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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[353]

No. 23.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


„Herr von Oliveira hat ganz Recht, wenn er kein Eis annimmt,“ sagte der Minister hinzutretend, „er kam sehr echauffirt vom Brandplatze. … Du aber solltest Deine Pflichten als Dame des Hauses nicht so exaltirt auffassen, mein Kind!“ – Er nahm ihr mit einem finstern Blick den Präsentirteller aus den Händen und übergab ihn dem herbeieilenden Lakai. – „Uebrigens, wie ich bereits im Dorfe hörte, gefällst Du Dir ja heute in der Rolle der heiligen Landgräfin Elisabeth. … Schloß Greinsfeld ist avancirt zur Herberge der Obdachlosen und Bettler!“ –

„O, lassen Sie doch der Jugend ihre Ideale!“ rief der Fürst herüber, indem er sich erhob. „Mein lieber Baron Fleury, wir wissen ja am besten, daß man sie selten mit in das höhere Alter hinübernimmt! … Sorgen Sie getrost für Ihre Schützlinge, meine liebe, kleine Gräfin – auch ich werde nicht ermangeln, mein Scherflein beizutragen. … Und nun, ehe ich gehe, eine herzliche Bitte! … Ich kehre übermorgen nach A. zurück, werde mir aber morgen erst noch die Freude machen, ein kleines Amüsement im Walde zu veranstalten – wollen Sie als mein Gast kommen?“

„Ja, Durchlaucht, von Herzen gern,“ entgegnete sie ohne Zögern.

„Das ist’s aber nicht allein, was ich wünsche,“ fuhr der Fürst lächelnd fort. „Ich sehe ein, daß ich Ihrem allzu ängstlichen und zärtlichen Papa zu Hülfe kommen muß – er läßt Sie möglicherweise noch Jahre lang in der Einsamkeit schmachten, aus unbegründeter Angst vor der Wiederkehr Ihres Leidens. … Ich setze deshalb Ihre Vorstellung bei Hofe für die nächste Woche fest und freue mich kindisch auf das Erstaunen der Fürstin, wenn sie urplötzlich die wiedererstandene Gräfin Völdern vor sich steht.“

Der Minister verhielt sich vollkommen ruhig und schweigend bei dieser Eröffnung. Die Lider lagen tief über den Augen, und kein Muskel des eisernen Gesichts bewegte sich; aber die Farbe der Wangen spielte in’s Grünliche.

Dagegen fuhr der Medicinalrath empor, als habe ihn eine elektrische Batterie getroffen.

„Halten Euer Durchlaucht zu Gnaden, aber diese allergnädigsten Maßregeln erschrecken mich ganz außerordentlich!“ stammelte er. „Meine heilige Pflicht als Arzt –“

„Ah bah, Herr Medicinalrath,“ unterbrach ihn Serenissimus, und die kleinen grauen Augen blickten ziemlich ungnädig. „Mir scheint, Sie überschätzen den Umfang Ihrer Pflichten. … Ich möchte Ihnen fast zürnen, daß Sie Seine Excellenz so ganz und gar nicht zu ermuthigen verstehen!“

Der Medicinalrath brach zusammen und zog sich in tiefster Zerknirschung zurück. … Fürstliche Ungnade! O Donnerwort! …

Frau von Herbeck stand erstarrt vor dieser Niederlage. Sie hatte anfänglich nach einem Blick auf das verfärbte Gesicht Seiner Excellenz sehr resolut und kampffertig ausgesehen – das war vorbei. Dennoch fand sie den Muth zu einer schüchternen Einwendung.

„Ich habe nur ein Bedenken, Durchlaucht,“ wagte sie einzuwerfen. „Die Gräfin besitzt nicht eine einzige Toilette –“

„Lassen Sie das!“ unterbrach sie der Minister finster. „Seine Durchlaucht haben befohlen, und das genügt, sofort jedes Bedenken fallen zu lassen. … Für die Toilette wird die Baronin Sorge tragen.“

Gisela fuhr bei dieser Versicherung zurück.

„Nein, Papa – ich danke!“ rief sie erregt. „Durchlaucht,“ wandte sie sich mit einem lieblichen Lächeln an den Fürsten, „darf ich nicht im weißen Muslinkleid kommen?“

„Versteht sich – kommen Sie, wie Sie da vor mir stehen! Wir sind ja nicht am Hofe zu A. … Und nun à revoir!

Die Wagen hielten bereits am Thor. Man hatte auch das Pferd des Portugiesen gebracht.

Nach wenigen Minuten lag der Greinsfelder Schloßgarten wieder im tiefsten Schweigen. Gisela aber stand noch lange unter der Linde und verfolgte die Staubwolken, welche die Wagen aufwirbelten. … Durch ihre Seele zogen Wonnen und Schmerzen. … Bis in alle Ewigkeit konnte sie den Blick nicht vergessen, mit dem er sie an seine Brust gezogen hatte. … Und doch, und doch wollte er die Waffen gegen sie erheben! …

Mittlerweile lief Frau von Herbeck wie wahnwitzig im Schlosse umher – ihre sämmtlichen Roben waren zum Verzweifeln unmodern. Dazu hing ein furchtbares Gewitter in den Lüften, das sich unausbleiblich auch über ihrem Haupte entladen mußte. … Auch bei den heftigsten Affekten hatte sie ja das Gesicht Seiner Excellenz noch nie „grünlich“ gesehen. …


[354]
25.

Es war sieben Uhr Abends, als der Wagen der jungen Gräfin Sturm durch den Arnsberger Schloßgarten rollte. Das Fest im Walde sollte allerdings erst nach acht Uhr beginnen, allein Frau von Herbeck hatte einige Zeilen von seiner Excellenz eigener Hand erhalten, die sie aufforderten, die Gräfin eine Stunde früher zu bringen.

Diese Zeilen, um welche Gisela nicht wußte, waren wie ein linder, wundervoll erquickender Thau auf die fiebernden Lebensgeister der Gouvernante gefallen; sie waren im altgewohnten, vertraulichen Ton gehalten, und die schließliche Versicherung, daß man ihrer klugen Umsicht, gegenüber der widerspenstigen gräflichen Waise, jetzt mehr als je bedürfe, versetzte sie in den siebenten Himmel.

Seine Excellenz machte also gute Miene zum bösen Spiel – er fügte sich der verhaßten Nothwendigkeit und machte die Gouvernante nicht verantwortlich dafür, was der tückische Zufall und die eigenmächtige Handlungsweise der störrigen Stieftochter verschuldet. Nun kam es vor Allem darauf an, die vernachlässigte Erziehung des jungen Mädchens, bei der man eine lebenslängliche Verborgenheit unerschütterlich im Auge gehabt hatte, geschickt zu verdecken, bis den Mängeln abgeholfen sein würde – diese Mission legte man vertrauensvoll auf ihre Schultern. … Sie war offenbar dazu berufen, die junge Gräfin bei ihrem jedesmaligen Erscheinen am Hofe zu begleiten – endlich nach langen Jahren der Verbannung sollte sie wieder Hofluft athmen! Entzückende Aussicht!

Freilich ein bedenklicher Schatten fiel noch auf das gelobte Land – das war die Unlenksamkeit und sogenannte Indolenz ihrer Schülerin. … Gisela saß in ihrem despectirlich schlichten Anzug so nachlässig in sich zusammengesunken neben ihr, daß sich die erbitterte Gouvernante sägen mußte, das junge Mädchen denke an alles Mögliche, nur nicht an den hochwichtigen Moment, der ihr bevorstehe. … Frau von Herbeck dachte an ihr eigenes erstes Erscheinen inmitten des Hofkreises, auch an verschiedene junge Damen, die sie bei diesem erstmaligen Debüt beobachtet – da hatte es stets fieberrothe Wangen und todesängstliche, verzagte Augen gegeben. Gisela’s selbstbewußte Ruhe und Zuversicht empörte sie geradezu, und zahllose „voraussichtliche Schnitzer“ tauchten wie drohende Gespenster vor ihr auf.

Nun fuhr der Wagen durch den Schloßgarten. … Um die Beweisführung seiner ungeschmälerten Gnade, seines unwandelbaren Vertrauens für den Minister recht eclatant zu machen, hatte der Fürst Alles, was noch an hoffähigen Leuten in A. auszutreiben war, zu dem Fest im Arnsberger Wald eingeladen – es sollte das Tagesgespräch im Lande werden. …

Frau von Herbeck’s Herz schwoll, sie vergaß ihrer Aengste, als sie den belebten Garten überblickte. … Die buntfarbigen Toiletten lustwandelnder Damen schimmerten aus den Alleen und durch die Bosquets herüber, und unter der Orangerie saßen verschiedene Gruppen plaudernder und rauchender Herren; man vertrieb sich die Zeit bis zum Beginn des Festes möglichst angenehm. Wo aber auch der Wagen vorüberkam, überall erfolgte ein erstauntes, fast erschrockenes Aufblicken nach der jugendlichen Erscheinung mit dem blond niederwallenden Haar und der fremdgleichgültigen Haltung – ein zweiter Blick fuhr rasch musternd über die kleine, fette Frau; dann flogen sofort die Hüte von den Köpfen der Herren, und die Damen schwenkten grüßend die Taschentücher – das war eine Art von Triumphzug für Frau von Herbeck – „die lieben alten Bekannten“ freuten sich sichtlich, sie wiederzusehen. …

Der heute erhaltenen Instruction zufolge führte sie die junge Gräfin nach den Appartements, die der Minister und seine Gemahlin bewohnten.

Während alle Gänge und Treppen des weißen Schlosses widerhallten von den Fußtritten eilig hin und wiederkehrender Menschen; war es in dem Corridor, den die beiden Damen betraten, lautlos still. Die dunkelblauen Rouleaux hingen glatt vor den Fenstern; sie hielten die glühende Abendsonne, aber auch jeden eindringenden Luftzug zurück – das blaue Dämmerlicht und die schwülbrütende Stille halten etwas Herzbeklemmendes.

Gisela huschte flüchtigen Fußes an den Thüren vorüber, hinter denen sie den Mann mit den steinernen Zügen wußte. … Das Verhältniß zwischen ihm und ihr hatte plötzlich eine völlig veränderte Gestalt angenommen – sie stand ihm in offener, erklärter Opposition gegenüber und wußte, daß jedes zwischen ihnen fallende Wort ein Funke war, der Stahl und Stein entsprang; sie war auch fest entschlossen, den einmal betretenen Weg unerschrocken weiterzuwandeln, und doch blieb ihr jene echt mädchenhafte Scheu, die vor jedem harten Zusammenstoß zurückbebt. … Sie fürchtete sich vor einem Alleinsein mit ihrem Stiefvater – das aber blieb ihr nicht erspart.

In dem Augenblick, wo sie vorüberschlüpfen wollte, wurde die Thür des wohlbekannten Arbeitscabinets zurückgeschlagen – der Minister stand auf der Schwelle. … Der bleichende, blaue Schimmer floß über sein Gesicht und machte es gespensterhaft fahl.

Er sagte kein Wort des Grußes – es schien, als vermeide er geflissentlich jeden Laut – aber er faßte sanft, wenn auch mit festem Drucke, die Hand der jungen Dame und zog sie über die Schwelle – seine Finger waren kalt wie Eis; Gisela schauderte, ihr war, als schliche die tödtliche Kälte bis in ihr warmes, pochendes Herz hinein.

Ein Wink seiner Hand verabschiedete die verblüffte Gouvernante bis auf Weiteres; dann fiel die Thür hinter Vater und Stieftochter geräuschlos in’s Schloß.

War es schon draußen im Corridor unheimlich schwül gewesen, so glaubte Gisela, in dem nicht sehr großen Zimmer, das sie wider Willen betreten, ersticken zu müssen. … Die Jalousieen lagen dicht vor den Fenstern; durch die schmalen Spalten drang das Licht nur spärlich – es blieb gleichsam hinter den türkischen Gardinen hängen, in denen es hie und da eine große, orangefarbene Arabeske grell aufleuchten ließ.

Und jetzt schloß der Minister auch noch sorgfältig den letzten offenen Fensterflügel – die Lust war erfüllt von jenem betäubenden Parfüm, welches ihr Stiefvater sehr liebte, und das, so weit sie zurückdenken konnte, stets die Person Seiner Excellenz umschwebt hatte – Gisela verabscheute diesen Geruch.

Sie blieb, während der Minister mit dem sorglichen Schließen des Fensters beschäftigt war, regungslos an der Schwelle stehen; ihre Hand hatte unwillkürlich das Thürschloß ergriffen, als gelte es, den Rückweg zu sichern. … In dem ganzen ihr von Kindheit an verhaßten Zimmer war nur ein Gegenstand, auf welchem ihr Auge haften mochte – das lebensgroße, in Oel gemalte Kniestück ihrer verstorbenen Mutter; es hing über dem Schreibtisch des Ministers. Der breite, goldene Rahmen blinkte freilich nur matt durch das Halbdunkel und die Linien der reizenden, hellen Gestalt mit den Feldblumen im Schooße und auf dem goldblonden, demüthig gesenkten Lockenköpfchen zerflossen unter dem Schatten; dennoch suchte Gisela’s Blick die großen, grauen Taubenaugen, die so unschuldig und glückselig in die Welt hineinschienen, als sei der ganze Weg durch diese Welt voll jener harmlosen Blüthen, mit denen auch die schlanken Kinderhände gestillt waren.

„Gisela, mein liebes Kind, ich habe mit Dir zu reden,“ sagte der Minister vom Fenster zurücktretend. Sein Ton klang weich, zärtlich, aber auch trauervoll. Gisela kannte diesen ominösen Stimmenklang sehr gut – sie hatte ihn jedesmal hören müssen, wenn sie sich, unsäglich elend und hinfällig fühlte, wenn der Medicinalrath mit Achselzucken und weisem Kopfschütteln und Frau von Herbeck händeringend an ihrem Bett standen – er vervollständigte auch jetzt nur den peinlich beklemmenden Eindruck, den ihr die ganze augenblickliche Situation machte.

Wahrscheinlich stand das sehr deutlich auf ihrem Gesicht geschrieben – der Minister blieb dicht vor ihr stehen und musterte einen Moment schweigend und stirnrunzelnd ihre fluchtbereite Haltung.

„Nur jetzt keine Thorheit, Gisela!“ warnte er, feierlich drohend den dünnen, bleichen Zeigefinger hebend. „Ich bin genöthigt, an Deinen Verstand, an Deine Entschlossenheit, vor Allem aber an Dein Herz zu appelliren. … Nach Verlauf von einer Stunde wirst Du wissen, daß es überhaupt von jetzt ab ein Ende haben muß mit Deinen Tollheiten und Extravaganzen!“ …

Er lud sie mit einer Handbewegung ein, auf dem nächsten Fauteuil Platz zu nehmen. … In demselben Augenblick aber flog die Portiere einer der Seitenthüren auseinander, und die schöne Stiefmutter stand im Zimmer, so plötzlich und unerwartet, als sei sie von den rosa Gazewolken, in denen ihre wundervolle Gestalt förmlich schwamm, hereingetragen worden. … Gegen diese Annahme protestirten indessen Haltung und Gesichtsausdruck der schönen Frau energisch. Es sah aus, als wollten die kleinen Füße am liebsten den Zimmerteppich zerstampfen, – auf den [355] Wangen brannte die Fieberröthe, welche Frau von Herbeck heute so schmerzlich an Gisela vermißte, und die dunklen Augen loderten in entfesselter Leidenschaft.

Sie trat mit gesenktem Kopf vor das junge Mädchen, und ihn langsam hebend, ließ sie den Blick messend von den Fußspitzen an bis hinauf zu dem blonden Scheitel ihrer Stieftochter gleiten. … Gisela schrak zurück vor dem satanischen Ausdruck, der die feinen Nasenflügel der Frau beben machte und ihre Lippen so fest aneinander schloß, daß die purpurne Linie für einen Moment völlig verschwand.

