Textdaten
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Autor: Hugo Scheube
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Titel: Im Grabe der Verschütteten
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 44, 45, S. 699–701, 712–715
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Anschlußbericht an die Reportage Die schlagenden Wetter bei Burgk
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Im Grabe der Verschütteten.

„– – – – Es freue sich,
Wer da athmet im rosigen Licht.“

– so rief ich mit Schiller aus von Herzensgrund

„und athmete lang und athmete tief
Und begrüßte das himmlische Licht,“

gestern als ich aus dem Schooße der Erde wieder emporstieg zum Lichte des Tages. Freilich war’s nicht besonders rosig und auch nicht gerade sehr himmlisch, dies Licht, und die Luft nicht gar rein und erquicklich, im Gegentheil Licht und Luft und Alles ringsum war äußerst trüb und qualmig, rauch- und ruß- und dampferfüllt und sah recht schwarz und schmutzig aus – wie es im Maschinenhause eines Kohlenwerkes eben zu sein und auszusehen pflegt. Denn hier, und zwar in jener unheimlichen Kaue des Burgker Segengottesschachtes traurigen Andenkens war es, wo ich, nach stundenlanger Wanderung durch nachtfinstere Strecken und Schächte und nach den eigentlichen Unglücks- und Todtenstätten, wieder zu Tage fuhr, auf dem nämlichen Gestelle und von dem nämlichen Hebewerke emporgezogen aus der grausigen Tiefe von mehr als siebenzehnhundert Fuß, die ich vor zwei Monaten die schauerlich verstümmelten Opfer der schlagenden Wetter hatte zu Tage fördern sehen.

Am liebsten hätte ich die unterirdische Reise unmittelbar nach der Katastrophe selbst gemacht, auf den frischen Spuren der Verheerung, allein auf meine desfällige Anfrage an der betreffenden Stelle war ich beschieden worden, vor der Hand von meinem Vorhaben abzustehen; das Unternehmen sei augenblicklich noch mit zu vielen Gefahren verknüpft. Ich mußte mich also in Geduld fassen, bis mir ein höherer Beamter der Werke, ein wissenschaftlich gebildeter und liebenswürdiger junger Mann, schrieb:

„Kommen Sie jetzt. Es wird mir zum Vergnügen gereichen, in der Tiefe Ihr Cicerone zu sein.“

Zum vierten Male schlug ich denn gestern den Weg zum Burgker Huthause ein.

Nicht ohne eine tiefe innere Bewegung schritt ich, an dem im Erdgeschoß gelegenen großen Betsaale vorüber, die Treppe zum oberen Stockwerte hinauf, wo in einem der daselbst untergebrachten Bureaux schon alle Einleitungen zu meiner Expedition in’s Erdinnere getroffen waren. Zunächst hatte ich Einsicht zu nehmen von einem zu meiner Instruction ausgebreiteten speciellen Grundrisse der beiden verbundenen Werke „Neue Hoffnung“ und „Segen Gottes“, um nicht nur ein Bild zu gewinnen von Lage und Umfang der unter den Fluren verschiedener Dorfschaften sich stundenweit erstreckenden Gruben, sowie von den bereits abgebauten und den noch im Bau befindlichen Kohlenflözen – soweit sich ein Laie in dem complicirten Plane zurecht finden kann – sondern und namentlich auch, um mich über Richtung und Ausdehnung des Weges zu orientiren, den wir durch die finstere Tiefe verfolgen wollten. Dann begann die – Einkleidungsscene. Die Castellanin des Gebäudes, ein freundliches altes Mütterchen. brachte das unerläßliche Bergmannshabit herbei, und wie sie, mich dünkte mit einem still sorglichen Blicke, mich ansah, während sie Stück für Stück des Costümes ausbreitete, die weite schwarze Baumwollhose, die Blouse mit dem kurzen Kragen und den vielen Knöpfen, den niedrigen krämpenlosen Filzhut und das bekannte namenlose Leder, Alles mit mancherlei Zeichen häufigen Gebrauchs, – da, ich scheue mich nicht es zu bekennen, fing mir das Herz doch gar bänglich zu klopfen an. Eine Fahrt in den Tiefbau des Kohlenschachtes bleibt für den Bergmann jedesmal gewissermaßen ein „Rechnungsabschluß mit dem Himmel“, um wie viel unheimlicher und schreckensvoller muß einem Laien eine solche Einfahrt erscheinen!

Aber – das A war einmal gesagt, das B mußte somit folgen, wollte ich mich und meinen Muth in den Augen meines bergmännischen Freundes nicht total discreditiren. So rasch und tapfer, wie es gehen wollte, legte ich denn das schwarze Habit an, trat unter der Aegide meines Cicerone mit thunlichst festem Schritte in’s Freie hinaus und suchte, wenn uns, wie das mehrfach geschah, zur Schicht fahrende oder von der Schicht kommende Bergleute begegneten, die meist den ihnen unbekannten neuen Cameraden neugierig musterten, meine – Befangenheit hinter einem möglichst herzhaften „Glückauf!“ zu verstecken.

„Wir fahren zur Tagesstrecke ein,“ hob mein Mentor an. „Sie bekommen dadurch den besten Begriff von Ausdehnung und Beschaffenheit der beiden Werke. Unter ‚Strecken‘,“ setzte er belehrend hinzu, „verstehen wir bekanntlich jeden auf eine größere Länge ausgehauenen Raum von annähernd regelmäßigem rechtwinkligem Querschnitt. Dienen diese Strecken, welche je nach ihrer Richtung, die sie im Flötze einnehmen, flache, streichende oder diagonale sein können, einem bestimmten Zwecke, zum Beispiel der Wetter- oder Luftführung, der Fahrung, der Kohlenförderung etc., so heißen sie Wetter-, Fahr-, Förderstrecke etc. Die Tagesstrecke endlich ist der an der Bodenoberfläche, vom Tage aus allmählich in die Tiefe hinabführende Weg, welchen der Bergmann zurücklegen muß, um zu seinem Arbeitsplatze zu gelangen.“

Die Mündung dieser Tagesstrecke des Neuen-Hoffnungs-Schachtes befindet sich in der nächsten Nachbarschaft des Dorfes Burgk, unweit jener Schenke, wo ich meinen letzten Bericht von der Unglücksstätte niederschrieb. Ueber dem Eingange in das geheimnißvolle Herz der Erde ist ein Häuschen erbaut, in welchem die nöthigen Beleuchtungsapparate und Werkzeuge aufbewahrt werden. Wir versahen uns hier mit unsern „Blenden“, den kleinen Grubenlaternen, und befestigten dieselben an einen um den Hals geschnallten Lederriemen; mein Begleiter nahm außerdem noch zwei von den in großer Anzahl auf einem Tische umherstehenden drahtgeschützten Sicherheitslampen in die Hand, bewaffnete sich mit einem Stecken und stieß die Pforte auf, durch welche man hinabsteigt in die Unterwelt.

