Die schlagenden Wetter von Burgk

Textdaten
Autor: Hugo Scheube
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Titel: Die schlagenden Wetter von Burgk. Zweiter Bericht von der Unglücksstätte
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 36, S. 570–575
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Erster Bericht: Die schlagenden Wetter bei Burgk
Kurzmeldung: Von der Unglücksstätte im Plauenschen Grunde
Nachbericht: Im Grabe der Verschütteten
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Die schlagenden Wetter von Burgk.

Zweiter Bericht von der Unglücksstätte.

Schon sind Wochen vergangen seit dem erschütternden Drama des zweiten August. Mehrmals und tagelang bin ich seitdem wieder an Ort und Stelle gewesen und kehre soeben von einer neuen Wanderung nach dem Segengottesschachte zum Fuße des Windbergs zurück. Indem ich nun hier, so recht in bergmännischer Hingebung, in einer vorzugsweise von höheren und niederen Grubenbeamten zur Erholungsstätte erkorenen freundlichen Schenke, mich hinsetze, den Lesern der „Gartenlaube“ Rechenschaft zu erstatten von den jüngsten Eindrücken, die ich am Unglücksplatze empfangen, muß ich vorausschicken, daß ich das Bild des letztern in seinen großen und allgemeinen Zügen nur sehr wenig, wenn überhaupt verändert fand, wie dies der Natur der Sache nach auch keine wesentliche Wandelung erfahren haben konnte. Mit demselben bangbeklommenen Herzen, mit der nämlichen ängstlich unheimlichen Erwartung trat ich meinen Gang nach der Hochfläche an, wie vor acht und wie vor vierzehn Tagen, und so ziemlich die gleichen schmerz- und schreckensvollen Wahrnehmungen und Erlebnisse harrten meiner dort.

Da stand mir zur Rechten wiederum das Huthaus, einsam [571] und verlassen wie damals; ich nahm mir heute Zeit einen Blick durch die Fenster des ansehnlichen Gebäudes zu werfen, ach, und er erfüllte mich mit einer unsäglichen Wehmuth, als ich drin in dem einzigen großen Saale, aus welchem derselbe besteht, eine neben der andern die Bänkereihen sah, von denen die frommen Bergleute an jenem unvergeßlichen Montagsmorgen ihr letztes gemeinsames Gebet zum Himmel gesandt hatten! Dicke Liederbücher von fleißigem Gebrauche abgegriffen und unscheinbar geworden, lagen auf den Bänken umher: aus ihnen hatten die unglücklichen ihren Chor gesungen! Weiter oben, schon jenseits des Dorfes Burgk, etwa hundert Schritte links von dem Wege, der nach dem Windberg einbiegt, liegt an einem Wiesenhange zwischen Obstbäumen ein hübsches modernes Haus; auch dahin wandten sich meine Augen mit schmerzlichem Interesse. Es muthet ganz idyllisch an, das schmucke Haus in seiner lauschigen grünen Umgebung, jetzt ist’s in eine Stätte tiefster Trauer verkehrt; denn hier hat einer der beiden Obersteiger gewohnt, die mit der von ihnen zur Schicht geführten Arbeiterschaar in den empörten Wettern ihren Tod fanden. Noch liegt seine Leiche unter den wenigen welche man aus den Bruch- trümmern des Neuen-Hoffnunsschachtes bis jetzt nicht hat zu Tage fordern können, während die seines Collegen schon vor Wochen in die geweihte Erde des Döhlener Friedhofs gebettet werden konnte. Wie man behauptet – ich erzähle nach, was ich vielfach aus dem Munde von Bergleute vernahm, ohne meinerseits für die Wahrheit des Gehörten einstehen zu können – soll es jener noch ungefundene Obersteiger gewesen sein, der von einem Befahren des Segengottesschachtes unter den derzeitigen Temperatur- und Wettercirculationsverhältnissen abgerathen hat, allein aus Furcht, seine Stelle zu verlieren, seine Ansicht nicht geltend zu machen wagte.

