirter ersinnen, als ich sie dort drüben, hinter der Thür durchlitten habe!“ Ihre Mundwinkel bogen sich in vernichtendem Hohn niederwärts. „Excellenz, es war mir sehr überraschend, zu hören, daß Sie das Fürstenhaus so reizend mystificirt haben! … Und da liegt die Herrlichkeit“ – sie stieß mit dem Fuß verächtlich nach dem Fuchsienkranz – „mit der Sie ,Ihren Abgott’ zu schmücken beliebten! … Wie sie wohl alle jubeln und triumphiren werden, die boshaften Neider, bei der unschätzbaren Entdeckung, daß sich die Diamantenfee in lächerlicher Unwissenheit mit Rheinkieseln und böhmischem Glas bestreut hat!“

Die kleinen Hände der halb wahnwitzigen Frau wühlten in den Haarmassen, die von den Schläfen niedersanken.

Der Minister ging wankenden Schrittes auf sie zu – sie floh und stieß mit den Händen nach ihm.

„Du wirst Dich nicht unterstehen, mich zu berühren!“ drohte sie. Du hast keine Rechte mehr an mich! … O, wer mir die verlorenen elf Jahre zurückgäbe! … Ich habe meine Jugend, meine Schönheit an einen Dieb, an einen Fälscher – an einen Bettler verschleudert!“ –

„Jutta!“

In diesem Augenblick fand der Mann seine Haltung wieder.

Es war noch einmal die überlegene Ruhe des allmächtigen Ministers, mit der er Schweigen gebietend der Frau die Rechte entgegenstreckte.

„Du bist wieder einmal sinnlos vor Leidenschaft,“ sagte er streng. „Ich habe Dich in solchen Momenten stets wie ein verzogenes, unartiges Kind behandelt, dem man Muße läßt, sich auszuschreien. Dazu bleibt mir jetzt keine Zeit.“ – Er verschränkte mit scheinbarer Gelassenheit die Arme über der Brust. „Wohl, Du hast Recht“ – fuhr er fort – „ich habe gefälscht und betrogen – ich bin ein Bettler – es bleibt uns nicht einmal das Kopfkissen, um das Haupt darauf zu legen, wenn sie Alle kommen werden, die verbriefte Rechte an mich haben. … Nie hast Du einen Vorwurf, ein Bedenken von mir gehört; aber wenn Du diese Stunde lediglich dazu benutzest, mich zu schmähen, dann muß ich Dir auch sagen, für wen ich mich ruinirt habe. … Jutta, denke zurück und überzeuge Dich, daß Du mit jedem Jahr unserer Ehe mehr Deine Ansprüche bis in’s Maßlose gesteigert hast – selbst die Fürstin konnte zuletzt mit Deinem glanzvollen Auftreten nicht mehr Schritt halten. … Ich habe ohne Widerrede stets herbeigeschafft, was Du begehrtest – ich habe Deine Hände buchstäblich im Golde wühlen lassen. Meine unselige blinde Liebe zu Dir hat mich zum gefügigen Werkzeug Deiner schrankenlosen Verschwendungssucht gemacht. … Es klingt geradezu kindisch und lächerlich, wenn Du die elf Jahre unserer Ehe als verloren beklagst – sie haben Dir Gelegenheit gegeben, das Leben mit seinen Genüssen bis auf die Neige auszukosten; und daß Du das gründlich verstanden, kann ich Dir mit meinem Soll und Haben erschöpfend beweisen.“

Die Baronin hatte bis dahin mit abgewendetem Gesicht in einer fernen Fensternische gestanden – jetzt fuhr sie herum; die dämonisch schönen Augen funkelten in tiefster Gereiztheit und Rachsucht.

„Ach, Du kannst es ja ganz vortrefflich, das alte Lied, das auch die zuvorkommende Welt stets anstimmt, wenn ein Haus zusammenbricht: ,Die Frau ist schuld!’“ lachte sie auf. „Schade, mein Freund, daß ich so oft zugegen war, wenn Du in Baden-Baden, oder in Homburg, oder wie sie alle heißen mögen die verführerischen grünen Tische, Unglück zum Verzweifeln hattest! … Ich habe mich bei dergleichen Gelegenheiten stets mit Befriedigung überzeugt, daß auch Deine Hände vortrefflich im Golde zu wühlen verstanden – oder willst Du etwa leugnen, daß Du zu allen Zeiten ein notorischer Spieler gewesen bist?“

„Es fällt mir nicht ein, zu leugnen, oder auch nur noch eine Sylbe zu meiner Verteidigung zu verlieren. … Wer, wie ich, im Begriffe ist, einen dunklen Weg anzutreten –“

„Ja wohl, dunkel, dunkel!“ unterbrach sie ihn und trat um einen Schritt näher an ihn heran. „Mit der Excellenz ist’s freilich aus und vorbei,“ zischte sie. „Baron Fleury steigt herab von seiner Höhe und betritt den einzigen Weg, der ihm übrig bleibt, die Laufbahn des – Croupiers! –“

„Jutta!“ stieß er hervor. Er ergriff die weißen Arme, welche die Wonne seiner Augen gewesen waren, und schüttelte sie ingrimmig.

Sie riß sich los und flüchtete nach einer Thür, aber ihre zurückgewendeten Augen hingen mit unverhohlenem Abscheu an den Händen, die sie zum ersten Mal schonungslos gepackt hatten.

„Du sollst mir nicht mehr nahe kommen – nur graut vor Dir!“ rief sie hinüber. „Du fängst es schlau an – indem Du mir die Schuld aufbürdest, willst Du mich zwingen, in Gemeinschaft mit Dir ihre Folgen zu tragen! … Aber täusche Dich nicht! Ich werde Dir niemals in die Schande, die Dunkelheit und den Mangel folgen! … Ich habe Dir gegenüber keine Pflichten mehr – sie sind erloschen in dem Augenblick, wo Du als ehrlos entlarvt wurdest. … Wenn Etwas in diesen furchtbaren Stunden mich mit Genugthuung erfüllt, so ist es das Bewußtsein, daß ich Dir geistig niemals verwandt gewesen bin – ich habe Dich nie geliebt!“ …

Das war der letzte Schlag für den von der Sonnenhöhe einer beneideten Lebensstellung, eines angemaßten Glückes in den tiefsten Abgrund hinabstürzenden Mann – es konnte keiner mehr kommen; aber auch keiner konnte sich in der Wirkung mit den letzten wenigen Worten messen, die der rothe Frauenmund so unbarmherzig hinwarf.

Der Minister taumelte nach der Thür zu, als wolle er das Zimmer verlassen, allein die Füße schienen ihm treulos zu werden – er lehnte sich mit bedecktem Gesicht an die Wand.

„Du hast mich, trotz aller Deiner Schwüre und Betheurungen, nie geliebt, Jutta?“ fragte er nach einem minutenlangen tödtlichen Schweigen in das Zimmer zurück.

Die Frau schüttelte mit einer Art von wildem Triumph, energisch den Kopf.

Er stieß ein bitteres Hohnlachen aus.

„O Weiberlogik! … Diese Frau setzt sich hoch auf den Richterstuhl strenger Tugend – sie stößt den Betrüger erbarmungslos von sich und gesteht dabei mit liebenswürdiger Naivetät ein, daß sie ihren Mann auf die empörendste Weise elf Jahre lang betrogen und – am Narrenseil herumgeführt hat! … Geh’, geh’! Auch Du wirst noch Carriere machen – noch liegen einige gerettete Jahre der Jugend und Schönheit vor Dir; aber das Ende dieser Carriere – nun, ich will discreter sein, als Du, und diesen Wänden nicht erzählen, wie die Carriere der Frau Baronin Fleury, Excellenz, schließlich verlaufen wird!“

Er ging zur Thür hinaus; aber beim Schließen derselben warf er noch einen Blick in das eben verlassene Zimmer. Die Frau hatte sich wieder auf das Ruhebett geworfen – sie sah geknickt, innerlich zerbrochen aus; nie war sie hinreißender gewesen, als in diesem Augenblick. … Das glühende Gefühl für das schöne Weib überwog alle anderen Leidenschaften, die im Inneren dieses gefährlichen Mannes wühlten – er vergaß, daß in den wunderbaren Körperformen dort eine erbärmliche Seele wohnte, er vergaß, daß dieses begehrliche, unersättliche Herz nie für ihn geschlagen – er kehrte stürmisch in das Zimmer zurück.

„Jutta, gieb mir Deine Hand und sieh mich noch einmal an!“ sagte er mit brechender Stimme.

Sie verschränkte die Arme fest unter dem Busen Und drückte sie und das Gesicht tief in die Polster.

„Jutta, sieh auf – wir gehen für immer auseinander!“

Die Gestalt regte sich nicht – kaum, daß man das Heben und Sinken der athmenden Brust sah.

Er biß in wildem Schmerz die Zähne zusammen und verließ das Zimmer. Wie vorher auch, glitt er geräuschlos durch den Corridor, dann stieg er die Treppe hinab. Stimmen, die zu ihm heraufdrangen, hemmten seine Schritte; er bog sich über das Treppengeländer und sah drunten auf einem Treppenabsatz drei Herren, die glücklichen Besitzer des Kammerherrenschlüssels, stehen. Sie hatten verstörte Gesichter und sprachen in gedämpftem Ton – trotzdem konnte der Minister jedes Wort verstehen.

„Also, meine Herren,“ sagte einer dieser würdigen Cavaliere, indem er den weißen, knappen Handschuh über die fette Hand zog und sorgsam zuknöpfte – „ich werde jetzt, dem Befehl unseres Allerhöchsten zufolge, in den Saal zurückkehren und mit möglichst unverfänglicher Miene die Honneurs machen – ein blutsaures Geschäft, wenn man einen ganzen Sack voll schlimmer Neuigkeiten bei sich hat! … An und für sich ist es eine Lächerlichkeit, daß der Fürst für heute noch um jeden Preis den Scandal vertuschen will. – morgen läuft er doch von Mund zu Mund. – Herr [499] Gott, den Aufruhr in unserer guten Residenz will ich sehen – das giebt einen Eclat! … Meine Herren, was habe ich Ihnen immer gesagt? Habe ich Recht gehabt, oder nicht? Er war ein Hallunke durch und durch, und so schmerzlich ich auch Serenissimus bedaure, es kann ihm doch ganz und gar nicht schaden, zu erkennen, welch’ sauberem Patron der alte, angestammte Adel sich so lange hat unterordnen müssen.“

Die Herren nickten bekräftigend und verschwanden nach verschiedenen Richtungen.

„O mein Herr von Bothe, Sie wären sammt Ihrem alten, angestammten Adel verhungert, wenn ich nicht war!“ murmelte der Minister grimmig zwischen den Zähnen, während er weiter hinabstieg. „Bah, wir sind quitt – Sie waren das unverdrossenste, bereitwilligste Werkzeug, das mir je zu Gebote gestanden!“

Er durchschritt einen laugen, einsamen Gang und trat hinaus in den Hofraum. Da lief die Stallbedienung eilig durcheinander; man zog Pferde aus den Ställen und rollte den Wagen des Fürsten aus der Remise.

„Du, ich glaub’s nicht mit dem reitenden Boten,“ sagte einer der Männer zu einem anderen in dem Augenblick, wo der Minister ungesehen an ihnen vorüberschlüpfte. „Ich bin doch nicht blind und nicht taub, und so ein reitender Bote kann doch auch nicht durch die Luft fliegen.“

„Blind und taub bist Du freilich nicht; aber geschlafen hast Du wie eine Ratze. Ich sage Dir, der Bote aus A. ist dagewesen – der gnädige Herr von Bothe hat mir’s selbst vorhin gesagt – der Fürst soll gleich zur Fürstin kommen – es wär’ was passirt.“

Der Minister schritt mit rückwärts gekreuzten Händen durch die Alleen des Schloßgartens. … Das gellte und jubelte und schmetterte aus dem Saal hernieder, und die Kerzen flammten, die man noch angezündet hatte auf den Wink des Mannes, welcher jetzt als Bettler heimathlos drunten umherirrte.

Und nun rollte der fürstliche Wagen vor das Vestibüle. Mit möglichster Vermeidung alles Geräusches und Aufsehens erschien die schmächtige Gestalt des Fürsten, umgeben von den flüsternden Herren seines Gefolges, in der Halle.

Bei diesem Anblick ballte der tiefgefallene Mann in der dunklen Allee die Fäuste und schlug sie wild und wiederholt gegen die Brust.

Der Wagen rollte davon, und die Musik droben machte auch eine Pause – es wurde für einen Moment todtenstill im ganzen, weiten Garten. Noch einmal scholl das donnernde Gepolter der fürstlichen Equipage hinüber – sie fuhr über die Brücke – das war das Ende der „eklatanten Genugthuung“, die Serenissimus seinem Günstling „den Schreiern“ gegenüber geben wollte. …

Seltsam – hatte der gewandte, elegante Cavalier seine schwierige Mission doch nicht mit der gewohnten Meisterschaft durchgeführt, oder war die tanzende Menge da droben bereits zu aufgeklärt, um sich eine „Hoflüge“ aufbinden zu lassen? … Wagen auf Wagen fuhr vor, und die geschmückten Gestalten schlüpften scheu und eilig hinein, als gelte es Flucht, schnelle Flucht. …

Die Klänge des Orchesters erbrausten abermals – sie hallten fast schauerlich von den Wänden des geleerten, mächtigen Saales wider, und die wenigen tanzenden Paare flogen an den Fenstern hin, wie die letzten verlorenen Seelen eines bacchantischen Festes, die sich an der überschäumenden Lust nicht satt trinken können.

Der Minister schritt weiter und weiter – sein Fuß verirrte sich immer tiefer in die abgelegenen Boskets des Schloßgartens, die in künstlich erhaltener Wildniß die tiefste Ruhe athmeten – kaum, daß ein aufgescheuchter, schlaftrunkener Vogel durch die Zweige flatterte, oder der Nachtwind hoch oben durch die Ulmenkronen strich. … Jetzt wurde es lebendig in dieser Todeseinsamkeit – ächzende Seufzer entflohen den Lippen eines furchtbar aufgeregten Menschen; in wilder Hast wühlte er sich durch pfadloses Gebüsch, die gewaltsam niedergebogenen Zweige knackten und schlugen rauschend zurück in das Gesicht des nächtlichen Störers. …

Halbverloren taumelten noch einzelne Klänge der Ballmusik herüber, dann verstummten auch sie, und jetzt mit dem letzten zwölften Schlag, den das Neuenfelder Thurmglöckchen zitternd verhallen ließ, rollte und donnerte es noch einmal von ferne – das war der letzte Wagen, der von dannen fuhr.

Das Auge des Ministers richtete sich starr auf, den feurigen Würfel des Schlosses, der noch einen kurzen Moment feenhaft durch das flüsternde Laub flimmerte. …. Da sanken die Kronleuchter des Saales und geschäftige Hände löschten Kerze um Kerze, die einem schauerlich gestörten Fest geleuchtet hatten. Die langen, strahlenden Linien der Corridore verschwanden spurlos in der Nacht – ein Licht um das andere versank – dort huschte noch eines hin und wider, es lief mit dem Feuerwächter, der seine Runde machte … da erlosch es – und mit ihm fiel ein Schuß in den abgelegenen Boskets des Arnsberger Schloßgartens.

„Da wildert Einer,“ sagten die aufgeschreckten Schläfer in Neuenfeld, drehten sich um in ihren Betten und schliefen weiter den Schlaf des Gerechten.


Es war im Monat September. Der erste herbe Hauch des Herbstes mischte sich in die Sommerlüfte und betupfte die Waldwipfel hie und da mit schwachröthlichen Tinten und einem leichten Goldduft. Tief im geschützten Herzen des Waldes aber hielt sich noch die volle, wonnige Sommerwärme versteckt; sie lag auf dem kräftig wuchernden Rasen, der den Kiesplatz vor dem Waldhause einfaßte, und bestreute ihn unermüdlich mit Blumenglocken. Und die Blätter der Aristolochia lagen so breit und glänzend und zuversichtlich auf dem grauen Mauerwerk, als könne nie eine Zeit kommen, wo sie sich schmerzlich zusammenkrümmen und als unscheinbare Mumien auf dem Athem der Winterstürme die traute Wohnstätte verlassen würden.