„Haben Sie keine Angst,“ sagte mein Begleiter lächelnd, als er meine bedenkliche Miene sah, „die Sache sieht gefährlicher aus, als sie ist. Die Sicherheitslampen aber, die Ihnen Scrupel zu erregen scheinen, die habe ich lediglich zu Ihrer Beruhigung mitgenommen; wir brauchten sie kaum, denn von bösen Wettern hat sich jetzt keine Spur mehr gezeigt. Aber wollen Sie nicht lieber auch einen Stock mitnehmen? Er wird Ihnen die Fahrt sehr erleichtern“.

Ich wandte mich sofort, einen handfesten Stab zu holen, welchen ich oben bei den Lampen hatte liegen sehen. Mit einer gewissen Hast hielt mich mein Führer zurück.

„Bitte, nicht umkehren!“ sagte er. „Wir Bergleute sind abergläubisch, und Umkehren bedeutet Unglück. Ich werde den Mann oben rufen, daß er Ihnen den Stecken bringt.“

Die Stütze kam, und nun that ich den ersten Schritt in die Tiefe hinab, ziemlich unsicher und zaghaft, das leugne ich nicht. Der Weg war indeß wirklich minder unbequem, als ich mir es vorgestellt hatte. Ueber Hunderte und Aberhunderte von hölzernen Stufen – wie vielen kann ich nicht angeben, denn leider habe ich in meiner Aufregung sie zu zählen vergessen, aber sie erschienen mir endlos – fuhren wir hinab. Noch konnte ich, mich umwendend, den kleinen Schimmer von Tageslicht bemerken, der durch die offen gelassene Eingangsthür hereinfiel, und so lange dünkte es mich, als habe ich noch Fühlung mit der hellen, freudigen Außenwelt da droben, als sei ich noch nicht rettungslos in den Eingeweiden der Erde begraben. Doch, wie ich mich kurz darauf von Neuem umschaute – ach, da war der tröstliche Schein verschwunden und ringsum Nacht, nichts als Nacht, in welcher blos die schwachen Oelflämmchen unserer Blenden und die beiden Sicherheitslampen meines Gefährten unmittelbar um uns herum einen matten Lichtkreis beschrieben, gerade so groß, daß ich erkennen konnte, wie eng, wie drückend, sargartig eng das Gewölbe war, das sich über unseren sich neigenden Köpfen aufmauerte. Gott im Himmel! es war, als zersprengte es mir die Brust! Ich konnte kaum athmen, und meine Füße schlotterten, als sie sich die von durchsickerndem Wasser gefährlich schlüpfrigen Stufen hinabtasteten. Ab und zu, stets aber nur auf kurze Distanzen, erweiterte sich wohl einmal das Gewölbe, nach der Höhe wie nach der Breite.

„Das ist neueres Mauerwerk,“ erklärte mein Begleiter. „Der Hoffnungsschacht ist schon in den zwanziger Jahren angelegt und allmählich immer weiter hinab abgeteuft worden; damals begnügte man sich noch mit sehr engen, schmalen Gängen. Wenn Sie nachher in das Segengotteswerk kommen, unsere Puppe, das [700] ziemlich jungen Datums ist und bei welchem alle für derartige Bauten inzwischen ersonnene Verbesserungen angewandt worden sind, da werden Sie ganz andere Gewölbe finden. Dort soll es Ihnen etwas freier um die Brust werden,“ schloß er und lächelte von Neuem.

Mittlerweile wuchs die Hitze von Schritt zu Schritt. Der Schweiß floß mir schon vom Gesicht und gab, verbunden mit dem Kohlenstaube und dem mich gelegentlich betröpfelnden Sickerwasser, wie ich nachmals bemerkte, mir ein vollständig feuerrüpelhaftes Ansehen. Meine rechte Hand, welche sich ängstlich an dem neben den Stufen hinlaufenden Geländer anklammerte, von dem begreiflicher Weise nicht jeden Morgen der Ruß abgekehrt wird, glich schon lange der eines in der Wolle gefärbten Congonegers. Plötzlich hörte ich hinter mir ein dumpf durch die Strecke dröhnendes Gepolter. Rasch wandte ich mich um und sah hinter uns zwei feurige Punkte glühen, die, so däuchte mir, mit rasender Geschwindigkeit und unter immer lauterem Gepolter auf uns zugesaust kamen.

„Das sind Anschläger,“ nahm mein Genosse wiederum das Wort, „die zur Schicht fahren. Wie Sie wissen, bezeichnen wir mit dem Ausdruck ‚Anschläger‛ diejenige Kategorie unserer Arbeiter, welche unten am Füllorte des Schachtes mittels eines Hebels die Signale zum Heraufziehen der gefüllten Hunde oder anderer zu Tage zu fördernder Transporte zu geben hat. Gleichzeitig notirt der Anschläger auf an den Füllorten angebrachten großen Tafeln die Quantität der von den Häuern losgebrochenen und von den Förderleuten in die Wagen gefüllten Kohle. Seine Arbeit ist minder anstrengend, als die der übrigen Grubenleute; deshalb währt seine Schicht, das heißt sein Tagewerk, auch nicht blos acht, sondern zwölf Stunden. Diese da, die uns nun bald überholt haben werden, fahren zur zweiten Schicht, welche um vier Uhr Nachmittags beginnt und folglich andern Morgens um vier Uhr endet.“

„Glückauf! Glückauf!“ erschallte es jetzt um uns. Die beiden Anschläger hatten uns erreicht, und ehe ich die Leute beim Lichte unserer Blenden nur etwas hatte in’s Auge fassen können, waren sie an uns vorüber gestürmt, und bald schimmerten ihre Grubenlampen als ein paar verglimmende Pünktchen schon tief unter uns. Die Gewohnheit ist die größte Lehrmeisterin.

„Die fänden den Weg auch ohne ihre Blenden,“ meinte der mich geleitende Einfahrer, „und ich selbst könnte es auch! Diese Strecken, diese Gänge und Gewölbe, welche Ihnen jedenfalls wie ein Labyrinth erscheinen, sind eben unser eigentlicher Heimathsboden, unser tagtäglicher und nachtnächtlicher Tummelplatz.“

Puff! Puff! krachte es mit einem Male und wie Donner grollte es durch die Strecke.

„Beruhigen Sie sich,“ lachte mein Begleiter; „der Schall ist sehr harmlosen Ursprungs, es war nur der Wiederhall einer Wetterthür, welche die Anschläger geöffnet und etwas unsanft wieder zugestoßen haben. Wir werden bald selbst bis dahin ‚gefahren‛ sein.“

Bekanntlich ist der Bergmann ein gar vornehmer Herr; zu Fuß geht er nie, er „fährt“ stets.