Auch oben bei den Schächten sah es, auf den ersten Blick, völlig aus wie damals. Rechts als die höchsten von allen, ragten die Baulichkeiten des nach Potschappel gehörenden Windbergschachtes empor; links schimmerten aus dem Grunde und von den Elbhöhen die freundlichen Dörfer, Ansiedelungen, Villen herüber; vor mir brodelten die Coaksöfen mit ihrem dicken, brenzlichen, die Athmungswerkzenge reizenden Qualme; daneben zog die Kohlenbahn nach der „Goldnen Höhe“ empor, und an ihr erhob sich der Neue-Hoffnungsschacht. Noch immer lag er wie aufgegeben und ausgestorben, denn auch heute entstieg seinem Schlote nicht das leiseste Rauchwölkchen; dafür arbeitete, weiter nordwärts, die Maschine auf Segen-Gottes um so emsiger, und mit jedem Schritte, der mich diesem meinem abermaligen Ziele näher führte, schlugen die einzelnen Cadenzen ihres Schnaubens und Stöhnens, ihres Pustens und Aechtens mir immer lauter und unheimlicher an’s Ohr. Nach wie vor verrichtete sie ihr grausiges Werk: unermüdlich, in den letzten Tagen schier rastlos, wand sie die Todten aus der nächtigen Tiefe herauf an’s Licht. Dazu heulte der Wind über das weite Plateau und trieb nur den schwarzen Staub in die Augen – wenn irgend einer, trägt ja der Windberg seinen Namen mit vollstem Rechte – mit Einem Worte, das Alles erschien genau so wie damals, als ich es zuletzt geschaut und wahrgenommen hatte.

Und doch war es nicht ganz das gleiche Bilde was sich heute mir darbot. Wo sich neulich Menschengewühl und Menschenlärm über das Gehenna des zweiten August verbreitete; wo mir unaufhörlich Gruppen von Teilnehmenden und – Neugierigen begegneten; wo der Pfad den Windberg heran und längs den Strängen der Eisenbahn zwischen den beiden Schächten einem Wallfahrtswege glich; wo ich die Ellbogen brauchen mußte, um zum eigentlichen Schreckensorte, zur Kaue des Segengottesschachtes vorzuringen: – da war’s heute still, recht still geworden; Ereigniß und Schauplatz besaßen ja nicht mehr den Reiz der Neuheit und was zu sehen war, das hatte man gesehen; nur sehr einzeln erschien da und dort noch ein verspäteter Nachzügler aus der Nachbarschaft und aus Dresden, oder ein wissensdürstiger Berichterstatter, welcher, gleich mir, sich von den jüngsten Vorgängen auf den Schächten zu unterrichten trachtete. Aber auch der Schmerzensscenen, der Scenen jenes beispiellosen Jammers, wie sie bei meinen früheren Besuchen der Unglücksstätte mir das Herz mit einem unnennbaren Weh erfüllt hatten, traten mir jetzt nur wenige vor die Augen. Hatte der Schmerz sich schon ausgeweint? War das Leid schon gestillt, das neulich so laut zum Himmel schrie und in seiner übermächtigen Qual die unglücklichen Wittwen und Waisen, Väter und Mütter, Brüder und Schwestern schier der Verzweiflung überantwortete? Ach, nein, sicher nicht; aber es hatte sich still in die Häuser zurückgezogen, wo die Pflichten des täglichen Lebens riefen, die ja auch mitten im tiefsten Kummer ihre Rechte fordern und nun um so dringender forderten, als so viele Hunderte von armen Kindern ihres Erhalters und Beschützers beraubt und jetzt doppelt auf die ihnen gebliebene Pflege und Sorgfalt augewiesen waren. Ueberdies umschloß bereits die Mehrzahl der erstickten, verbrannten, erschlagenen Bergleute das große Massengrab oben hinter dem Segengottesschachte, der Passionsgang hinauf nach den Gruben hatte also für die meisten der Hinterbliebenen seinen nächsten Zweck, in den heraufgeförderten Leichnamen die sterblichen Ueberreste ihrer Lieben zu erkennen, mittlerweile verloren. Ab und zu wohl stieß ich auf ein Häuflein von Frauen und Kindern, welche, das Gesicht mit den Händen bedeckt, in Thränen gebadet, schluchzend oder still vor sich hin wimmernd, vom Segen-Gottesschacht in’s Thal hinabstiegen; sie waren oben gewesen am Thor der Kaue, und in der qualvollsten Spannung hatten sie Stunde um Stunde gelauscht, ob das schauerliche Hebewerk und der grausige kleine Wagen endlich brächten, was sie fürchteten und doch – hofften; immer und immer aber hatten sie noch vergeblich gehofft und vergeblich gefürchtet. Wie oft schon mochten die Unglücklichen diesen ihren fürchterlichen Weg gewandelt sein! Und wer vermißt sich, die Empfindungen zu schildern, mit denen sie tagtäglich ihn von Neuem antraten, mit welchen sie tagtäglich wieder hinabzogen in ihre verödete Heimath? Nur dieses einen Momentes braucht es, uns den Ueberschwang von Seelenweh zu vergegenwärtigen, welches die Schreckensstunde über den engen Kreis weniger Bergmannsdorfer ausgegossen hat. Was vermag menschliche Mildthätigkeit, und wenn sie Millionen spendete gegen solchen Jammer! Das möge man beherzigen, wenn man, wie mir dies leider gar oft begegnet ist, und von Lippen, von denen es doppelt und dreifach Wunder nehmen muß, die lieblose Aeußerung zum Angehör bekommt: „Was wollen Sie? die Hinterbliebenen werden noch Gott danken für die Katastrophe; wie die von Lugau werden sie durch das Resultat der Sammlungen schließlich besser daran sein als je zuvor!“