„Ei steh doch, da bist Du ja!“ sagte sie mit heiserer Stimme. „Also richtig durchgesetzt, mein Püppchen? … Und nächste Woche ist große Vorstellung bei Hofe! … Nun, die Fürstin wird sich gratuliren, eine junge Hopfenstange mehr um sich zu haben!“

Der Minister, der eben im Begriff gewesen war, sich zu setzen, schnellte empor. Durch die offen gebliebene Thür strömte volles Licht in das verdunkelte Zimmer – es wob eine Art Glorie um die Frau im rosa Gazekleide, aber es fiel auch auf die Züge ihres Gemahls – sie zeigten unverhohlen Zorn und Bestürzung.

„Jutta, lasse Dich nicht fortreißen!“ sagte er zwischen den Zähnen. „Du weißt, daß ich in meinem Arbeitszimmer ein Anderer bin, als in Deinen Salons, und daß ich Dir seit Anbeginn unserer Ehe ein plötzliches Eintreten untersagt habe.“

Sein Blick heftete sich finster auf den Anzug der trotzig schweigenden Frau.

„Uebrigens muß ich fragen, warum schon in der Bühnentoilette?“ fuhr er in etwas verändertem Ton fort. „Ist die Dame des Hauses, das voller Gäste steckt, gar nicht mehr nöthig? –“

„Ich bin heute nicht Dame des Hauses, sondern Gast des Fürsten – die Gräfin Schliersen macht die Honneurs, mein Herr Gemahl!“ versetzte sie schneidend. „Und mit meiner Toilette habe ich so früh begonnen, weil ihr Arrangement Zeit beansprucht und Mademoiselle Cecile über alle Begriffe langsam ist.“

Sie wandte Gisela verächtlich den Rücken und warf mit beiden Händen den silberdurchwobenen Schleier zurück, der ihr wie Mondschein vom Haupte floß. Ihre unvergleichliche Schönheit kam in diesem idealen Anzug voll zur Geltung – dafür schien aber ihr Gemahl vollständig unempfindlich zu sein. Seine Brauen falteten sich noch finsterer – er fuhr unwillig mit der Hand über die Augen, wie wenn sie unangenehm geblendet würden; und in der That, von der Erscheinung ging ein so buntfarbiges Sprühen und Blitzen aus, als habe sie den ganzen Sternenhimmel über sich hergestreut. Auf den Gazewogen lagen zwar nur einfache, unschuldige weiße Rosen, aber in jedem Kelch, auf den zartgebogenen milchweißen Blättern schaukelten Brillanten als Thautropfen; auch hie und da funkelten, als sei der Thau den Blumen entfallen, einzelne hingesäte Steine aus den rosigen Falten. Durch die schwarzen Locken der Dame wanden sich auch Blüthenzweige, aber keine lebensfrischen – es waren aus Brillanten zusammengesetzte Fuchsien – aus ihren Kelchen fielen leuchtende Staubfäden auf die Stirn.

„Soll ich diesen Anzug für das Zigeunercostüm halten, in welchem Du heute erscheinen wolltest, Jutta?“ fragte der Minister, nicht ohne eine beißende Beimischung in seiner Stimme, indem er auf das Kleid seiner Gemahlin zeigte.

„Die Zigeunerrolle habe ich der Sontheim überlassen. Euer Excellenz – es gefällt mir besser, für heute Titania zu sein,“ versetzte, sie impertinent.

„Und war dazu eine solche Brillantenverschwendung nöthig?“ – Er war unverkennbar tief gereizt – „Du kennst meine Antipathie gegen dieses Ueberladen mit Steinen –“

„Erst seit Kurzem, mein Freund,“ unterbrach sie ihn. „Und ich zerbreche mir vergebens den Kopf, was Dich plötzlich zu einem solch’ entschiedenen Verächter des Schmuckes macht, dessen Glanz Du einst selbst bei jedem öffentlichen Erscheinen Deiner Gemahlin für unentbehrlich gehalten hast. … Uebrigens, mag sich Dein Geschmack verändert haben – was kümmert’s mich! Ich liebe diese Steine bis zur Vergötterung! Ich werde mich mit ihnen schmücken, so lange mein Haar schwarz ist und meine Augen leuchten können, oder besser, so lange mir der Athem aus- und eingeht! … Ich habe und ich halte sie und werde das Eigenthumsrecht zu vertheidigen wissen, selbst – wenn es sein müßte – mit Händen und Zähnen!“

Wie leuchteten diese kleinen, weißen Zähne hinter der emporgezogenen Oberlippe der reizenden Titania!

„Auf Wiedersehen im Walde, schöne Gräfin Völdern!“ rief sie mit einem halb wahnwitzigen Auflachen dem jungen Mädchen zu, dann flog sie, wie von einem Wirbelwind erfaßt, wieder über die Schwelle.

Der Minister sah ihr nach, bis der letzte rosige Schein der Gaze verschwunden und das flüchtige Klappern der kleinen Absätze hinter einer fernen Thür verklungen waren. Er schloß die Thür leise wieder, zog aber die Portière nicht zusammen – Portièren sind vortreffliche Schlupfwinkel für Lauscher.

„Mama ist sehr aufgeregt,“ sagte er scheinbar ruhig zu Gisela, die wie erstarrt und festgewurzelt noch auf derselben Stelle stand. „Die Furcht, daß ein plötzliches Hervorbrechen Deiner Anfälle die heutige Festlichkeit unangenehm stören könnte, bringt sie ganz außer sich. Dabei quält sie die Angst, Dein unvorbereitetes Erscheinen am Hofe könne Dich und uns rücksichtlich Deiner großen Unerfahrenheit in Welt und Leben in endlose Verlegenheiten und Unannehmlichkeiten verwickeln. … Sie hat ja keine Ahnung, die arglose Frau, daß diese Vorstellung bei Hofe nie stattfinden kann und wird – diese Beruhigung aber darf ich ihr nicht einmal geben – sie muß aus Deinem Munde kommen, Gisela!“

Er griff wieder nach ihrer Hand und nahm sie zwischen die seinigen – diese eisigen Finger zitterten, und als das junge Mädchen erstaunt forschend in das fahle Gesicht des Stiefvaters sah, da wichen die Augäpfel unter den schlaffen Lidern seitwärts. Mit sanfter Gewalt zog er Gisela neben sich auf ein Sopha, sprang aber noch einmal auf, öffnete die Thür nach dem Corridor und überzeugte sich, daß derselbe menschenleer sei.

„Es handelt sich um ein Geheimniß,“ sagte er zurückkehrend mit gedämpfter Stimme, „um ein Geheimniß, dem ich nur dies eine Mal Worte geben darf – sie sollen von meiner Lippe zu Deinem Ohr gelangen, dann aber muß ihr Klang erlöschen für alle Zeiten … Armes Kind, ich hätte Dir von Herzen gern noch ein Jahr der ungebundenen Freiheit gegönnt – leider trägst Du selbst die Schuld – Dein unüberlegter Ritt giebt Deinem Leben eine überraschend schnelle Wendung; ich bin gezwungen das auszusprechen, was ich am liebsten für immer und ewig verschwiegen hätte. …“

Diese Einleitung war geheimnißvoll, dunkel wie die Nacht selbst und wohl geeignet, ein unerfahrenes achtzehnjähriges Mädchengemüth einzuschüchtern. Jener furchtsame Schrecken, der uns überrieselt angesichts einer Nachricht, welche das Schlimme nicht direct bringt, sondern es erst in unheimlicher, halbverwischter Perspective auftauchen läßt, er schlich auch lähmend durch die Glieder der jungen Dame; gleichwohl veränderte sich kein Zug des erblaßten Gesichts. Athemlos aufhorchend, die braunen Augen voll Mißtrauen, saß sie ihrem Stiefvater gegenüber – sie glaubte der trauervollen, einschmeichelnden Stimme nicht mehr, seit sie wußte, daß sie spitz und einschneidend werden konnte, wie ein scharfgeschliffener Dolch.

Er deutete nach dem Bild ihrer Mutter. Jetzt hatten sich ihre Augen bereits an das gedämpfte Licht des Zimmers gewöhnt; sie sah die Contouren der Gegenstände kräftiger hervortreten; auch die helle Gestalt mit dem blumengeschmückten Haupt hob sich aus dem Schatten, die seelenvollen Augen lächelten nach ihr hinüber, und man hätte meinen können, die gehobene blumengefüllte Hand wolle die blühenden Lieblinge der verwaisten Tochter zuwerfen.

„Du warst noch sehr jung, als sie starb – Du hast sie nie gekannt,“ sagte der Minister weich. „Und deshalb konnten wir uns bei Deiner Erziehung auch weniger auf ihr Andenken, als auf das Deiner Großmama beziehen. … Aber sie war ein Engel, sanft und fromm wie eine Taube – ich habe sie sehr geliebt!“

Ein ungläubiges Lächeln glitt flüchtig Über das Gesicht des jungen Mädchens – er hatte den „Engel“ sehr schnell vergessen über dem furienhaften Geschöpf, das dort eben zur Thür hinausgeflogen war. Das Bild hing unbeachtet in diesem Zimmer, welches Seine Excellenz nach jahrelanger Unterbrechung immer nur auf wenige Tage benutzte, während im Ministerhôtel zu A. die dämonisch schwarzen Augen der zweiten Gemahlin über seinem Schreibtisch funkelten.

[356] „Sie ist bis jetzt einflußlos auf Dein Leben gewesen,“ fuhr er fort. „Von nun an aber wirst Du einen Weg gehen, den sie Dir selbst, kurz vor ihrem frühen Tode, mit fester, sicherer Hand vorgezeichnet hat. Das darauf bezügliche Schriftstück liegt in A. – es soll in Deine Hände gelangen, sobald ich nach der Stadt zurückgekehrt sein werde.“

Er hielt inne, als erwartete er irgend einen unterbrechenden Ausruf, eine Frage seiner Stieftochter; allein sie schwieg beharrlich und erwartete scheinbar gelassen die weitere Entwicklung seiner Mittheilungen. Er sprang in sichtlicher Ungeduld auf und ging rasch einmal im Zimmer auf und ab.

„Du weißt, daß der größte Theil der Völdern’schen Besitzungen vom Prinzen Heinrich herstammt?“ fragte er, plötzlich stehenbleibend, in so kurzem, unumwundenem Ton, als gelte es, mittels eines einzigen Hiebes den dunklen Knoten durchzuhauen.

„Ja, Papa!“ entgegnete Gisela, den Kopf neigend.

„Du weißt aber nicht, auf welche Weise sie in die Hände der Großmama gekommen sind?“

„Man hat nie mit mir darüber gesprochen; aber ich kann mir selbst sagen, daß sie die Güter gekauft haben wird,“ versetzte sie vollkommen ruhig und harmlos.

Ein häßliches Lächeln zuckte um den Mund Seiner Excellenz. Er setzte sich rasch wieder nieder, ergriff die schlanken Hände, die gefaltet auf den Knieen der jungen Dame lagen, und zog sie vertraulich an sich heran.

„Komm einmal her, mein Kind,“ flüsterte er, „ich habe Dir Etwas zu sagen, das voraussichtlich Dein unschuldiges Gefühl für einen Augenblick alteriren wird. … Aber ich füge ausdrücklich hinzu, daß dergleichen Fälle zu Tausenden Vorkommen, und daß die Welt sie sehr nachsichtig beurtheilt. … Du bist achtzehn Jahre alt – man kann und darf nicht immer Kind bleiben hinsichtlich gewisser Begriffe – die Großmama war die Freundin des Prinzen. …“

„Das weiß ich, und so wie ich dieses Freundschaftsverhältniß beurtheile, muß er sie verehrt haben wie eine Heilige!“

„Denke Dir die Sache minder heilig, mein Kind –“

„O Papa, wiederhole das nicht!“ unterbrach sie ihn in flehendem Ton. „Ich weiß es ja seit gestern, daß die Großmama – wenig Herz gehabt hat.“

„Zu wenig? …“ Er bog sich lächelnd zurück – zahllose Linien und Runzeln gruben sich für einen Moment in das Steingesicht, es konnte überraschend ausdrucksvoll und sprechend sein, sobald es frivol wurde. „Zu wenig?“ wiederholte er nochmals. „Wie soll ich das verstehen, meine Kleine?“

„Sie war schlimm gegen die Nothleidenden – sie hat gedroht, die Armen mit Hunden forthetzen zu lassen.“

Der Minister sprang abermals auf – diesmal jedoch in ausbrechendem Zorn. Sein Fuß stampfte den Boden, und auf der Lippe schien ihm eine Verwünschung zu schweben.

„Wer hat Dir diese Schnaken in den Kopf gesetzt?“ rief er grimmig. Er sah sich weit vom Ziel zurückgeschleudert – die unschuldige Kindesseele entfaltete ihre weißen Flügel, sie schwebte über ihm und machte es ihm sehr schwer, den Schmutz seiner Erfahrungen, seines Weltwitzes auf ihr fleckenloses Gefieder zu schleudern.

„Nun denn,“ – sagte er nach einer kurzen Pause stirnrunzelnd, indem er sich mit einer ungeduldigen Bewegung wieder niederließ – „wenn Du es durchaus so willst, die Großmama war also die Heilige des Prinzen – er liebte sie so abgöttisch, daß er in den Zeiten seiner höchsten Verehrung ein Testament verfaßte, in welchem er seine Verwandten verstieß und – die Gräfin Völkern zur Universalerbin einsetzte.“

Jetzt kam eine lebhafte Bewegung in die Züge des jungen Mädchens – sie hob unterbrechend die Hand – „Natürlicherweise hat die Großmama gegen eine solche Ungerechtigkeit energisch protestirt!“ sagte sie in athemloser Spannung, aber doch mit unerschütterlicher Zuversicht.

„O Kind, es kommt ganz anders, als Du denkst! … Das muß ich Dir übrigens sagen, die ganze Welt würde gelacht haben, wenn die Großmama in Deinem Sinn gehandelt hätte – gegen die Annahme einer halben Million protestirt man nicht so ohne Weiteres, Liebchen! … In diesem Fall ist das Verhalten der Großmama, welches die Erbschaft ruhig acceptirte, nicht im Entferntesten anzutasten – der Fehlende war Prinz Heinrich, nicht sie! … Dagegen kommen wir jetzt an einen Punkt, den auch ich nicht entschuldige –“

„Papa, ich möchte lieber sterben, als diesen Punkt hören,“ fiel das junge Mädchen mit vollkommen klangloser Stimme ein. Sie saß da mit blutlosem Gesicht und zuckenden Lippen und lehnte den Kopf an das Sophapolster zurück.

„Herzenskind, es stirbt sich nicht so leicht. … Du wirst weiterleben, auch wenn Du diesen dunklen Punkt kennst, und wenn ich Dir rathen soll, so suchst Du ihn möglichst schnell wieder zu vergessen. … Das Testament des Prinzen lag also bereits seit Jahren da, und sein Verhältniß zu Deiner Großmama blieb ein ungetrübtes, bis sich plötzlich böswillige Einflüsterungen zwischen die beiden Menschen drängten – es geschah öfter, daß sie im Groll von einander schieden. … Da gab die Gräfin Völkern einen großen Maskenball in Greinsfeld – der Prinz war nicht erschienen, – man hatte sich wieder einmal gezankt. … Plötzlich gegen Mitternacht wird der Großmama gesagt, Prinz Heinrich liege im Sterben – wer ihr die Nachricht zugeflüstert, weiß bis heute Niemand. – Sie stürzt aus dem Saal, wirft sich in einen Wagen und fährt nach Arnsberg – Deine Mutter, damals ein siebzehnjähriges Mädchen, das den Prinzen geliebt hatte, wie einen Vater, begleitete sie.“ …

Er schwieg einen Moment. Der gewiegte Diplomat zögerte doch unwillkürlich, ehe er den falschen Zug in dem entworfenen Bild weiter vertiefte. Er ergriff ein Flacon und hielt es an das todtenbleiche Mädchengesicht, das mit zugesunkenen Wimpern an dem Polster lehnte. Bei dieser Berührung fuhr Gisela, die Augen aufschlagend, empor – sie stieß seine Hand zurück.