Alles in der Welt hat sein Ende, so auch die Stufen im Hoffnungsschachte. Aber wir waren damit um nichts gebessert, im Gegentheile. An ihre Stelle traten nun gewöhnliche Planken, über die zur Stütze der Füße in regelmäßigen Zwischenräumen kleine Querbretter genagelt waren. Die „Fahrt“ wurde daher immer beschwerlicher, um so mehr, als die Feuchtigkeit des Terrains zunahm und schließlich der hölzerne Steig schwankte, als sei er über einen Sumpf gelegt, dessen Quell ich unten in einiger Entfernung schon gurgeln hörte. Ohne meinen Stab wäre ich mehr als einmal zu Falle gekommen, bis ich, nach der Unterweisung meines vorausfahrenden Demonstrators, gelernt hatte, den Ballen des Fußes fest wider die Querbrettchen zu stemmen und derart das Ausgleiten zu verhindern. Ueberdies war die Temperatur fast bis zum Unerträglichen gestiegen; ich hatte im wörtlichsten Sinne keinen trocknen Faden mehr am Leibe, da ich das Grubenhabit zum Theil über meinen eignen Kleidern trug, und die Kehle brannte mir vor Durst. Für einen Schluck Bier hätte ich wer weiß was gegeben.

„Wir nähern uns jetzt dem heißesten Punkte,“ sagte mein Führer; „das Klima steht dort mindestens auf zwanzig Grad Réaumur – im ewigen Schatten, der hier unten herrscht. Doch besehen Sie sich die Strecke, die sich hier links abzweigt. Es ist die ungefähr dreihundert und zwanzig Lachter (der Lachter hat sieben Fuß) lange Wetterstrecke des obern Hoffnungsschachtes; da drinnen, etwa in der Mitte, ist die Stelle, wo jene unglücklichsten der Opfer noch mehrere Stunden nach der Explosion gelebt haben, und da an den das Holzwerk des Ganges tragenden senkrechten Pfosten, den sogenannten Stempeln, wie Sie dergleichen auf unserer Tour schon mehrfach bemerkt, standen die herzerschütternden Abschiedsworte geschrieben, welche ihren schmerzlichen Widerhall durch die ganze Welt gefunden haben; da drinnen haben wir jene Brieftasche des Untersteigers Bähr gefunden, die Sie damals selbst sahen, – – es ist der letzte Zufluchtsort gewesen, bis wohin meine armen Cameraden auf ihrem Rückzuge nach dem Ausgange haben vordringen können. Dann ist ihnen im Dunste der giftigen Schwaden die Kraft geschwunden, sich vielleicht noch zu retten, und schließlich sind sie bewußt- und schmerzlos eingeschlafen. Wenn aber öffentliche Blätter berichtet haben, auch Tags darauf seien auf dieser Strecke noch Menschen am Leben gewesen, wie das andere ähnliche letzte Scheidegrüße dargethan, und diese Leidensbeweise habe die Verwaltung unserer Grubenwerke absichtlich verheimlicht und vertuscht, so widerspricht dies der Wahrheit schnurstracks. Bei Allem, was mir heilig und lieb, kann ich Ihnen betheuern, außer jenen Aufzeichnungen und Inschriften, die wahrhaftig uns Allen bis in’s innerste Herz hineingeschnitten haben, ist auch nicht die allergeringste Spur entdeckt worden, daß irgend einer der von der Katastrophe Betroffenen die ersten Nachmittagsstunden des Montags überlebt habe.“

Sechsundachtzig Lachter weiter unten standen wir vor der ersten Wetterthür – Wetterthüren heißen die aus Holzpfosten gezimmerten und luftdicht ummauerten Thüren, welche die Wetterwege reguliren und das Einströmen der bösen und brandigen Gase in die Strecken ausschließen sollen – es war dieselbe, deren Zuschlagen ich vorhin gehört hatte.

„Hinter ihr,“ fuhr mein freundlicher Mentor fort, „auf der Strecke, in die wir nun sogleich einfahren werden, sind wir, noch in den Morgenstunden des unseligen zweiten August, auf den ersten Todten gestoßen, den Steiger Schenk. Hier, gerade da, wo wir jetzt halten, entdeckten wir seine Blende; sie brannte noch, mithin war die Luft noch nicht durchaus irrespirabel, der Mann selbst lag draußen jenseits der Thür umgesunken. Auch ich halte es für möglich, daß er sich noch hätte retten können, wenn ihm das fürchterliche Ereigniß nicht die Geistesgegenwart geraubt und die Ueberzeugung, daß seine Gefährten einem unvermeidlichen Tode verfallen seien, nicht das Bewußtsein umflort und die Willenskraft gelähmt hätten. Aber, was man damals erzählt und geschrieben hat, daß Schenk unmittelbar an der zu Tage führenden Ausgangsthür der Strecke aufgefunden worden sei, – nun, Sie sehen jetzt selbst, wie sehr das auf Irrthum beruht.“

Ich zog die Uhr unter der schwarzen Blouse hervor. Punkt drei hatten wir unsere Fahrt angetreten, jetzt war es fast dreiviertel vier Uhr. Freilich macht der Bergmann die nämliche Tour in dem vierten Theile der Zeit, welche ich, der ungeübte und zaghafte Laie, dazu gebraucht hatte, allein jedenfalls war der Weg zu Tage noch weit genug. Hätte Schenk sich jedoch nur noch die sechsundachtzig Lachter, bis jenseit der obenerwähnten nach links einbiegenden Wetterstrecke in die Höhe zu arbeiten vermocht, so wäre er schon in Sicherheit gewesen.

„Die Herren Zeitungsreferenten,“ bemerkte der Beamte weiter, „verzeihen Sie, daß ich’s sage, sind bei solchen Angaben, die sich doch auf ihnen meist ziemlich ungeläufige Verhältnisse beziehen, manchmal ein klein wenig vorschnell. Kein einziger ist ja jemals hier unten an Ort und Stelle gewesen, um von den betreffenden Entfernungen und Momenten Kenntniß zu nehmen; Sie sind der Erste, welcher das Verlangen nach einem Gange durch unsere allerdings nicht anheimelnde Unterwelt geäußert hat, und ich glaube, überhaupt der erste Nichtbergmann, der sich so weit hinabwagt in ihre schwarze Tiefe.“

Und immer noch abwärts ging es und abwärts. Stärker und stärker rauschte das Wasser, dessen unterirdischem Laufe wir uns nahten, schlüpfriger und schlüpfriger ward unsere Fahrt. Endlich gelangten wir an eine Strecke, die mir merklich breiter erschien als die bisher durchwanderten. Auf ihrem Boden zog sich ein doppeltes Geleise von Eisenbahnschienen hin, ein monotones Gerassel schlug mir an’s Ohr, und links, ganz im Hintergrunde, sah ich ein paar Grubenlichter flimmern. Wir hatten die sogenannte [701] Zwölflachterstrecke, die tiefste Hauptförderstrecke des Hoffnungsschachtes, erreicht, den Weg, welchen die mit Kohlen gefüllten Wagen oder Hunde durchlaufen, um von den „Orten“, das heißt den Stellen, wo der Häuer die Kohlen losbricht, nach dem zweiten oder untersten Füllorte des erwähnter Schachtes geschoben zu werden. Nach diesem Füllorte fördert die „über Tage“, oben in der Kaue, stehende Dampfmaschine die leeren Wagen hinab, um dafür die gefüllten Hunde in die Höhe zu ziehen. Das eine dieser beiden Geleise dient den anfahrenden kohlenbelasteten, das andere den rückkehrenden leeren Hunden als Bahn.