Ich trat abermals in die Kaue – seit gestern, den 16. August, waren die den Cordon bildenden Soldaten wieder abgerückt, nur die Gensd’armerie versah noch den Wachdienst – drin aber ging das Seil herauf und hinunter, klangen die ominösen sechs Glockenschläge, erschienen die kleinen Wagen mit ihrer in essiggetränkte Tücher gehüllten unheimlichen Last zu Tage, wie damals. Ganz wie damals rollte der Wagen hastig in den nahen Schuppen, wie damals waren die „Wäscherinnen“ bei der Hand, welche seit Wochen Tag und Nacht nicht gerastet haben von ihrer unbeschreiblich gräßlichen Arbeit, wie damals ward hurtig die desinficirende Säure über den entseelten Körper gespritzt, wie damals ging es mit dem schnell gefüllten Sarge hinaus in die große Steingruft, wo jetzt, mit Ausnahme der achtunddreißig früher auf den benachbarten Friedhöfen beerdigten, die sterblichen Hüllen sämmtlicher bis jetzt aufgefundener Verunglückter, zusammen zweihundertdreiundzwanzig, beigesetzt worden sind eine Reihe Särge dicht an der anderen.

Auch dieses Bild wich doch in manchen Stücken von dem während meiner früheren Besuche auf den Schächten gesehenen ab. Seit länger als einer Woche schon waren die im Segen-Gottesschachte selbst um das Leben gekommenen Bergleute wohl sämmtlich heraufgefördert, die Körper, welche die Dampfmaschine jetzt emporhob, gehörten den Opfern des Neuen-Hoffnungsschachtes an. Es waren meist nicht so grausig anzusehende Menschentrümmer wie jene, weniger verbrannt, verkohlt, zerrissen, zerschlagen, die Leiber hielten vielmehr noch zusammen, sie waren in ihrer Grubenkleidnug und noch versehen mit ihren Blenden und Arbeitsgeräthen, ihren kleinen Habseligkeiten und Gebrauchsgegenständen, aber von der Verwesung, welche, trotz der so gerühmten Carbolsäure, bis in weiten Umkreis ihren Pesthauch entsandte und dem Auge Schauderstücke vorführte, mit deren Darstellnug ich die Leser der Gartenlaube nicht wiederum peinigen will, oft genug schon zu völliger Unkenntlichkeit zerfetzt und zerflossen. Einige der Köpfe, die ich sah, wie sie aus den noch wohl erhaltenen Kleidern hervorquollen, mit ihren zerfressenen Lippen und Nasen und über und über mit gelben Jauchenflecken bedeckt, gewährten einen Anblick, welcher mich noch heute mit Grausen erfüllt und sich nie wieder aus meiner Erinnerung verwischen wird.