Sie waren übrigens heute nicht der einzige Schmuck des Waldhauses. Ueber der Terrasse, einen Thurm mit dem andern verbindend, schwebten Blumengewinde, und auch die gewaltige eichene Hausthür, die in die Halle führte, umsäumte eine dicke Eichenlaubguirlande. Selbst auf den lockigen Köpfen der steinernen Edelknaben lagen Epheukränze, und lange, blätterreiche Brombeerranken wanden sich um die Jagdhörner, in denen das Hallali versteinert schlief. Diese seltsame Ausschmückung hatte „Pfarrers Röschen“ durchgesetzt – „die armen Männer sollten doch auch ihre Freude haben.“

Noch festlicher geschmückt aber erschien das traute Haus innen. Wohin der Blick fiel, in Guirlanden und Vasen, selbst auf den Steinfließen der Halle lachten und strahlten die bunten Häupter der Georginen, Astern und Spätrosen, und aus der geöffneten Thür des südlichen Thurmzimmers wehten die Düfte der vornehmeren Heliotropen.

Wir haben das Thurmgemach zu verschiedenen Zeiten gesehen – jetzt hat es sich abermals eine Umwandelung gefallen lassen müssen – es ist das Wohnzimmer einer jungen Frau geworden. Weiße Mullvorhänge schweben vor den hohen Fenstern und nehmen dem Zimmer sofort den düsteren Charakter. Helle, bequeme Möbel, wohlgefüllte Blumentische stehen an den Wänden, und auf dem Fußboden liegt ein dicker, warmer Smyrnateppich. In einer vertiefen Fensternischen, vor dem gestickten Lehnstuhl, steht ein Nähtisch, und darüber hängt ein blanker Messingkäfig mit kleinen, buntgefiederten brasilianischen Vögeln. … An den Hauptwänden hängen sich zwei große Oelbilder gegenüber – ein schönes, junges Mädchen, das Feldblumen im Schooße und in den schlanken, weißen Händen hält, sieht mit den großen, glückseligen Taubenaugen hinüber in das Gesicht des jungen Mannes, dem der prächtige Vollbart blond vom Kinn niederwallt, und welcher in den über der Nasenwurzel zusammengewachsenen Brauen den Stempel des Unglücks, eines traurigen Schicksals trägt. Um beide Bilder legen sich Blumengewinde frisch und glänzend und hauchen einen schwachen Lebensodem über die jugendlichen Gestalten, die längst unter der Erde schlafen.

Was Alles wußte heute die geschwätzige Fontaine vor dem Waldhause zu erzählen! … Der Mann mit der majestätischen Rittergestalt, der dort hauste, hatte heute, in der Abendstunde neben „dem schönen, blonden Mädchen im blauen, wallenden Gewande“ gestanden – nicht in der fein ehrbaren Weise, wie sie der Brauch und das Herkommen vorschreiben – nein, sein starker Arm hatte fest und innig die zusammenschauernde, schlanke Gestalt umschlungen in dem Augenblick, wo die Abendsonne golden durch das Fenster der Neuenfelder Dorfkirche auf sein und des Mädchens Haupt gesunken war und der Pfarrer mit ergreifenden Worten den Bund ihrer Herzen eingesegnet hatte. … Dann waren sie [500] still und glückselig, nur zu Zweien durch den Wald gewandelt, und der Mann hatte sein junges Weib buchstäblich über den blumenbestreuten Kiesplatz in sein Haus getragen.

Berthold Ehrhardt hatte in einer fast fieberhaften Angst seine möglichst rasche Vereinigung mit Gisela betrieben. Der Pfarrerin gegenüber war ihm das Geständniß entschlüpft, daß ihm das schreckliche Schicksal seines Bruders, der Verrath, den ein Weib an ihm geübt, einen unauslöschlich schlimmen Eindruck gemacht habe – er würde nicht eher ruhig sein können, bis er sein unschuldiges Mädchen in das Waldhaus gerettet. … Nie durfte die Wittwe des Baron Fleury in seiner Gegenwart genannt werden. Sie selbst machte aber auch im Lande nicht mehr von sich reden – sie hatte sich mit der kleinen Pension, die ihr der Fürst gewährte, nach Paris zurückgezogen. … Auch Frau von Herbeck war aus der Gegend verschwunden. Sie bezog ein Jahrgeld von Gisela und lebte vergessen in einer kleinen Stadt „ihren Erinnerungen“.

Am Hofe zu A. machte die Wahl der jungen Gräfin Sturm gewaltige Sensation. Der Fürst konnte einige Nächte nicht schlafen über dem Gedanken, daß der Portugiese abermals die Axt an die Wurzeln des hochfürstlichen Princips lege, indem er vor Aller Augen beweise, daß eine geborene Reichsgräfin Sturm eine schlichte Frau Ehrhardt werden könne, ohne daß die Welt darüber aus den Fugen ging.

Das Resultat dieser schlaflosen Nächte war eine geheime Mission, die er in die Hände der Frau mit der feinen Zunge und den klugen, scharfen Augen vertrauensvoll niederlegte. Die Gräfin Schliersen machte eines Tages der Braut einen Besuch im Pfarrhause und ließ dem anwesenden Bräutigam mit ausgesuchter diplomatischer Feinheit merken, daß Serenissimus „den ersten Industriellen“ seines Landes durch das Adelsdiplom auszuzeichnen gedenke. … Mit derselben ausgesuchten Feinheit vergoldete „der starrköpfige Portugiese“ seine Antwort – der bittere Kern aber, der trotz alledem geschluckt werden mußte, ließ sich nicht anders übersetzen, als: Der also Beehrte gehöre nicht zu Denen, die den Adel so lange bekämpften, als sie ihn nicht selbst besäßen. Die Neuzeit habe derartige Renegaten genug aufzuweisen, die unter dem Motto: „Nur im Interesse meiner Kinder“ sich selbst wieder zu Stützen und Bausteinen einer altersmorschen Institution machten, welche sie vorher bespöttelt und verlacht. Er finde an seinem Namen nichts auszusetzen und wünsche ihn nicht zu verändern.

Die Diplomatin kehrte unverrichteter Dinge nach A. zurück. Uebrigens erhielt die Braut sehr bald einen Beweis, daß sich die fürstliche Ungnade nicht auch auf sie erstrecke. Unter der Petition der Neuenfelder Gemeinde, welche um Belassung ihres Pfarrers im Amte bat, hatte auch der Name „Gisela, Gräfin Sturm“ gestanden. Man behauptete allgemein, diese Unterschrift sei schwer in’s Gewicht gefallen – die Neuenfelder behielten ihren Pfarrer. …

Ein leichte Dämmerung webt bereits um das Waldhaus. „Der Portugiese“ hält sein junges Weib umschlungen und tritt mit ihr heraus auf die Terrasse. Noch fließt der Brautschleier von ihrem Haupt, und auf der weißen Stirn liegen die zartgebogenen Myrthenblätter. Mit zurückgeworfenem Kopf sieht sie unverwandt in das schöne Antlitz Dessen, der sie hier im tiefen, dämmernden Wald gleichsam einmauern will. … Wie leuchtet dieses Antlitz! … Der Mann, hinter welchem eine düstere Vergangenheit voller Kämpfe und Schmerzen liegt, steht am himmlischen Ziel. Sein höchstes Kleinod hält er in den Armen. Er steht auf einer Art Oase im Weltgetriebe. Draußen lauert das protestantische Papstthum und schlägt mit Ruthen auf die Geister, die sich aufwärts bäumen, und hier, in seiner selbstgeschaffenen Colonie darf die freie Anschauung von Gott und seinem Wort ungestört die Flügel entfalten. … Draußen herrscht und regiert fort und fort der unbegrenzte Egoismus, und eine Kaste sucht der anderen auf den Nacken zu steigen; hier aber waltet die Liebe, und man erhält den unwiderleglichen Beweis, daß sich das Musterbild der Menschheit, wie es die oft verlachte Humanität anstrebt, in der That verwirklichen läßt. Der Mann im Waldhause sieht glückliche, zufriedene Gesichter, wohin sein Blick sich wendet. Das lächerliche Jagen nach Aemtern und Orden dringt nicht herein – dafür kömmt das höchste Streben, das die Menschenseele erfüllen soll, das Streben nach innerer Entwicklung und Befreiung, um so besser zur Geltung.

„Gisela!“ ruft es schnarrend und mißtönend neben der jungen Dame. Sie wendet sich überrascht um – der Papagei schwingt sich lustig auf seinem Ring, und in der Hausthür steht lachend der alte Sievert. … Das bräutliche Weib streckt ihm beide Hände entgegen; er hat dem Vogel mit unsäglicher Mühe den Namen der künftigen Hausfrau eingelernt und die letzten schauerlichen Worte des sterbenden Herrn von Eschebach aus dem Gedächtniß des Thieres verwischt. … Er nimmt sacht und behutsam die gebotenen feinen Finger zwischen seine großen, braunen Hände, und, was Gisela nie geglaubt, die alten, finsterdräuenden Augen können auch feucht schimmern.

Und jetzt tritt auch die Pfarrerin aus der Halle – sie hat einen Shawl um die Schultern geschlagen und will heim.

„Junges Frauchen, ich habe den Theetisch drin hergerichtet, denn von der Liebe allein lebt man nicht,“ meint sie schelmisch und deutet nach dem einen Fenster des südlichen Thurmzimmers, das nach der Terrasse mündet. … In der heimlichen Dämmerung da drin, fast auf derselben Stelle, wo einst die Theemaschine der alten, blinden Frau gestanden, lodert die kleine, blaue Flamme, die den Abend in der Wohnstube so behaglich und gemüthlich macht.

„Und nun, Gott sei mit Euch, Ihr lieben, lieben Leute!“ sagt die Frau, und ihre sonore Stimme schmilzt in Weichheit.

„Der Portugiese“ küßt ihr ehrfurchtsvoll die hartgearbeitete Hand, und Gisela legt die Arme um ihren Hals. Dann steigt sie die Treppe hinab und schreitet festen, kräftigen Fußes in den Wald hinein. …

Allmählich fließt ein silberglänzendes Licht über Waldwipfel, Haus und Wiese – der Mond steigt groß und voll herauf. Wieder sieht er auf der Terrasse eine hohe, majestätische Männergestalt stehen, an die sich ein junges Wesen hingebend schmiegt; aber diesmal werden die Schwüre, welche die flüsternden Lippen austauschen, nicht gebrochen werden!




Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Von Guido Hammer.
Nr. 30. Ein verhängnißvoller Jagdmorgen.


„Tod und Teufel über solch’ ein Hundewetter!“

Mit diesem unwirschen Ausruf, den riesiger Sturm und wildtreibendes, Weg und Steg verwehendes Schneegestöber dem Ankommenden erpreßte, trat der Förster eines an der sächsisch-böhmischen Grenze gelegenen Reviers in die einsam auf der Scheide des Gebirgskammes gelegene ärmliche Waldschenke ein, dabei den Schnee von Pikesche und Stiefeln abschüttelnd und losstampfend. Die kleine Spelunke, im Besitz böhmischer Wirthsleute, welche anerkannte Hehler von Wilddieben und Paschern waren, ward, da es bereits Abend war, durch ein trübbrennendes Licht spärlich erhellt, so daß man nur schwer die Gegenstände in dem schwarzgeräucherten, holzverkleideten Raume unterscheiden konnte. Darum hatte der eintretende Waidmann auch nicht zu erkennen vermocht, daß hinter dem holzumrüsteten mächtigen Kachelofen, der eine gewaltige Hitze ausströmte, ein Mann in der sogenannten Hölle lag und sich gütlich that, nun aber in einem ziemlich ironischen Tone: „Grüß’ Gott, Herr Förster!“ aus seinem glühenden Asyl hervorrief.

„Ah, treffen wir uns hier!“ erwiderte der Grünrock in nicht eben schmeichelndem Tone dem Grüßenden und setzte hinzu: „Nehmt Euch nur in Acht, daß wir draußen nicht einmal so nahe zusammenkommen, denn dann möcht’s wohl ein rothes Tüpfel auf die Jacke setzen.“

„So?“ entgegnete gedehnt und gleichmüthig der Angeredete. „Es fragt sich dabei nur noch, auf wessen Jacke? Auf Ihre grüne oder meine graue? Wissen S’, Herr Förster,“ fuhr er boshaft freundlich fort, „wie wäre es denn, da Sie mich nun einmal für einen Wilderer nehmen, wenn wir gleich miteinander ehrlich ausmachten: [501] daß Derjenige, welcher den Andern mit dem Gewehr im Walde zuerst ansichtig wird, diesem ohne weitere Umstände das blutige Zeichen auflaschte? Mir ist’s nämlich so ganz recht, und nur die eine Bedingung müßte dabei gelten: daß Keiner den Andern etwa blos jämmerlich zu Schanden schösse, sondern, wie’s

Auerhahn auf der Balze.
Originalzeichnung von Guido Hammer.

richtigen Schützen geziemt, die Kugel fest auf’s rechte Fleckchen setzte.“

„Darüber brauchen wir nicht erst einen Contract aufzusetzen,“ entgegnete der gereizte Förster, „denn das versteht sich von selbst, daß ich wenigstens nicht erst einen Herold an Euch Lump absenden werde, kommt Ihr mir auf meinem Revier jemals vor’s Gesicht, sondern, so wahr ich eine geladene Büchse führe, Feuer auf Euch gebe, daß Euch das Aufstehen nimmer wieder einfallen soll.“

„Dann wäre ja die Sache rechtschaffen abgemacht; also darum auch weiter keinen Streit.“

Mit diesen Worten streckte sich der Wilderer – denn ein solcher war der Mann hinter dem Ofen in der That – wieder auf sein hartes Lager hin, und bald hörte man, wie den Tiefathmenden fester Schlaf umfing. – Ruhig liegt so die markige, wilde Gestalt da, mit dem dunkeln, wirren Haar und Bart ein echter Typus böhmischer Race. Dazu prägt sich in ihr unverkennbar die ungebundene, vogelfreie Waldnatur aus und ihre Züge verrathen selbst jetzt bei geschlossenen Augen noch, die vorher, im Gespräch mit dem Gegner, gar unheimlich unter den Brauen hervorblitzten, kühnen Trotz und rücksichtslose Entschlossenheit.

Der Förster hingegen, dem jetzt der schlaulauernde Wirth, mit Beihülfe seines ihn um Kopfeslänge überragenden mannhaften Weibes, das nicht mindere Verschlagenheit und Tücke als ihr Gatte bekundet, das verlangte Abendbrod auf den Tisch gesetzt hat, ist offenbar eine von jenen unbeugsamen Naturen, die jedem Schicksal zu trotzen geneigt sind. Hager und von fast kleiner [502] Gestalt, spricht doch so scharf ausgeprägte zähe Willenskraft und Kühnheit, gepaart mit feuriger Leidenschaftlichkeit, aus ihm, daß man des Mannes eben vernommenen harten Worten wohl vollen Glauben beimessen darf. Hat er dergleichen übrigens doch auch schon früher besiegelt, weshalb man ihn, wenn auch gegen seinen ausdrücklichen Willen, schon von mehreren Revieren, auf denen er mit Wilddieben auf Leben und Tod zusammengekommen, hatte versetzen müssen, um ihn sicherer Rache zu entziehen. Wurde es doch allgemein als sicher angenommen, daß er außer den von ihm in offener Gegenwehr und officiell bekannt gewordenen Getödteten auch noch manchen im Walde erschossen Aufgefundenen auf seinem Kerbholz habe; denn da er nach jedem von ihm erlegten Mitmenschen eine Messingzwecke in den Kolben seiner Pürschbüchse einschlug, so konnte man nach der zur Sternform zusammengestellten Anzahl solcher Stifte allerdings deutlich ersehen, daß die behördlich festgestellte Ziffer der von ihm in’s Jenseits Beförderten nicht die hinreichende war. Und gerade von solchen, die man im Revier als „von unbekannter Hand erschossen“ aufgefunden, erzählte er dann gewöhnlich mit Vorliebe den ganzen Verhalt der Sache mit den allerkleinsten Nebenumständen, nur die sonderbare Form dabei beobachtend, daß er sich stellte, als wenn er die abgespielte blutige Scene sich nur so in der Phantasie ausmale. Eine Ausnahme von letzterer Regel machte er nur bei folgender Geschichte: Wie er eines Tages sein Revier begangen und dabei am vielgewundenen Waldbache, der sich am Fuß schroffer Steinwände entlang und zwischen Getrümmer rauschend seine Bahn bricht, plötzlich hinter einem mächtigen moos- und farrenüberwucherten Felsblock weiter nichts als eine Hand mit einer Angelruthe erblickt hatte.