„Jetzt aufgepaßt!“ rief mir mein Gesellschafter zu, als das Rasseln dicht vor uns ertönte und die Grubenlichter uns vor den Augen flackerten, und zog mich auf den zwischen den beiden Schienensträngen liegenden schmalen freien Raum hinüber.

„Glückauf! Glückauf!“ grüßte er, und zwei beladene Hunde rumpelten, einer hinter dem andern, links an uns vorüber, während zu gleicher Zeit auf dem Gleise zur Rechten ein paar leere Wagen zurückbugsirt wurden. Es ist ein buchstäblich im triefenden Schweiße des Angesichts geerntetes Brod, dies Schieben der vollen Kohlenkarren, welches den Förderleuten obliegt. Die aus dicken Bohlen zusammengefügten, mit Eisen schwer beschlagenen Hunde wiegen jeder seine sieben Centner, und ihre Last beträgt durchschnittlich drei Tonnen oder zwölf Centner; der Fördermann muß deshalb alle seine Sehnen anspannen, muß sich mit der ganzen Wucht seiner Arme gegen die Rückwand des Wagens stemmen und die Füße so fest wie er vermag auf den Boden aufsetzen, um das Vehikel auf den Schienen weiter zu schieben. Dazu herrschte, trotz des frischen Wetterzuges, in dieser Förderstrecke noch immer die Temperatur eines russischen Bades, so daß die Arbeiter ihr Werk splitternackt verrichten. Nur der Kopf ist mit dem dicken Bergmannsfilze bedeckt, an welchen das Grubenlicht befestigt wird, und das bekannte Leder mit dem verpönten Namen um einen andern Körpertheil geschnallt.

Unablässig hatten wir fortan dergleichen Transporten auszuweichen. „Auf’s linke, auf’s rechte Geleis!“ commandirte mein Beschützer fortwährend, je nachdem wir bald vor einem vollen, bald vor einem leeren Wagen zur Seite flüchten mußten. Ich hatte, so zu sagen, auf dem „Qui vive?“ zu stehen, um nicht überfahren zu werden. Sie machen einen ganz eigenthümlich unheimlichen, dämonischen Eindruck, diese Begegnungen, die etwas Gespensterhaftes haben, man wähnt sich in die Schattenwelt des Tartarus versetzt, um Ewigkeiten geschieden vom wonnesamen Dasein im Lichte der Sonne.

Nach etwa zehn Minuten „Fahrens“, wobei ich mir an den die Decke der Strecke stützenden Stempeln unterschiedliche Male beinahe den Kopf eingerannt hätte oder wenigstens mein Grubenhut in Bedrängniß gerathen war, und unser erster Rastpunkt, nach fünfviertelstündiger anstrengender Fahrt, jener untere Füllort des Neuen-Hoffnungsschachtes, nahm uns auf.

„Sie sehen hier zwei Aufzüge oder Förderschachte, einen dicht neben dem anderen,“ begann mein Geleiter seine weiteren Belehrungen. „Der Hoffnungsschacht besitzt nämlich zwei kleinere Dampfmaschinen von je sechszehn Pferdekräften etwa, während auf Segen-Gottes eine einzige gewaltige Maschine von hundertundzwanzig Pferden arbeitet. So können hier immer zu gleicher Zeit zwei gefüllte Hunde auf- und zwei leere niedergefördert werden. Der Förderschacht hier zur rechten Hand war allerdings, einer Reparatur halber, an unserem Unglückstage mit Brettern zugeschlagen oder ‚verbühnt‛, wie wir das nennen, keineswegs jedoch der ganze Schacht, wie das von der Presse uns zur Last gelegt worden ist. Die Luftcirculation, die Ausförderung der bösen Wetter, die in der Regel durch den Hoffnungsschacht geschieht, war mithin keineswegs abgeschnitten, da ja die linke Schachtabtheilung vollkommen frei und offen lag. Ohnedem waren in den Seitenwänden der Verbühnung regelmäßige Lücken gelassen, damit die Ventilation im Zuge blieb.“

„Es fällt mir nicht ein, zu behaupten,“ fuhr er fort, „daß alle unsere Einrichtungen mustergültig gewesen wären, ich gebe vielmehr zu, daß wir, wie das ja immer und überall so zu gehen pflegt, durch langes Glück zu sicher geworden waren und vielleicht eine und die andere Unzuträglichkeit geduldet hatten, die mit Schuld tragen können, daß das Unglück so entsetzliche Dimensionen angenommen hat, allein daß manche der Anklagen wenigstens, welche Presse und Publicum wider uns erhoben haben, vor der genaueren Prüfung nicht Stich halten, davon, denke ich, haben Sie sich jetzt durch den Augenschein überzeugt.“

„Und noch Eines,“ erläuterte der Einfahrer ferner. „Auch die Gartenlaube hat von dem Wagniß des jungen Paul erzählt, der in edler Regung seines Herzens zwar, aber unbesonnen und allen Warnungen zum Trotz, den Hoffnungsschacht, dort, wo Sie unter dem Hebewerk die steile Leiter emporsteigen sehen, ganz kurz nach der Katastrophe befahren wollte. Etwa acht Lachter – sechsundfünfzig Fuß – unter der Erdoberfläche ward er bewußtlos aufgefunden und hat dann, jedenfalls noch in Nachwirkung seiner Angst und Betäubung, von Rufen gesprochen, die er aus jener Wetterstrecke heraus, deren Mündung wir oben passirt und in welcher wirklich bis zum Nachmittage noch einige wenige Unglückliche gelebt haben, vernommen zu haben glaubte. Nun, Sie kennen jetzt die Entfernungen. Von der Stelle, wo Paul lag, bis zu der gedachten Wetterstrecke, welche die Wetter nach dem ersten oberen Füllorte des Hoffnungswerkes führt, sind es gerade vierhundertneunundfünfzig Lachter; die Strecke selbst ist, wie ich Ihnen bereits gesagt und wie Sie aus dem Grundriß ersehen, dreihundertundzwanzig Lachter lang, Paul müßte folglich jenes Hülfsgeschrei aus einer Entfernung von fast siebenhundertachtzig Lachtern oder fünftausendvierhundertundneunzig Fuß, eine halbe Stunde weit, und das nicht etwa in freiem Raum, wo der Schallleitung nichts im denn Weg tritt, sondern durch eine Menge von Zwischenwänden, durch Krümmungen und Windungen hindurch gehört haben. Halten Sie das für möglich? Uebrigens ist trotz der Unglaublichkeit der Aussage der Schacht sofort, und zwar in allen Theilen befahren und durchforscht, jedoch Niemand entdeckt worden, der gerufen haben konnte.“