„Mir ist nicht übel – erzähle weiter,“ sagte sie hastig, aber mit ungewöhnlicher Energie. „Meinst Du, es sei süß, auf der Folter zu liegen?“ Ein herzzerreißender Blick brach aus den braunen Augen.

„Das Ende ist rasch erzählt, mein Kind,“ fuhr er mit gedämpfter Stimme fort. „Aber ich muß Dich dringend bitten, den Kopf oben zu behalten – Du siehst sehr verstört aus! … Du wirst bedenken, wo Du bist, und daß gerade heute die Wände Ohren haben! … Der Prinz lag eben im Verscheiden, als die Gräfin Völkern athemlos an seinem Bett zusammenbrach; aber er hatte noch so viel Bewußtsein, sie hinwegzustoßen – er muß ihr bitter gegrollt haben. … Auf dem Tisch lag ein zweites, eben vollendetes Testament, unterschrieben von der Hand des Sterbenden und von den Herren von Zweiflingen und Eschebach, welche zugegen waren – es setzte das fürstliche Haus in A. zum Universalerben ein. … Ich selbst befand mich in jener verhängnißvollen Stunde auf dem Weg nach der Stadt, um den Fürsten zu einer Versöhnung an das Sterbebett zu holen. … Der Prinz starb, eine Verwünschung gegen die Großmama auf den Lippen, und eine halbe Stunde darauf warf sie – im Einverständniß mit den Herren von Zweiflingen und Eschebach – das neue, ebenvollendete Testament des Prinzen in die Kaminflamme und– trat die Erbschaft an!“ – – –

Gisela stieß einen markerschütternden Schrei aus. … Ehe es der Minister verhindern konnte, sprang sie empor, riß einen Fensterflügel auf und stieß die Jalousie zurück, so daß der letzte, volle Strahl der Abendsonne purpurn über Parquet und Wände hinfloß.

„Nun wiederhole mir im hellen Tageslicht, daß meine Großmama eine Verworfene gewesen ist!“ schrie sie auf – ihre süße, weiche Stimme brach in einem gellenden Aufschluchzen.

Wie ein Tiger stürzte sich der Minister auf das Mädchen und riß es vom Fenster hinweg, während er die bleichen, knöchernen Finger roh auf ihre zarten Lippen preßte.

„Wahnwitzige, Du bist des Todes, wenn Du nicht schweigst!“ stieß er zwischen den Zähnen hervor.

(Fortsetzung folgt.)

[357] 
Altfränkisches Eherecht und Kampfgericht.

Es giebt nichts Verkehrteres und Herabwürdigenderes als die Vorurtheile, welche gegen unsere Vorfahren gang und gäbe sind. Man hört sie als rohe Barbaren mit den absonderlichsten Einrichtungen schildern. Gerade das Gegentheil lehrt die Geschichte. Als die Deutschen das römische Reich in Trümmer schlugen, wurden sie das Culturvolk für die ganze Welt. Jene Franken, die in Flandern saßen, brachten mit ihrem Handel deutsche Gesittung in alle Slavenlande östlich von Lübeck und Magdeburg bis in die russischen Ostsee-Provinzen und durch alle österreichischen Lande, Böhmen, Mähren und Ungarn eingeschlossen.

Kampf zwischen Mann und Frau.
Nach einer alten Zeichnung.

Fränkisches (und burgundisches) Recht galt durch ganz Frankreich, lombardisches im ganzen nördlichen Italien, gothisches auf der pyrenäischen Halbinsel. Die englische Cultur beruht auf den Einrichtungen der den Franken nächst verwandten Angelsachsen und der Normannen, welche das fränkische Recht aus Frankreich mitbrachten. – Alle Handelsstädte und Handelsvölker des Mittelalters und der neueren Zeit hatten deutsches Eherecht. Sprache und Recht sind nationale Grundpfeiler. Auch wo das germanische Element über die Sprache nicht Herr wurde, zeigt das Gelten deutschen Rechtes darauf hin, daß germanische Gesittung selbst da die Oberhand gewonnen, wo sie sich Romanischem anbequemt hat. Aber das deutsche Eherecht gehört ganz besonders zu diesen alten fränkischen Ehren.

Das deutsche Eherecht beruht auf dem Grundgedanken, daß die Ehegatten sich näher sind als die Blutsverwandten, selbst die leiblichen Kinder; namentlich gestalten sich die Vermögens- und Lebensverhältnisse mit der Verheirathung für immer und so fest, daß sie selbst den Tod des einen Ehegatten überdauern. Letztere Bestimmung verdankt ihre Entstehung der zartsinnigen Annahme, daß der Zurückbleibende, wenn der Tod des anderen Ehegatten ihn aus dem erheirateten Besitze triebe, selten im Stande sein würde, aus eigenen Kräften sich in dem nämlichen Vermögensstande zu erhalten oder ihn neu zu schaffen. Dieser Grundgedanke geht Hand in Hand mit der hohen Achtung vor den Frauen, die den ältesten Deutschen nachgerühmt wird; der Vortheil, welchen Handel und Gewerbe daraus zogen, erhob ihn zum Eherecht aller Handeltreibenden. So stellte die Gesittung und die praktische Begabung, welche den angeblichen Barbaren inwohnte, sie an die Spitze der Cultur der ganzen Welt. Die von Jahr zu Jahr mehr aufgeschlossenen Rechtsquellen unserer Vorfahren zeigen in allen Einrichtungen den gesunden Verstand, der mit einfachen Mitteln auf das Praktische gerade losgeht, und wir können dies sogar an ein paar veralteten Einrichtungen sehen, die in der Regel dazu benutzt werden, die Germanen als Barbaren zu verdächtigen. Wir gehen damit zugleich zur Betrachtung unserer Illustration über.

Fremdartig dünken uns Brauch und Tracht auf dem beigegebenen Bilde, das aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammt, in der Kleidung aber auf das elfte zurückweist. Die Inschrift lautet: "Da steht, wie Mann und Frau mit einander kämpfen sollen. Und sie stehen hier in dem Anfang. Da steht die Frau frei und will schlagen und hat einen Stein in dem Schleier (ihrem Brusttuch), der wiegt vier bis fünf Pfund. So steht er in der Gruben bis an die Mitte hin, und ist der Kolben so lang als ihr der Schleier von der Hand.“ Nach dem Augsburger Stadtrecht von 1276 und der Würzburger Kampfgerichtsordnung von 1447 führte der Mann einen ellenlangen Stecken, der vorne zwei Mannsdaumen dick war, während die Frau aus einem zwei Fäuste längeren Haselstabe, einem Stein von einem Pfund, ihrem Brusttuch und einem Lederriemen einen sogenannten Todtschläger zusammengebunden hatte.

Wann war nun dieser Kampf zulässig? Selbstverständlich nicht zwischen Ehegatten, sondern nur ausnahmsweise, wenn ein Missethäter auf die gesetzlich zulässige Weise nicht überführt werden konnte. Unsere Vorfahren hielten, wie wir gesehen haben, im Interesse der Gerechtigkeit es für nöthig, die stärksten Garantieen für das Leben zu geben und es nur bei untrüglichen Beweise abzuerkennen. Sie gestatteten daher dem Beschuldigten oder dem, [358] welcher sich von einem Gerüchte (Inzicht, Bezichtigung) freischwören wollte, den Reinigungseid auf den Reliquien eines Heiligen. Der Staat hatte zur Beschränkung des bei allen Urvölkern, auch bei den Deutschen früher geltenden Rechts der Privatrache und zur Herstellung der Rechtsordnung es übernommen, den Beleidigten Genugtuung zu verschaffen. Erklärte das Gericht, wegen Beweismangels mangels dies nicht zu vermögen, so lebte nach damaliger Ansicht das Recht des Beleidigten, Rache zu üben, wieder auf. Wenn daher der Beschuldigte die Finger auf den Reliquienkasten legte, um durch seinen Schwur jede Strafe zu vereiteln, so konnte der Beleidigte und wer sonst zu Klage berechtigt war, nach fränkischem Rechte auch ein Weib, dies hindern, namentlich wenn ihr der Beschuldigte die Mädchen- oder Frauenehre gewaltsam genommen hatte. Sie trat hinzu und stieß ihm die Schwurfinger weg. Damit übernahm sie die Privatrache, freilich mit Gefahr ihres Lebens. Denn wie es ihr gelingen konnte und, nach den vorhandenen Aufzeichnungen, auch mitunter gelungen ist, ihren Gegner todtzuschlagen, oder den Wehrlosgemachten als der That überführt enthaupten zu lassen, oder ihm den Preis der Lösung zu bestimmen, so mußte sie, wenn sie wehrlos gemacht wurde, auch unter seinen Streichen oder, wenn es der Sieger verlangte, wegen Landzwangs, d. h. falscher Anklage auf Leben und Tod, nach Urtheilsspruch des Gerichtes sterben. In der Grube, in welcher der Beschuldigte gegen sie gekämpft, wurde sie lebendig begraben. Nur insofern sah man im Ausgange des Kampfes ein Gottesurtheil, nicht wenn einer im Kampfe wirklich fiel. Darüber, ob der Sieg immer dem materiellen Rechte entspräche, machte man sich keine Illusionen. Aber die Menschen, deren Einsicht unzulänglich ist, müssen sich häufig mit formellem Rechte begnügen. Darum entschloß man sich zu der Annahme, daß Gott den Ausgang, wenn nicht selbst bewirkt, doch zugelassen habe. Immer war es besser, wenn das blutige Ende zwischen zwei Personen und im Gerichte vorfiel, als wenn außergerichtliche Privatrache auf Mord, Brand und Hinterlist sann und Dritte in’s Unglück zog. Als um 1250 die Gottesurtheile ganz abkamen, behielt man den gerichtlichen Zweikampf als ein letztes Auskunftsmittel noch immer bei, – nicht in den Städten, wo er damals allmählich abgeschafft wurde, selten im Centgerichte, häufiger in den Landgerichten, vor welchen die Adeligen zu Recht standen. Auch früher wurde nämlich, selbst bei peinlicher Anklage, der nicht überführte Beklagte zum Kampfe nicht gezwungen, sondern vermied ihn durch Eingeständniß; er verlor dann nicht das Leben, sondern die Hand oder in der Regel statt ihrer eine Geldsumme.

In noch milderer Weise gebrauchte man im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert die Anforderung zum Kampfgerichte gegen Adelige, die auf ihren Schlössern den gewöhnlichen Gerichten trotzten, oder den Urtheilsvollzug hinderten. Man wollte dann nicht ein Todesurtheil gegen sie erwirken, sondern sie nur zwingen, sich einem ordentlichen Verfahren und dem Urtheilsvollzuge des Landgerichtes zu unterwerfen. Wer im Kampfe unterlag und das Leben nicht dabei verlor, hatte nur seinen Anspruch, nicht sein Leben verwirkt. Es war ein rohes, trügerisches, aber doch ein letztes, sehr wirksames Mittel, die Raublust und Zügellosigkeit der Adeligen niederzukämpfen. Denn wenn sie sich auch aus Fürst und Gericht nichts machten, fürchteten sie doch die sonst unausbleibliche Kampfacht, den Vorwurf der Feigheit und damit die Verachtung aller Standesgenossen, und stellten sich lieber zum gütlichen Austrag oder zum Kampfe in gerichtlichen Formen.

Der Kern dieser Formen hat sich merkwürdig in den Duellgebräuchen der Studenten bis in neuere Zeit erhalten. Wie man sich dreimal zum Zweikampf bestimmen lassen darf, bis man bei Vermeidung des Verrufes sich stellen muß, so dreimalige Ladung zum Kampfgericht. Der Kläger trat vollständig gerüstet vor das Gericht, schlug mit dem Kolben, der fränkischen uralten Handwaffe, die bis zum Hammer der Steinzeit hinausreichen mag, an seinen Schild und rief. „Unter meinem Schild und unter meinem Hut mit meinem Kolben heische ich Dich für, nach Kampfrecht, nach Frankenrecht, nach des Landes Recht um die That, die Du begangen. Jehst (bejahst) Du mir sie, das ist mir lieb, leugnest Du mir, so will ich das weisen mit meinem Kolben auf Dein Haupt nach Kampfrecht.“

Wie jetzt, so konnte man früher eine sechswöchentliche Frist zur Einübung in der ungewohnten Waffe begehren (Lerntage). Die Waffe und Kleidung des Gegners wurden besehen, die Sonne gleich ausgetheilt, den Zuschauern Stillschweigen geboten. Nur die Secundanten durften sprechen; waren sie auf beiden Seiten einig, so gingen sie das Gericht (jetzt den Unparteiischen) nicht an. Der Waffengang begann mit dreimaligem Commando; ein Hieb vorher oder ein Hieb nach dem Haltrufe war bei Verlust des Sieges verboten. Bei Störungen und Unregelmäßigkeiten sprangen die Secundanten ein und fingen mit Stangen die Hiebe auf. Eine solche Pause wurde nicht gezählt. Dagegen hatte jeder Kämpfer das Recht, zweimal Halt zu rufen. Rief er's zum dritten Male, so hatte er "die dritte Stange“ d. h. den Sieg verloren; ebenso wenn ihm seine Waffe dreimal zu Boden fiel, oder wenn er über den Kampfplatz zurückwich. Statt eines Secundanten hatte Jeder vier; einen Fürsprecher, der allein das Wort führte; einen Grieswärtel (von Gries = Sand), der ihm auf den innern Kampfplatz folgte und die Stange dazwischenhielt (unterschoß); einen Warner oder Kämpfer, der ihm Beirath im Fechten gab, aber während des Kampfes außerhalb der Schranken, nur bis zum ersten glücklichen Gang und durch Winke und Zeichen; einen Lußner oder Erinnerer d. h. Aufpasser innerhalb des Kreises, welcher aber nur durch den Warner oder Fürsprecher zu dem Kämpfer reden durfte.

Die Kleidung bestand in Hosen, Rock und Hut aus einem Stück von grauem Wollenzeug, mit Riemen genäht, auf welches vorn und hinten ein Kreuz von weißem Leder befestigt war. Der Schild war von Holz und Leder mit weißer Leinwand überzogen und mit einem rothen Kreuze geschmückt; der Kolben von Holz am Feuer gehärtet. Vor dem Kampf tranken Beide St. Johanniswein, um böse Künste zu vereiteln. Beim Kampf zwischen Mann und Frau wurde der Schild weggelassen und der Mann durch Stellung, Unbeweglichkeit, schwächere Waffen und den Verlust eines Kolbens, so oft er durch einen Fehlhieb die Erde berührte, so wehrlos gemacht, daß nur ein außerordentlich sicherer Fechter noch ein Uebergewicht über daß Weib hatte.

Die Zeiten des gerichtlichen Zweikampfes liegen glücklicherweise hinter uns. Immer aber ist der Bericht davon ein Denkmal mal deutscher Frauen. Welchen Muth, welche Kraft und Körpergewandtheit konnte man bei ihnen voraussetzen, daß man sie zum Kampfe gegen Männer, mit so roher, zur Abwehr gar nicht geeigneter Angriffs-Waffe und ohne alle Schutzmittel ließ! Was für Söhne müsten solche Frauen geboren und erzogen haben!

     Donauwörth.

Heinrich Vocke.     




Ein excommunicirter Protestant

Herrn Ernst Keil, Herausgeber der "Gartenlaube“.

Mein verehrter Freund!

Sie gehören glücklicherweise nicht zu Denen, welche sich mit vornehmem Achselzucken abwenden, wenn irgendwo die Frage der religiösen Befreiung des Volkes von der Herrschaft der kirchlichen Autorität zur Sprache kommt. Aber es gab eine Zeit, und Sie erinnern sich derselben sehr wohl, wo es unter gebildeten Deutschen genügte, von den religiösen Bedürfnissen des Volkes und der Nothwendigkeit ihrer Befriedigung im Geiste unserer Zeit zu reden, um mit einem mitleidigen Lächeln abgewiesen zu werden. Von allen "überwiesenen Standpunkten“ war der religiöse Standpunkt bei unserer "Nation von Denkern“ bekanntlich der überwundenste. Es war so bequem, sich und Anderen in philosophischem Rothwälsch etwas weis zu machen, um nur den Schein der unbefleckten Wissenschaftlichkeit für sich zu wahren; man dünkte sich dabei hoch erhaben über der traditionellen Volksreligion, man ging natürlich nicht in die Kirche wie der ungebildete Haufe – aber wie Hans und Kunz schickte man seine Frau und Kinder in die Kirche, und die Letzteren auch in den Religionsunterricht des Ortspfarrers, welcher Richtung er auch angehören mochte, und die gute Frau Mama hörte den lieben Kleinen den Katechismus und die Bibelverse ab, die der orthodoxe Herr Pastor ihnen aufgegeben.