„Ohne mich lange zu besinnen,“ so erzählte er selbst oft mit sichtlicher Freude, „nahm ich das Doppelzeug an den Kopf und, unten anhaltend, machte ich den Finger krumm, daß lustig der helle Knall das enge Thal durchschallte. Darauf ein Schrei – und schwupp, die Hand war verschwunden. Deren Inhaber hatte ich so für seine noch übrige Lebenszeit gekennzeichnet, und ‘s hat mir viel Spaß gemacht, als ich ein paar Wochen später den längst Vermutheten mit steifen Knochen den simpeln Botenmann machen sah, während er sonst nur stehlend im Busch herumlungerte.“

Schon aus diesem Beispiele ersieht man zur Genüge, wessen Geistes Kind unser Waldtyrann eigentlich ist, und es erscheint daher wohl begreiflich, wie sehr er den gegnerischen Haß auf sich laden mußte.

Bei alledem war er noch immer glücklich durch alle Fahrniß gekommen, denn so oft auch schon nach ihm geschossen worden war, er schien – wie auch der allgemeine Köhlerglaube ging – gefeit, die für ihn bestimmten Kugeln fehlten bisher alle. Und so trat er denn auch heute, nachdem er seinen kargen Imbiß in der verrufenen Schenke, in welcher er furchtlos dann und wann verkehrte, um sich dabei über das dort ein- und ausgehende Gesindel Kenntniß zu verschaffen, bezahlt hatte, ohne Zagen seinen weiten und beschwerlichen Heimweg an, dabei einen seiner erbittertsten Feinde im Rücken wissend. Kühn und wohlgemuth schritt er seiner einsamen Waldklause zu und kam, trotz wilden Wetters, wenn auch mühsam und erst spät, doch wohlbehalten dort an. Ebenso ging auch noch der ganze übrige Winter ohne Unstern an dem vielgefährdeten Waidmann vorüber.

Brausend zogen die frühlingverheißenden Thaustürme wieder über die zerklüfteten Berge und dunkelen Wipfel seines Reviers dahin und schmolzen rasch den darin noch massenhaft aufgehäuften Schnee, daß überall rieselnde Wässer thaleinwärts dem felsengebetteten Bach zuströmten und diesen dadurch zur schäumenden, wilden Fluth anschwellten. Darauf folgten lenzeswonnige Tage mit zwar noch reifkalten Nächten, welche manches Restchen Schnee in tiefer Thalschlucht noch lange Zeit vor völliger Auflösung schützten. Das ist aber so die rechte Zeit und das geeignetste Wetter, wo im Herzen des mannhaften Auerhahns drängende Liebesgluth entbrennt. Da hört man den urigen Buhlen schon des Abends, nachdem er sich in den Wipfel einer alten Tanne oder Fichte „eingeschwungen“ und dort erst noch eine Weile lautlos verharrt hat, in eigenthümlichen, „würgenden“ Lauten andeutend seiner Sehnsucht Ausdruck geben, bis er am nächstfolgenden frühesten Morgen an selber Stelle unter tollen Geberden sein eigentliches, so wundersames Liebeslied anstimmt.

Im Revier unseres Jägermanns aber, wo aus dem Walde auch viele schroffe, kegelförmige Felsgebilde, gleichsam wie hohe Wartthürme, emporstreben, hat der liebesbrünstige Galan die Gewohnheit, außer den hochragenden Bäumen auch solche steinerne Zinnen zu seinem Balzplatze zu erwählen, von wo aus er dann am frühesten Morgen mit hängenden, raschelnden Schwingen und radschlagendem „Spiel“ in seltsamem Tanze, wozu er sein eigener Spielmann ist, die Herzen seiner tief unter ihm harrenden Schönen, zu denen er später in begehrlicher Minnelust herniedersteigt, im Voraus zu gewinnen sucht. Natürlich waren unserem waidgerechten Förster solche Orte genau bekannt; denn jeden Abend oder Morgen zur Balzzeit schritt der Rastlose hinaus, seine Hähne zu „verhören“, um hohe und höchste Herrschaften, kamen solche zur Auerhahnbalze auf sein Revier, mit Sicherheit darauf „anspringen“ zu lassen. Trat dieser Fall jedoch nicht ein, dann gönnte der Wackere sich alljährlich zum Ausgang der Balze wohl auch das unvergleichlich hohe Vergnügen, selber so einen recht alten liebegirrenden Burschen zu schießen.

In dieser Absicht schritt der Rüstige denn nun auch heute schon nach ein Uhr Nachts zum Pförtchen seines tannenumschlossenen Heimwesens hinaus, um noch vor Tagesgrauen auf einem der von ihm erwählten weitesten Stände seines Reviers, dicht an der böhmischen Grenze, einzutreffen. Tiefe Finsterniß deckte seinen Pfad, der hier durch geschlossenem Hochwald und auf weiten Gehauen sich hinschlängelnd, dort zwischen Felsschluchten oder über loses Geröll und an tiefen Abgründen hinführte. Aber mit festem Fuße und sicherem Auge, das selbst bei so nächtigem Himmel noch immer den Schimmer seiner schmalen Bahn zu unterscheiden vermochte, wanderte der unermüdliche Forstmann unbekümmert seinem fernen Ziele zu. Endlich hat er es erreicht, aber noch immer liegt Nacht über den Wäldern, nur ein kaum merkbar lichter Schein am gebirgsgesäumten östlichen Horizont läßt ahnen, wo der kommende Morgen aufdämmern wird. Dabei herrscht tiefste Ruhe, wahre Grabesstille, durch die ganze weite Natur.

Doch horch! Ein kaum hörbar knappender Ton läßt sich plötzlich vernehmen – es ist der königliche Vogel, der sein Morgenständchen damit beginnt. Und wie diesem zur Begleitung geht ein sanftes Flüstern durch die Luft, und die dunkeln Wipfel alle rauschen nach – ein leiser frischhauchiger Wind hat sich erhoben, der den anbrechenden Morgen verkündet. Da pocht selbst des vielerprobten Jägers Herz heftiger als gewöhnlich, und mit verstärkter Aufmerksamkeit lauscht er den nun schnell aufeinander folgenden sonderbaren Lauten des fortbalzenden Hahnes, bis dieser den sogenannten Abschlag ertönen läßt, der dem regungslos Zuhörenden endlich das erlösende Signal ist, die ersten drei Sprünge vorwärts thun zu dürfen, mit denen er auf nur handbreitem Wildsteig seinem ersehnten Ziele entgegen strebt. Darnach bleibt er aber wieder wie angewurzelt stehen, kein Auge dabei verwendend, ja kaum Athem holend, ehe der Hahn nicht von Neuem sein frischbegonnenes Lied zum bestimmten Abschluß gebracht, nach welchem Moment der von brennender Liebeslust Berauschte auf Augenblicke weder sieht noch hört. Da also wieder drei Sprünge vorwärts, dann abermals Halt, und so fort und fort, bis der pfadsichere Jäger endlich so weit an den Balzenden heran ist, daß es nur der nochmaligen Verzückung des Beschlichenen bedarf, um in diesem Augenblick das todbringende Blei nach ihm entsenden zu können.

In dieser Lage nun steht jetzt der mit gewissenhafter Vorsicht „angesprungene“ Förster vor dem überragenden Felskegel, auf welchem der caressirende schwarze Gesell noch immer seinen wunderlichen Rundtanz hält. Mit vorgestrecktem Halse, aufgesträubten Kehlfedern, zitternd hängenden Flügeln und weitgeschlagenem Rade trippelt er himmelnden Blicks auf engbegrenztem Raume umher, dazu schnalzende, prallende und wetzende Töne ausstoßend, bis er wiederum den eigenthümlichen Schlußlaut daran fügt. Rasch ist da vom harrenden Schützen das sichere Rohr in Anschlag gebracht, den tödtlichen Schuß zu entsenden.

Dröhnend und echorollend, weithin schallend erfolgt dieser nun, und der mächtige Vogel, zum Tode getroffen, stürzt, das Gestein und Geäst mit seinem Gefieder streifend, rauschend zur Tiefe. Aber kaum daß noch das darüber freudestrahlende Auge des Erlegers die Wirkung des Treffers verfolgen kann, bricht dieser plötzlich selbst lautlos zusammen, und von entgegengesetzter Seite des Felsens herüber tönt ein kurzer, dann knatternd das Thal weithin durchhallender Knall einer Büchse, deren Kugel den [503] eben noch so lebenswarm pulsirenden Jäger auf den kalten Stein todt hinbettet, während drüben das duftblaue Wölkchen vom verziehenden Pulverdampf noch langsam dahinschwebt.

Wer war der Unselige, der diese meuchelnde That vollbracht? So fragt gewiß jeder Theilnehmende, dessen Herz sich vielleicht auch nicht eben im Leben für den Gefallenen zu erwärmen vermochte. Lösen wir – nach eigener Aussage des später ermittelten Verbrechers – dieses Räthsel.

In gleicher Absicht wie der Geopferte und zur selben Stunde hatte sich der eingangserwähnte böhmische Wilderer und geschworene Feind unseres Försters aufgemacht, dem von ihm ebenfalls längst gekannten Balzorte zu nahen. Ebenso war er dann, nur von der andern Seite, an den Hahn angesprungen, als plötzlich die Kugel des Försters dem Unberechtigten sein schon sicher geglaubtes Ziel entrückte. Bis dahin hatten die beiden feindlichen Schützen natürlich keine Ahnung von einander gehabt, aber der gefallene scharfe Büchsenknall verrieth nur allzusicher dem Rachsüchtigen sein Opfer. Und kaum seinen Feind erspähend und ihn erkennend, hatte der freie Sohn des Waldes auch schon das Gewehr nach jenem gerichtet, und mit kaltem Herzen und durchdringendem Auge fest und sicher zielend, als gälte es nur gewinnbringender Beute, so gab der wilde Bursche erbarmungslos Feuer auf seinen ebenso rohen und herzlosen Gegner – und so lösten zwei Ebenbürtige ihr frevelnd gegebenes Wort ein.




Verlassen und Verloren.

Historische Erzählung aus dem Spessart.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)

Benedicte schritt vorauf, die beiden Officiere folgten ihr auf dem Fußstege, nur von einem der zwei Husaren begleitet, die ihnen vorher vorausgeritten waren, der andere war auf einen Wink des Bubna genannten Officiers bei diesem an dem Steinkreuz zurückgeblieben.

Während die beiden Männer, welche sie führte, dicht nebeneinander auf dem schmalen Pfade ritten, sprachen sie lebhaft, aber so miteinander, daß Benedicte ihre Worte nicht verstand.

Als sie vor dem offenstehenden eisernen Gitterthor angelangt waren, das von dieser Seite durch eine niedrige Mauer in den Garten von Goschenwald führte – man hatte nur noch zwischen einigen mit hohem altem Buchsbaum eingefaßten Beeten bis zum Hause zu gehen – wandte sich Benedicte zurück:

„Wenn die Herren hier absteigen wollen,“ sagte sie, „so kann ich Sie unmittelbar in’s Haus führen. Die Pferde jedoch muß Ihr Begleiter hinab an dieser Mauer und an dem Gebäude entlang führen und an der Vorderseite durch die Thoreinfahrt in den Hof, er wird dort gleich die Stallung sehen …“

„Sehr wohl!“ antwortete der junge General und stieg rasch aus dem Sattel, um dem herankommenden Husaren die Zügel zuzuwerfen.

Er blieb einen Augenblick stehen, um seinem älteren und weniger behenden Cameraden, den er Sztarrai genannt hatte, Zeit zu lassen, auf den Boden zu gelangen; dann folgten die beiden Männer dem jungen Mädchen.

Benedicte führte sie durch eine Glasthür in’s Haus, dann durch einen niedrigen Gang, der in ein hohes Stiegenhaus leitete – aber bevor sie noch dieses letztere erreicht, warf sie rechts eine Thür auf und bat die Herren einzutreten.

Ein großer, durch drei auf den vorderen Hof hinausgehende Fenster erleuchteter hallenartiger Raum umfing sie. Rings an den Wänden lief ein hohes Täfelwerk von dunklem Eichenholz umher, über dem mancherlei groteske Jagdbeute des Spessartwaldes an der Wand befestigt war, seltsam ausgewachsenes Gehörn und Geweih – in der Mitte der den Fenstern gegenüberliegenden Wand prangte auch eine Trophäe; aber sie bestand nur aus harmlosen Waidtaschen, Hifthörnern und alterthümlichen Pulverhörnern – die Waffen, die dazwischen die leer gewordenen Stellen gefüllt, waren fortgenommen worden – hatten sie sich vor dem französischen Machtgebot unsichtbar gemacht, oder dienten sie eben bei dem blutigen Handgemenge drüben im nächsten Thal, Rache an dem französischen Machtgebot zu nehmen?

Der gestrenge Herr Schösser hätte es müssen wissen, aber seine Knechte wußten es besser!

Der gestrenge Herr saß eben oben in diesem Saal – auf der Bank neben dem riesigen Kachelofen, mit dem Rücken sich an die kalten Platten desselben lehnend, die Arme über der Brust verschränkt und von der Höhe seines langen Oberkörpers herab auf zwei Gruppen von Leuten blickend, die sich in dem Saale an zwei verschiedenen Tischen, welche unter den Fenstern des Raumes hinliefen, befanden.

An dem oberen Tische saßen zwei weibliche Wesen, Frau Marcelline und ihre Zofe. Frau Marcelline hatte ihren Hut auf einen Stuhl neben sich geworfen und drüber ihr Fichu und ihre langen, bis zum Ellenbogen reichenden Handschuhe; das Sacktuch und ein silbernes Riechbüchschen lagen neben ihr auf dem Tisch, während ihre beringte Hand einen kleinen Spiegel hielt, in dem sie sich beschaute, um den in Verwirrung gerathenen Scheitel wieder zu glätten. Hinter ihr stand die Zofe und steckte ihr mit Haarnadeln den losgegangenen Chignon wieder fest, denn der Chignon gehörte zur Tracht der Damen des achtzehnten Jahrhunderts, wie er es heute that. Von ihren Schläfen hingen lange Locken nieder, dunklen, fast blauschwarzen Haares, wie es ganz paßte zu dem schönen und zugleich pikanten Gesicht, den feingeschnittenen, ein wenig scharfen Zügen den schmalgeschlitzten Augen, die unter schwarzen beweglichen Brauen durch die langen Wimpern der Lider feurige, zuweilen ein wenig stechende Blicke schossen. Ihr Mund war roth, voll, geschnitten wie nach dem Muster vom Bogen Amors, nur die Winkel waren stark genug nach unten gezogen, um diesem reizenden Munde einen gewissen Ausdruck von Hochmuth oder Härte oder Verachtung zu geben, der Frau Marcellinens Gesicht nicht anziehender machte. Ihr Teint war ein wenig abgebleicht, unfrisch, fatiguirt vielleicht nur vom Staub des Weges, von den Mühen der Reise und nicht von den Jahren – sie konnte kaum sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahre zählen.

An dem zweiten Tisch weiter unten in dem Raum saß der Capitain Lesaillier mit seinem alten Grognard von Wachtmeister – sie hatten ihre Säbel in den alten Messingscheiden und die Czakos mit den grünen Federbüschen auf den Tisch geworfen, die rothen Revers ihrer grünen Uniformen aufgeknöpft und waren eifrig damit beschäftigt, den Erfrischungen zuzusprechen, welche die Beschließerin ihnen auftrug, wobei der Wachtmeister seinen Vorgesetzten durch einige Späße unterhielt, die er über die seltsame und, wie er es nannte, austrogothische Figur des am Ofen lehnenden Lieutenants außer Dienst und gestrengen Herrn Schössers machte.

„Welch’ ein Biedermann!“ hatte er eben lachend gerufen – „er sieht aus wie aus Pappendeckel geschnitten, um im Marionettentheater den grausamen Feldherrn Ahitophel vorzustellen!“

„Und Das hält sich für einen Soldaten!“ sagte der Capitain lächelnd.