Dagegen fand man hier an dem Füllorte, den wir soeben betrachteten, die Leichen von elf Förderleuten und zwei Anschlägern in einer Gruppe dicht neben einander liegen – es waren jene dreizehn Todte, die ich vor zwei Monaten zuerst, im Schuppen des Hoffnungsschachtes, gesehen. Der Todesengel hatte sie mit schneller, sanfter Hand berührt; zwar geschwärzt von Rauch und Qualm, aufgedunsen durch die Gase, waren doch sämmtliche der dreizehn unverstümmelt und einige sahen aus, als schlummerten sie süß. Der eine der beiden Anschläger hatte noch die rechte Hand am Hebel, als wolle er das Signal zum Auffördern geben. Er hätte sich retten können, wenn er anschlug oder im Fahrschachte daneben zu Tage stieg – doch er wollte warten, „vielleicht möchten noch mehrere seiner Cameraden kommen und sich auch mit hinaufziehen lassen wollen.“ Dies sind die Worte des wackeren Mannes gewesen; die beiden Zimmerlinge, welche noch Zeit fanden, sich durch den gedachten Schacht in Sicherheit zu bringen, haben sie uns überliefert.

[712] „Jetzt einmal eine Excursion da rechts hinein!“ sprach mein Cicerone im Orcus. Ich sah nach der angedeuteten Richtung hinab; da unten blitzten zwei Lichterchen herauf. In ein paar Augenblicken hatten wir sie erreicht. Wir waren „vor Ort“, mitten drin in einer ansehnlichen, hohen, gerundeten Höhle, die man aus dem Kohlenflötze herausgearbeitet hatte, und Decke und Wände der Grotte glänzten von den schönsten, massiven, schwarzen Diamanten.

„Glückauf! Glückauf!“ rief’s von Neuem herüber und hinüber. Zwei Häuer, schon ziemlich bejahrte Gesellen, hatten hier ihr mächtiges Arbeitsfeld; um einen weiteren Umblick zu haben, trugen sie ihre Blenden hoch oben an den Hüten, und die umherliegenden Kohlenblöcke und ein hinter ihnen gefüllt stehender Korb bekundeten, daß sie ihre Schicht tüchtig ausnützten. Diese Körbe holen dann die Förderleute ab und entleeren dieselben in die oben auf der Förderstrecke bereitgestellten Wagen. Das Werkzeug des Häuers, das „Gezähe“, wie es in der Bergmannssprache heißt, ist sehr einfacher Art; sein Hauptinstrument bildet die Keilhaue. Mit derselben schlägt er unter die abzubauende Kohlenmasse zunächst einen horizontalen, anderthalbe Elle tiefen Einschnitt, den Schram. In diesen wird alsdann mittels eines eisernen Bohrers ein etwa sechsunddreißig Zoll tiefes und drei Viertel Zoll weites Loch ausgegraben, in welches die an die Zündnadel, einen Eisenstab, gespießte, zwölf Zoll lange Pulverpatrone zu liegen kommt. Oben rammt man das Bohrloch mit einer festen Masse zu, „besetzt“ es, wie das Kunstwort lautet. Aus Patrone und Besatz wird hierauf die Zündnadel wieder herausgezogen und so der Zündcanal gewonnen. Eine Rakete bewirkt schließlich die Explosion, durch welche die Kohlenblöcke von der Wand losgesprengt werden. Damit nun aber Decke und Wände der ausgehöhlten Grotte nicht am Ende einstürzen, wenn sie der stützenden unteren Kohlenschichten beraubt sind, schlägt der Häuer, je weiter er im Abbauen vorrückt, immer mehr Träger oder Stempel, dicke Holzpfosten, ein, welche einem Zusammenbrechen des Gewölbes vorbeugen.

Von noch zwei oder drei solchen „Orten“, an deren jedem stets blos zwei Häuer zu arbeiten pflegen, sahen wir auf unserer Weiterfahrt die Blenden heraufblinken, alle anderen lagen abseits unserer Tour, in den von uns nicht berührten Seitenstrecken, viele schon weiter oben. Solcher „Orte“ oder Arbeitsstellen zur Kohlengewinnung enthält das Neue-Hoffnungswerk augenblicklich vierzig, ebenso viele der Segen-Gottesschacht, doch können noch mehrere „belegt“, d. h. von Arbeitern abgebaut werden. Da nun vor jedem „Orte“ immer zwei Häuer während einer Schicht beschäftigt sind und die Tagesarbeit in drei Schichten eingetheilt ist, so ergiebt sich hieraus für jedes der beiden Werke eine Gesammtzahl von zweihundertundvierzig Häuern.

Das Quantum von Kohle, welches ein Häuer pro Schicht gewinnen kann, ist natürlich hauptsächlich von der festeren oder weicheren Beschaffenheit des Kohlenflötzes abhängig, im Durchschnitt läßt sich indeß annehmen, daß ein geübter Häuer während einer achtstündigen Schicht fünf bis sechs Tonnen Kohle losbricht. Sonach würden die beiden vereinten Gruben täglich die erkleckliche Summe von zweitausendvierhundert bis zweitausendneunhundert Tonnen Kohle liefern.

Bis jetzt hatte ich von der durch das Unglück verursachten Zerstörung nur wenige Spuren zu Gesicht bekommen, höchstens sah ich dann und wann an einem neuen Deckenbalken da und dort an einem frischen Stempel, daß das Zimmerwerk theilweise zertrümmert [713] gewesen war. Bis in das Innere des Hoffnungsschachts herein waren wohl die tödtlichen Gase, nicht aber die eigentlichen zerschmetternden Schlagwetter geströmt; andererseits hatte man mit bewundernswerther Thätigkeit das Getrümmer, die sogenannten Bergen, schon beseitigt, die Gänge und Strecken wieder aufgeräumt, „aufgewältigt“, das zerrissene Holzwerk durch neues ersetzt.

„Sie werden später in der Nähe vom Flachen Nr. 9 noch Reste der damaligen Verheerung erblicken, die Ihnen freilich nur ein mattes Bild des furchtbaren Chaos geben, in welches die Katastrophe diese Strecken hier verwandelt hatte.“

„Flache Nr. 9?“ frug ich. „Was heißt das? Sie sprechen in Räthseln zu mir.“

„Ja so,“ erwiderte mein Führer; „ich vergaß ganz, daß Sie Keiner vom Fache sind. Sie ‚fahren‛ schon so stramm und tapfer, daß ich Sie augenblicklich für einen bergmännischen Cameraden hielt. Nun, Flachen nennen wir Strecken, die, ungefähr zweihundert Lachter oder vierzehnhundert Fuß von einander entfernt, auf der Steigung des Flötzes in großen Längen, oft durch ein ja zwei Schachtreviere hindurch getrieben sind. Zwischen diesen verschiedenen Flachen, welche wir durch Zahlen bezeichnen, werden die einzelnen Bauabtheilungen, die Orte, gelegt von denen wir soeben einen in Augenschein genommen haben.“

Ich wandte mich, um weiter zu fahren.