Häufig mußte denn auch hier jenes schauerliche „Unkenntlich“ auf die Särge gekreidet werden, das ich schon so manchmal hatte [572] anmalen sehen, wenn nicht zufällig eines jener oben erwähnten kleinen Besitzthümer, die Uhr, die Geldtasche, die Schnupftabaksdose und dergleichen, oder ein durch den Verwesungsproceß nicht alterirtes besonderes Merkmal auswies, wer der entstellte Leichnam gewesen war, ehe ihn das schlimme Wetter traf. Und mit welcher laut- und athemlosen Spannung wurde allemal nach diesen Kennzeichen gesucht! Wie drängten sich die Menschen in dem entsetzlichen Leichenschuppen zusammen, wenn man die eingebrachten Todten von ihrer Hülle befreite !

„Die Geldtasche da,“ rief einer der beim Leichentransporte beschäftigten Arbeiter aus, „wer kennt sie?“

Alles schwieg – denn Niemand kannte sie.

„Es sind sechszehn Neugroschen darin! Wer weiß wohl, wem sie gehört haben?“ fuhr der Mann fort – doch abermals keine Antwort.

„Unkenntlich!“ lautete jetzt das Commando, und durchdringender, herzzerreißender erhob sich das Schluchzen der umstehenden Frauen, wenn der so bezeichnete Sarg rasch zur angrenzenden Gruft getragen wurde. Barg er doch vielleicht das, was vom Liebsten, das sie hienieden besaßen, noch übrig war – ein ununterscheidbares Stück im unabsehbaren Meere des allgemeinen Jammers!

Eine andere Leiche rollte in den Schuppen ein – das entstellte Gesicht war von Niemandem zu recognosciren; da, als man sie umwandte in ihrem Vehikel, entfiel dem Grubenkittel ein Zollstab, sie war mithin der Leib eines Zimmerlings, und – ach, man kannte das kleine Werkzeug nur zu wohl! – ein allgemeiner Schmerzensschrei entrang sich der Versammlung, in welchem das stillere Weinen der näheren Angehörigen des Todten fast erstickte, und es war einer jener Unglücklichen, von denen auch die Gartenlaube bereits erzählte, jener Zimmerling Janetz, welcher mit mehreren seiner Gefährten unten im Schacht an den Thürpfosten des Zimmerwerks in wenigen Kreideworten ein ergreifendes Denkmal ihrer Leiden und der treuen Liebe hinterlassen, mit der die armen Erstickten noch im letzten Augenblicke an Weib und Kind, an Freunde und Cameraden gedacht haben. In der That die Entdeckung dieser Inschriften und das am selben Tage, nur wenige Stunden früher erfolgte Auffinden des Schichtenbuches, in das der Untersteiger Ernst Bähr I. von seinen vergeblichen Rettungsversuchen Kenntniß gegeben, zählen zu den traurigsten Episoden des großen Trauerspiels.

„Wenn wir doch Das niemals erfahren hätten!“ wehklagte einer der Obersteiger. Könnte hier blos die augenblickliche Rücksicht des Mitleids mit den Hinterlassenen der Getödteten und unserer eigenen persönlichen Gefühle in Frage kommen, so möchten wir einstimmen in diesen Wunsch, allein sowohl im Interesse einer wissenschaftlichen Erörterung der Katastrophe, an der es bis jetzt noch gänzlich fehlt, als namentlich einer künftigen thunlichst möglichen Sicherstellung der deutschen Kohlenbergleute, insbesondere der auf den Burgk’schen Werken, dürfen wir die Entdeckung dieser erschütternden Documente nicht hinwegwünschen. Es sollten ja ohnedem nicht die einzigen bleiben, und die nachmaligen Auffindungen derselben Art legten, wie es unsere Leser bereits aus der vorigen Nummer der Gartenlaube wissen, noch entsetzlicheres und rührenderes Zeugniß ab von den letzten Leidensmomenten und der frommen Fassung mehrerer der im Neuen-Hoffnungsschachte Verunglückten, wo, wie wir wohl annehmen dürfen, fast alle den Erstickungstod gestorben sind; sie thaten dar, daß noch neun Stunden nach der Explosion eine Anzahl der zur Frühschacht angefahrenen Bergleute am Leben war, die sich, denn sie lagen nicht etwa unter Trümmern verschüttet, hätten retten können, wenn die „ganz bruchfreie Wetterstrecke und der Weg zur Tagesstrecke des Hoffnungsschachtes“ – so drückt sich der officielle bezirksärztliche Bericht aus – nicht „so concentrirte irrespirable Gase enthalten hätte,“ daß man dieselben nicht betreten konnte. Dieser Umstand wiegt jedenfalls schwer bei der Beurtheilung des Ereignisses und der größern oder geringern Verschuldung, welche Bergherrn und Grubenleitung treffen!