„Sagen Sie mir, mein Capitain,“ fragte der Wachtmeister, „ist je eine ganze Armee solcher mörderischer Kerle in’s Feld gerückt?“

„Eine Armee? Wie wäre die zu Stande gekommen! Diese kleinen deutschen Tyrannen brachten kaum einige Regimenter zusammen – der Eine von ihnen lieferte dies, der Andere das; der Eine gab für die Compagnie einige arme Hungerleider her, der Zweite den Hauptmann und der Dritte die Trommel, den Tambour und die Kochtöpfe. Eine freie Reichsstadt musterte ein halbes Dutzend Reiter, eine Aebtissin besorgte den Cornet und ein dritter Souverän lieferte das Sattelwerk und Riemenzeug – geh’ und frag’ die rothe Vogelscheuche dort, und er wird Dir sagen, daß ihm zu seiner Ausrüstung ein armes Gräflein den [504] rothen Rock und ein Nonnenkloster die schwarze Hose mit den Gamaschen geliefert hat.“

„Das geht noch über den ci-devant König von Yvetot!“ autwortete lachend der Wachtmeister – „aber wenn dem so ist, weshalb haben denn nicht diese armen Deutschen gegen solche Wirthschaft die Revolution gemacht? Was haben wir, die wir doch besser dran waren, die Mühe zu übernehmen brauchen?“

„Ja siehst Du, Lepelletier – das ja just so zugegangen wie bei einem Einsturz mit einem Haufen armer Teufel von Arbeitern die unter Schutt, Trümmern und Gerümpel verschüttet liegen. Da machen sich die am ersten frei, die noch am wenigsten tief darunter liegen und noch einen Arm oder ein Bein regen können. Die anderen vermögen es nicht. Das Gerümpel und der Schutt, begreifst Du, ist die alte Ordnung der Dinge du bon vieux temps. Wenn wir zuerst uns daraus gerettet haben … aber was zum Teufel ist das, wer führt uns diese Oesterreicher hierher?“

Bei diesem Ausruf, bei dem Capitain Lesaillier betroffen in die Höhe fuhr, wandte der Wachtmeister seinen Kopf und ließ aus Ueberraschung das Glas feurigen Kalmuths, den Frau Afra in einer Bocksbeutelflasche aufgetischt, und welches er eben zum Munde führen wollte, beinahe fallen.

Eben waren Benedicte und die zwei österreichischen Stabsofficiere in den Raum eingetreten.

Ein Blick auf die Franzosen, ein zweiter Blick durch die Fenster der Halle, vor denen man den ganzen Schwarm der Chasseurs sich auf dem Hofe umtreiben sah, zeigte den Oesterreichern, daß sie in den Händen des Feindes waren – mitten unter eine französische Abtheilung geführt. …

„Gott steh uns bei!“ rief zurückfahrend der ältere der Beiden aus – wohin hat dies Geschöpf uns gebracht?!“

Seine Hand fuhr an den Säbelkorb und entblößte halb die Klinge.

„Ruhig, Sztarrai, bleiben wir ruhig“ – mahnte der Jüngere flüsternd.

„Lassen Sie mich die Dirne erstechen – eine Deutsche, die …“

„Die Lügnerin wird ihren Lohn finden,“ fuhr, die Hand auf seinen Arm legend, der junge Mann fort – „denken wir daran, wie wir uns selbst aus dieser Schlinge ziehen!“

Während diese Worte in Hast von den beiden Officieren gewechselt wurden, hatte Benedicte ein paar rasche Schritte in den Raum hinein gemacht, hatte erblassend die Franzosen angestarrt, dann ihre Augen auf die Frauen am oberen Tisch geworfen und, plötzlich zusammenfahrend, einen leisen Schrei, wie des heftigsten Erschreckens ausgestoßen.

Sie stand da wie versteinert, beide Hände wie zur Abwehr eines ganz Entsetzlichen, das plötzlich vor ihr aufgetaucht, erhebend.

Frau Marcelline, die beim Anblick der österreichischen Uniformen ebenfalls aufgefahren war, ließ jetzt ihre Augen auf das Mädchen fallen und, zusammenzuckend, erschrocken, wie Jemand, der auf eine Schlange getreten, rief sie aus:

„Benedicte … Benedicte – Du bist’s?!“

Benedicte regte sich nicht – sie starrte noch immer wie von Sinnen die Erscheinung vor ihr an – diese dunklen, jetzt so stechend flammenden Augen, dieser Kopf mit den langen Wimpern und den langen hängenden Locken vor ihr mußten für sie die Wirkung des Medusenkopfes haben.

Frau Marcelline trat, flog, das ganze Gesicht plötzlich von Flammenroth übergossen, auf sie zu.

„Unglückliche! Elende!“ rief sie aus – „Du – Du – Du hier! Welch Verhängniß führt Dich, Dich mir in den Weg, in meine Hände, Abscheuliche!“

In Benedicte schien bei diesen Worten wie mit einem Male das Bewußtsein des Lebens zurückgekehrt – sie warf sich heftig zurück, sie wandte sich, sie wollte davon fliehen. …

Aber eine starke Hand legte sich im selben Augenblick auf ihre Schulter, umspannte ihren Oberarm und hielt sie fest wie eine eiserne Klammer.

Es war der Capitain Lesaillier, der während des vorigen Gesprächs hinter sie und zugleich vor die österreichischen Officiere getreten war.

„Halten Sie sie, binden Sie sie, wenn sie entfliehen will,“ schrie Frau Marcelline auf – „sie darf nicht entkommen, sie ist eine Verbrecherin, eine Mörderin!“

„Sie soll nicht entkommen, beruhigen Sie sich, Madame,“ versetzte der Capitain, indem er Benedicte nach dem oberen Theil des Raumes führte – „setzen Sie sich da, Mademoiselle, und warten Sie das Weitere ab,“ sagte er barsch zu Benedicte gewendet.

Benedicte ließ sich mehr todt als lebendig in den alten Armsessel fallen, der am obersten Fenster stand und zu dem der Capitain sie geführt hatte.

„Und nun,“ fuhr dieser sich zu den Oesterreichern wendend fort, „nun zu Ihnen, meine Herren! Wer sind Sie?“

„Sie sehen, wir sind österreichische Stabsofficiere … auf einer Recognoscirung begriffen,“ antwortete der ältere Officier.

„Stabsofficiere … auf einer Recognoscirung … ohne alle und jede Bedeckung? … Das ist seltsam!“

„Und doch ist es so - daß es unvorsichtig war, auf das Wort jenes jungen Geschöpfes hin, dieser Hof sei unbesetzt, so weit vorzugehen, sehen wir selbst – Sie brauchen es uns nicht vorzuhalten.“

„Nun wohl, Sie sehen es selbst,“ rief der Capitain aus, „Sie sehen, daß Sie in meiner Gewalt sind“ – er deutete auf den mit seiner Mannschaft erfüllten Hof – „also darf ich wohl um Ihre Degen bitten!“

„Wir sind allerdings in Ihrer Gewalt – so gewiß und sicher,“ versetzte hier der jüngere der beiden Oesterreicher, „daß es eine leere Förmlichkeit wäre, wenn wir unsere Degen ablegten – es kann uns nicht einfallen, dieselben gegen Sie und eine solche Uebermacht ziehen zu wollen.“

„Sie sind meine Gefangenen und haben die Degen abzulegen, wenn Sie nicht wollen, daß ich Leute hereinrufe, die sie Ihnen abnehmen, meine Herren!“ anwortete der Franzose gebieterisch.

„Gewiß, gewiß, Sie können das,“ entgegnete der Oesterreicher ruhig – „aber Sie werden unsere Uniformen hinreichend kennen, um zu sehen, daß wir Generalsrang haben – und Sie werden uns die Demüthigung ersparen, die Sie verlangen, da sie unnütz ist – als Franzose werden Sie zu großmüthig sein, einem in Ihre Hände gefallenen Feind Rücksichten zu verweigern, um die er Sie, mein Herr Capitain, bittet!“

Der junge Mann legte auf das Wort „bittet“ einen besondern Ausdruck von vornehmem Selbstgefühl, und der Capitain antwortete mit einem ironischen Lächeln.

„Es demüthigt Sie, einem einfachen Capitain Ihre Degen übergeben zu sollen? – nun, ma foi, wenn dies Ihnen solchen Kummer macht, so sollen Sie sich nicht umsonst an meine Großmuth gewendet haben – aber ich bitte um Ihre Namen!“

„Generalmajor Karl Teschen!“ sagte der junge Mann.

„Sie haben es sehr jung zum General gebracht!“ bemerkte der Franzose.

„Ich habe Glück gehabt,“ antwortete der General Teschen bescheiden.

„Und Sie, mein Herr?“ fuhr Lesaillier zu dem Andern gewendet fort.

„General Sztarrai!“

Der Franzose machte eine leichte Verbeugung und sagte: „Die Herren werden dort am Tische Platz nehmen.“ Dann sich zu Frau Marcelline wendend fuhr er fort: „Madame, ich bedauere unter diesen Umständen nicht ganz meiner Consigne folgen zu können. Sobald meine Truppe sich ein wenig erholt hat und es Ihnen möglich ist, die Reise fortzusetzen, müssen wir aufbrechen und auf demselben Wege, den der General Duvignot eingeschlagen hat, unsern Marsch fortsetzen – ich darf die Verantwortlichkeit nicht auf mich nehmen, ein paar Gefangene von dieser Bedeutung so lange hier zu halten – ich muß sie sobald wie möglich in Sicherheit bringen. Sie haben jedoch zu bestimmen, ob Sie die Nacht hindurch hier bleiben und sich ausruhen wollen – ich könnte Ihnen alsdann einen Theil von meinen Leuten zum Schutze lassen …“

„Nein, nein, nein,“ rief Frau Marcelline aufgeregt aus, „ich bin vollständig mit Ihnen einverstanden, auch mich drängt es, meine Gefangene hier“ – sie warf dabei einen Blick verzehrenden Hasses auf die wie in sich zusammengebrochen dasitzende Benedicte, die diesen Blick freilich nicht wahrnahm, da sie ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckt hatte – „meine Gefangene hier in Sicherheit zu bringen!“

„Sie sind also bereit …“

[505] „Bereit, in jedem Augenblick weiter zu reisen!“ rief Frau Marcelline heftig aus.

„So gehen Sie, Lepelletier,“ befahl der Capitain dem Wachtmeister, „und kündigen das den Leuten an; ich sehe, daß sie Lebensmittel gefunden haben – sie sollen sich sputen.“

Daß sie Lebensmittel gefunden, hatte auch längst der Schösser zu seinem Verdruß bemerkt … er beobachtete still grimmig, wie sie Frau Afra Brod, Speck, Würste, Wein und – all’ seinen selbstgemachten Ziegenkäse herbeischleppen ließen!

„Ich gehe, mein Capitain,“ sagte der Wachtmeister.

„Und hören Sie – stellen Sie zwei Leute als Posten draußen vor die Thür dieses Saales.“

„Zu Befehl, Capitain,“ entgegnete der Wachtmeister und schritt davon.

Die österreichischen Officiere hatten sich unterdeß still an den Tisch Marcellinens gesetzt und Sztarrai sagte jetzt: „Ich hoffe, Sie erlauben uns, einige Erfrischungen zu bestellen, und gönnen uns die Zeit, sie zu genießen?“

„Ich lasse Ihnen gern die Zeit dazu,“ entgegnete der Capitain, „um so mehr, da ich Madame wenigstens noch eine Stunde vergönnen muß, sich auszuruhen. Der Herr dort oben,“ Capitain Lesaillier deutete, während er dies sagte, auf den gestrengen Schösser, „der Herr am Ofen dort scheint der Befehlshaber, Commandant oder Gouverneur dieses Platzes … haben Sie die Güte sich an ihn in Angelegenheiten der Verpflegung zu wenden – der Wein, den er in seinen Casematten führt, ist nicht übel, und da Sie seine Landsleute sind, wird er Sie sicherlich nicht schlechter bewirthen als uns!“

„Landsleute oder nicht Landsleute,“ sagte hier der Schösser sich erhebend mit einem äußerst verdrießlichen Gesicht, „es ist ziemlich Eins, an wen ich den Wein abgebe, wenn er nicht bezahlt wird!“

„Wir werden ihn bezahlen, mein Lieber!“ fiel der General, der sich Teschen genannt, ein.

„Afra, gehen Sie zu holen,“ rief der Schösser der Beschließerin zu, die durch eine Hinterthür eben wieder eintrat – „unterdeß,“ fuhr er, sich mit rollenden Augenbrauen zu Frau Marcelline wendend, fort, „möchte ich doch um eine Aufklärung bitten, was diese junge Demoiselle verbrochen hat, die Sie so despectirlich behandeln und die von wohlansehnlichen Leuten meinem Schutze anempfohlen ist.“

„Und von wem,“ fuhr Frau Marcelline auf, „wäre sie das?“

„Von der hochehrwürdigen Mutter Aebtissin von Oberzell, der Frau Schwester meines Herrn und Patrons, des Reichshofraths Gronauer …“

„Von der Aebtissin von Gronauer!“ rief Frau Marcelline mit dem Ton der Verachtung; „nun, meinethalb, die Empfehlungen derselben und Ihr Schutz werden ihr wenig helfen; ich werde sie als Gefangene mit mir fortführen …“

„Das junge Mädchen,“ fiel hier der General Teschen ein, „hat sich in einer Weise gegen uns unwahrhaftig gezeigt und uns in eine so mißliche Lage gebracht, daß wir nicht veranlaßt sein können, ihre Vertheidigung zu übernehmen, Madame. Wenn Sie uns jedoch erklären wollten, wie es kommt, daß sie für den Dienst, den sie damit der französischen Sache geleistet, durch eine so üble Aufnahme von Ihrer Seite gelohnt wird …“

„Ich habe Ihnen keine Erklärungen zu geben, mein Herr!“ antwortete Frau Marcelline hochmüthig.

„Sicherlich nicht! Ich habe sie auch nicht gefordert, nur höflich darum bitten wollen, wie doch wohl Jedermann thun darf, wenn er Zeuge eines auffallenden Vorgangs ist,“ antwortete ruhig der gefangene Officier.

„Wenn dieser Vorgang ihn ganz und gar nichts angeht, mein Herr, so thut Jedermann wohl, sich nicht hineinzumischen,“ fuhr die aufgeregte Frau fort.

Der junge General biß sich auf die Lippen.

„Verzeihen Sie, Madame, es war das durchaus nicht meine Absicht. Mich in Ihre Händel mit diesem jungen Mädchen zu mischen, konnte mir um so weniger einfallen, als ich Gefangener bin und ich Sie so wohl gehütet unter französischem Schutze sehe. Daß eine deutsche Dame auf der Seite unserer Feinde ist, und daß sie über eine so stattliche Escorte aus denselben gebietet, darf, denk’ ich, jedoch meine Verwunderung erregen.“

„Möglich, daß es das thut,“ versetzte Frau Marcelline scharf. „Wenn Sie aber nicht Oesterreicher, das heißt Leute wären, die stets um eine Idee, um eine Armee und um ein Lebensalter hinter ihren Gegnern zurück sind, so würden Sie wissen, daß sehr viele deutsche Frauen auf der Seite Ihrer Feinde stehen, auf der Seite Derer, die der Welt Licht, Freiheit von den alten Vorurtheilen und Wiedereinsetzung der Menschen in ihre ursprünglichen Rechte bringen!“

„Sie lassen mich fast bedauern, Madame,“ entgegnete der Officier ironisch, „daß der Sieg unserer Waffen in den letzten Tagen unsere Feinde so ärgerlich in dem edlen Werke stört, welches sie mit so viel Selbstverleugnung und Uneigennützigkeit zum Besten des Lichts, der Freiheit und der Menschenrechte ausführen.“

„Der Sieg Ihrer Waffen? Ach, pochen Sie nicht darauf, mein Herr General … die Franzosen haben noch so ungefähr immer Sie besiegt und werden, wenn sie auch in diesem Augenblick sich zurückziehen müssen, sehr bald ihre Revanche nehmen. Dieser Erzherzog Karl mit seiner Reichsarmee und den aufgehetzten Bauern, die die Armee aus tückischen Hinterhalten überfallen, wird seinen Kriegsruhm sehr bald schwinden sehn und sehr, sehr klein werden – er wird sich in Wien sehr bald wieder die habsburgische Schlafmütze über die Ohren ziehen und zu Bette legen müssen – man kennt das ja, sobald ihm ein tüchtiger General oder ein ihm gewachsenes Heer entgegentritt, wird der arme junge Mensch krank und legt sich zu Bett.“

Der General Teschen wechselte die Farbe bei diesen mit dem Ton unsäglicher Verachtung ausgesprochenen Worten der schönen Frau. Der General Sztarrai wollte entrüstet aufspringen, aber jener legte die Hand auf seinen Arm und hielt ihn auf seinem Platz.