„Halt!“ rief er, „noch einen Moment. Betrachten Sie sich einmal die kleine Wetterthür da zur Rechten etwas näher. Diese oder vielmehr der Umstand, daß ein nachlässiger Arbeiter sie zu schließen versäumt hatte, trägt wesentlich die Schuld an unserem unerhörten Unglücke. Durch diese Wetterthür zieht nämlich ein Theil der hier aus dem Flachen Nr. 7 ausströmenden Wetter dem Flachen Nr. 9 zu in die über der Dreiunddreißig-Lachtersohle gelegenen Baue, der leichtsinnige Mensch aber hatte durch das Offenlassen der Thür jetzt allen Wetterzug nach jenen Bauen unmöglich gemacht, und die ohnedem durch den niedrigen Barometer- und hohen Thermometerstand tiefer getretenen Gase können nur durch die verhängnißvolle Thür in die Arbeitsräume gezogen sein. Durch den von der Explosion bewirkten heftigen Stoß sind auch die Gase, welche sich in anderen Räumen angesammelt hatten, heraus- und dem frischen Wetterstrome entgegengeschleudert worden, so daß in Zeit weniger Secunden der ganze schöne Bau zertrümmert und mit ihm das Leben so vieler Menschen verloren war. Die nach der Explosion sich entwickelnden irrespirablen Gase sind durch die Flachen Nr. 9 und 10 den oberen Bauen des Hoffnungsschachtes und jener vorhin von uns berührten Wetterstrecke zugezogen. Zwischen diesen beiden Flachen hat sich die Luft noch einige Zeit so erhalten, daß die dort befindlichen Arbeiter bis zum Mittag des zweiten August leben konnten und erst durch die allmählich eindringenden brandigen Wetter umkamen. – Da haben Sie die Geschichte unsers Jammers!“

„Nun aber die Blenden bei Seite gestellt; so, hierher! “ befahl mein Geleiter. „Wir wollen jetzt einmal dem wahren Herde des Unglückes unsern Besuch abstatten, und dahin sollen uns nur die Sicherheitslampen begleiten. Sie wissen,“ suchte er mich zu ermuthigen, denn jetzt, wo wir dieser allergefährlichsten Stelle aus den Leib rückten, begann mich das Herz doch wieder etwas im Stiche zu lassen und meine Hand zitterte, als ich mein Grubenlicht vom Halsriemen löste und auf den Boden stellte, „Sie wissen, ich gebrauche diese Vorsichtsmaßregel blos Ihretwegen; ich selbst hätte kein Bedenken, auch mit dem offenen Geleuchte hineinzufahren, überzeugt, wie ich bin, daß jetzt kein Atom von bösen Wettern da drinnen lauert.“

Ich gab mir Mühe, seinen Trostworten zu glauben, es wollte mir indeß nicht recht gelingen.

„Gott! der Geruch!“ stieß ich voller Angst heraus.

„Ja, ja,“ antwortete er, „es riecht schon ein Bißchen brandig, allein das hat nichts zu sagen; so riecht’s hier immer. Nur frisch vorwärts! Kommen Sie! Die Sache hat keine Gefahr.“

„In dieser Strecke hier,“ erläuterte mein Freund weiter,. „östlich vom Flachen Nr. 9 sind die Unholde, die schlagenden Wetter, losgelassen worden, ohne Widerrede vom offenen Geleuchte eines armen Teufels von Bergmann entzündet, der ahnungs- und arglos einfuhr. Doch, halten Sie Ihre Lampe etwas tiefer, damit Sie besser wahrnehmen können, wie unsere tückischen Feinde gehaust haben.“

Da war in der That noch das völlige Graus der Zerstörung. Gleich am Eingang mußten wir uns über die Reste eines Förderwagens hinüberarbeiten – als sei es ein kleines Holzstäbchen gewesen, so zerrissen, zertrümmert, zerstückelt lag das sieben Centner schwere Vehikel da! Weiter hin kamen wir an einen Steinblock – er war höher und breiter, als der Tisch, an welchem ich eben schreibe, eine massive Masse von vielen vielen Centnern und ausgebrochen aus dem Felsgewände und herabgeschleudert, als wäre es ein leichter Kiesel! Und so umgab uns ringsum, kaum daß wir Platz hatten, uns dazwischen hindurchzuwinden, das wildeste Durcheinander von Trümmern; eine zweite Hunderuine, noch mehr zerschellt als die erste, neue Felsblöcke, Balken, Zimmerwerk, Alles im wüsten Gemeng, zu einem chaotischen Berge aufgeschichtet.

Jetzt hatte ich eine Vorstellung von der Gewalt der Explosion, von der gigantischen Expansionskraft dieser Gase! Daß nichts Anderes, als die Ausdehnung der Luft, diese massenhafte Zerstörung, dieses Auseinandersprengen des festesten Gesteins, dieses Herabschleudern der wuchtigsten Felsblocke bewirkt hat – trotz aller und unwiderstehlicher demonstratio ad oculos, muß man sich förmlich überwinden es zu glauben.

„Und auch hier ist schon ziemlich aufgeräumt,“ hob mein Begleiter wieder an; „als wir zuerst hier eindrangen, nach den Resten der unglücklichen Opfer zu suchen, da sah es noch ganz anders aus. Hier in dieser Strecke haben wir die letzten Leichen gefunden – Leichen, nein, so kann man nicht sagen, es waren nur einzelne zerstückelte und verstümmelte Gliedmaßen, da ein Arm, dort ein Bein, drüben ein verbrannter halb verwester Kopf – eine Recognition dieser schauerlichen Reste blieb natürlich ganz außer Frage. Und wie hier, so thürmte sich überall, wo wir jetzt hinkommen werden und zum Theil schon durchgekommen sind, die Verheerung auf. Sie können sich nun denken, welche Arbeit wir hatten, unter diesen Massen von ‚Berge‛ die Todten aufzusuchen und wie noch viel schwerer es war, sie über das Getrümmer hinweg und zu Tage zu schaffen! Keiner von uns hier in Burgk, die wir das mit erlebt und mit durchgemacht haben, wird je diesen entsetzlichen August vergessen, und wenn er, in Glück gebettet, Methusalem’s Jahre erreichte! – Neues werden Sie nicht sehen, die Verwüstung ist tiefer drinnen ganz die gleiche wie hier.“