So stand es, o mein lieber Freund, so steht es noch in

[359] zahlreichen Familien der deutschen gebildete Welt, und ich könnte Ihnen manchen Gelehrten nennen, der in erklärtester Feindschaft zur strenggläubigen Kirche steht und dieser Letzteren dennoch die religiöse Erziehung seiner Kinder überläßt. „Es wird ihnen nichts schaden!“ hören wir ihn darauf antworten. „Es hat mir auch nichts geschadet!“ – Und wir hatten bis jetzt geglaubt, der Unterricht, auch der religiöse, sei nicht nur da, um nichts zu schaden sondern um etwas zu nützen.

Indessen, die Ueberzeugung wird täglich allgemeiner, daß die Gleichgültigkeit der gebildeten freisinnigen Stände für religiöse Dinge die Quelle von tausend Uebeln in unseren gesellschaftlichen und politische Zuständen ist, ja daß eine Nation sittlich verkommen muß, deren begabteste und geistig belebteste Kreise sich von einem Hauptfactor alles Volkslebens, dem religiösen, grundsätzlich fernhalte, um das unentweihte Kindesgemüth der großen Masse der alleinigen Leitung eines Clerus zu überlasse, der eine fremde Welt, eine verschollene Zeit mitten unter uns repräsentirt.

Sie fragen mich nach dem Inhalt der religiösen Bewegung in der französischen Schweiz. An den obigen einleitenden Zeilen habe ich ihn andeuten wollen: Buisson möchte die gebildete Stände für das religiöse Leben wieder gewinnen, indem er ihnen mit beredten Worten und in hinreißendem Tone alle Nachtheile aufdeckt, die ihre Enthaltung der Sache des Fortschritts, der eigene Familie, dem ganzen Volke verursacht, indem er eine religiöse Formel aufstellt, die einfach und doch weit genug ist, um von jedem redlichen Menschen, welches auch seine speciellen Ueberzeugungen seien, angenommen zu werden.

Buisson? – Gestern noch ein unbekannter junger Gelehrter in einem bescheidenen Schweizercanton – heute erwähnen alle Zeitungen der alten und der neuen Welt seinen Namen. So bedarf es in unserer bewegten, schnell lebenden Zeit doch nur des Vorsatzes, etwas Gutes zu wollen und es vernünftig durchführen zu wollen, um Gehör zu finden.

Ferdinand Buisson ist am 20. Dezember 1841 in Paris geboren. Sein Vater war unter der Republik von 1848 Friedensrichter, wurde dann in ähnlicher Eigenschaft von einem Departement in’s andere versetzt und starb als Gerichtsbeamter in St. Etienne, als sein siebzehnjähriger Sohn aus dem dortigen Lyceum sich zum Besuch der Pariser Normalschule vorbereitet hatte. Um seine Studie an der Uuiversität fortsetzen zu können, sah er sich genöthigt, eine Hauslehrerstelle in einer vornehmen protestantischen Familie in Paris anzunehmen. Nach strengen calvinistischen Grundsätzen erzogen und in ausschließlich orthodoxen Kreise sich bewegend, konnte seine reich angelegte Natur erst von den Fesseln des Autoritätsglaubens sich befreien und eine selbständige Richtung einschlagen, als er seine Studie vorzugsweise auf den Ursprung der Reformation richtete und die Entwickelung der protestantischen Kirche bis in ihre Quellen zurück verfolgte. Als im Jahre 1864 Coquerel, einer der bedeutendsten protestantischen Prediger in Paris, durch die orthodoxe Mehrheit von der Kanzel verdrängt wurde, die er so lange Jahre geziert hatte, ergriff Buisson offen Partei für die freisinnige Richtung in der Kirche und schrieb eine Broschüre: „L’orthodoxie et l’Evangile“, welche im protestantischen Frankreich ungemeines Aufsehen erregte und in mehr als zehntausend Exemplaren verbreitet wurde. Ein Jahr darauf, als es sich um die Neuwahlen in der Pariser protestantischen Kirche handelte, trat er eben so entschieden mit einer zweiten Schrift gegen den orthodoxen Glaubenszwang auf, was den Vorstand der Gemeinde, welcher Buisson bis dahin angehört hatte, veranlaßte, den jungen Schriftsteller förmlich zu excommuniziren.

Damit war die Richtung für die fernere Laufbahn Buisson’s gegeben. Er zog sich in die Schweiz zurück, verfolgte auf den Bibliotheken von Genf, Zürich und Basel seine Studien über den Ursprung der Reformation und erhielt 1866 den Lehrstuhl der Philosophie an der neu gegründeten Akademie zu Neuchâtel, wo wir uns als Collegen zusammenfanden.

Nachdem er fast zwei Jahre in stiller Zurückgezogenheit seinen Studien und Pflichten als Lehrer mit außeordentlichem Fleiß gelebt, trat er unerwartet mit einem Vortrage „Die biblische Geschichte in der Volksschule“ in die Oeffentlichkeit und erregte einen Sturm von Erwiderungen aus dem orthodoxen Lager.[1]

Wenn ich hier das Wort „Sturm“ gebrauche, so dürfe Sie dabei nicht an deuntsche Zustände denken. Es ist hier weder ein Pastor Götze noch ein Knak gegen Buissons aufgetreten, von einem Anrufen der weltlichen Gewalt gegen den vermessene Neuerer und Friedesstörer war natürlich in unserer gesegneten, kleinen Republik nicht die Rede, ja, ich erwähne nicht ohne Stolz, die Ideen der Freiheit sind schon so tief in unsere Sitten eingedrungen, daß die fast ausschließlich strenggläubige Gemeindeverwaltung, nachdem ihr die volle Zustimmung des geistlichen Collegiums zugekommen, die Benutzung einer Kirche zu Vorträgen über das freie Christenthum ohne jede Schwierigkeit bewilligte.

Mit Buisson’s Angriff gegen die sogenannte biblische Geschichte war der Kampf eröffnet, welcher auf beiden Seiten mit Wärme und Feuer, aber ohne jede Gehässigkeit und mit Fernhaltung jeglicher pesönlichen Färbung geführt wurde. Die rationalistische Schule wurde neben Buisson von Felix Pecant aus Nimes, Leblois aus Straßburg und Reville aus Rotterdam auf das Glänzendste vertreten. Die Orthodoxie fand einen gelehrten, stets schlagfertigen Kämpen in Professor Friedrich Godet in Neuchâtel, dem ehemaligen Erzieher des preußischen Kronprinzen, und Felix Bovet, einem unstreitig gemüthvollenn Vertreter des schweizerischen Pietismns; der zahlreichen Pfarrer nicht zu erwähnen, welche von der Kanzel herab an dem Kampfe teilnahmen und ihre Predigten drucken ließen.

Und welches wäre nun die Glaubensformel, zu deren Annahme das freie Christenthum jeden redliche Menschen einladet?

„Es giebt nur einen nothwendigen Glauben“ sagte Buisson, „und das ist gerade derjenige, der nicht von einem Artikel des Katechismus abhängt: es ist der Glaube an das Gute, der Glaube an alle unsichtbaren Wirklichkeiten, die sich nicht in den Büchern, aber auf dem Grunde der Menscheseele findet, der Glaube an das Recht und die Pflicht, an die Heiligkeit und die Liebe, Alles Dinge, durch welche Gott im Menschen offenbart wird. Aber wehe in der That, wehe Dem, der in seinem Gewissen sich diesen Glauben erschüttern läßt, den Glauben an die Pflicht, die Triebfeder, die wirkende Kraft des ganzen Menschenlebens! Der freilich hat keinen Grund mehr zu leben, der nicht an das sittliche Leben glaubt.“

Erschrecken Sie nicht, dieser Satz scheint bei näherem Eingehen auf den Plan unseres neu erstandenen Freiheitsapostels durchaus nicht als eine in die blaue Luft hinausgesendete blos theoretische Seifenblase. Denn es liegt nicht etwa in der Tendenz Buisson’s, eine neue Religion zu gründen. An voller Uebeeinstimmung mit einer in Deutschland längst sehr stark und geistvoll vertretenen, meistens an Schleiermacher anknüpfenden Richtung, wollen auch diese schweizeischen Kämpfer gegen die Orthodoxie die alte christliche Kirche nur reformirt, d. h. von den sinisteren Zuthaten befreit wissen, durch welche die Theologie sie seit Jahrhunderten entstellt und um ihre ursprüngliche Kraft und Reinheit gebracht habe. Deshalb soll auch weder der Name Christen, noch der Name Protestanten aufgegeben werden.

Nach Buisson ist eben die Kirche nicht eine Verbindung von Menschen, welche genau dasselbe denken, dieselben Wahrheiten aufstellen, dasselbe Bekenntniß unterzeichnen und sich verpflichten, nie etwas an den festgesetzten Glaubensartikeln zu ändern. Die Kirche ist ihm vielmehr eine Gemeinschaft mit Aufgaben der That, eine Verbindung von Menschen, die gemeinsam an der sittlichen Vervollkommnung ihrer selbst und der ganzen Gesellschaft arbeiten. Ihre Basis ist sittlich und nicht theologisch, ihr Zweck ist praktisch und nicht doctrinal. –

„Möget ihr glauben,“ ruft Buisson in dieser Beziehung seinen Freuden zu, „Jesu einen ausnahmsweisen Ursprung und ein ausnahmsweises Lebensende zuschreiben zu müssen, oder möget ihr in ihm nur einen Menschen sehen, welcher die Sprache seines Landes geredet, die Ideen und Sitten seine Zeit in sich aufgenommen und für alle folgenden Zeiten das große Gesetz der religiösen Entwicklung, d. h. das Sittengesetz begründet – wenn ihr nur seine Gebote zu den euren macht, so seid ihr Christen. Er selbst hat dies gesagt, und wir stellen sein Wort höher als das, was alle Doctoren und Concilien decretiren mögen. Was ihm genügte, genügt uns; wir maßen uns nicht an, christlicher [360] sein zu wollen als Jesus Christus, wir verlangen nicht nach der Ehre, irgend einem dogmatischen Christenthum anzugehören; aber wir behaupten, die echten Jünger des Christenthums Jesu Christi zu sein. Und ohne etwas mehr zu fordern, als er forderte, öffnen wir unsere Kirche so weit, als Jesus sein Herz öffnete, umarmen wir Alle, die er umarmte.“

Hier haben Sie in wenigen Sätzen den Grund und Boden, auf welchem diese „Kirche der Zukunft“ sich erheben soll: es soll eine Kirche ohne Dogmen, ohne bindendes Glaubensbekenntniß, ohne Priester und dennoch eine christliche, eine protestantische Kirche sein – christlich, weil Jesus ihr geistiges Oberhaupt sei, „der in seinem liebenden und reinen Herzen eine Formel gefunden, in der Alles ausgedrückt ist, was vor und nach ihm alle großen Philosophen, alle religiösen Denker, alle großen Wohlthäter der Menschheit gesagt haben mögen.“ Eine protestantische Kirche sei sie aber, weil ihre Mitglieder nicht das Evangelium fliehen, sondern nur das, was der orthodoxen Kirche beliebte, zu dem Evangelium hinzuzufügen. Vor drei Jahrhunderten, als die protestantische Kirche gegründet wurde, glaubte die gelehrte und ungelehrte Welt wohl noch an übernatürliche Erscheinungen. Mit der Entwicklung der geistigen Cultur aber schwindet der Glaube an das Wunder. Ist damit gesagt, daß die Liebe zum Guten, zum Wahren, zum Göttlichen, die Liebe zur Menschheit, „zu Jesu, jenem Typus des idealen Menschen“, nicht mehr in den Gemüthern leben könne, aus denen die Wissenschaft die Legenden und Wunder verdrängt hat? – „Kann man,“ fragt Buisson, „aus dem Evangelium nicht seinen vorzüglichsten Führer machen, sich bemühen, gemäß den von ihm ertheilten Lehren zu leben, und dabei glauben, daß diese Sammlung werthvoller Bücher ein Menschenwerk, daß es von frommen Menschen, aber immerhin von Menschen geschrieben ist, die in mehr als einem wissenschaftlichen Punkte die Irrthümer und Vorurtheile ihrer Zeit theilen konnten? Dies hat die orthodoxe Kirche nicht zugeben wollen. Alles oder nichts, hat sie gesagt. Unterwerfet euch und glaubet genau Alles, was die Mehrheit glaubt; wenn nicht, so tretet aus der Kirche aus.“ Sie sehen, diese Anschauungen sagen einem deutschen Publicum nichts Neues. Neu und bedeutsam an ihnen ist aber dennoch die frische apostelartige Begeisterung, mit welcher sie hier verkündet werden, der Drang zu sofortiger praktischer Gestaltung, den ihnen ein freier Boden verleiht, so wie der klare, warme und hinreißend schöne Ausdruck, den sie in den Reden und Schriften des jugendlichen Philosophen von Neuchâtel gefunden haben.

Wird es möglich sein, auf solche Anschauungen eine religiöse Gemeinschaft zu gründen?

Lassen Sie mich auf diese Frage mit einem Worte Buisson’s antworten: „Wir glauben nicht mehr an das Wort eines Priesters, an dieses Bekenntniß, an jenes Mirakel, an jene Theologie. Aber glaubt ihr denn, daß diese Dinge das Volk in die Kirche ziehen? Glaubt ihr, das Volk halte an der Dreieinigkeit, an der Prädestination, am blutigen Sühnopfer, oder an der Unfehlbarkeit der Bibel fest? … Was das Volk in der Kirche sucht, ist das große, sittliche Ideal, das zugleich der große Antrieb im Leben ist, jene Gesammtheit von Lehren, Beispielen, von herzinnigen, kräftigenden Anregungen, die sich eben für das Volk in einem Namen, dem Namen Jesu, zusammenfassen. Das ist es, was die Menschen gut, die Bürger frei, die Völker groß macht; das nur ist es, was der Kirche ihre allgemeine menschheitliche Rolle verliehen hat, und das können auch wir wie irgend ein Anderer als ein kostbares Gut bewahren. Man müßte an der Menschheit verzweifeln, wenn man es für unmöglich hielte, ihren religiösen Bedürfnissen volle und gerechte Genugthung zu gewähren, ohne es zum Nachtheil seiner intellectuellen und wissenschaftlichen Bedürfnisse zu thun.“

Freilich kenne ich viele unter meinen Freunden, die es Luther nicht verzeihen können, daß er nicht im neunzehnten Jahrhundert geboren war und im Geiste von Feuerbach’s „Wesen des Christenthums“ gepredigt hat. Diese meine Freunde vergessen eben, daß bei allen mächtigen Welterschütterungen nur derjenige seine Zeitgenossen zu einer großen That hingerissen hat, der die Gesammtideen seines Jahrhunderts am kräftigsten in sich repräsentirte. Es ist freilich bequemer, sich in ein philosophisches Wolkenkuckucksheim zurückzuziehen, als mit der Welt, in der wir nun einmal sind, vorwärts zu schreiten, ihren Bedürfnissen zu leben, zu handeln, und nicht blos hie und da einmal dreinzuschlagen oder gar Alles mit einem schlechten Witz abzuthun.