„Sie haben Recht, Madame,“ sagte er dabei, „der Erzherzog Karl hat leider keine eiserne Natur, wie sie Jemandem, der sich dem Kriegshandwerk widmet, zu wünschen ist. Er hat in den letzten Jahren sich einige Male krank melden lassen müssen, wenn …“

Er wurde plötzlich durch ein paar Carabinerschüsse unterbrochen, die rasch nach einander auf dem Hof abgefeuert wurden. Alle richteten auffahrend ihre Blicke durch die Fenster dahin – man nahm einen Zusammenlauf wahr – mehrere der Chasseurs stürzten mit ihren Carabinern nach der niedrigen Zinnenmauer, welche den Hof nordwärts, den Fenstern gegenüber, abschloß.

„Was giebt’s, Lepelletier?“ rief der Capitain dem eintretenden Wachtmeister entgegen, „haben wir diese deutschen Chouans auf dem Halse?“

„Nein, mein Capitain, nur ein österreichischer Husar wurde am Fuße der Mauer da drüben entdeckt. Er führte zwei lose Sattelpferde mit Generalsschabracken …“

„Ah, die Pferde unserer Gefangenen!“

„Richtig, Capitain, und zwei tüchtige Gäule, bei’m Schnurrbart des ci-devant heiligen Georg, wir hätten sie gebrauchen können!“

„Nun?“

„Der Bursche, der offenbar Unrath gemerkt hatte, hielt sich in einem Buschwerk versteckt … er ist davon gesprengt, rechtsab in die Thalgründe hinein.“

„Und die Schüsse?“

„Haben ihm nicht wehe gethan, er ist zum ci-devant Teufel gegangen!“ .

Sacré mille tonnerres!“ fluchte der Capitain, „vielleicht haben diese Leute hier eine Reserve, näher als wir glauben, und der Schurke holt sie jetzt heran … es ist das Beste, Lepelletier, Du läßt zum Aufsitzen blasen!“

„Das war auch mein Einfall, Capitain, just das! Ich kam den Befehl dazu zu holen.“

„So geh’!“

„Madame,“ wandte der Capitain sich an Frau Marcelline, „werden Sie sich im Stande fühlen, die Reise wieder anzutreten?“

„Schon jetzt?“

„Ich bedauere, daß ich Ihnen nicht längere Zeit zum Rasten geben kann … wenn Sie also nicht vorziehen, die Nacht hier zurückzubleiben …“

„Nein, nein, nein,“ rief Frau Marcelline aus, „ich bin ja bereit!“

„Und Ihre Gefangene da wollen Sie mitnehmen?“

[506] „Ohne Zweifel!“

„Aber sie wird nicht zu Fuß neben Ihnen herlaufen können, die arme Demoiselle …“

„Sie verdient es in der That nicht besser, als so transportirt zu werden!“ versetzte Frau Marcelline mit einem Zucken der Mundwinkel voll der tiefsten Verachtung.

„Ein Pferd habe ich nicht für sie,“ fuhr der Capitain fort, „ich habe ohnehin zwei Pferde für meine Gefangenen nöthig … und wenn es hier keine zu requiriren giebt. …Lepelletier,“ rief er diesem, der eben, während draußen ein Signal geblasen wurde, wieder eintrat, „Sie haben draußen in den Ställen keine Pferde vorgefunden?“

„Nein, mein Capitain, von Remonte nichts als einen großen Ziegenbock, der dem Herrn Commandanten dort zu seinen Evolutionen vor der Fronte zu dienen scheint.“

„Gnt denn, so mußt Du zwei Leute ihre Pferde für die Gefangenen abgeben lassen, und die Demoiselle da hinter Dir auf die Kruppe nehmen.“

„Mit dem äußersten Vergnügen,“ versetzte der Wachtmeister mit einem gutmüthigen Kopfnicken, „Mademoiselle wird hoffentlich einverstanden sein, sich an die Mutter der Schwadron anzuschließen – fürchten Sie nichts, Mademoiselle, die vier Haimonskinder haben unbequemer gesessen …“

„Aber sie kann doch nicht so, wie sie dasitzt, auf’s Pferd steigen … und dann mit fort durch die kalte Nacht … das könnte ja einen Stein erbarmen!“ rief jetzt Frau Afra empört dazwischen.

„Geh’ Sie lieber und hole ihr einen Mantel!“ sagte der Schösser, während Benedicte das mit Thränen überströmte Gesicht erhob und mit einem dankbaren Blick zu Afra aufsah.

Frau Afra eilte davon, selbst in Thränen und Schluchzen ausbrechend bei dem Jammerblick, der eine Secunde lang auf ihr geruht hatte.

„Wir müssen Alles anwenden, diesen Aufbruch zu verzögern!“ flüsterte unterdeß Sztarrai seinem Schicksalsgenossen zu.

„Werden wir es können so lange, bis unsere Leute Zeit haben heranzukommen?“ fragte der jüngere General im selben Tone.

„Wenn auch das nicht, so hindern wir durch irgend eine Verzögerung vielleicht doch diese Franzosen, einen so weiten Vorsprung vor unsern Leuten zu gewinnen, daß sie uns nicht wieder einholen können.“ …

„Was sollen wir beginnen? Ich sehe kein Mittel, sie hier aufzuhalten!“

„Verdammt – sie führen schon draußen die Pferde aus den Ställen!“

„Es läßt sich eben nichts machen!“

„Sie werden mir eingestehen, daß wir in eine verzweifelte Lage gerathen sind – man wird mich in Wien vor ein Kriegsgericht stellen, weil ich zugegeben habe …“

„Man wird nichts dergleichen thun,“ fiel ernst der jüngere Mann ein – „es fällt kein Schatten von Tadel oder Vorwurf auf Sie, Sie haben nur gethan, was Ihnen befohlen wurde.“

„Ich hätte die kühne Verwegenheit, den Eifer zügeln müssen, der Sie so nahe an die Rückzugslinie des Feindes … aber was ist das?“

„Das sind die Unsern!“ rief der General Teschen aus.

„Nicht doch, nicht doch – hören Sie nur!“

„Nein – Sie haben Recht, Sztarrai – dies Feuer wird nicht aus unseren Musketen abgegeben!“

Diese Ausrufe wurden den gefangenen Officieren durch ein plötzliches lebhaftes Kleingewehrfeuer entlockt, das von draußen her sich vernehmen ließ.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Hamburger als König der Mainotten.

Von Ritter v. Zerboni di Sposetti.

Es ist gewiß eine sehr erfreuliche Erscheinung, daß an den östlichen Gestaden des Mittelmeers, gerade an den in Barbarei versunkenen ehemaligen griechischen Culturstätten der alten Welt, jetzt der germanische Genius sich vorzugsweise thätig zeigt, das verkommene Leben wieder anzufachen und einen der rohesten und wildesten Stämme des heutigen Griechenlands in seine civilisatorischen Kreise hineinzuziehen.

Auf den Höhen des vom messenischen und lakonischen Golf umspülten Taygetosgebirges in Morea liegt der District Maina, dessen Bewohner in ganz Griechenland als Banditen, Räuber und Mörder verrufen und gefürchtet sind. Diese Mainotten sind ein Rest der echten altgriechischen Volksrace, und zwar ein Rest jenes merkwürdigen Spartanervolkes, das sich schon im Alterthum in seinem Sonderleben von den übrigen Hellenen abzweigte, bei allgemeinen, das ganze Land drohenden Gefahren aber stets in den Vordergrund trat, durch seine bewunderungswürdige Aufopferungsfähigkeit sich immer glänzend hervorthat und meist den entscheidenden Schlag führte, – ein Volk, das schon zu jener Zeit ein bis jetzt noch ungelöstes sociales Problem zu lösen versuchte und das bis nun seiner Aufgabe instinctmäßig treu geblieben ist. Weder die Herrschaft der Römer, noch die der Gothen, Slaven, Franken und Türken hatten es vermocht, den ursprünglichen Instincten dieser wilden Gebirgssöhne jene Energie zu benehmen, die dieses Volk seit seinem Auftauchen in der Geschichte vor mehr als dritthalb Jahrtausenden charakterisirte. In ihren Bergen und Schluchten verstanden sie es, ihre Unabhängigkeit zu wahren, und während das übrige Hellas den Einflüssen der es beständig überfluthenden fremden Elemente erlag und darin zu einem Mischvolke wurde, erhielten sie allein ihr althellenisches Blut rein von jeder fremden Zuthat und blieben ebenso bei ihrer althergebrachten Lebensweise, ihren ursprünglichen Sitten und Gebräuchen stehen, ohne von der Außenwelt irgend Etwas anzunehmen. Die alten Spartaner wiesen bekanntlich die in Hellas dazumal blühenden Künste und Wissenschaften mit beharrlicher Entschiedenheit von sich, sie fürchteten die damit verbundenen Gefahren der Verweichlichung. Das Hauptaugenmerk ihres Staates war auf die höchstmögliche Entfaltung physischer Kraft und des Heldenmuthes bei jedem Einzelnen gerichtet, und wir wissen, daß zur Erreichung dieses Zweckes die Gesetze der Sittlichkeit, der Menschlichkeit, ja die Gesetze der Natur eine gewisse Vergewaltigung erlitten. Das Eigenthum, die Familie, selbst die Kindes- und Elternliebe, sie hatten bei diesem sonderbaren Volke nur in Bezug auf den Staat einen Werth, und diese Beziehung war in Sparta von der allgemeingültigen sehr verschieden.

Bis auf unsere Zeiten sind sie in ihrer Eigenthümlichkeit verblieben und endlich in ihren unzugänglichen Bergen, in ihren von der übrigen Welt gleichsam abgeschlossenen Marken alles höheren Lebens und Verkehrs entbehrend, gänzlich verwildert und verroht. Nur bei allgemeinen, das gesammte Vaterland betreffenden Gefahren sind auch sie, den Traditionen ihrer Race getreu, immer zur Hand. In den Befreiungskämpfen gegen Franken und Türken standen sie alle wie ein Mann in den vordersten Reihen und schlugen immer die blutigsten und entscheidenden Schlachten. War dies aber einmal vorüber, dann schlossen sie sich wieder in ihre Berge ab, und selbst ihre – die jetzige königlich griechische Regierung vermag es nicht, sie in das organische Staatsleben hineinzuziehen.

Die Mainotten sind ein unbändig wildes, kriegerisches Volk, bei dem das Gesetz der Blutrache noch seine volle Geltung hat, und das unter sich, wie ehemals die schottischen Clans, in beständigen blutigen Fehden lebt. Die niederen Anhöhen der Maina sind alle mit viereckigen fünfzig Fuß hohen Thürmen gekrönt, die statt der Fenster Schießscharten haben, aus massivem Mauerwerk bestehen und deren erstes Stockwerk sich in so beträchtlicher Höhe von dem Erdboden befindet, daß es nur auf einer langen Leiter, die jedesmal herabgelassen und heraufgezogen wird, zugänglich ist. Hier hausen die Familien wie in den Zeiten des Faustrechtes, stets des feindlichen Ueberfalls gewärtig, beständig auf Abwehr bedacht. Oft geschieht es, daß, wenn die Männer auf irgend eine Unternehmung ausgezogen sind, diese Burgen von dem lauernden Feinde überfallen werden, wo dann die darin zurückgebliebenen Frauen den Angriff auszuhalten und zurückzuschlagen haben, was ihnen [507] auch, bis die Hülfe aus der Nachbarschaft anlangt, nicht selten gelingt. Bei Gelegenheit solcher Ueberfälle besteigt eine der Frauen die hohe Warte und ruft mit nur ihnen eigenthümlichen Lauten die ferne Hülfe auf. Es ist merkwürdig, daß dieser Hülferuf bei der wunderbaren Reinheit der Luft über eine halbe Meile weit vernommen wird, und jedesmal wird ihm auch sogleich Folge geleistet. Die Angreifenden suchen denn auch die Zeit, bis diese angelangt, bestens zu nützen und die Feste zu forciren, aber die Frauen sind auf derlei Kämpfe eingeübt und ihre Musketen verfehlen nur selten das Ziel. Die Energie, die sie bei solchen Kämpfen entwickeln, macht auch großentheils die Anschläge des Feindes zu Nichte.

Die Rivalität der verschiedenen untereinander sich befehdenden Stämme gestattet diesem Gebirgsvolke nicht, sich einem gemeinschaftlichen Oberhaupte unterzuordnen. Jeder Stamm folgt seinem Aeltesten, und die Genossen eines Stammes betrachten in der Regel jene eines anderen als Feinde, welche Sympathien und Antipathien meist von ihren Ahnen überkommene Erbschaften sind, und so ist denn von einem gemeinschaftlichen Zusammenwirken der Stämme keine Rede. Nur wenn die Regierung von Athen Steuern, Rekruten oder Frohnen zur Herstellung öffentlicher Communicationswege von ihnen verlangt, erst da stehen sie Alle wie ein Mann gegen die Verordnungen auf, und lange schon wagt sich kein Regierungsbote in ihre Berge. Bei solcher Lebensweise muß nothwendig unter ihnen die größte Armuth herrschen, das heißt sie sind über die primäre Einfachheit noch nicht hinaus, sie kennen die Bedürfnisse des Culturlebens nicht, es herrschen bei ihnen noch die ursprünglich homerischen, oder besser, spartanischen Zustände, Sitten und Gebräuche, und es scheint in dieser Beziehung ein aus jener Zeit auf uns unverfälscht gekommenes Cabinetsstück zu sein. Da das Land bei seiner Armuth und bei der Lebensweise seiner Bewohner lange nicht im Stande ist, dieselben zu ernähren, so finden zeitweise Auswanderungen statt, es verdingen sich in den Hafenorten Viele zu verschiedenen Arbeiten, Andere gehen wieder dem edlen Handwerk mit Muskete, Pistolen und Yatagan bewaffnet über die Landesmarken nach. In diesem kriegerischen Schmuck bestellen sie aber auch ihre Gärten und Felder, denn hier ist man nie vor einem feindlichen Ueberfalle sicher. –

Mitten unter diesem wilden Volke im mainottischen Gebirge hat unser deutscher Landsmann, der Bildhauer Siegel sich angesiedelt und besitzt dort seine berühmten Marmorbrüche. Es gelang ihm, einen weiten Gebirgsumkreis und eine der festen Familienburgen in seinen Besitz zu bringen und, während er sich in dieser letzteren nach Landessitte eingerichtet hat, im Gebirge an seinen Marmorbrüchen großartige Werkstätten einzurichten und in denselben Tausende von Eingeborenen zu beschäftigen.