Ich hatte an der einen Probe genug und sehnte mich, die verhängnisvolle Sicherheitslampe wieder los zu werden und in minder gefährliche Regionen zu gelangen. Noch immer aber ging’s tiefer und tiefer hinunter, in dem Flachen Nr. 9 weiter und weiter, bis wir in einen prachtvoll gemauerten Querschlag, ein fast elegant zu nennendes, hinlänglich hohes und weites Gewölbe kamen. Es gehört bereits dem Segen-Gotteswerk an, dessen unterem Füllorte, dem tiefsten Punkte des gesammten Grubencomplexes, als der letzten Station unserer unterirdischen Reise, wir uns näherten. Ehe wir jedoch in dies schöne neue Gewölbe einbogen, galt es, noch einen Augenblick an einer denkwürdigen Stelle zu verweilen, wo am zweiten August der Tod eine reiche Ernte gehalten hatte. An gewissen Plätzen der Strecken, meist in einer etwas ausgebuchteten Höhlung, sind nämlich Vorrichtungen angebracht primitivster Art, nur aus horizontal an den Wänden hinlaufenden rohen Holzpfosten bestehend, wo sich der Bergmann vor dem Beginn jeder Schicht das, während seiner Ruhezeit, inzwischen frischgeschärfte und hier aufbewahrte Werkzeug, das Gezähe, abzuholen hat. Auch am Unglücksmorgen war das geschehen; wenige Schritte vom Gezähe standen oder lagen sechsundzwanzig Häuer todt niedergestreckt, welche eben im Begriffe gewesen waren, mit ihren Instrumenten „vor Ort“ zu fahren. Alle übrigen Leichen, namentlich die im Hoffnungsschachte, wurden mit wenigen Ausnahmen schon an den Arbeitspunkten selbst aufgefunden.

Die Wetter zogen schärfer und schärfer herein, die Flämmchen unserer Leuchten schlugen mehr und mehr zu. Seite, je näher wir dem Endziele unserer Fahrt, dem untern Füllorte des Segengottesschachtes, rückten, durch welchen wie die Leser der Gartenlaube wissen, im normalen Laufe der Dinge die frische Luft einzieht, „die frischen Wetter einfördern“. Die Dampfbadhitze, die wir noch vor Kurzem ausgehalten hatten, war nachgerade einer sehr empfindlichen Kühle, ja Kälte gewichen, und die Förderleute, denen wir hinter ihren Hunden noch häufig begegneten, waren keine nackten Dämonen mehr, sondern staken sämmtlich in ihren rechtschaffenen Bergmannskitteln wie wir auch.

„Da fühlen Sie nun selbst, ich fürchte fast, unangenehm, wie gar kräftig unser Wetterzug ist,“ sagte der Einfahrer, indem er [714] sich nach mir umwandte. „Sehen Sie nur, ich muß den Docht meines Geleuchtes höher schüren, sonst bläst mir die Luft das Flämmchen aus. Ach, und Ihre Blende ist schon ausgegangen,“ setzte er hinzu und hielt mir seine Lampe her, um die meinige daran wieder zu entzünden. „Man hat uns auch den Vorwurf gemacht, unsere Wetterführung tauge nichts, sie sei nach verrotteten Principien organisirt und wir hätten keinen künstlichen Ventilator gehabt. Das Letztere ist wahr, einen solchen Ventilator hatten wir nicht, und wir müssen nun auf amtliche Verordnung uns einen bauen. Ich kann Sie aber fach- und wahrheitsgemäß versichern, die Systeme dieser Ventilatoren, wie sie bisher in Gebrauch waren, die sogenannten Fabri’schen, hätten für unsere Zwecke durchaus nicht genügt; bei einem Kohlenbau, wie z. B. in Oberschlesien, wo der abzubauende Kohlenflötz oft nur einige zwanzig Lachter unter Tage streicht, mögen sie ausreichen, für unsern Tiefbau von zweihundertfünfzig Lachtern und mehr hätten sie keinen Effect machen können; da war unsere seitherige Wetterführung viel wirksamer. Von dem obern Füllorte allein wird ein Wetterstrom, der in den heißesten Tagen des August nicht weniger als 36905 Cubikfuß in der Minute beträgt, den östlichen Bauen dieses Schachtes hier und den sämmtlichen darüber befindlichen Bauen der Neuen Hoffnung zugeführt, während der zweite untere Füllort, der also, wo wir jetzt stehen, den westlich gelegenen Bauen, die übrigens von keiner beträchtlichen Ausdehnung sind, einen Wetterstrom von etwa zweitausend Cubikfuß in der Minute zuführt, welcher durch das Flache Nr. 7 in die tiefste Stelle des Hoffnungsschachtes eintritt, jene Zwölflachterstrecke, die wir mit einander befahren haben.

Aber nun genug der Belehrung! Sie werden müde sein, ruhen wir darum auf der Bank dort ein paar Minuten aus, ehe wir uns von der Maschine wieder an das Licht des Tages aufziehen lassen.“

Die Reise durch die Unterwelt war vollbracht, sonder Fährniß und Abenteuer. Von keinem bösen Wetter getroffen, von keiner Wand, von keiner Decke lebendig begraben, saß ich wohlbehalten auf der Bank im Füllorte, – allein das allerschlimmste, das weitaus gefährlichste Stück meiner instructiven Expedition, die Ausfahrt zum Lichte aus einer fast achtzehnhundert Fuß messenden Tiefe auf schwankem Gestelle, also in einer Art von Schlot in die Höhe, in welcher der Thurm des Straßburger Münsters nahezu vier und ein halb Mal übereinander gesetzt werden könnte! – das stand mir noch bevor. Der Gedanke hatte etwas unbeschreiblich Grausiges, – er betäubte mich beinahe, ein kleiner Riß nur des Drahtseils, dem wir uns anzuvertrauen hatten, ein Defect an irgend einer beliebigen Schraube oder Parcelle der Dampfmaschine oben, ein falsch verstandenes Signal, – und wir waren verloren. Aber wollten wir nicht noch drei Stunden durch Strecken und Gänge fahren, über endlose Planken und Stufen klettern, um wieder da an’s Licht zu steigen, wo wir eingefahren waren – und das möchten kaum meine Füße und Kniee erlaubt haben, – so blieb uns nichts Anderes übrig, als der Hebeweg.

„Schlagen Sie an,“ commandirte mein Genosse – „daß man einige Bohlen auf das Gestelle legt, damit wir mit den Füßen nicht durchtreten; und dann,“ wandte er sich zu mir, „wenn die so ausgestattete Schale wieder herunter kommt, dann in Gottes Namen darauf und zu Tage! Das Tau ist ganz neu; wie Sie sehen, auch stark genug; es ist aus neunundvierzig einzelnen Drähten vom besten Holzkohleneisen auf das Festeste zusammengeflochten und wiegt seine vierundfünfzig Centner. Das hält uns Zwei schon, trägt es die zwanzig und mehr Centner wiegenden vollen Hunde, dann trägt’s uns gewiß! Also diese Angst wenigstens scheuchen Sie sich aus der Brust.“

Während wir auf unsere Reisekutsche warteten, theilte er mir noch einige Einzelheiten der Augustkatastrophe mit.