Welchen Eindruck die letzten Lebenszeugnisse der armen Bergleute in der Umgebung der Schächte hervorbringen, wie sie den Schmerz der Leidtragenden in’s Unendliche verschärfen, auf’s Neue zur Verzweiflung anfachen, wie sie unsere nimmerruhende Phantasie beschäftigen mußten, die ja das Grausige in das noch Grausigere zu malen liebt, kann sich wohl Jeder denken. Hatten die Unglücklichen, so hieß es, die Katastrophe noch um fünf, ja um acht und neun Stunden überlebt, wer mochte dann bürgen, daß es nicht zwei und drei und mehr Tage geworden waren, und daß alle diese Bejammernswerthen nicht einem langsamen Hungertode hatten elendiglich erliegen müssen? Aller man fand die sichere Bürgschaft dafür, daß ihnen dies Schicksal ihrer schwerer geprüften Lugauer Cameraden erspart geblieben ist: bei allen diesen Abschiednehmenden war das Frühstück noch so unversehrt in den Taschen, wie es ihnen die Frau, die Mutter, die Schwester zur Morgenschicht mit auf die Fahrt gegeben hatte!

Das große Grab[1] draußen hatte inzwischen auch eine einigermaßen andere Physiognomie gewonnen; es sah weniger roh, weniger steinbruchartig aus, als neulich, seine Ränder waren geglättet, auf dem östlichen breitete ein aus Laubgewinden errichtetes Kreuz seine Arme wie segnend aus über den improvisirten Friedhof und die Zweihundertunddreiundzwanzig, die in ihm schlafen, und von den Särgen schimmert nur noch da und dort eine unbedeckte Querwand zwischen den Steinschichten hervor. Ein eigenthümliches Geschick hat es gefügt, daß unter jenen Zweihundertunddreiundzwanzig auch der Mann mitschlummert, der so manchem seiner bergmännischen Genossen die letzte Ruhestätte bereitet hat: der Döhlener Todtengräber. Er wurde unter den Erstickten im Hoffnungsschacht gefunden, er mit seinem Sohne, und hatte sich gleichsam seine Grabschrift selbst geschrieben. „Hier liegt Vater und Sohn!“ stand von seiner. Hand an einem Schachtstempel angeschrieben.




„Der erste Act des herzergreifenden Trauerspiels ist zu Ende,“ schloß der bezirksärztliche Bericht von der Katastrophe. Wenn auch in anderem Sinne, sagt dasselbe auch der Berichterstatter der „Gartenlaube“; vor der Hand hat er von der Unglücksstätte Neugesehenes und Neuerlebtes nicht zu berichten. Es ist daher vielleicht der geeignetste Moment, einige Details nachzutragen, die in seinen letzten Mittheilungen keinen Raum finden konnten, und einen kurzen Rückblick auf das Begebniß zu werfen, so weit es in seinen Ursachen und Wirkungen bis jetzt ermittelt worden ist, denn auch jetzt muß ein Endurtheil über die Katastrophe noch ausgesetzt bleiben, bis von völlig unparteiischen Fachmännern ausführliche Berichte darüber vorliegen. Vorläufig kann die nicht sachlich competente Presse nur soviel constatiren, daß „im Staate Dänemark“ doch Eines oder das Andere „faul“ gewesen ist, vielleicht mehr, als man anfangs geglaubt hat. Und sie hat die Pflicht, dies zu constatiren, denn die Sicherheit von Tausenden von Arbeitern, die an sich in noch weit höherem Grade als Soldaten und Seeleute tagtäglichen Lebensgefahren ausgesetzt sind, hängt von durchgreifenden Reformen im Betriebe des sächsischen und speciell des Burgker Kohlenbergbaues ab. Das Unglück von Burgk ist in seiner Ursache in keine Parallele zu bringen mit dem von Lugau – unleugbar aber ist den entzügelten Naturgewalten, denen Menschenwille und Menschenkraft machtlos gegenüber stehen, nicht allein die Schuld der beispiellosen Katastrophe vom zweiten August beizumessen.