Siegel war durch viele Jahre unter König Otto’s Regierung Professor der Bildhauerei an der Akademie zu Athen gewesen, wo er eine namhafte Schule errichtete, die jetzt von seinen Schülern im Gange erhalten wird. Auf seinen Ausflügen durch Morea kam er auch zu den Mainotten; er wollte sich persönlich überzeugen, ob dieses Volk in Bezug auf seine Aehnlichkeit mit der classischen Antike den hierüber allgemein in Umlauf gesetzten Gerüchten auch in der That entspreche, was für ihn als Künstler und noch dazu als Bildhauer von großem Interesse sein mußte. Bei dieser Gelegenheit entdeckte er in den Gebirgen der Maina sehr reichliche Lager der herrlichsten Marmorsorten, welche eine große Ausbeute versprachen. Der Hebung dieser Naturschätze stellten sich jedoch in den Eingeborenen selbst beinahe unüberwindliche Hindernisse entgegen. Die jetzigen Griechen sind ohne Ausnahme Alle geschworene Feinde jeder Neuerung; selbst die Allen so unentbehrlichen Communicationswege können nur mit großem Zwang hergestellt werden, und deren Bau schreitet nur äußerst langsam vorwärts. Wie sollte nun ein Fremder, und noch dazu ein aus Athen, aus den Regierungskreisen kommender Fremder, bei diesem ohnehin so mißtrauischen Völkchen eine Neuerung – eine Unternehmung in’s Leben rufen können? Hier konnte nichts weder mit Gewalt, noch mit Geld, noch mit irgend welchen künstlichen Mitteln erzielt werden, nur auf dem Wege eines gütlichen Einverständnisses war etwas durchzusetzen. Um sich unter den Mainotten niederlassen zu können, mußte man vor Allem erst selbst Mainotte werden. Jeder Andere hätte die verschiedenen Familienzwistigkeiten benützt, um sich mit Hülfe der einen Partei gegen die andere behaupten zu können. Siegel wies ein solches Auskunftsmittel als seiner unwürdig zurück. Nicht durch Intrigue, er wollte auf soliden Basen mit diesem Gebirgsvolke verkehren, er glaubte in dessen Eigenschaften Anhaltspunkte hiefür zu haben, von deren geschickter Benutzung dann freilich Alles abhing, und er täuschte sich nicht. Der griechische Volkscharakter im Allgemeinen hat einen gesunden festen Kern. Der Grieche ist sehr keusch, sehr mäßig und hängt mit exemplarischer Treue an Familien- und Verwandtschaftsbanden. Der Mainotte überdies hält viel auf seine rein hellenische Abstammung, und in der That, nirgends in ganz Griechenland, die Sphakioten auf Kreta vielleicht ausgenommen, hat sich der althellenische durch die Antike uns bekannte Typus in Gesichtszügen und in dem wunderbar schönen Ebenmaß der Körperformen, namentlich bei Frauen, welche von allen Reisenden als „antike Göttinnen in knechtischer Hülle“ bezeichnet werden, – so vollständig und so rein erhalten, wie bei diesem Gebirgsvolke. Diese Harmonie der äußeren Formen muß sich ja nothwendig auch im inneren Wesen auf irgend eine Weise reflectiren. Ist es doch allgemein bekannt, daß selbst der griechische Bandit sich durch einen gewissen Adel von allen anderen seines Gleichen wesentlich unterscheidet. In ihrem gehobenen Selbstbewußtsein halten sich eben die Mainotten auch von besserem, edlerem Stoffe als die übrige Menschheit im Allgemeinen, und es ist dieser Stolz zum großen Theile neben ihrer Liebe zur Freiheit und Unabhängigkeit, der sie in Absonderung von der Welt auf ihren Bergen hält. So erzählen sie zum Beispiel es gar gerne, daß aus ihrer Mitte die Bonaparte und die Medicäer ihren Ursprung nahmen. Beide Familien haben nämlich, wie dies seiner Zeit allgemein üblich war, nachdem sie nach Italien ausgewandert, ihre griechischen Familiennamen Kalomeros und Jatrakos in die Sprache ihres neuen Vaterlandes übersetzt.

Ein solcher Kern und in solcher Hülle mußte den Menschenfreund und namentlich den Künstler besonders interessiren; es mußte in ihm der Gedanke Platz greifen, daß eine geschickte Behandlung dieser Eigenschaften zur Entfaltung des der äußeren Form entsprechenden inneren Wesens führen müsse, auf diese Weise aber die Antike thatsächlich verlebendigt und verpersönlicht in die Wirklichkeit der Gegenwart, in das warme, thätige Leben wieder eingeführt werden könnte – was im Wege plastischer Kunst selbst bezüglich der äußeren Form noch nicht recht gelingen will. Es handelte sich darum, die thatsächlich lebendige Antike in’s Leben einzuführen. Siegel hat sich dieser großen Aufgabe unterfangen, er hat sich die Landessprache vollkommen eigen gemacht, hat sich in die Sitten und Eigenthümlichkeiten der Mainotten ganz hineingelebt, ist durch seinen persönlichen Verkehr mit den Familien ihnen auf verschiedenartige Weise nützlich geworden, ja, sie haben ihn mit der Zeit so lieb gewonnen, daß sie selbst bei ihren gegenseitigen Befehdungen sich sein Schiedsrichteramt gefallen lassen – ein Zutrauen, das in diesen Bergen ganz einzig und ohne Beispiel dasteht, und das sich Siegel nur durch sein kluges, humanes Eingehen auf die Verhältnisse der Familien erworben hat.

Auf diese Art gelang es ihm, den Thatendrang der kampflustigen Jugend in seine Werkstätte zu leiten, und die Verwerthung desselben stellte sich dieser Jugend sowohl wie deren Angehörigen so erfolgreich dar, daß man die Aufnahme dieser jungen Leute in diese Anstalten als eine Gunst zu betrachten und nachzusuchen begann. Aus diesen Brüchen, welche in reichlichen Lagern die schönsten und kostbarsten Marmorsorten liefern, versorgt Professor Siegel nicht nur ganz Griechenland, sondern auch alle bedeutenderen Orte in der Levante, von der ostafrikanischen Küste bis Constantinopel. Die gebrochenen Marmorblöcke werden an Ort und Stelle vorerst für ihre künftige Bestimmung nur roh zurecht gemacht, sodann an der für den weiteren Transport auf die Schiffe geeigneten Stelle in’s Reine gemeißelt, polirt und in der Folge auf eigens hierzu eingerichteten Maschinen auf die Schiffe geladen und verführt. Diese in großartigem Maßstabe betriebenen Arbeiten nehmen Tausende von Menschenhänden beständig in Anspruch. Auf diese Weise aber fließt das baare Geld und mit diesem auch der Wohlstand der Bevölkerung zu und gestaltet sich die Rivalität der Stämme zu einer Rivalität in der Arbeit, in welcher Einer dem Anderen es zuvorzuthun sucht, während sich gleichzeitig für Alle ein gemeinschaftlicher Lebensmittelpunkt herausbildet.

Dieser wohlthätige Einfluß wird von Allen empfunden, so daß Siegel sich der Liebe und des Vertrauens, ja einer [508] Art Verehrung im ganzen Lande erfreut. Sein täglicher Verkehr mit allen Parteien bringt ihn unausgesetzt mit Freund und Feind zusammen, die Alle in ihm den Mittler, den Wohlthäter, den Rathgeber, mit einem Worte, jenen Genius erkennen, der ihrem Leben erst den wahren Gehalt und Werth zu geben verstand. Da Alle mehr oder weniger, mittelbar oder unmittelbar an diesen Arbeiten betheiligt sind, so ist auch nicht Einer im ganzen Lande, der ihn nicht segnete, der nicht persönlich in Beziehung zu ihm stände. Die Arbeiten werden selbstverständlich durch Contracte auf längere Zeit geregelt. Die in den Ateliers beschäftigte Jugend ist an diese auf Jahre hin gebunden, und da hier der den Griechen angeborene Schönheitssinn unter Siegel’s Leitung sich entwickelt, die jungen Leute unter ihren Händen Werke der Kunst entstehen sehen, sich für diese immer mehr interessiren, und von ihren Angehörigen, deren Wohlstand hierbei wächst, darin bestärkt und hierzu angehalten werden, so beginnt auch mit der geregelten, nützlichen, ruhig verfließenden Arbeit sich ein neuer Geist im Lande zu offenbaren, die Rohheit der Sitten sich zu mildern, und in der That haben die Raubzüge, die Alles vernichtenden Familienfehden merklich nachgelassen und überall wird bereits eine rege Betriebsamkeit, überall werden organisch sich regelnde Zustände wahrgenommen.

Siegel hat sich bei diesem Volke bereits so unentbehrlich gemacht, daß ihm die unbändigsten Häuptlinge ohne Widerrede Folge leisten, sein Wort ihnen als Gesetz gilt, und selten nur kommt er in die Lage, und das höchstens durch Arbeitsentziehung – dort die empfindlichste Strafe – seinem Worte Nachdruck geben zu müssen. Dem Könige Otto persönlich befreundet, hat Siegel mit seinen Mainotten für ihn noch die letzten Kämpfe gekämpft; seine Krieger würden ihm unbedingt in einem Kreuzzuge nach Athen gefolgt sein, wenn er dies von ihnen gefordert hätte, – auch schickt die Regierung, wenn sie bei diesem Volke etwas durchsetzen will, ihre Boten nicht direct an dasselbe, sondern an Siegel mit dem Ansuchen, das Volk hierfür geneigt zu machen, denn mit Gewalt kann sie bei demselben nichts ausrichten. Siegel, der seine Leute und die Verhältnisse ganz genau kennt, die in Athen nämlich, wie die seiner Mainotten, braucht nicht erst mit diesen letzteren darüber zu unterhandeln. Er fertigt die Regierungsboten aus eigener Machtvollkommenheit ab, indem er zusagt oder abweist oder irgend welche Modificationen verlangt, und was er entschieden, die Regierung von Athen sowohl wie das Volk von Maina ergeben sich anstandslos darein.

Ein solches Vertrauen setzen selbst die Regierungsmänner in Athen in ihn. Sie kennen ihn Alle persönlich und er verkehrt mit ihnen bei seinen zeitweisen Ausflügen in die Residenz. Er ist thatsächlich König von Maina, wiewohl ihn Niemand in dieses Amt förmlich eingesetzt, weder das Volk als solchen ausgerufen, noch die Regierung officiell anerkannt hat – er ist es durch die Macht seines Geistes und seiner Persönlichkeit geworden. Die Regierung von Athen wollte diese seine Stellung durch einen officiellen Titel gleichsam legalisiren und wäre es nur deshalb, um nicht mit einem Volke durch die Vermittlung eines Privatmannes erst verkehren zu müssen; aber Siegel schlug alle dergleichen Auszeichnungen mit dem sehr richtigen Tact aus, daß jeder amtliche Charakter ihm bei seinem Volke nur Nachtheil bringen, das Vertrauen zu ihm untergraben würde. Siegel ist aber nicht nur in der Maina, er ist im ganzen Königreich der Griechen und zwar von den meisten persönlich gekannt, und von Allen geachtet, geehrt und hochgehalten, selbst die Banditen, von denen Griechenland bekanntlich wimmelt, hegen eine Art ehrfurchtsvoller Scheu vor ihm, und nie ist ihm, so oft er ihnen auch auf seinen Streifereien begegnet, etwas Leides von ihnen widerfahren. Er hat aber auch eine eigene Art und Weise, die Leute zu behandeln, seine geistige Ueberlegenheit auch ohne allen äußern Apparat ihnen gegenüber geltend zu machen.

Siegel ist von Geburt ein Hamburger, ist hoch und schlank gewachsen und über die sechszig Jahre hinaus, aber rüstig, lebendig und energisch, wie man selbst unter jungen Leuten nur Wenige findet. Ich machte seine Bekanntschaft vor zwei Jahren in Constantinopel, wohin er auf mehreren Schiffen die Marmorsäulen und andere Sculpturarbeiten für den neuen großherrlichen Palast brachte. Diese Siegel’schen Marmorarbeiten hätten in den ersten europäischen Kunstwerkstätten nicht schöner gemacht werden können. „Sie sind,“ sagte er mir, „alle das Werk meiner mainottischen Schüler,“ und er betonte mit einer ihm so wohl stehenden Zufriedenheit, daß darunter sich auch nicht ein einziges Stück von einer andern Hand gearbeitet befinde. Wer Mörder und Banditen zu fleißigen Künstlern umzugestalten, wer statt des thierischen Rachedurstes in ihre Seele das ideale Schöne zu setzen vermochte, der kann gewiß mit wohlverdienter Genugthuung auf dies sein großes Werk herniederschauen, denn er hat hier als Großmarschall der Menschheit ihr wahre und unvergängliche Siege erfochten und er hat sie erfochten auf unblutigen Wegen, ohne daß ganze Hekatomben Menschenleben ihm zum Opfer gefallen wären, und auch ohne Armeen, deren Erhaltung der Menschheit so theuer zu stehen kommt. Er allein, ein einziger Mann, ohne Waffen, ohne Geleite – er hat ein ganzes Land erobert, er hat es freilich im Interesse seiner Kunst, also beziehungsweise in seinem eigenen Interesse erobert, aber das ist ja das große Verdienst, der große Vortheil unseres Culturlebens, daß dieses Interesse das Interesse einer ganzen Bevölkerung, ja gleichzeitig jenes der ganzen Menschheit ist. Deshalb findet Alles dabei seine Rechnung, und giebt es weder Revolutionen, Verrath noch blutige Conflicte in diesem Lande, wo statt aller dieser menschenfeindlichen Dämonen jetzt der Genius der Kunst den Scepter seiner milden Herrschaft schwingt. Siegel regiert ein sonst unbändiges Volk ohne allen Regierungsapparat, ohne Soldaten, ohne Polizei, ohne Steuern, ja ohne Verwaltungspersonal, und doch giebt es keinen Potentaten, dem man pünktlicher und williger gehorchte, als diesem anspruchslosen einzelnen Manne, der nicht einmal Muße hat nachzusehen, ob seine Anordnungen auch vollzogen werden. Aber er braucht dies gar nicht, er ist gewiß, daß dies ganz pünktlich geschieht.

Eine solche Herrschaft ist gewiß das Nonplusultra politischer Weisheit. Hier hat sie sich wie zufällig durch kluge Benutzung der Umstände zur Blüthe entfaltet, weil sich hier Alles auch praktisch zusammenfand. Keine der vielen kirchlichen Missionen, die viele Jahrhunderte lang das Land des Ostens bearbeiteten, kann sich ähnlicher Erfolge rühmen, und woher kommt dies? – Siegel ist nicht nur Künstler, nicht nur Kaufmaun, sondern er ist, und dies vorzugsweise, ein Mensch. Er versteht es eben so gut mit den Menschen umzugehen, als er seine Kunst zu handhaben und zu verwerthen versteht. Er liebt die Menschen, er behandelt sie nicht als Handlanger, als Zahlen oder Werkzeuge, oder Mittel zur Erreichung von Zwecken, er liebt die Menschen um ihrer selbst willen, sie gelten ihm mehr als Orden, Aemter und Titel, mit einem Worte, ihm gilt das Wesen der Sache Alles und der äußere Schein gar nichts, und weil es ihm nur um das Wesen zu thun ist, hat sich ihm dieses auch erschlossen.

Wenn Siegel jetzt auch von dem Schauplatze seines Wirkens abberufen werden sollte, so hat er doch eine Macht gegründet, die nicht an seine Person gebunden ist und mit dieser lebt und fällt. Er hat in seinen Schülern sozusagen eine Dynastie gestiftet, in welcher sein Geist fortleben, fortwirken, die von ihm begonnene Organisation und Vermenschlichung vervollkommnen wird. –




Christliche Patriarchen und muhamedanische Studenten.

Der Papst in Rom behauptet den Stuhl des heiligen Petrus einzunehmen; den des heiligen Marcus nimmt der koptische Patriarch von Alexandria, der zu Kairo residirt, in Anspruch. Die Kopten, die christlichen Nachkommen der alten Aegypter, welche ihren Namen ihrer Zufluchtsstätte während der Christenverfolgungen unter den römischen Kaisern verdanken sollen, haben von den geistigen Eigenschaften des alten Pharaonenvolkes den Haß und die Verachtung gegen alle fremde Völker ererbt. Im paradiesischen Nilthale, durch die Wogen des Meeres und die Sandwellen der Sahara abgeschlossen und in sich befriedigt, sehen sie in den eingedrungenen Fremdlingen nur die Störer des heimischen Glücks. Sie gehören einer der ältesten Gestaltungen der christlichen Kirche

[509] 

Arabische Universität in Kairo. Nach der Natur aufgenommen von W. Gentz.

[510] an. Aber die Religion der Bruder- und Nächstenliebe hindert sie nicht, ihre Brüder in Christo noch mehr zu hassen, als die in Muhamed, denen sie stammverwandt sind.

Der Patriarch dieser Kopten ist das Oberhaupt aller ägyptischen, äthiopischen und abyssinischen Christen. Die Mönche des am rothen Meere in tiefster Wüsteneinsamkeit gelegenen Klosters des heiligen Antonius wählen ihn aus ihrer Mitte. Seine Einkünfte sind sehr bedeutend, besonders durch den Besitz von Häusern, deren Zahl sich in neuerer Zeit außerordentlich vermehrt hat. Verkauft in Kairo ein Kopte sein Haus, so ersteht es größtentheils der Patriarch für die Kirche; aus der frommen Gemeinde wagt Niemand den geistlichen Oberhirten zu überbieten. So mehren sich Häuser auf Häuser fort und fort im Besitz der Kirche. Auch sie hat einen guten Magen und hat sich auch noch niemals übernommen.