„Man zerstört nur das, was man zu ersetzen vermag.“ Dies Wort ist in religiösen Dingen ebenso wahr wie in politischen. Und deshalb sagt Buisson: „So lange ihr nicht begreifen werdet, daß die religiöse Frage die erste aller politischen Fragen ist, werdet ihr immer nur Scharmützel und Vorpostengefechte geliefert haben. Die große Schlacht wird im religiösen Bewußtsein, in der Familie geschlagen. Die große Eroberung, die ihr zu machen habt, ist die der Frauen und Kinder.“

Wir müssen Diejenigen, welche die weitere Ausführung dieser Grundansichten Buisson’s kennen lernen wollen, nochmals auf seine oben genannten beiden Schriften verweisen. Nach der praktischen Seite hin ist eine außerordentliche Bewegung durch Buisson’s entschiedene Forderung hervorgerufen worden, daß der Unterricht in der biblischen Geschichte vom Lehrplan der Volksschule entfernt werden soll. Weit entfernt davon, im Geiste unserer alten rationalistischen Schule dies oder jenes Wunder auf natürliche Weise zu erklären oder ihm eine symbolische Deutung zu geben, wobei der Bibel doch immer noch eine ausnahmsweise Behandlung vor allen anderen Denkmälern des Alterthums zu Theil wird, fordert Buisson, daß der Unterricht der jüdischen Geschichte an seiner Stelle in den Unterrichtsplan der allgemeinen Geschichte eingereiht werde und daß außerdem in den Schulen nur eine „Geschichte der Religion“ gelehrt werde, wie Letzteres meines Wissens an der Züricher Cantonsschule schon seit einigen Jahren der Fall ist. Der unendliche Aufwand von Verstandeskräften, welchen die moderne wissenschaftliche Orthodoxie zur Vertheidigung des Wunderglaubens hat aufbieten müssen, ist doch damit noch viel weniger zum Ziele gekommen, als der grübelnde und arbeitsvolle Scharfsinn der mittelalterlichen Theologen. Das ungeheure künstliche Gebäude, welches der Autoritätsglaube zu seinem Schutze aufgebaut, bekommt vielmehr täglich so viel Risse und Löcher, daß es kein Wunder ist, wenn ein großer Theil seiner Bewohner es verläßt, um nicht unter den Trümmern verschüttet zu werden.

An diese Flüchtlinge der orthodoxen Kirche, die heimathlos umherirren, die sich selbst von jeder religiösen Gemeinschaft ausgeschlossen haben oder die gewaltsam vertrieben worden aus den bestehenden Kirchen, an sie wendet sich die heutige religiöse Bewegung. Sie haben einen großen Kampf aufzunehmen, eine ernste Pflicht zu erfüllen; mögen sie sich derselben nicht entziehen. Nicht eine neue Religion sollen sie gründen helfen, dies wäre ein sinnloses Bemühen. Was nicht in der Vergangenheit Wurzeln hat, das hat auch keine Zukunft. Sie sollen Christen bleiben im Sinne des großen Nazareners, der nirgend gesagt hat, daß diejenigen verdammt seien, welche nicht an seinen göttlichen Ursprung glauben, daß es kein religiöses Leben ohne Wunderglauben geben könne; sie dürfen sich Protestanten nennen, weil sie von dem Grundsatz ausgehen, daß keine menschliche Autorität, sie heiße Papst, Concil, Synode, das Recht habe, sich zwischen den Einzelnen und seine Ueberzeugungen zu stellen.

Praktisch gestaltet sich jedoch diese Bewegung verschieden, je nach dem Boden, auf dem sie angeregt wird. Eben weil die freien Protestanten den historischen Zusammenhang mit der christlichen Kirche nicht aufgeben wollen und dürfen, muß ihre Organisation je nach den örtlich und historisch entwickelten Verhältnissen sich gestalten. Während z. B. in der deutschen Schweiz, in Holland, und theilweise in Frankreich und Deutschland dieser Fortschritt sich innerhalb der Kirche vollzieht, indem die Gemeinde einfach einen Pfarrer wählt, der im Geiste der Neuzeit wirkt, wird an anderen Orten diese Bewegung sich außerhalb der officiellen Kirche Bahn brechen und in anderer Weise zum Ziele gelangen müssen.

Buisson’s Wirksamkeit ist im großen Publicum der Laien, auch die Frauen nicht ausgenommen, bisher eine sehr erfolgreiche und durchgreifende gewesen. Nach allen Hauptorten der französischen Schweiz, auch nach Bern ist er gerufen worden, und überall, wo er als Redner aufgetreten, hat die Reinheit seiner Gesinnungen, die Kraft seiner Gedanken tausend Hörer ergriffen, hat sein Wort gezündet. Eine frische Saat ist ausgestreut, sie keimt, sie drängt empor zum Lichte. Ein fröhliches Erntefest allen denen, die vorwärts schauen und die am guten Werke schaffen!

Mit diesem Gruße drückt Ihnen herzlich die Hand Ihr getreuer

Stephan Born.
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Schöne Geister und schöne Seelen.

1.0 Der Philosoph Hemsterhuys und die Fürstin Gallitzin.

In Sokrates und Diotima ist das Urbild der Freundschaft zwischen Männern und Frauen vorgezeichnet; es gleicht wohl ein wenig dem Ideal der Liebe, wie es von Plato aufgestellt worden ist. Manche behaupten sogar, diese Art der Freundschaft sei eigentlich ein Zwillingsbruder der Liebe. Wenn diese Verwandtschaft zugegeben werden soll, so muß wenigstens angenommen werden, daß der eine der Brüder ein Dämon ist, der das Herz erschüttert, – die Liebe – und der andere ein Genius, der es tröstet, – die Freundschaft!

Die Gelehrten streiten noch darüber, ob Diotima wirklich gelebt hat oder nur ein Phantasiebild des dichterischen Philosophen Plato gewesen ist, der uns die Gespräche zwischen ihr und Sokrates aufbewahrte. Die Lehre von der Schönheit der Geister und der Seelen, über die Wechselwirkung von Eros und Anteros, der geistigen Liebe und Gegenliebe, dies platonische System der Idealität, wird im Munde Diotima’s zu einer Verklärung der Weiblichkeit, wie sie nur durch den göttlichen Plato möglich werden konnte in der antiken Welt, die in den Frauen eigentlich nur Hetären oder Matronen sehen wollte. Wenn er wirklich keine Diotima gekannt, sondern nur sie sich gedacht hätte, wie sie sein könnte, so wäre er Griechenlands Frauenlob, dieser göttliche Plato!

Er erzählt auch noch von einer andern Freundschaftsverbindung, die Sokrates mit geistreichen Frauen eingegangen war: Aspasia und Lais. Erstere war die berühmte Freundin des Perikles, die dafür galt, ihm bei seinen Reden geholfen zu haben. Sie wurde zum Unterschied von einer andern viel späteren Aspasia die sokratische genannt, weil sie mit dem großen Philosophen befreundet war. Lais ließ sich dagegen nicht auf gelehrten Streit mit ihm ein, aber ihre munteren Worte reizten ihn doch zur Gegenrede. Der Titel beider Frauen war nicht ehrenvoll, man nannte sie Hetären, aber ihre Vertheidiger behaupten, daß die strenge Sitte der griechischen Frauenwelt jedes weibliche Wesen mit dieser Bezeichnung gestraft hätte, das nicht, wie sie selbst, verborgen im Gynäceum, dem Frauengemach, gelebt hätte, und daß die Aspasien der vorchristlichen Zeit nicht so verdammungswürdig gewesen seien, als manche der nachchristlichen es sind. Jedenfalls hatten erstere mehr Geist, als letztere aufzuweisen haben.

Die moderne Gestaltung der Freundschaft ist die ästhetische; die Jünger der schönen Künste finden sich in gemeinsamem Streben darin zusammen. Doch sind die Beispiele, welche hier unter dem Titel „Schöne Geister und schöne Seelen“ aufgezählt werden sollen, auch auf der Grundidee der Freundschaft erwachsen, der gegenseitigen Zuneigung, die dem Genius der Freundschaft, wie schon gesagt, die gefährliche Aehnlichkeit mit dem Dämon der Liebe giebt. Fast alle die hier genannten Verhältnisse streiften wenigstens einen Augenblick von einem Gebiet in das andere, wodurch der Leser den Reiz des Romantischen in den Kauf bekommt.

Eine der merkwürdigsten Frauen Deutschlands war die Fürstin Amalia von Gallitzin. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist mit seinem Lethestrom über ihr Grab gerauscht und hat die einst so bekannten Züge ihres originellen Bildes verwischt; es lohnt sich, dieses Bild wieder aufzufrischen in dem Gedächtniß der Neuzeit, die vielleicht kaum noch ihren Namen kennt. Dagegen verwahren wir uns natürlich ganz ausdrücklich gegen die etwaige Annahme, als ob wir solche „schöne Geister und schöne Seelen“ als nachahmungswerthe Erscheinungen aufstellen wollten; sie nehmen eine wichtige Stelle in der Culturentwickelung ihrer Zeit ein und als erklärende Bilder derselben verdienen sie die Beachtung auch unsrer Leser.

Fürstin Amalia von Gallitzin.

Amalia, die Tochter des Feldmarschalls Grafen von Schmettau, war 1748 zu Berlin geboren; ihre erste Erziehung erhielt sie in einem schlesischen Kloster und in Breslau bei einer Tante, von der einige biographische Aufzeichnungen über die berühmte Nichte erst ganz kürzlich im Druck erschienen sind. Es erhellt daraus nichts besonders Charakteristisches, es geht nur daraus hervor, daß das kleine Comteßchen die oberflächliche Erziehung empfangen hat, die damals für standesmäßig galt. Etwas französisch zu plaudern und auf äußern Anstand zu halten, mehr verlangte man nicht von einer vornehmen Dame des achtzehnten Jahrhunderts. Mit zwanzig Jahren lernte sie als Hofdame der Prinzessin Ferdinand von Preußen in Spaa, einem damaligen Modebade, den Fürsten Dimitri Gallitzin kennen. Er bewunderte ihre Schönheit und natürliche Anmuth, verbunden mit einer großen Lebhaftigkeit des Geistes, die den Mangel an Kenntnissen bei ihr übersehen ließ. Als er ihr seine Hand bot, nahm sie dieselbe hocherfreut an und glaubte auch ihn aufrichtig zu lieben.

Der Fürst Dimitri imponirte seiner jungen Gattin ganz besonders durch seinen Verkehr mit den schönen Geistern der französischen Literatur, die damals die ganze gebildete Welt beherrschten, besonders in Preußen eine hohe Geltung erlangt hatten, weil Friedrich der Große sie allein für würdig hielt, sich mit ihnen zu beschäftigen und die armen deutschen Gelehrten beinah verachtete. Namentlich war Fürst Dimitri mit Voltaire und noch mehr mit Diderot befreundet und erhielt Briefe von Beiden, die voll kriechender Schmeichelei gegen den russischen Großen waren und den Briefstellern eben keine Ehre machten. Die junge Fürstin aber sah darin einen Beweis für die Gelehrsamkeit und hohe Bildung ihres Gemahls; auf Vorzüge dieser Art legte sie mehr Werth als auf Rang und Reichthum, die ihr durch ihre Ehe zufielen.

Das Herzensbedürfniß, ihren Mann zu verehren, wurde indessen der jungen Frau nicht lange erfüllt; sie bemerkte nur zu bald, daß die Rohheit seines Innern durch den Firniß der Weltbildung sehr oberflächlich verhüllt war und die falsche Weisheit derselben sein sittliches Gefühl nur noch mehr untergraben hatte. Er ahnte nicht einmal, daß sie sich unglücklich fühle, seit sie ihn in seiner wahren Gestalt kennen gelernt hatte, er glaubte, die Vergnügungen und der Glanz des Hoflebens, das er ihr durch seine Stellung als russischer Gesandter in Haag verschaffte, würde vollkommen ausreichen, ihr Leben zu erfüllen und zu erheitern.

Aber es ermüdete, ja es quälte sie. Uebersättigung und Leere traten wie zwei Gespenster in ihr Haus. Der Durst nach Wissen, das Verlangen nach Geistesarbeit wurde beinah krankhaft in diesem jungen Wesen. Manche Nacht verging unter Thränen und fieberhafter Aufregung. Die Sehnsucht nach einem unbekannten höhern Glück, als die Welt es bieten kann, hätte die noch so jugendliche Frau sehr leicht zu der Verirrung führen können, in einer Liebesleidenschaft Befriedigung zu suchen; aber es ist keine Spur vorhanden, daß sie dieser Versuchung nur einen Augenblick nachgegeben hätte. Sie versuchte zuerst in der Arbeit des Lernens sich Befriedigung zu verschaffen; die Weltdame, die nur ein wenig französisch gelernt hatte, warf sich mit einem wahren Feuereifer auf das Studium der griechischen und lateinischen Sprache. Dann trieb sie ebenso metaphysische und philosophische Studien. Durch letztere lernte sie den Philosophen Hemsterhuys kennen, dessen Buch „Ueber das Wesen des Geistes“ sie mächtig angezogen hatte. Er lebte zurückgezogen im Haag, war aber als Schriftsteller berühmt und wurde von seinen holländischen Landsleuten mit Stolz genannt als der Regenerator ihrer gelehrten Literatur.

Die Freundschaft zwischen Hemsterhuys und der Fürstin Gallitzin wuchs rasch empor, sie war ganz und gar nach dem Muster der von Sokrates und Diotima gestaltet. Die Zwiegespräche, die sie führten, glichen an tiefsinniger Schönheit und hohem Gedankenfluge genau den berühmten Dialogen der hellenischen Philosophen. Auch nannten sie sich mit denselhen Namen [362] in ihren Briefen, und Hemsterhuys schrieb ein ganzes Werk unter dem Titel „Diokles an Diotima“, worin er seiner Freundin die Unhaltbarkeit der französischen Systeme über den Atheismus darthat.

So ernste Beschäftigungen ließen sich mit dem zeiträuberischen Leben in der großen Welt allerdings schwer vereinigen; die Fürstin Gallitzin faßte deshalb den Entschluß, sich ganz daraus zurückzuziehen. Ihr Gemahl verweigerte ihr jedoch lange Zeit die Erlaubniß dazu; endlich gelang es ihr, dieselbe zu erlangen durch die Vermittelung Diderot’s, der zum Besuch in ihr Haus kam und wohl einsehen mochte, daß die Mißverständnisse der Eheleute am besten durch eine längere Trennung gelöset werden könnten. Der Fürst willigte ein, daß seine Gemahlin auf eine kleine Meierei in der Nähe der Stadt zog, wo er sie und seine zwei Kinder jedoch regelmäßig besuchte, und zwar jedesmal in Begleitung ihres gelehrten Freundes Hemsterhuys.

Um allen Störungen zu entgehen in ihrer selbstgewählten Einsiedelei, benannte sie dieselbe „Nithuyß“, welches gleichbedeutend mit dem hochdeutschen Nichtzuhaus ist und alle ungebetenen Gäste für immer abschrecken mußte. Damit sie selbst aber auch jeder Versuchung zum Besuch in der Stadt widerstehen konnte, entäußerte sie sich gänzlich der vorgeschriebenen Modetracht, sie warf den Reifrock und die Schnürbrust fort und legte die Kleider einer Bäuerin an, ja sie ließ sich sogar die schönen Haare abschneiden, um sich gehörig zu entstellen. Sie war noch nicht dreißig Jahre alt, als sie sich in diese klösterliche Lebensweise zurückzog, und sie beharrte fünf Jahre darin.

Die Briefe, welche sie in dieser Zeit mit Hemsterhuys wechselte, beweisen, wie regsam ihr Geist in der Einsamkeit blieb und wie ausdauernd sie ihre Ideen den höchsten Problemen von Religion und Philosophie zuwendete. Aber es geht auch aus diesen Briefen hervor, daß trotz der eifrigen Bemühung, nur der Weisheit zu leben, sich eine Thorheit zwischen die Gelehrten geschlichen und ihre Herzen für einander geweckt hatte. Der Unterschied des Alters war so groß zwischen beiden, daß die Fürstin mit Recht sich in diesem Verhältniß sicher fühlen und über die Empfindungen ihres Freundes täuschen konnte. Er war beinah dreißig Jahre älter als sie, wenigstens war er schon ein hoher Fünfziger, als er sie kennen lernte.