Schon in meinen: ersten Bericht habe ich auf eine gewisse laxe Praxis hingedeutet, die jedenfalls nicht ohne Einfluß auf das Unglück geblieben ist; fachliche Darstellungen, denen ich die Verantwortung ihrer Anschuldigungen überlassen muß, sprechen jetzt noch von ganz anderen Mißständen und Mangelhaftigkeiten auf den Burgker Werken, die zum Theil die unerhörte Tragödie in Scene gesetzt haben: von einer ungenügenden Wettercirculation, ohne welche bei dem Tiefbau der Steinkohlenschächte von einer Sicherheit der Arbeiter auch nicht im Entferntesten die Rede sein könne, und ganz besonders von dem Fehlen jener künstlichen Ventilatoren, mittels deren man gegenwärtig nicht blos in Belgien und England, im Saarbecken und in Westfalen, sondern auch in anderen Gruben des Plauenschen Grundes die beständige Lufterneuerung in den tiefen Kohlenschächten im Gange

[573]

Die Bestattung der Verunglückten beim Segengottesschacht von Burgk.
An Ort und Stelle aufgenommen von Huth in Leipzig.

[574] erhält. Mehr noch, es scheint erwiesen zu sein, daß der Hoffnungsschacht, der einzige Ausweg für die abziehenden Wetter, nicht blos Tags vorher, sondern sogar am Tage des Unglücks selbst wegen einer Schachtreparatur zugebühnt und somit für Wetterzug und Menschen unzugänglich gewesen ist!

Unter allen Umständen ist daher, zur Ehre des sächsischen Bergbaues, eine strenge, von jedweder Privatrücksicht freie und unabhängige Untersuchung der möglichen Ursachen des beispiellosen Massenunglücks geboten, welches zweihundertundneunundsiebenzig wackeren Bergleuten – merkwürdiger Weise ist selbst heute die Zahl derselben nicht über allen Zweifel festgestellt! – das Leben kostete und nur durch einen Zufall nicht noch viel zahlreichere Opfer forderte. Dieser glückliche Zufall war das weit und breit bekannte und besuchte Volksfest der „Dresdener Vogelwiese“, eine beträchtliche Anzahl der Arbeitsmannschaft der beiden Schachte hatte sich bis zum frühen Morgen unter den Buden und Zelten am linken Elbufer umhergetummelt und so die Frühschicht verschlafen. Ohne diesen besonderen Umstand hätten die bösen Wetter anstatt der zweihundertundneunundsiebenzig vielleicht vierhundert und mehr Opfern in der „mit Nacht und mit Grauen bedeckten“ Tiefe den Tod gebracht!

Von allen den am letzten zweiten August zur Frühschicht angefahrenen Steigern und Häuern, Zimmerlingen, Förderleuten und „Hundejungen“ haben sich, wie die Zeitungen bereits erzählt, im Ganzen nur fünf Personen retten können: zwei der erwähnten Hundejungen und drei Zimmerlinge, d. h. Bergleute, welche das Holzwerk in den Schachten herzustellen und in Ordnung zu halten haben. Von den ersteren, den beiden Jungen, ist wenigstens über einige kleine Einzelheiten unmittelbar nach der Explosion Licht verbreitet worden. Sie sind unter den letzten der Anfahrenden gewesen; als sie von der „Tagesstrecke“ her in den Schacht kommen, schlägt ihnen alsbald der Schwaden entgegen. Natürlich machen sie sofort Kehrt, um wieder „zu athmen im rosigen Licht“; auf ihrem Eillaufe aber, dicht an der Eingangsthür, treffen sie den Steiger Schenk, der, mit Anstrengung aller seiner Kräfte, schon so weit zurückgedrungen ist, doch jetzt erschöpft, einen Zipfel seines Grubenkittels vor dem Munde, um sich gegen die bösen Gase zu schützen, am Boden kauert. Mit matter Stimme fleht er die beiden Jungen an, ihn mitzunehmen, da er selbst nicht mehr fortkönne, allein die Jungen waren zu schwach, den Mann hinwegzuschleppen, mochten auch wohl denken, daß jede Secunde Verzug ihre eigene Rettung gefährden könnte, und rannten weiter. Wer möchte sie darum der Unbarinherzigkeit zeihen? Als man im Laufe des Nachmittags unter unsäglichen Schwierigkeiten von der Ostseite her in den Bau des Hoffnungsschachtes eindrang, fand man den Steiger umgesunken an der Ausgangsthür liegen. Sein „Geleuchte“ stand schon außerhalb des Eingangs, ein Beweis, daß er selbst sich fast schon in Sicherheit befand, aber an der Schwelle der Rettung erschöpft umgefallen und erstickt war.