„Der Luftdruck war unter Anderem so gewaltig,“ erzählte er, „daß er hier das gesammte Holzwerk des Förderschachts zur Seite, zum Theil auch auseinander gepreßt hatte; und manche Stempel und Deckenbalken drüben im Hoffnungsschachte standen völlig umgedreht da, als wir zuerst eindrangen. Auch werden Sie bemerkt haben, wie, und lediglich durch diesen Luftdruck, in dem so schön gemauerten Querschlage, den wir vor wenigen Minuten durchwandert sind, ganze ellenlange Stücke aus dem Deckengewölbe, manchmal viele Zoll tief, gerissen waren. Daß alles Holzwerk darin und hier im Segengottesschacht überhaupt erneut werden mußte, haben Sie jedenfalls auch wahrgenommen. Die Wiederherstellung der Werke kostet Hunderttausende von Thalern, doch das möchte Alles sein, unser Chef ist reich, sehr reich, einen Andern hätte das Unglück vielleicht finanziell ruinirt, ihn ruinirt es nicht. Aber die Menschen, meine armen Cameraden – das frißt ihm und uns Allen am Herzen. Und das Aufsuchen, das Heraushacken und Herausschaufeln der Todten, das ich so manchen Tag mitgeleitet habe, und bei dem man in beständiger Gefahr schwebte, entweder in den bösen Wettern zu ersticken oder von dem Getrümmer erschlagen zu werden – es war entsetzlich, viel entsetzlicher, als es irgend eine Schilderung dargestellt hat und dazustellen vermag! Welche Scenen boten sich uns dabei dar! Bei einer habe ich damals laut aufgeweint. Denken Sie, da draußen, gar nicht weit von hier, fanden wir die Leiche eines alten, grauhaarigen Häuers liegen, und fest an sie geschmiegt, das hübsche, blonde Köpfchen an den breiten Rücken des Greises gepreßt, wie um hier Asyl und Stütze zu suchen, ruhte der Körper eines kaum sechzehnjährigen Burschen, eines sogenannten Hundejungen Es war unser hübschester Junge, ein allerliebster, von Allen wohlgelittener Mensch. Ich habe den Anblick lange nicht aus den Augen bringen können!“

Die Kette rasselte, die Förderschale stampfte polternd auf – jetzt galt es!

„Schlagen Sie Achtung!“ gebot der Einfahrer.

Es geschah.

„Signalisiren Sie nochmals Achtung, damit man oben ganz besonders auf der Hut ist!“

Auch das erfolgte.

„Und nun herzhaft vorwärts!“

Die sechs ominösen Schläge wurden gethan, die einen Menschentransport ankündigen, jene Schläge, die ich damals so oft mit klopfendem Herzen gezählt hatte oben in der Kaue, als sie die Ankunft neuer Opfer bedeuteten, und wir stiegen auf das Gestell, mein Geleiter links, ich zur Rechten.

„Bücken Sie sich, daß Sie sich nicht den Kopf einstoßen, und halten Sie sich fest am Gestell an.“

Dann faßte er mich selbst am Kittel, und – neues Kettengerassel, langsam, unsäglich langsam bewegte sich unser Vehikel in die Höhe. Dicht vor mir lag die enge Wand des Schachtes, aber bald sah ich nichts mehr, mir schwindelte, und ohne den Halt an meinem Gefährten wäre ich unbedingt umgesunken und – verloren gewesen. Nach einigen Secunden schwand der Taumel, allein nur um desto unangenehmeren Empfindungen Platz zu machen. Von Zeit zu Zeit, jedenfalls durch ungleiche Aufwickelung des Taues, geschah die Bewegung ruckweise, so daß der ganze Körper zitterte und jedes Mal mir der Gedanke kam, der Apparat zerbreche oder stürze unregiert in die endlose Tiefe hinab. Es war buchstäblich, im eigentlichsten Sinne des Wortes Todesangst, was ich litt. Der kalte Schweiß perlte mir auf der Stirn, dazu tropfte mir das Wasser durch den Kragen meiner Blouse auf den Hals und bis auf den Leib hinab, daß ich immer unwillkürlich zusammenzuckte, und die Luft heulte in dem tiefen Schlauche, als seien zweimalhunderttausend Teufel um uns losgelassen.

„Sind wir jetzt bald oben?“ frug ich meinem Nachbar mit matter Stimme.

„Noch nicht die Hälfte,“ lautete seine niederschmetternde Antwort.

Nein, ich kann es nicht länger ertragen! dachte ich, und von Neuem begann mich Schwindel zu umnebeln, wie scheinbar die Wand des Schachtes vor mir in die Tiefe hinabglitt. Dann wieder zogen alle möglichen Visionen an mir vorüber, mein unglückbedeutendes Umkehren oben am Eingang zur Tagesstrecke fiel mir ein und anderes tolles Zeug mehr, meine Pein stieg von Secunde zu Secunde, bis ich auf’s Neue halb bewußtlos stand und von meinem Führer fester gepackt wurde.

Ein neuer, diesmal Mark und Bein erschütternder Ruck. „Jetzt aber ist’s wirklich aus!“ dachte ich, aus meiner Betäubung aufgerüttelt – allein siehe da! von oben kommt’s heller und heller herein und langsamer, immer langsamer geht die Fahrt – wir nahen dem Tage. Und doch, diese letzten Secunden schienen die fürchterlichsten; denn je näher der Oberfläche, desto tiefer war der Sturz. Aber das Tau riß nicht, die Schraube gab nicht nach, kein Unheil ereignete sich; nur noch ein Ruck und Schlag kam, doch es war der letzte. Wir waren oben in der bergenden Kaue, das Gestelle stand mit dem Niveau ihrer Diele gleich, die [715] umgebende Schranke öffnete sich, ich trat auf den sichern festen Boden, vom Lichte geblendet wie eine Eule, und athmete lang und athmete tief.

Ein herzenskräftiges Glückauf erscholl aus dem Munde der umstehenden Arbeiter, und selten im Leben habe ich einen Gruß so warm, so recht aus tiefinnerster Brust, so jubelnd erwidert, wie dies Glückauf oben in der schwarzen, rußigen Kaue.

Mittlerweile war es Abend geworden; der Mond lag silbern auf der Hochfläche, wie ein Feuermeer sprühten die Funken aus den Schloten der Coaksöfen in den sternenklaren Nachthimmel hinein, und aus dem Thale herauf blitzten unzählige Lichter und sprachen von trauten Menschenheimstätten und trautem Zusammensein – und wie ich dann am Hange des Windberges, dessen finsterer Schooß mich mehr als drei Stunden lang umschlossen hatte, in den Grund hinabstieg, da erschien mir meine Auffahrt aus der Tiefe wie ein wüster Traum, wie ein Alpdrücken, wie eine Fieberphantasie, und ich konnte mich nicht satt athmen an der frischen Himmelsluft, nicht satt sehen an dem rings ausgegossenen Lichte, wenn es auch nur das Licht des Mondes war. Aber nie im Leben wieder auf dieses grausige Schachtgestelle! Mit diesem stillen Gelöbnisse rückte ich mich, nachdem ich meinem liebenswürdigen Führer noch einmal herzlich gedankt hatte für sein treues, lehrreiches Geleite, in der Ecke des Bahncoupés zurecht, welches den Müden nach Hause trug.

H. Scheube.