Anfangs kam Hemsterhuys nur in Begleitung ihres Gemahls in ihre Einsiedelei, aber wenn derselbe verreiste, was häufig vorkam, so blieben die beiden Gelehrten oft ganze Tage allein, und die eifrigen Studien der platonischen Weisheit sind wohl mehr als alle anderen philosophischen Abhandlungen geeignet, zündende Funken in die Geister zu werfen. Plato legt in Diotima’s Mund die wunderbarsten geheimnißvollsten Lehren über Eros und Anteros, Liebe und Gegenliebe. Er läßt selbst den weisen Sokrates durch Diotima überzeugen, daß Eros der größte der Dämonen sei, der den sterblichen Theil des Menschenthums mit der Unsterblichkeit vereinige, daß die Liebe nichts anderes sein könne als das Verlangen mach Schönheit und Güte, daß Vervollkommnung und Verklärung alles Irdischen nur durch die Götterkinder Eros und Anteros verliehen werden könne. Es war natürlich, daß ein Mann, wenn auch noch so sehr Philosoph, einer jungen, schönen Schülerin gegenüber in süße Verwirrung gerieth bei den Auseinandersetzungen dieser Probleme und daß er endlich selbst von den Flammen ergriffen wurde, die er nur schildern wollte.

Die junge Fürstin scheint einen Augenblick geschwankt zu haben, ob sie dem „Dämon der Liebe“ Gehör schenken dürfte, aber ihr guter Genius und ihr fester Charakter schützten sie vor ihrem eigenen Herzen, das der lebhaftesten Empfindungen fähig war und bereits mit unverhohlener Zärtlichkeit dem gelehrten Freunde anhing. Sie entzog sich ihm mit Festigkeit, aber nicht ohne den Trost ihrer Vergebung und ihrer enthusiastischen Verehrung für ihn.

Ein Menschenkenner hat gesagt, jede Frau ertheile Absolution für das Verbrechen sie zu lieben; die Briefe der Fürstin an ihren Sokrates beweisen dies von Neuem. Es ist ein reizendes Gemisch von Tugendstolz und echt weiblicher Koketterie darin; man merkt fast an jeder Redewendung, wie das Frauenherz durch Thränen lächelt über das Glück, geliebt zu werden. Leider sind die Briefe französisch geschrieben und verlieren durch die Uebersetzung an ihrer ursprünglichen Naivetät. Die Briefe sind übrigens hauptsächlich Antworten auf philosophische Abhandlungen, die Hemsterhuys der Freundin sandte; sie bespricht sie voll Ernst und tiefem Verständniß, oft sogar mit lateinischen Citaten. Das erotische Beiwerk der niedergekämpften Leidenschaft nimmt sich dazwischen aus wie die glühende Abendröthe, die von einem düsteren Eichenhain halb verhüllt wird.

„Mein Sokrates! Bei Durchlesung des herrlichen Schriftstücks, welches Du mir mitgetheilt hast, empfand meine Seele einen brennenden Durst nach mehr; der sanfte Thau Deiner Beredsamkeit wird ihn hoffentlich bald löschen. Du erweckest meine Seele zu fruchtbaren Gedanken durch diese Beredsamkeit und Dein Genius lehrt mich, die einst eine arme Sclavin der eitlen Welt war, die Wissenschaft lieben und die Philosophie verstehen. Die Zeit fehlt mir, um Dir alles zu sagen, was ich denke, ich muß mich damit begnügen Dich ehrfurchtsvoll zu grüßen – und auch zärtlich trotz des Zornes, in den Du mich erst heute Morgen versetztest. Mein unvergleichlicher Sokrates, glaube an Deine Diotima.“

„Ja, mein theurer Sokrates, ich fühle den seligen Frieden, den ich Dir vergebens so oft geschildert habe, und doch verdanke ich ihn eigentlich Dir selbst; Du hast jetzt eingesehen, daß unsere Verbindung der reinsten Freundschaft unzerreißbar sein muß, wenn wir sie unter den Schutz der Venus Urania, der Schutzgöttin unirdischer Liebe, stellen ... Und so verlasse ich Dich denn, weil es die Vernunft erheischt ... Keine Macht der Welt wird mich von dem Entschluß zurückbringen, von nun an nur meinen Kindern zu leben und unsern Umgang möglichst zu beschränken, bis Du für immer gelernt hast, Dir keine Täuschung über die Art meiner Gefühle zu erlauben.“ ...

Solche und ähnliche Aeußerungen in den Briefen der Fürstin deuten darauf hin, daß sie ihre geliebte Einsiedelei verließ, um den Freund in pflichtmäßige Schranken zurückzuweisen. Sie hatte den Entschluß gefaßt die Schweiz zu ihrem Aufenthalt zu wählen, machte aber vorher eine Reise nach Münster, wo damals der Freiherr von Fürstenberg das Ländchen unter dem Krummstab geradewegs zu einem kleinen Musterstaat von trefflichen Institutionen emporhob. Namentlich wurden die Schulanstalten und die Grundsätze der Erziehung von seinem wahrhaft humanen und aufgeklärten Geist geleitet.

Die Fürstin Gallitzin fühlte, daß ihr hauptsächliches Lebensinteresse ihre Kinder sein mußten, und der Wunsch, ihnen eine Erziehung nach festen Principien zu geben, hatte sie nach Münster in die Nähe Fürstenberg’s geführt. Die mächtige Persönlichkeit des geistvollen Mannes fesselte sie gleich so sehr, daß sie beschloß, unter seinen Auspicien das Werk der Erziehung nach einem neuen Plan zu beginnen. Sie blieb in Münster und gab die Reise nach der Schweiz auf. In ihrem Tagebuche aus jener Zeit findet sich eine merkwürdige Selbstschilderung ihrer Beweggründe zu der Wahl dieses Aufenthaltsortes. Sie erzählt, daß sie mit einer Art „von Wuth“ sich auf die Vervollkommnung ihrer Kinder geworfen hätte und oft voll eifernden Zorns gegen sie gewesen wäre, wenn sie nicht die Fortschritte gemacht hatten, die sie von ihnen erwartete. Auch klagte sie über ihren unheilbaren Unglauben, den sie doch ihren Kindern nicht mittheilen wollte. Sie beschuldigte ihre Umgebung, daß diese ihre Wißbegierde, ihren Ehrgeiz nicht getadelt, sondern ihr nur stets das übertriebenste Lob gespendet habe. Hemsterhuys namentlich habe ihren Werth so sehr überschätzt und auch andere berühmte Menschen hätten in der schmeichelhaftesten Weise immer von „ihrer Seelengröße und ihrem Genie“ gesprochen.

Der Drang nach Demüthigung, nach Selbstverleugnung und nach positiver Religion für sich und ihre Kinder fesselte sie in Münster, wo der kluge Fürstenberg das verlorene Schaf der katholischen Kirche wie in einer Heimath aufnahm. Einige bedeutende Geistliche, wie Katerkamp, die Droste-Vischerings und auch strenggläubige Protestanten schaarten sich um die Fürstin Gallitzin und verehrten sie bald wie ihr Haupt. Die Brüder Jakobi und Hamann gehörten zu den Letzteren.

Hamann wurde der Magus des Nordens genannt, er war ein religiöser Schwärmer geworden, nachdem er in der Jugend durch Zweifelsucht und Ausschweifungen sich unglücklich gemacht hatte. Im Begriff sich das Leben zu nehmen fiel ihm die Bibel in die Hände und veranlaßte ihn zu innerer und äußerer Umkehr. Er schrieb religiöse Flugblätter, die in der damaligen Zeit der Gährung kurz vor der französischen Revolution große Wirkung hervorbrachten. Bald kam auch Graf Leopold Stolberg mit seiner Gemahlin nach Münster und vollendete dort seine Bekehrung zum Katholicismus. Die Fürstin befreundete sich auf’s Innigste mit dem frommen Ehepaar und sie, die einstige Zweiflerin, ist jedenfalls die erste Veranlassung zu dem Religionswechsel desselben gewesen.

[363] Die Erziehung ihrer Kinder betrieb die Fürstin noch immer mit dem alten Eifer, namentlich erreichte ihr Abhärtungssystem Aufsehen in Münster. „Mitri und Mimi“, der einzige Sohn und die einzige Tochter, mußten mitten im Winter auf Spazierfahrten aus dem Wagen steigen und stundenlang nebenher laufen oder sich in’s Wasser stürzen, um Schwimmkünste zu machen. Die Mutter schwamm auch und gab überhaupt ein gutes Beispiel durch Frühaufstehen, Wenigessen und Vielgehen. Es gelang ihr jedoch nicht, ihren Kindern durch diese Erziehungsweise Gesundheit und Geisteskraft zu geben. Die Tochter blieb unbedeutend und häßlich, der Sohn blöde und sehr schwächlich. In späteren Jahren ist die religiöse Einwirkung der Mutter wohl die Veranlassung gewesen, daß er als Missionär zur Bekehrung der Heiden nach Afrika ging. Die Fürstin empfing auch in Münster mehrmals den Besuch ihres Gemahls und ihres Freundes Hemsterhuys; der Fürst scheint ihr seltsames Erziehungssystem durchaus gebilligt zu haben, wie überhaupt keinerlei Mißbilligung über ihre exaltirte Frömmigkeit oder ihre Lebensweise von ihm ausgegangen ist. Er gestattete ihr jede Freiheit und gewährte ihr reichliche Geldmittel; sie genoß Beides nach ihrer Weise, gab letztere den Armen und lebte selbst sehr einfach. Den Winter brachte sie immer in Münster zu, den Sommer in einem nahen Dörfchen, Angelmodde, wo sie bei einem Pächter sehr bescheiden wohnte und ihre fernen und nahen Freunde zum Besuch zu sich einlud.

Einige weitere Reisen unternahm sie jedoch fast jedes Jahr, namentlich nach Düsseldorf, wo sie auf dem reizenden Pempelfort, dem Landsitz der Jakobi’s, verweilte. Auch war sie öfter in Weimar und zwar in Begleitung ihrer Freunde Fürstenberg und Hemsterhuys und des Hauslehrers Sprickmann, der ihrer Kinder wegen die Reise mitmachen mußte. Daß diese seltsame Karawane in Weimar Aufsehen erregte, geht aus mehreren zeitgenössischen Briefen hervor. Goethe schrieb unter Anderem an Frau v. Stein unterm 20. September 1785: „Es sind interessante Menschen, und es ist wunderbar, sie miteinander zu sehen.“

In einem anderen Brief sagt Caroline Herder am 15. October 1785: „Ein Weib von so festem Charakter wie die Fürstin Gallitzin habe ich noch nie gesehen, und dann blickt sie mit ihren dunkelblauen, feurigen Augen so voll Liebe umher, daß wir sie recht lieb gewonnen haben. Fürstenberg ist ein sehr verständiger Mann, ein fröhlicher Weltmann und ein heiterer Philosoph. Hemsterhuys weiß unsäglich viel und ist ein so zarter, jungfräulich alter Jüngling, daß wir ihn sammt und sonders sehr in Affection genommen haben. Sprickmann ist eine treue deutsche Biederseele. Sie sind acht Tage hier gewesen und haben den guten Eindruck hinterlassen, daß es gute, edle Menschen sind.“

Die Fürstin stellte auf diesen Reisen öfter eine Selbstprüfung mit sich an, um zu ermitteln, ob sie in der christlichen Demuth fortgeschritten sei, denn der Weihrauch und Beifall, die sie bei solchen Gelegenheiten erntete, konnten ihr wohl als eine Versuchung zum Hochmuth vorkommen. So sagt sie in ihrem Tagebuch über Goethe: „Er ist der Einzige der berühmten Männer, der mich als Mensch wahrhaft begeistert und mein Herz berührt hatte, und gerade er gab mir den schmeichelhaftesten Anlaß, mit ihm in Correspondenz zu treten, indem er mir nach meiner Rückkehr von Weimar schrieb, ich allein hätte den Schlüssel seines lange verschlossenen Herzens gefunden, mir möchte er sich ganz öffnen und nach meinem Vertrauen verlange ihn, aber ich unterließ, ihm zu antworten, weil ich zu viel Zerstreuung in solchem Briefwechsel voraussah. Kurz vorher hatte Lavater mir einen ähnlichen Antrag gemacht, mit ihm in Correspondenz zu treten, und ebenso Herder, aber ich schwieg ebenfalls ihnen gegenüber, und zwar ohne Kampf, den ich doch bei Goethe empfunden hatte. Diese Wahrnehmungen beruhigten mich, und ich fing an Gefallen zu finden an meiner Ehrgeizlosigkeit. Da aber kam Hamann und zeigte mir erst den Himmel wahrer Demuth und Ergebenheit – Kindersinn gegen Gott. Er begeisterte mich über Alles, was ich bis dahin gesehen hatte, für die Religion Christi, indem er mich das Bild ihrer wahren Anhänger von der erhabensten Seite lebendig an sich wahrnehmen ließ. Er verdammte auch meinen Vervollkommnungstrieb, den Fürstenberg und die anderen Freunde mir als hohe Liebenswürdigkeit anrechneten, Hamann nannte ihn Stolz. Ich liebte ihn mehr als jemals für diese väterliche Härte.“

Es ist merkwürdig, daß die Fürstin Gallitzin nie den Versuch wagte, diesen christlichen Freund katholisch zu machen, da sie doch so viel Talent zur Proselytenmacherei bei den Stolbergs bewiesen hat. Hamann’s Kränklichkeit wurde durch seine verbesserten Vermögensverhältnisse, die ihm seine Münsterschen Freunde gestaltet hatten, nicht vermindert, er starb unerwartet im Hause der Fürstin, die sich dabei mit unglaublicher Exaltation benahm. Sie erzählt selbst in ihrem Tagebuch, daß sie stundenlang an seinem Bett gekniet und seine Hände geküßt hätte, und sie ließ ihn in ihrem Garten begraben, um beständig sein Denkmal unter Augen zu haben.

Dies Begräbniß wurde ihr sehr verdacht, und man erzählte allerlei Anekdoten über die Art, wie es bewerkstelligt worden sei. Sie theilt dieselben selbst in ihrem Tagebuch folgendermaßen mit: „Frau v. R. erzählte mir allerlei dummes Gerede über mich und Fürstenberg bei Gelegenheit von Hamann’s Begräbniß. Wir hätten uns maskirt und unter allerlei mystischen Ceremonien den Körper selbst getragen und in den Sarg gelegt, ich hätte mich laut weinend über ihn geworfen und hätte ihn über und über mit Rosen bestreut. Dann wären auf den Sarg beim Einsenken in das Grab immer schichtweise Erde und Rosenblätter geworfen. Dann hätten Fürstenberg und ich uns die Hände gereicht und über dem Grabhügel allerlei Zeichen gemacht, auch wären wir noch lange mit seltsamen Touren im Garten umher gegangen. – Die Reflexion, daß man nicht einmal ohne das kritische Auge und die Schmähsucht der leeren Weltmenschen einen Freund begraben kann, gab mir ein entsetzlich ödes und ekles Gefühl.“

Bald nach Hamann’s Tode erschien Hemsterhuys wieder bei der Fürstin Gallitzin und versuchte sie zu trösten über seinen Nebenbuhler in der Freundschaft, aber sie war durchaus nicht von seinen Argumenten erbaut und nannte ihn in ihrem Tagebuch einen „guten Mann“, der nicht ahne, wie hoch Hamann als Christ und Mensch über ihm gestanden hätte. Seine „hochtrabende gräcisirende Redeweise“ sei ihr völlig „unerträglich“.

Diese Abneigung sollte jedoch nicht lange dauern, eine lebensgefährliche Krankheit warf den Freund darnieder und weckte ihr Mitleid und Interesse für ihn wieder auf. Sie pflegte ihn mit der alten Gefühlswärme und kniete ebenso an seinem Krankenlager, wie an dem von Hamann. Der Tod schien auch ebenso sicher seine Füße zu ergreifen; die Füße und Hände waren schon steif und kalt geworden. Als die Fürstin eigenhändig heiße Umschläge von Wein und Kräutern machte, hatte sie jedoch die Freude, den Kranken sanft einschlafen zu sehen um gestärkt wieder zu erwachen. Die Darlegung der Empfindung durch körperliche Zeichen war in damaliger Zeit so viel mehr gebräuchlich als jetzt, daß man nicht ohne Erstaunen in dem Tagebuch der Fürstin den naiven Bericht lesen kann, wie Hemsterhuys seine Pflegerin umarmte und küßte zum Dank für ihre sorgende Aufopferung!