Dieselben beiden Jungen haben auch von einer That berichtet, die man in ihrer einfachen Großartigkeit ohne weiteres als heroisch bezeichnen muß. Auf ihrem Wege in’s Freie trafen sie den Fördermann Wenk, welcher ebenfalls nicht mehr weit zur Rettung hatte. Da fällt ihm ein, daß sein Arbeitscumpan noch drinnen im Schachte ist.

„Ich will meinen Cameraden holen,“ sagt der edle Mann, geht in die Wetter zurück und findet darin seinen Tod wie alle Anderen.

In den ersten Tagen nach dem Unglück war die Arbeit natürlich mit offenbarer Lebensgefahr verknüpft – allein auch da hat sich keiner der Bergleute dieser Pflicht entzogen. Von einem ganz besonderen Muthe zeugt die inzwischen wohl von allen Blättern, freilich nicht ganz gleichlautend, berichtete That des jungen Camillo Paul, eines Sohnes des Burgk’schen Rechnungsführers. Noch vor elf Uhr Morgens drang, wie mir erzählt wurde, der kaum zwanzigjährige junge Mann, vom Rettungseifer getrieben, in den Schacht ein; etwa sechszig Ellen vom Eingang aber stürzte er, von den bösen Gasen betäubt, wie todt zusammen. Lautlos lag er da; einem Cameraden, einem gewissen Günther, gelang es aber, ihn bis nahe an das Mundloch des Schachtes zu schleppen. Hier verließen den Retter indeß die Kräfte und er mußte, wollte er selbst nicht in den Wettern umkommen, eiligst das Weite suchen. Achtundzwanzig Stunden lang blieb nun der unglückliche junge Mann verlassen im Schachte liegen – in welcher Todesangst, kann man ermessen! – bis zwei der Beamten, welche zufällig nahe der Mündung des letzteren standen, ein mattes, wehklagendes Wimmern vernehmen; ein Bergmann wagte es darauf die Ursache dieser Schmerzenslaute zu erforschen, und so brachte man den blos vierundzwanzig Fuß von der Mündung aufgefundenen kühnen Jüngling wieder zu Tage. Er hat nachher längere Zeit mit dem Tode gerungen, wie mir sein eigener Vater erzählte, ist aber jetzt bereits der völligen Genesung nahe. Man hat dem wackeren jungen Mann nicht geglaubt, als er versicherte, aus der Schachttiefe noch Hülferufe gehört zu haben: jetzt, wo man weiß, daß die Armen noch bis ein Uhr drunten am Leben waren, wird seine Aussage wohl an Wahrscheinlichkeit gewonnen haben.

Von dem fürchterlichen Knalle, welchen die Explosion verursacht habe, ist viel gesprochen und geschrieben worden, ja man versicherte mir bei meiner ersten Ankunft auf dem Bahnhofe zu Potschappel, man habe die Detonation bis hier unten, mithin drei Viertel Stunden von den Schächten entfernt, in erschreckender Deutlichkeit vernommen. Alle diese Angaben beruhen indeß auf Täuschung; einer der obersten Beamten der Burgk’schen Kohlenwerke erklärte mir vielmehr, daß man in Burgk selbst, ja daß er in seiner den Schächten noch weit näheren Wohnung nicht das leiseste Geräusch gehört habe. Blos die aus dem Segen-Gottesschachte aufquellende dicke Rauchsäule habe etwa ein Viertel nach fünf Uhr Morgens Kunde gegeben von dem Unglück ohne Gleichen. Welche entsetzliche Gewalt aber die Explosion gehabt, beweisen nicht nur die in beiden Schachthäusern vorn Luftdruck zersprengten Fenster, sondern hauptsächlich das auseinander getriebene Mauerwerk unten in den Schächten und die zu förmlichen Schutthaufen zerschellten „Hunde“. Wer jemals Gelegenheit gehabt, diese aus den dicksten Bohlen zusammengefügten, mit schweren Eisenbändern beschlagenen, auf festen Rädern ruhenden Kohlenförderungswagen zu sehen, der wird danach die furchtbare Kraft der Explosion ungefähr bemessen und begreifen können, daß die dem Entstehungspunkte der Schlagwetter zunächst befindlichen Bergleute nur als unkenntliche Menschentrümmer aus der Tiefe heraufgewunden worden sind.