Der norddeutsche Consul, Herr Dr. Nerenz, hatte im Auftrage unserer Regierung für heimische Gelehrte von dem Patriarchen einige alte Manuscripte zu erbitten; ich begleitete ihn mit Vergnügen bei dieser Mission. Wir trafen Seine Heiligkeit in dem bescheidenen Garten seines Hauses. Die Gestalt des hohen Herrn hatte ein wahrhaft patriarchalisches Ansehen; die Physiognomie seines Kopfes glich der eines Rhamses oder Thutmosis; seine Corpulenz jedoch erinnerte weniger an die hehren Pharaonengestalten, als an die seiner christlichen Kirchenfürsten-Brüder. Seine Kleidung bestand aus einem hellblauen Kaftan vom feinsten Tuch, unter dem er auf bloßem Körper stets wollene Kleider tragen muß. Der volle und runde Turban mit dem darüber geworfenen schwarzen Cashmirshawl vervollständigten das Bild einer altbiblischen Erscheinung.

Der Patriarch schritt voran, uns in seinen Empfangssaal zu führen. Ich hatte vor einigen Wochen die üppigen Prachtgemächer des Vatican und die fürstlichen Empfangszimmer römischer Cardinäle gesehen und erwartete bei dem Primas der orientalischen Kirche einen gleichen Luxus zu finden, wie bei den in behaglicher Ueppigkeit lebenden Kirchenfürsten des Abendlandes. Meine Erwartung rücksichtlich des koptischen Patriarchen ward getäuscht. Die Einfachheit dieses Patriarchensitzes würde selbst den gestrengen Martin Luther zufrieden gestellt haben, den der Luxus Roma’s, der Hauptstadt der Christenheit, so tief verletzte.

Die einzige majestätische Eigenschaft des Saales bestand in seiner Höhe. Die ursprünglich wohl weiß getünchte Wand hatte ihre Eigenschaft, zu blenden, längst verloren. In den großen Fenstern befanden sich bedenkliche Lücken durch zerbrochene Scheiben. Das Oeffnen der Fenster, um frische Luft zuzulassen, ward dadurch unnöthig. Alte in Holz geschnitzte Bänke, von gleicher Arbeit wie die zierlichen Muscharabien, d. h. Haremsfenster, standen an den Wänden, und spärlich bedeckten den einfachen steinernen Fußboden verschossene und arg beschädigte Teppiche. In einer Wandnische lagen große Folianten auf einander geworfen, über welche Spinnen emsig ihre Netze spannen. Das gelehrte Haupt des Patriarchen hatte gewiß nur selten nöthig, zu den literarischen Schätzen der Vergangenheit seine Zuflucht zu nehmen!

Es wurde uns Scherbet in hohen vergoldeten Deckel-Tassen gereicht, über die ein golddurchwirktes seidenes Tuch gebreitet war, später Kaffee und Schibuks. Wie vorauszusehen, war Seine Heiligkeit taub gegen das Gesuch des Consuls. Die angeblichen Manuscripte sollten nur in unserer Einbildung existiren. Die Schmeichelei, daß der Protestantismus seiner Kirche verwandt sei und gleichfalls den Papst nicht anerkenne, verfehlte auch die beabsichtigte Wirkung. – Da das Gerücht in Kairo ging, der Patriarch würde im nächsten Jahre nach Rom zum ökumenischen Concile gehen, so erlaubten wir uns hierüber eine Frage an ihn zu richten. Ein fast verächtliches Lächeln begleitete die Antwort: „Lassen wir,“ sagte der Patriarch, „den Papst in seinem Stolze sitzen. Er hat uns zwar aufgefordert, zu kommen; wie können wir aber einer Versammlung beiwohnen, in welcher sich derselbe anmaßen wird, als der gesammten Christenheit Oberhaupt den Vorsitz zu führen! Wir erkennen nur einen Herrn über uns, das ist der Gott, der im Himmel thront!“

Während des Besuchs fixirte ich das interessante Gesicht des Patriarchen und zeichnete es gleich nach beendigter Audienz in frischer Erinnerung, so daß ich ein treues Bild von ihm mit mir nehmen konnte. –

In der Nähe von Alt-Kairo steht am Rande der Wüste ein verlassenes Gotteshaus, eine Moschee, die älteste Aegyptens. Hunderte von Säulen, deren Capitäle alle verschieden sind, – es sind altägyptische, dorische, ionische, korinthische, römische, christlich-byzantinische, arabische darunter – tragen die offenen Hallen, welche das ganze Tempelgebäude in einem länglichen Viereck umschließen. In der Mitte des freien Raums, dessen Bedachung das tiefblaue Himmelsgewölbe, steht ein zerfallenes Kiosk, daneben wiegt eine einsame Palme im reinen Aether ihr leicht bewegliches Kronenhaupt, das allabendlich die scheidende Sonne vergoldet. Friedlich tragen die aus den mannigfaltigsten Religionsepochen hervorgegangenen Kunstgebilde die Vorhalle des Tempels, – ein schönes Bild idealen religiösen Friedens! Mit ihm harmonirt freilich die Wirklichkeit des Orients äußerst wenig. Bildet doch selbst die heilige Grabeskirche Jerusalems mit ihren vielen, den verschiedenen Confessionen angehörigen Capellen ein Bild ewigen Parteihaders, bei dem schließlich der bewaffnete Moslem das entscheidende Wort spricht und die gestörte Ordnung wieder herstellt. Die religiösen Parteien Aegyptens haben allmählich den offenen Fanatismus mit der Glaubensinnigkeit eingebüßt, und das ist eine heilsame Wirkung unserer Zeit!

Anders war es zur Zeit des Kalifen El Hákim, der im Jahre 996 zur Herrschaft gelangte; er erließ eine Verordnung, nach der sämmtliche Christen, Männer und Frauen, honigfarbene Kleider und schwarze Turbane tragen mußten; an den schwarzen Turbanen erkennt man noch heute die Kopten; außerdem aber mußten die Christen in jenes Kalifen Zeit ein fünf Pfund schweres hölzernes Kreuz, und die Juden ein Stück Holz von gleichem Gewicht um den Hals tragen. Ihre Hausthüren mußten durch Teufelsbilder gekennzeichnet sein. Trotz alledem weist auch der Koran auf die Toleranz hin. Denn als Muhamed einst, bei einem Leichenzug zum stillen Gebet stehen bleibend, aufmerksam gemacht wurde, daß sein Gebet einem Juden gälte, erwiderte er: „Ich bete für eine Menschenseele!“

Gegenwärtig bestehen in Aegypten die Religionsformen neben einander etwa so, wie Lessing es im „Nathan“ geschildert hat. Für die Christen ist dort die Schilderung nicht gerade schmeichelhaft, aber sie paßt leider noch auf die ägyptischen Christen unserer Tage. Der Muhamedanismus hat als herrschende Religion nicht blos materiell das Uebergewicht über die anderen Religionsformen; auch in geistiger Hinsicht und in den imposanten Formen seines Cultus ist er ihnen überlegen. Diese Ansicht gewann ich zunächst bei einem Besuch, den wir dem Scheikh el Arussi Pascha, dem Rector der muhamedanischen Universität von Kairo, abstatteten. Der Ruf seiner Gelehrsamkeit, hatten wir ihm sagen lassen, wäre auch zu uns nach Preußen gelangt, und wir wünschten deshalb ihm unsere Huldigungen darbringen zu dürfen. Unsere Bitte um eine Audienz wurde genehmigt, und wir verfügten uns – es war in der Rhamadanzeit, wo die Nacht zum Tage gemacht wird – Abends eilf Uhr in die Gesellschaft der arabischen Gelehrten, Dichter und Theologen, welche in jener Fastenzeit sich um das Haupt der arabischen Gelehrsamkeit zu versammeln pflegen.

Der Hof, den wir passirten, war festlich geschmückt und in ein großes Zelt verwandelt, unter dessen roth, grün, blau und gelb gestreiftem Dache zu Ehren des Namens Gottes eine feierliche Andachtsübung oder religiöse Fantasia gehalten wurde. Dieselbe heißt zickr. Ein großer Kreis von Gläubigen hatte sich um den in der Mitte stehenden Vorsänger, den eine klangvolle Stimme und besonders feierliche Haltung auszeichneten, gesammelt. Die frommen Uebungen bestanden neben Absingen religiöser Liebeslieder in endlosem, nur durch kurze Pausen unterbrochenem Allahrufen, welches stundenlang fortdauerte und von der andächtigen Versammlung mit regelmäßigen Kopfbewegungen begleitet wurde. Bei unserer Ankunft mußten die Uebungen schon lange gewährt haben, denn die Stimmen waren erschöpft und klangen dumpf, wie Töne aus dem Grabe. Die Zeltbedachung und die fanatisch erregt aussehenden Gesichter der Gläubigen gewährten bei dem Helldunkel der Kerzenbeleuchtung einen höchst eigenartigen feierlichen Anblick. Der Divan, der zu der klösterlichen Zerfallenheit der Wohnung des koptischen Patriarchen stark contrastirte, war gleichfalls festlich geschmückt. Kostbare persische Teppiche bedeckten den Fußboden. Die nach dem Hofe geöffneten Fenster zeigten uns den Anblick der in ihrem monotonen Gesang unermüdlichen Beterschaar.

Der Pascha, ein feiner alter Herr, lud uns zu sich auf den [511] Divan und suchte uns eine möglichst vortheilhafte Vorstellung von der arabischen Literatur und Wissenschaft zu geben. Seine eigene arabische Bibliothek, erzählte er, enthalte ein Buch, in dem sechsunddreißig Wissenschaften vorgetragen seien. – Auch machte er interessante Mittheilungen über die Liebeslieder, welche von der Beterschaar des Hofes vorgetragen wurden. Interessant war es mir, daß jene Lieder merkwürdige Uebereinstimmungen mit dem Hohen Liede Salomonis zeigten.

Während unserer Unterhaltung langten mehrere in reiche seidene Kaftane gekleidete Araber zum Besuch an, die nach Entledigung der Schuhe sich dem gelehrten Pascha mit dem Ausdruck großer Ehrerbietung näherten und ihm die Hand küßten. Die Feinheit und Grazie in den Bewegungen dieser Gelehrten war – verglichen mit denen ihrer abendländischen Collegen – sehr auffallend. Der gelehrte Pascha mit seinen Freunden erweckte in der äußeren Erscheinung mir das Bild des Hafis und seiner Genossen. Nachdem wir den üblichen Schibuk zum Kaffee geraucht hatten, erbaten wir nach der herrschenden Sitte die Erlaubniß, uns zurückziehen zu dürfen; aber der liebenswürdige alte Herr behauptete, nach seiner Religion ein Recht zu haben, während des Rhamadan solche Bitte abschlagen zu dürfen. Er hatte für uns Scherbet bestellt, welcher gleich darauf von schwarzen Sclaven auf vergoldeten Präsentirbrettern in schön geschliffenen, eigenthümlich geformten Gläsern gebracht wurde.

Die Erlaubniß zum Besuch der Universität und der mit ihr verbundenen Moschee el-Azhar zu erlangen, wandten wir uns an Scherif Pascha, den Minister des Auswärtigen. In Abwesenheit des Ministers selbst gelang es nur mit Mühe, seinen Cabinetssecretair aufzufinden. Eine lange Irrfahrt führte uns durch eine Reihe von Arbeitszimmern, deren Fenster vor Schmutz undurchsichtig oder zerbrochen waren, deren Fußboden so mit Staub und Häcksel, den der Wind durch die zerbrochenen Scheiben getrieben haben mochte, bedeckt waren, daß man in einem Eselstall zu sein glaubte. Auf den Divans trafen wir viele Beamte, den Rauchwolken ihrer langen Schibuks nachspähend, manche schlafend, andere auch schreibend. Hierbei diente die linke Hand als Schreibpult und Unterlage für die langen schmalen Papierstreifen, deren sich die Araber allgemein bedienen; auf dem Divan zur Seite stand das Tintenfaß.

Das Zimmer des Cabinetssecretairs war im Gegensatz zu den anderen Räumen elegant, wie der feinste Pariser Salon mit seinen Möbeln, Teppichen und den schweren seidenen Ueberzügen des Divans und der Stühle. Die erbetene Erlaubniß konnte uns indeß hier nicht ausgestellt werden, sondern wir wurden mit unserem Gesuch an den Polizei-Pascha verwiesen. Die Erklärung, vom Scherif Pascha zu kommen, verschaffte uns hier trotz der Einspruch thuenden Kawassen schnell Zutritt und mit stolzem Kopfnicken wurde unsere Bitte gewährt. Aber erst nach einer halben Stunde war das betreffende Schriftstück ausgefertigt und dem Janitscharen übergeben, der uns führen und gegen die unbequeme Neugier sicher stellen mußte. Niemals habe ich mich eines energischeren Schutzes erfreut; denn zahlreich waren die Genickpüffe und Prügel, mit denen die Unart gerächt und der Anstand rehabilitirt wurde.

Am Eingang zur Moschee wurden für uns ein paar alte, von Motten zerfressene Zeugschuhe herbeigeholt, um durch sie den heiligen Boden gegen die directe Berührung von dem Fuße der Ungläubigen zu schützen. Sie mochten lange nicht gebraucht sein, denn Europäern wird selten die Erlaubniß ertheilt, in diese geweihten Räume einzutreten. Durch ein schönes Portal gelangt man in die auf den Hof führende Vorhalle, auf deren beiden Seiten eine Anzahl Barbiere in fleißiger Arbeit begriffen sind. Hier werden die Köpfe eingeseift und purificirt, mit besonderen Zangen werden den Stutzern die zu weit in die oberen Theile des Gesichts hineingewachsenen Haare ausgezogen.

Durch ein zweites Portal blickt man in den immensen Hof, der von den mannigfaltigsten Gruppen belebt ist. Eine Menge junger aufmerksamer Studenten hat sich um einen docirenden alten Professor geschaart; ein anderer Docent steht gegen eine Säule gelehnt und demonstrirt mit lebhafter Gesticulation einer anderen Gruppe von Zuhörern; während diese eifrig dem Vortrage folgen und Notizen auf ihren Papieren machen, haben hie und da andere sich auf ihre Matten geworfen und schlafen den Schlaf des Gerechten. Für die Hungrigen sind Haufen Brodes aufgestapelt, für die Dürstenden ist durch ein steinernes, wie ein Sarkophag aussehendes, vielleicht dreißig Fuß langes Behältniß gesorgt, an dem sich eine lange Reihe messingener Tüllen befindet. Aus diesen muß mit dem Munde das Wasser herausgesogen werden. Große und Kleine, Alte und Junge schaaren sich hier, um aus den Tüllen wie aus Brüsten Erquickung zu trinken – Alle in gebückter Stellung – ein recht wunderliches Bild.

In der Mitte dieses belebten Hofes genießt man den Anblick einer durchaus fremdartigen Welt. In das tiefe Blau des über uns sich wölbenden Himmels streben abwechselnd mit schlanken Palmen zierlich vergoldete hohe Minarets und bunte Kuppeln empor, deren reiche Arabeskengebilde noch mit farbigen Steinen verziert sind. Ein weites Portal in Hufeisenform eröffnet einen Blick in die belebte Straße, ein anderes in die reich geschmückte Moschee, in der ein Wald von Säulen den mächtigen Kuppelbau trägt. Ein drittes Portal zeigt uns das erfrischende Wasserbassin, in dem die Waschungen vor dem Gebet vorgenommen werden. Lange Reihen offenstehender kleiner, niedriger Zimmer, welche Mönchszellen gleichen, zeigen uns die arbeitenden Gelehrten. Die Knieenden, Betenden, Schlafenden, endlich die beim Lernen lärmenden Knaben geben ein Bild, wie man es bei der Pracht der Architectur nicht reicher, mannigfaltiger und interessanter zu denken vermag. In Nebenräumen finden wir Kinderschulen; in einer derselben hatte der Lehrer, wie es schien, auch seine Frau bei sich, die vollständig mit dem Kopfe in Weiß gehüllt war, so daß nicht einmal die Augen sichtbar wurden. Sie lag vor der offenen Thür der Schulstube und gab ihrem Kinde die Brust – den einzigen nicht verdeckten Theil ihres Körpers. Ein schwarzes Kätzchen saß auf ihren Beinen.