Nach dieser schweren Krankheit sah er die Fürstin nicht wieder, er starb zwei Jahre später, 1790, im Haag, er hat ihre Briefe aufbewahrt, damit sie dem Druck dereinst übergeben werden konnten. Sie zerstörte dagegen die seinigen, was zu beklagen ist, denn es ist dadurch auch das Verständniß der ihrigen erschwert worden. Nach dem Tode von Hemsterhuys wendete die Fürstin Gallitzin ihre Freundschaft dem Freiherrn v. Fürstenberg noch mehr als bisher zu, sie nannte ihn auch Du und schrieb ihm oft.

Im Jahre 1806 starb die Fürstin Gallitzin zu Angelmodde, dem Dörfchen bei Münster; ihr Gemahl war schon drei Jahre früher gestorben. Ihre beiden Kinder überlebten sie nicht lange. In der letzten Lebenszeit hatte sie noch die Freude, die ganze Familie Stolberg nach Münster übersiedeln zu sehen.

An der kleinen weißgetünchten Dorfkirche zu Angelmodde lehnt ein Kreuz, von wilden Rosen umrankt, unter denen das vielbewegte Herz der Fürstin Gallitzin, der einst so stolzen Philosophin und nachher so demüthigen Christin, Ruhe gefunden hat. Die Gräber berühmter Menschen sind oft die deutlichsten Wahrzeichen von der Unberechenbarkeit der Schicksale; wie verschieden sind ihre Gräber meistens von ihrer Wiege! (Schiller und Goethe in der Fürstengruft.)

Der einsame Pfad in dem weltfernen Dörfchen des Münsterlandes, der zum Grabe der Fürstin Gallitzin führt, wird nur noch von Dichtern heimgesucht. Immermann hat ihn oft betreten und Levin Schücking, der in einer geistvollen Abhandlung zuerst wieder an die berühmte Frau erinnert hat.

F. v. Hohenhausen.     



[364]

Das Wildschützenthum.

Von Adolf Müller.

Wenn ich, der Forst- und Waidmann, mit der Besprechung vorstehenden Gegenstandes betraut werde, so sehe ich darin gewissermaßen die Aufforderung und die Verpflichtung, vor der gebildeten Welt des neunzehnten Jahrhunderts mein Thema in dem Lichte moderner Auffassung zu behandeln. Ich lege also hier den mir so liebwerthen „Grünrock“, der mich hin und wieder in eine gewisse Sonderstellung meiner Aufgabe gegenüber bringen möchte, ab und erscheine außerhalb der engeren Fachschranken auf dem literarischen Forum im weltbürgerlichen Kleide. Der kosmopolitische Strom des Jahrhunderts geht seine Bahnen und berührt auch die Zelle des einsiedlerischen Denkers, die abgeschlossenste Stube des Actenbeflissenen und Beamten.

Die Wilderei bedarf nicht der künstlerischen Beihülfe, um ihr etwas von einem wilden abenteuerlichen Reiz zu verleihen. Wenn ihr fremdes Eigenthum stets beeinträchtigender Wandel auch vor den Gesetzen mit Recht verpönt ist und sie gegenüber den Beziehungen und Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft strafbar erscheint, so hängt ihr doch einestheils eine gewisse Romantik an, anderntheils vindicirt ihr die naturrechtliche Anschauung gleichsam eine Berechtigung, was Alles sie von Vergehen gemeiner Art wenigstens unterscheidet.

Wild und Wald betrachtet der naturrechtliche Volkssinn mehr oder weniger als ein Gemeingut und die Aneignung von Wild- und Walderzeugnissen höchstens als einen gelinden Frevel, eine lustige Freibeuterei. „Wild und Wald sind frei wie die Luft“ – so denkt das Volk. Und es streift in gewissem Sinne hinsichtlich des ersten Gegenstandes an die Wahrheit. Wenn einer höheren landwirthschaftlichen Betriebsamkeit eine übertriebene Wildhege, noch gar auf fremdem Gelände, schroff gegenüber trat, so folgte der ungehörten Forderung um Wildschadenersatz nicht selten die Selbsthülfe durch Wegschießen des Wildes und endlich durch völlige Wilderei auf dem Fuße, und dazu hat der humane Strom unserer modernen Gesetzgebung die Bestrafung der Wilderei unter den Gesichtspunkt der Vorurtheilslosigkeit gebracht, und wir sehen die Wilddiebei an sich ebenmäßig den übrigen Jagdvergehen bestraft.

Die Wilderei hat sogar ihre harmlosen Seiten. Trägt nicht gar mancher Jäger und Jagdliebhaber das geheime Bewußtsein im Herzen, an bestimmten ominösen Jagdgrenzen her hin und wieder gewildert zu haben, indem er Hühner einer „abgestrichenen“ Kette oder einen Hasen oder ein sonstiges Wild über des Nachbars Grenze mit heimlicher Freude „wegputzte“? Das sind gegenseitig gehandhabte und stillschweigend geduldete Jagdpraktiken, durch nimrodischen Eifer und Neid aus den Fugen der Jagdordnung getretene Privatwilddiebereien, sogenannte kleine Jagdsünden, die vor dem waidmännischen Forum frei ausgehen und mehr die Physiognomie der Schalkhaftigkeit und des Humors tragen, als das Gemeine gewinnsüchtiger Wilddieberei.

In einem ganz anderen, gefährlichen Charakter hingegen erscheint die gewerbsmäßig betriebene Wilderei. Mit dem Augenblicke, wo die unbändige Leidenschaft dem Jäger das Feuergewehr und den Genickfänger zur geflissentlichen, handwerksmäßigen Wilddieberei in die Hand drückt, tritt er wie von selbst aus der Harmlosigkeit oder der Hochlaunigkeit des menschlichen Sports, des Waidwerks, in das gefährliche Stadium eines heimlich Bewaffneten, den bestehenden Gesetzen gegenüber. Vornehmlich aber demjenigen Stande, welchem die Aufrechthaltung jener Gesetze obliegt, dem Wald und Wild schützenden Forstpersonale, ist mit diesem Schritte des Wildschützen der Krieg erklärt. Dieser nimmt einen besonders ernsten, ja erbitterten Charakter an in ausgedehnten Wildbahnen, in welchen Hochwild, wie Hirsche, Sauen und Rehe, gehegt werden. In der gehässigsten und gemeinsten Gestalt, wenn auch nicht mit der gefährlichen Ausprägung des eigentlichen Wildschützenthums, erscheint hingegen die Wilddieberei, wenn sie sich des Schlingenlegens hedient. Es ist dies ein wilderndes Henkerthum und mit einer feigen Waldschleicherei verbunden, der selbst das wachsamste Auge des Försters oder Wildhegers meist nichts Erhebliches anhaben kann. Der „niederen Jagd“ ist diese Gaunerei höchst gefährlich, und der Schlingenleger von Seiten des Aufsichtspersonals auch schwer auf der That zu betreten. Denn nur der in seinem frevlerischen Beginnen Ertappte – sei es in dem Augenblicke, wo er die Drahtschlinge auf dem Wechsel des Wildes anbringt, sei es, daß er ein im verhängnißvollen Messingdrahte erdrosseltes Opfer auf seinen Schleichwegen abnimmt – ist vor Gericht als überführt und straffällig zu betrachten. Sehr natürlich ist wohl darum der Haß des Forstschutzpersonals und des Waidmannes gegen diese gemeinste und heimlichste Art der Wilddieberei. Mit freudiger Genugthuung gedenke ich immer noch der unvergeßlichen Thaten meines alten „Bruno“. Dieser vortreffliche Hühnerhund fing sich einst im Walde, woselbst die Pest des Schlingenlegens besonders eingerissen war, in einer Hasenschlinge, aus der ich den Winselnden glücklich noch befreite. Von dem Augenblicke an war das geneckte Thier der beste Schlingenfinder, indem er die bei der Suche von ihm aufgefundenen verhaßten Drähte zu Dutzenden „verbellte“. Durch seine ausgezeichnete Nase kam ich so in kurzer Zeit wiederholt in den Besitz der Schlingen, und den Schlingenlegern war das Handwerk in diesem Bezirke alsbald gelegt. Merkwürdig ist in solchen Waldgegenden die Beobachtung an Füchsen. Reinecke gerät bei dem Schleichen auf den Hasenpfädchen oder „Steigen“ nicht selten in eine oder die andere Schlinge, weiß sich jedoch, seiner Zählebigkeit und Gewandtheit gemäß, meist von der unverhofften Fessel zu befreien; der festzugezogene Draht bleibt ihm aber entweder im Fleische des Halses oder der Weichen sitzen, das Thier erscheint in letzterem Falle mit einer wahren Wespentaille, in welcher Gestalt ich es einst mit höchlichem Erstaunen, daß es so leben konnte, erlegte.

Doch zum eigentlichen Wildschützenthum zurück. Es ist in der Geschichte der Jägerei ebenso berühmt als berüchtigt. Das Mönchthum zählt viele Wilderer und in manchem Romane sehen wir ihr Treiben verherrlicht. Der Pater schleicht aus der Zelle, die Büchse unter der Kutte, dem schwarzen Walde zu, um dem Pater Küchenmeister den Zehnten aus einem Nachbargehege in Nacht und Nebel zum Hinterpförtchen einzuführen.

Wer gedächte wohl noch des englischen adligen Gutsbesitzers, wenn nicht einstens in dessen Park der große Shakespeare gewildert hätte und von den Jägern vor die patriarchalischen Gerichtsschranken des Edelmannes geführt worden wäre?

In guten Wildbahnen nimmt die Wilderei so zu sagen einen größeren Schnitt und, wie erwähnt, einen gefährlicheren Charakter an. Dem bewaffneten Freibeuter des Waldes tritt der ebenfalls bewehrte Aufseher ernst und auf das Schlimmste gefaßt gegenüber. Stets muß dieser gewärtig sein, daß aus dem ertappten Wildschützen sofort ein Verbrecher erwächst. Meist hat der Aufseher der Wildhege bei solcher Begegnung den schlimmeren Stand, denn gewöhnlich ist er der vordringende Theil, derjenige, welchem sein Amt gebietet, des Wilderers habhaft zu werden, ihn „handfest zu machen“, d. h. ihn zu ergreifen und entwaffnet der nächsten Polizeibehörde zu überliefern. Das ist aber keine geringe Aufgabe und in den weitaus meisten Fällen ohne die größte Gefahr für den Beamten gar nicht möglich. Dem den Wilderer anrufenden Förster wird sich sogleich die Mündung der Büchse aus dem Hinterhalte zukehren und bei schlechter Deckung oder weiterem Vordringen das verhängnißvolle Blei entgegensausen. Nur in dem Falle, wenn der im Hinterhalte stehende Aufseher den Wilderer auf seinen wohl ausgekundschafteten Schleichwegen erwarten kann, verschafft sich der Erstere den Vortheil im zu erwartenden Kampfe. Aber dieser Kampf ist keineswegs ein ersehnter, erwünschter, er ist in allen Fällen ein trauriger für das Forstschutzpersonal: denn dies muß sich einerseits wohl hüten, dem allfällig auf den Mahnruf flüchtenden Wildschützen nachzuschießen und ihn so zu tödten, weil das Gesetz dem Forstschützen nur bei unabänderlicher Gefahr, in der Notwehr, die Tödtung des Wilderers erlaubt; andererseits muß der Anrufende aber auch jederzeit bereit sein, dem etwa beim Zurufe die Büchse anschlagenden Wilderer mit einem wohlgezielten Schusse zuvorzukommen. Wie oft steht dem Ersteren nur ein Augenblick der Vertheidigung zu Gebote, und, wenn er diesen versäumt, der Tod bevor! Die Criminalgeschichte über Wilderei hat wohl mehr Fälle der Tödtung von Förstern und Wildhütern als von Wilderern aufzuzählen. Jagdleidenschaft und Haß auf der einen, Verwilderung und Rache auf der andern Seite führen oft zu solchen tragischen Begebenheiten.

[365] 

Des Wilderers Tochter.
Originalzeichnung von Professor Thon in Weimar.

[366] Wir kehren dieser schwärzesten Seite des Wildschützenthums gern den Rücken und bestätigen nur die erfahrungsmäßige Wahrheit, daß dies Naturgewerbe – wie wir es nennen wollen – sich beständig auf der Grenze zwischen Vergehen und Verbrechen bewegt, mithin als ein sehr gefährliches und verwerfliches anzusehen ist. Ach nannte den sich so leicht entspinnenden Kampf zwischen Wildhütern und Wildschützen einen traurigen, und gewiß mit Recht. Denn immerhin ist der Sieg mit dem bitteren Bewußtsein verbunden, einen Menschen getödtet zu haben. Jeder fühlenden Brust ist aber das Letztere nichts weniger als ein Triumph.

Ein mit großer Intelligenz und Herzensgüte begabter hochgestellter Beamter in der mit D. bezeichneten Stadt Mitteldeutschlands war einst im Sommer im Walde auf dem Pürschgange begriffen. Mit einem Male hört er deutlich „blaten“, d. i. den Ruf des weiblichen Rehs, welchen der Jäger auf einem Pfeifchen oder Birnblatte nachahmt, um damit den „brunftigen“ Rehbock herbeizulocken. Der Pürschende, in diesem Rufe sogleich die Handlung eines Jagdfrevlers vermuthend, schleicht nah und näher und entdeckt zuletzt in einem Hochwalde auf einem Baumstumpf den berüchtigtsten Wilddieb der Umgegend, der, im Blaten begriffen, seine Büchse seitwärts an den nächsten Stamm gelehnt hatte. Dem vorsichtig mit gespannter Büchsflinte Heranschleichen- den gelingt es, den Wilddieb handfest zu machen. Dieser, durch die Ueberrumpelung körperlich und geistig entwaffnet, folgt geduldig der Aufforderung des Waidmannes, vor ihm her zum nächsten Orte zu gehen, bis auf einen Waldweg. Hier aber setzt sich der Wilderer nun in Schnellschritt und, trotz der Mahnrufe lauter sich, in Lauf; aber in einer Entfernung von fünfzig Schritten giebt der Verfolger jetzt aus dem Schrotlaufe seiner Büchsflinte Feuer auf dem Flüchtling. Ein hoher Sprung desselben mit entsprechenden Bewegungen der Arme zeigen dem Waidmanne die Wirkung der Rehschrote in der Gegend seines Zieles. Im nächsten Augenblicke ist der Wilderer im Dickicht verschwunden.

Jetzt erst überdachte der sonst so klare Kopf des Juristen (der Waidmann war richterlicher Beamter!) die ganze mögliche Tragweite seiner leidenschaftlichen, unberufenen That, jetzt erst empfand sein vortreffliches, aus dem Taumel der Leidenschaft erwachtes Herz das Unmenschliche seiner Handlungsweise. Wochenlang folterte den Guten das Gewissen – bis ihm die erste sichere Kunde, daß das „Haidchen“ (so hieß der Wilderer) in einer andern Gegend aufgetreten und weidlich fortwildere, wieder Ruhe und – gründliche Heilung von jeder Regung unberufenen Eingriffs in die Jagdpolizei verschaffte.