Die Verunglückten vertheilen sich auf fünfundzwanzig Gemeinden, die sämmtlich einen Umkreis von wenigen Stunden einnehmen. Die volkreichste davon bildet das stattliche Dorf Deuben, wo die meisten Bergleute des Plauenschen Grundes Quartier genommen haben. Hier allein hat die Katastrophe neununddreißig Frauen zu Wittwen und hundertundsechsundzwanzig Kinder zu Waisen gemacht, zehn davon aus einer Familie! In Eckersdorf sind zwei Häuser ihrer sämmtlichen Bewohner beraubt und die Gemeinde selbst ihres Vorstandes und ihrer Vertreter. Zusammen beträgt die Zahl der Hinterbliebenen, d. h. der Hinterbliebenen, denen die Versorger entrissen sind, achthundertfünfundsiebenzig, zweihundertundeinundzwanzig Wittwen, sechshundertundfünfzig Kinder und vier arbeitsunfähige Mütter, die von ihren Söhnen ernährt wurden und nun gleichfalls dem öffentlichen Mitleide anheim gegeben sind. Die Menge der Leidtragenden im Allgemeinen, der Väter, denen ihre Söhne, der Geschwister, welchen die Brüder, der Bräute, denen die Geliebten genommen sind, sie Alle, welche zwar nicht ihre materiellen Versorger und Erhalter, aber ihr theuerstes Besitzthum auf dieser Erde verloren haben, verloren mit Einem Schlage – wer zählt sie zusammen? Weit, weit über tausend Trauernde auf einem Gebiete von wenig über eine Quadratmeile! Wer denkt ihn aus in seiner ganzen unerschöpflichen Fülle, diesen Jammer, wie ihn ein einziger Moment über eines der anmuthigsten und rührigsten Gelände des anmuthreichen und rührigen Sachsenlandes heraufbeschworen hat?

Die nackte Noth des Lebens kann und wird die öffentliche Mildthätigkeit lindern, das thun die reichen Spenden dar, mit denen man bereits diesseit und jenseit des Maines der unglücklichen Wittwen und Waisen im Plauenschen Grunde gedenkt, wenn es auch immer schlimm bleibt, daß diese lediglich auf den guten Willen guter Menschen angewiesen sind, daß kein Gesetz die Grundbesitzer zu ihrer Erhaltung zwingt. Wäre dies der Fall, als dann würde sicher geschehen, was menschliche Einsicht zur Verhütung ähnlicher Katastrophen wie die vom zweiten August anzuordnen und einzurichten vermag.

Möge die hoffentlich zu erwartende gründliche Untersuchung herausstellen, daß Besitzer und Leiter der Burgker Kohlenwerke [575] wenigstens nicht allzuweit hinter den Leistungen zurückgeblieben sind, welche sie im Interesse ihrer Arbeiter, jener Tag um Tag, dem Tod beherzt und ergeben in’s Auge schauenden Bergleute, zu erfüllen haben, und möge das Unglück dazu beitragen, diesem so achtungswerthen Theile unseres Arbeiterstandes genügendere Bürgschaften für ihre Sicherheit schaffen, als ihnen bisher geboten worden sind, damit sich der „schwarze Diamant“ nicht verwandle in den „schwarzem Fluch“!

H. S.



  1. Zu unserer Illustration von der Grabstätte hinter dem Segengottesschacht und zu dem im vorigen Artikel hierüber Mitgetheilten müssen wir hier noch die Erklärung fügen, daß die große Gruft wohl gegen fünfzehn Fuß tief aus steinigem Boden ausgehauen werden mußte und daß am Rande derselben sich nach beseitigtem Steingerölle Vertiefungen bildeten, welche man däzu benutzte, um die ersten (etwa sechzehn) Särge zur Hälfte da hinein zu schieben, während man die andere Hälfte später mit Stein- und Sandgeröll überdeckte. Unser Bild zeigt mehrere solcher halbvergrabener Särge.