In alten geschnitzten Kisten werden die zum Studium nöthigen Bücher aufbewahrt, welche, wie die in der Universität gehaltenen Vorlesungen, alle Weisheit und Wissenschaft des Orients umfassen. Die Grundlage aber alles Studirens bildet der Koran, nach dessen Satzungen gleichmäßig das religiöse wie bürgerliche Leben geordnet ist. –

Zur Erinnerung an den Todestag Mehemed-Ali’s war in der von ihm auf der Citadelle ganz aus Alabaster erbauten prächtigen Moschee eine nächtliche Feier veranstaltet. Die schöne Kuppel der Moschee und ihre schlanken Minarets waren erleuchtet und strahlten weithin durch die dunkle Nacht. Die labyrinthisch sich zur Citadelle hinaufwindenden Straßen waren belebt und beleuchtet von zahlreichen Fackelträgern, welche die zum Fest fahrenden Equipagen der Paschas geleiteten. Die schönen inneren Räume der Moschee strahlten in einer blendenden Illumination und gewährten einen zauberischen Anblick, der zugleich in hohem Maße die Wirkung des Feierlichen machte. Schaaren von Gläubigen lagerten in bunten Gruppen auf den prächtigen Teppichen, mit denen der Fußboden überdeckt war; die Teppiche zeigten die mannigfaltigsten Zeichnungen und die interessantesten Farbenzusammenstellungen. Kaffee- und Wasserverkäufer bewegten sich geschäftig durch die Massen, den erspähten Winken zu folgen. Vor einer großen capellenartigen Nische hatte sich ein dichter Halbkreis gebildet, in dem besonders fremdartige Costüme auffielen. Denn die bevorstehende Mekkapilgerfahrt hatte vom Süden und Westen, vom fernen Osten und Norden die Anhänger des Propheten in Kairo versammelt, unter denen als besonders eigenthümliche Erscheinungen die stolzen Gestalten der Kurden mit ihren hohen phrygischen Mützen hervortraten. Eine religiöse Uebung von Derwischen fesselte die Blicke der Andächtigen.

Die Derwische sind die Mönche des Muhamedanismus. Die meisten derselben unterscheiden sich jedoch von ihren christlichen Collegen dadurch, daß sie für die bürgerliche Gesellschaft nicht ganz verloren sind, da sie neben ihren religiösen Uebungen auch noch irgend ein Handwerk betreiben. Ein Kreistanz wurde hier von etwa zwanzig jungen, zum Theil mädchenhaft aussehenden Derwischen, welche hohe, weiße, zuckerhutartige Mützen trugen, unter Leitung ihrer Schechs aufgeführt. Köpfe und Körper bewegten sich dabei in regelmäßigen Verbeugungen und endloses Allahrufen accompagnirte die schnelle Bewegung des Reigens. In der Mitte führten einzelne Derwische auf beiden Füßen mit horizontal ausgestreckten Armen einen Drehtanz mit einer Dauer aus, daß man glauben mußte, sie würden vor Schwindel auf den Boden stürzen. Die langen Kleider erhielten durch die Schnelligkeit der Bewegung eine trichterartige Gestalt, die mit der Unbeweglichkeit des Kopfes und den ausgestreckten [512] Armen vollkommen den Eindruck eines Automaten machte. Etwa zehn Minuten mochte dieser Kreiseltanz dauern, dann verneigten sich die Tanzenden mit gekreuzten Armen vor ihrem Schach, gingen, ohne ein Zeichen von Ermüdung oder Schwindel zu geben, ruhig im Kreise herum, um, in den größeren Reigen eintretend, anderen ihre Stelle zu überlassen. Nur selten ruhten die Acteure von ihrer religiösen Kraftproduction, um dann ihr monotones Drehen und Allahrufen mit ungeschwächter Kraft zur Ehre Gottes von Neuem zu beginnen.

Die mit so feierlichem Ernste aufgeführten Tänze dieser wunderlichen Asketen, die bunten belebten Gruppen der Andächtigen, deren Trachten in Farbenreichthum mit dem der ausgebreiteten Teppiche wetteiferten, der hohe erhabene Kuppelbau im feinsten Alabaster mit der magisch wirkenden Beleuchtung – welch’ ein wunderbares, märchenhaft wirkendes Bild des Ostens! In den Capellennischen zwitscherten und sangen unzählige dort nistende Vögel, die von dem hellen Kerzenschein aus der Ruhe der Nacht aufgescheucht waren; von draußen aber erklang durch das offene Portal zu Ehren des Kronprinzen eine rauschende Janitscharenmusik. Die wild aufwirbelnden, schmetternden Töne standen in vollstem Einklang mit den religiösen Tänzen der fanatischen Diener Allahs.

W. Gentz.




Blätter und Blüthen.

Norton der Erste, der Kaiser von den Vereinigten Staaten. Eine auffallende Erscheinung in den Straßen San Francisco’s ist der Kaiser Norton der Erste, eine Persönlichkeit, welche in sonderbarer Uniform gravitätisch dahergeschritten kommt und von Jedermann mit vorzüglicher Hochachtung betrachtet wird.

Herr Norton ist von Herkunft ein englischer Jude und einer der sogenannten „Pioniere“ (erste Ansiedler) Californiens. Im Jahre 1852 war er einer der wohlhabendsten Kaufleute von San Francisco, verlor aber bald darauf sein ganzes Vermögen in einem der verheerenden Brände, welche in früheren Jahren diese Stadt wiederholt einäscherten. In Folge dieses Unglücks zerrütteten sich die Verstandeskräfte des sonst gebildeten Mannes und es stellte sich bei ihm die fixe Idee fest, daß er der Kaiser der Vereinigten Staaten sei, der hier in San Francisco seine Residenz aufgeschlagen hätte. Er erklärte dieses öffentlich und verlangte bestimmt, man solle ihn seiner hohen Würde entsprechend behandeln. Vor Allem bestand er darauf, daß jedermann ihm tributpflichtig sei, sammelte Abgaben ein, aß und trank etc. wo und was er wollte, ohne je einen Cent dafür zu bezahlen.

Die San Franciscaner waren höchlichst erstaunt über den wunderbaren Gesellen, ohne jedoch ungehalten wegen seiner Forderungen zu werden; statt, wie in anderen Ländern und Städten geschehen wäre, Norton in ein Irrenhaus zu schicken, erkannte man in der in Geldangelegenheiten beispiellos liberalen Stadt San Francisco auf gutmüthige Weise seine kaiserlichen Ansprüche an, zahlte, was er verlangte, und behandelte ihn seiner hohen Würde entsprechend – und so geschieht es noch heute.

Norton behauptet mit dem ernstesten Gesicht von der Welt, mit den meisten fürstlichen Familien Europas verwandt zu sein. Die Königin Victoria nennt er seine liebe Cousine, den Kaiser von Oesterreich seinen Vetter. Mit den Bourbonen ist er besonders nahe verwandt und haßt den Kaiser Napoleon den Dritten als einen Eindringling im tiefsten Grunde seiner Seele. Auch will er nichts davon wissen, daß er ein Jude sei. „Wie kann ich, Norton der Erste, der Kaiser von den Vereinigten Staaten,“ sagt er, „ein Jude sein, der ich mit der königlichen Familie der Bourbonen so nahe verwandt bin, die, wie doch Jedermann weiß, keine Juden sind?“

Der Kaiser Norton der Erste, der ein unverwüstlicher Spaziergänger ist, erscheint stets in Uniform, in blau-grünem Waffenrock, blauen Hosen, schweren Goldepaulettes und Generalshut mit Reiherfeder. Einen Schleppsäbel trägt er nur bei feierlichen Gelegenheiten, und zieht einen gewichtigen Knotenstock jenem gewöhnlich vor. Stets trägt er eine rothe Rose im Knopfloch. Sein Schuhzeug ist immer zerrissen und eines Kaisers durchaus unwerth. Der Grund dazu ist der, daß er stark an Hühneraugen leidet und sich die neuen Schuhe immer gleich zerschneidet, um bequemer darin gehen zu können.

Gelegentlich besucht er die Banquiers und Kaufmannsfirmen von San Francisco, um Abgaben einzutreiben. Er bittet oder bettelt keineswegs um Geld, sondern verlangt es auf sehr bestimmte Weise und droht mit Execution, falls man Miene macht ihn abzuweisen. Seine Forderungen beschränken sich in der Regel auf zwei und ein halb Dollars, doch treibt er mitunter bis zu zehn Dollars von einer Firma ein. Selten kommt es vor, daß Jemand ihm den Tribut verweigert. Für die so erlangten Summen stellt er Empfangsscheine aus, mit einem großen Siegel, auf welchem die Worte stehen: „Norton I., Emperor of the United States“. Für kleinere Summen als zwei und ein bald Dollars, die er von Bekannten und Freunden täglich eintreibt, stellte er keine Empfangsscheine aus. Das Geld, welches er einnimmt und wofür er absolut gar keinen Gebrauch hat, verschenkt er an Arme, da er als Kaiser seine hülfsbedürftigen Unterthanen nicht Noth leiden läßt.

Wünscht Seine Majestät zu speisen, so tritt er in das erste beste Restaurant oder er geht in einen Speisesaal von einem der großen Hôtels der Stadt, commandirt die Kellner mit lauter Stimme zu seiner Bedienung und bestellt sich nach der Karte eine gute Mahlzeit. In einem Restaurant nimmt er mitunter an einer Tafel Platz, an der eine Gesellschaft von Damen und Herren vom Lande speist, stellt sich denselben als Kaiser Norton der Erste vor und schnauzt die Kellner grimmig an, wenn sie nicht flink genug bei der Hand sind. Man kann sich das Erstaunen mancher Schönen vom Lande über die kaiserliche Bekanntschaft wohl vorstellen! Wenn er seine Mahlzeit beendigt hat und bei guter Laune ist, geht er zum Wirth und fragt ihn, ob er eine Quittung wünscht, der ihm höflich antworten wird: „never mind, Emperor!“ (ist nicht nöthig, Herr Kaiser.) In der Regel entfernt er sich aber, ohne ein Wort zu sagen, und es wird Niemandem einfallen, ihn aufzuhalten und um Geld zu fragen.

Auf ähnliche Weise holt er sich seinen Tribut von Cigarren aus irgend einem Cigarrenladen, versorgt sich in den Schnitt- und Ellenwaarengeschäften mit Leibwäsche, Taschentüchern, Strümpfen etc. besucht die Trinksalons, Theater und andere Vergnügungsorte in der Stadt und Umgegend, fährt in den Straßenwaggons etc. ohne je einen Cent dafür auszugeben. Sonntags besucht er die Kirchen in Gala, da er sehr religiös ist. Wird seine Uniform etwas schäbig, so läßt er in den Hauptzeitungen der Stadt anzeigen, daß er, der Kaiser Norten der Erste, eine neue Uniform haben will, die denn auch sofort durch Subscription angeschafft wird.

Früher pflegte Norton immer in Begleitung von zwei großen Hunden, mit Namen „Lazarus“ und „Bummer“, spazieren zu gehen, die er auch mit in die Restaurants nahm und dort mit den besten Bissen von der Speisetafel fütterte. Voriges Jahr starben sowohl Lazarus als Bummer, und er veranstaltete ihnen zu Ehren ein großartiges Leichenbegängniß, wobei Viele zu Fuß und in Kutschen folgten. Lazarus wurde später ausgestopft und ist jetzt in dem Speisehaus zu sehen, wo der Kaiser Norton der Erste sein freies zweites Frühstück einzunehmen pflegt.

San Francisco, im Juni 1869. Theodor Kirchhoff.




Ein Feind weniger. Es ist eine ziemlich allgemeine Annahme, daß das Leuchtgas, wenn es aus seinen unterirdischen Leitungen entschlüpft und sich im benachbarten Erdreich verbreitet, den etwa da stehenden Bäumen verderblich sei. Man hat in diesem Sinne hie und da schon Maßregeln ergriffen, um die vermeintliche Gefahr abzuwenden, namentlich durch Anlegung von Mauerwerk, welches das Gas von den Baumwurzeln abhalten soll. Es liegt allerdings nahe genug, einen solchen Verdacht auf den bösen Steinkohlengeist zu werfen, der ja alles lebendigen Feind ist und dem Menschen selbst, sei es im plötzlichen Ueberfall oder in schleichender Tücke, an’s Leben geht. Indeß scheint es nun doch erwiesen, daß das Gas wenigstens dem Pflanzenleben nicht schädlich und an dem Eingeben der Bäume unschuldig ist. Herr Dr. Poselger in Berlin hat diese Erfahrung durch Versuche gemacht, die man wohl gründlich nennen kann, und über den Gegenstand eine Denkschrift veröffentlicht. Es wurden im Jahre 1866 in einen länglichen mit Erde gefüllten Kasten acht junge Bäumchen gepflanzt, Linden, Kastanien, Buchen, Eichen und im Sommer des folgenden Jahres, wo sie in bester Vegetation standen, dem Versuche mit Gas unterworfen. Durch die Länge des Kastens zog sich ein Blechrohr, das, soweit es innerhalb lag, mit feinen Löchern durchbohrt war. Wurde nun die eine Mündung mit einem Kork verstopft und in die andere Gas eingeleitet, so mußte dieses nothwendig seinen Ausgang durch die Erdschicht suchen und mit den Wurzeln der Gewächse in directe Berührung kommen.

In dieser Art wurde durch vierzig Juli- und Augusttage experimentirt, täglich speiste der Gummischlauch den Kasten drei Stunden lang mit Gas und die Gewächse befanden sich somit in einem so abnormen Zustande, wie er sich in gleicher Stärke und Dauer durch gelegentliche Gasentweichungen gar nicht bilden kann. Bei alledem zeigten sich die Bäumchen durch das Experiment nicht im geringsten geschädigt oder belästigt, sie fuhren fort, sich frisch und kräftig zu entwickeln, nicht nur durch die ganze Prüfungszeit, sondern auch später und den Sommer 1868 hindurch. Hiernach zu urtheilen, wären die Ursachen des Baumtodes durch die Gasbeleuchtung um keine neue vermehrt worden; sie sind aber für Bäume auf städtischen Promenaden etc. ohnehin häufiger als in der freien Natur. Es kommen dabei in Betracht: schlechter Boden, sei er dies schon gewesen oder dadurch geworden, daß der Baum die Nahrungsstoffe in seinem Bereich mit der Zeit völlig erschöpft hat. In diesem Betracht sind Ummauerungen zur Abhaltung von Gas geradezu schädlich, denn sie hindern den Baum mit seinen Wurzeln nach Nahrung weiter auszugreifen. Mangel an Bewässerung in Zeiten der Hitze ist in nicht wenigen Fällen, besonders wo festgetretene Wege oder Pflasterung den Regen nicht eindringen lassen, ein anderer Grund, daß die Bäume kümmern und zeitig im Jahre das Laub verlieren. Endlich leiden sie da, wo viele Menschen passiren, nur zu häufig durch Verunreinigung, welche die Bäume rinden- und wurzelfaul macht und sie mit der Zeit ebenso zum Absterben bringt, wie dies mit einem in gleicher Weise heimgesuchten Rasen sehr bald geschieht.




Die Thränen der Mutter (Nr. 29 der Gartenlaube) sind zu unserer innigen Freude getrocknet worden; unsere Bitte ist durch die vollkommenste Beruhigung des geängsteten Mutterherzens erledigt.


Inhalt: Reichsgräfin Gisela. Von E. Marlitt. (Schluß.) – Wild-, Wald- und Waidmannsbilder. Von Guido Hammer. Nr. 30. Ein Verhängnißvoller Jagdmorgen. Mit Abbildung. – Verlassen und Verloren. Historische Erzählung aus dem Spessart. Von Levin Schücking (Fortsetzung.) – Ein Hamburger als König der Mainotten. Von Ritter v. Zerboni di Sposetti. – Christliche Patriarchen und muhamedanische Studenten. Mit Abbildung. – Blätter und Blüthen: Norton der Erste. – Ein Feind weniger. – Die Thränen der Mutter.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.