Und der Wilderer auf unserem Bilde im Schauer der Waldeinsamkeit? Er war eben im Begriff, einen vor Kurzem erlegten Rehbock „auszuweiden“, da entdeckten seine stets wachsamen Indianersinne auf dem vorbeiziehenden Pfade unter den Buchenhallen im Abenddämmerlicht ein daher wandelndes Paar: – es ist der verhaßte und zugleich gefürchtete Förster im innigen Einverständnisse mit des Wilderers eigener Tochter. Einen der schlimmsten Streiche scheint dem stämmigen Thüringer Natursohn der kleine Gott Amor gespielt zu haben, dessen schelmisches Werk, die so sichtbare Vereinigung der Tochter mit dem Förster, dem Vater hier der hämische Zufall vor Augen führt. In höchlicher Ueberraschung zurückgebeugt, vor Grimm das Waidmesser wie zum rächenden Stoß gezückt, gehen über das verwitterte Gesicht die Züge wilder Leidenschaften. Was wird der Wildschütz beginnen? fragt sich wohl der Beschauer des Bildes, dessen Blick bald auf dem liebenden Paare, bald auf dem Wilderer hinter der Buchengruppe haftet. Wird die Wuth des Wilddiebes, getragen und vielleicht auf die höchste Spitze getrieben durch die Verwilderung seiner abenteuerlichen gefährlichen Lebensweise, ihn zu einer Handlung der Rache, zu einem Morde hinreiße? – oder erwacht beim Anblick seiner Tochter – vielleicht seines einzigen geliebte Kindes – die Vaterliebe und wandelt die kochenden Wellen des feindseligen Herzens in friedlichere Schläge der Versöhnung? Wir hoffen unwillkürlich das Letztere, und der nur den Moment andeutende Griffel des Künstlers hat unserer Phantasie ja hier das Recht des freien Ausmalens gegeben.




Blätter und Blüthen.


Ein General „zu vermieten“. Den Newski-Prospect in St. Petersburg geht langsam ein feierlicher Beerdigungszug hinunter. Die zahlreichen Spaziergänger auf den beiden Seitentrottoirs der Hauptstraße der Residenz – es ist noch nicht Frühling und die Nachmittagspromenade auf dem Newski-Prospect also noch fashionabel – entblößen das Haupt vor dem Schläfer, der dort den letzten Schlaf thut.

Das ist russische Sitte und eine hübsche Sitte, von der sich Keiner, weder der elegante Flaneur, noch der hochgestellte Würdenträger, selbst nicht der Kaiser ausschließt.

Vorausreitende Gensd’armen und geschäftige Polizeibeamten machen dem langen Zuge in der belebten Straße freie Bahn, bald in mehr, bald in minder höflicher Weise. Aus der goldgestickten Decke über dem Sarge funkelt übermüthig die Sonne, als wollte sie sich über die bleichen Flämmchen in den Laternen der nebenanschreitenden Fackelträger lustig machen. Dichte Weihrauchdämpfe wirbeln aus den Rauchfässern der Chorknaben und ein langer Zug von Priestern aller Grade mit schwarzen, rothen und violetten Mützen und in starren Brocatgewändern folgt dicht hinter dem Sarge. Zahlreiche Leidtragende und eine endlose Reihe von Equipagen machen den Schluß des langsam vorwärtsgehenden Zuges.

Es ist eine Beerdigung erster Classe. Warum sollen wir nicht unsere Todten classificiren, da wir doch selbst für die Lebenden vierzehn Rangclassen haben? Kommt doch bei der Classification der Todten von allen den maßgebenden Nebenumständen, welche die Lebenden nöthig haben, als Glück, Geld und Protection, nur ein Umstand in Betracht, – der Kostenpunct.

Und die Kosten brauchten die Erben des alten Semen Matwejewitsch nicht zu scheuen. Hatte er sich doch vierzig Jahre in der schmutzigen Hökerbude dort in der Erbsenstraße geplagt, selbst am Sonntag da hinten in dem dunklen Verschlage seinen Thee getrunken und seine Grütze gegessen, und jahraus jahrein immer denselben alten Schafspelz getragen, – um erster Classe beerdigt zu werden. Mit dem Rest des Geldes, der da nach Abzug dieser Kosten, nach Auszahlung des bedeutenden Vermächtnisses „zur Verschönerung des Altars“ der Auferstehungskirche nachblieb, konnten die Erben zufrieden sein und brauchten nicht zu knausern. Wer in Rußland seine Todten gut begräbt, verbessert seinen Credit!

Unter den ersten Leidtragenden folgt dem Sarge ein alter General. Welche effectvolle Staffage unter den übrigen Leidtragenden in schwarzer Trauer bildet die hohe stattliche Figur des alten Kriegers mit dem schneeweißen Haar und Backenbart, mit der vollen Uniform, den glänzenden Epaulettes und dem wehenden Federbusch! Wie nachlässig und doch wie elegant ist dieser Handgriff, mit dem er den halboffene Mantel über den Schultern zusammenhält, damit das breite, rothe Ordensband zusehen ist!

Mit eiserner Geduld geht der alte Krieger hinter dem Sarge einher bis zu dem Friedhof, kummervoll beugt er das Haupt an dem offenen Grabe, und wenn sich der Hügel dann über dem müden Schläfer gewölbt hat, richtet er die gebückte Gestalt wieder auf, schüttelt gerührt und schweigend den nächsten Leidtragenden die Hand und seht sich in seine elegante Equipage.

"Wer war der alte General?" fragt dann wohl der Eine oder der Andere von den Anwesenden.

„Das ist ja ‚unsere Excellenz‘,“ antwortet dann ein besser Unterrichteter.

In einem der bekannten Restaurationslocale, welche in dem corrumpirten Petersburger Russisch-Deutsch. „Kuchmeistereien““ genannt werden wird eine Hochzeit gefeiert.

Unter den Gästen finden wir hier wieder unseren alten General. Er sitzt neben dem Vater der Braut, und dieser schenkt ihm fleißig ein und nöthigt ihn – nicht ohne Erfolg – hier und dort zuzulangen. Man kann sich schwerlich einen liebenswürdigere, heiterern Gesellschafter denken, als den alten General. Während er hier dem Diener einen Wink giebt, ihm die allzuentfernte Schüssel mit den „weißen Astrachan’schen Pilzen“ näher heranzurücken, macht er seinen Nachbar auf den „delicaten“ geräucherten Lachs aufmerksam, von dem er doch noch einmal versuchen wolle. Den Schwiegervater ermahnt er nicht allein vor der Suppe, sondern auch nach dem Fisch und Braten einen „Doppelkümmel“ zu trinken, – er halte das so und habe es immer probat gefunden. Er selbst aber gießt sich noch ein Glas Rheinwein ein, um mit der „verehrten“ Braut anzustoßen und zugleich die Hoffnung auszusprechen, daß sie auch noch morgen früh wie eine blühende Rose aussehen werde, – eine so zarte Anspielung, daß die Wangen des jungen Mädchens sich in tiefen Purpur färben. Am Tanz betheiligt er sich zwar nicht, aber er treibt die faulen jungen Leute in’s Gefecht oder er holt den an der Thür lungernden Diener, damit er für Tante Praskowia und für ihn ein Glas Ananaspunsch – „aber nicht zu schwach“ – bringe. Alle Welt ist entzückt von „unserer alten Excellenz“.

Bei Kindtaufen und bei Namenstagen, bei Diners und bei festlichen Einweihungen finden wir unseren alten braven Krieger wieder. Welche vielseitigen Talente entwickelt er bei allen diesen Gelegenheiten! Der allzu ängstlichen Taufmutter spricht er Muth zu und zeigt ihr, wie sie den schreienden Täufling bei der Zeremonie zu halten habe. Wenn zur Feier des Namenstages sich endlich der schüchterne Jüngling mit dem langen Haar und den sehr zweifelhaft weißen Handschuhen an den Flügel setzt, um einen Walzer zu spielen, dann stellt er sich neben ihn und schlägt ermunternd mit dem Champagnerglase den Tact dazu. Am Schluß des feinen Diners steht er schwankend und doch wundervoll auf und bringt dem gastfreien Wirthe Anton Antonowitsch ein letztes, dreifaches Hoch. Wenn der Priester die prachtvollen Säle des neuen Hauses eingeweiht und das Kreuz den Versammelten zum Küssen gereicht hat, dann spricht er ein paar kräftige und herzliche Worte und prophezeit dem alten bewährten Hause „Smirnow und Söhne“ auch das alte Glück in den neuen Räumen.

[367] Allerdings würde die unvorsichtige Taufmutter, wollte sie den Rath „unserer Excellenz“ befolgen, nothwendiger Weise das arme zu taufende Geschöpf auf die Erde fallen lassen. Jedenfalls müßte der bleiche, langhaarige Jüngling an dem Pianoforte bei der klirrenden Begleitung des Champagnerglases aus dem Tact kommen, wenn ihn nicht die allabendliche Uebung seines künstlerischen Daseins im Strauß’schen Walzer tact- und sattelfest gemacht hatte. Wohl befremdet es manchen Gast an der Tafel, daß die Excellenz den gastfreien Hauswirth Anton Antonowitsch nennt, da er doch Maxim Alexandrowitsch heißt. Nur mühsam unterdrückt mancher Eingeweihte ein Lächeln bei dem Speech des Generals auf das alte Glück von „Smirnow und Söhne“, da doch die ehrenwerthe Firma bereits dreimal mit ihren Gläubigern accordirt hat.

Wer aber kann der liebenswürdigen Excellenz mit dem schneeweißen Haar, den funkelnden Epauletten und dem breiten Ordensband, die einem Jeden so freundlich die Hand schüttelt, so brav mittrinkt, so tapfer bis zum letzten Ende aushält, etwas übelnehmen? Was wäre das ganze Fest ohne „unsere charmante Excellenz“ gewesen?

„Unsere Excellenz“, – das ist eine dieser fraglichen Petersburger Existenzen, deren Lösung in dem Titel dieser Skizze liegt. Für ein angemessenes Honorar figurirt der alte, zur Disposition gestellte General als glänzende Staffage der bürgerlichen Hochzeiten, Beerdigungen, Taufen und sonstigen Feste. Gehört doch ein General zu den unumgänglich nothwendigen Requisiten einer solchen Feier in Petersburg. Und daß dieses angemessene Honorar trotz mancher Concurrenz redlich seinen Mann nährt, beweist uns die elegante Equipage, das behagliche Leben „unserer alten Excellenz“. Arthur v. Truhart.     




Der Proceß Zastrow, der binnen Kurzem seiner Entscheidung entgegengeht, wird einen merkwürdigen Beitrag zu den Verbrechergeschichten, den causes célèbres der Neuzeit liefern und den traurigen Beweis geben, daß die Verirrungen der menschlichen Seele in unserm vorgeschrittenen Jahrhundert noch in heidnischster Gestalt auftreten können. Dieser Zastrow ist ein Beispiel von Herunterkommen und Versinken, wie man es bei einem gebildeten Menschen bisher gar nicht für möglich gehalten hat. Seine Lebensgeschichte in kurzem Abriß wird dies hinlänglich darthun.

Karl von Zastrow, nicht Wilhelm, wie die meisten Blätter ihn irrthümlich nannten, ist der älteste Sohn des Generals von Zastrow, der zuletzt in Münster Brigadier war und dort verstorben ist. Die Mutter war eine Berlinerin, eine geborene Lemcke, die als sehr schönes und reiches Mädchen ungefähr 1820 bis 1825 eine geachtete und gefeierte Persönlichkeit in Berlin war. Ein Bruder von ihr, Legationsrath Lemcke, ebenfalls ein reicher Mann, hat sich im Jahr 1845 aus unbekannten Gründen erschossen; Frau von Zastrow wurde bald nachher tiefsinnig und starb in ihren besten Jahren. Der Sohn Karl zeigte frühzeitig viel poetisches Talent, aber wenig Fleiß und Lust zu ernstem Studium. Er verließ das Gymnasium ohne glänzendes Examen und versuchte zu studiren, wechselte bald seinen Entschluß und wurde Cavalerist, erlangte jedoch nicht den Officiersgrad, er wechselte abermals seine Laufbahn und ging nach Dresden, um Schauspieler zu werden, was ihm aber nicht gelang. Im Besitz eines ansehnlichen Vermögens fand er es bequemer ganz ohne Beruf zu leben, er reiste nach Italien, wo er wahrscheinlich seinen letzten moralischen Halt verlor. Er beschäftigte sich übrigens dort viel mit Musik, Malerei und Dichtkunst, verbrauchte aber auch einen großen Theil seines Vermögens. Nach Jahren tauchte er dann wieder in Berlin auf als verachteter Bummler, er nannte sich Maler, leistete aber nur sehr Mittelmäßiges. Sein ursprünglich vortheilhaftes Aeußere sah verkommen aus, er trug schlechte, unordentliche Kleidung, namentlich immer eine schmutzige weiße Halsbinde und wildflatterndes Haar. Er wurde allgemein für verarmt und für ein verkommenes Genie gehalten. Aus Mitleid luden ihn noch zuweilen die alten Bekannten seiner einst hochgeachteten Eltern zu sich ein. Er benahm sich durchaus wie ein gebildeter Mann bei solchen Gelegenheiten, so daß man seinen schlechten Anzug vergessen konnte; er recitirte gern Verse, sang große Opernarien und sprach von seiner Verehrung des Irvingianismus in exaltirter Ausdrucksweise. Es ist völlig unwahr, daß er Pietist gewesen sein soll; er hatte offenbar gar keine Religion und suchte sich nur durch Anschluß an eine neue, vielfach angefeindete Gemeinde eine Art Nimbus zu verschaffen. Es gelang ihm jedesmal durch eine religiöse Streitigkeit seine Dialektik in ein glänzendes Licht zu stellen, was ihn sichtlich erfreute. Er nahm die Einladungen, die ihm nur aus Mitleid gespendet wurden, scheinbar mit bescheidener Dankbarkeit auf, verschwand dann aber oft auf Monate. Das Dunkel seiner Lebensweise wurde erst durch seine Verhaftung gelichtet. Er hat das Verbrechen, dessen man ihn beschuldigt, zwar noch nicht eingestanden, aber zugegeben, daß er unnatürlichen Lastern ergeben sei, wodurch er sich sein Urtheil selbst gesprochen hat.

Der Merkwürdigkeit halber lassen wir hier eins seiner Gedichte folgen, welches er in Italien zur Zeit seiner Bekanntschaft mit der berühmten Ristori geschrieben hat und welches gewiß nicht ohne poetischen Werth ist.

 An Adelaide Ristori.

Wohl ist die Kunst ein ew’ger Lebensbronnen,
0 Aus dem Begeist’rung alle Wesen trinken,
0 Ich sah den Glanz auf Eurer Stirne blinken,
In Pitti’s Haus, Ihr Engel und Madonnen.

Doch wie Ihr strahlt in Euren heil’gen Wonnen,
0 Wie klar und fromm die reinen Augen winken,
0 Ich kann nicht mehr wie sonst in Euch versinken,
Ein neuer Zauber hat mein Herz umsponnen.

Zwar Eure Stirn verklärt ein goldner Friede,
0 Des Himmels Traum, Ihr heiligen Marien,
Du aber lebst und glühst, Adelaide –
0 Vor Deinem Götterbild muß ich jetzt knieen!




Theologische Schalkheiten. Der bekannte Profestor der Gottesgelahrtheit an der Hochschule zu R., Dr. theol. K., studirte Ausgangs der zwanziger Jahre seine letzten Semester zu Halle, wohin Gesenius’ berühmte Vorlesungen damals die Theologen aller Richtungen zusammenführten. Daß K., trotz seiner heutigen rigorosen Ultraorthodoxie, mehr ist, als der Troß seiner Genossen gewöhnlichen Schlags, bleibt unbestreitbar, mag man den Mann sonst beurtheilen, wie man will. Schon als Student von ernstester und strengster Denkungsart zwar, in der Wissenschaft sowohl, wie im gewöhnlichen Leben auch, dabei erfüllt von der Höhe seines Berufs und vom höchsten Lerneifer beseelt, vermochte der junge Gottesgelehrte dennoch nicht, einen ihm angeborenen innewohnenden schalkhaften Zug immer ganz zu verleugnen.

Gesenius las über Exegese des alten Testaments, Kirchengeschichte etc. etc. K. hatte während seiner ganzen Hallenser Studienzeit alle Collegia des berühmten Gelehrten belegt und bezahlt. Auch für ein neues Semester wiederum, das sein, K.’s, letztes sein sollte. Ganz spät erst kündigte da Gesenius noch eine Vorlesung über semitische Dialecte und Paläographie an, die K. ebenfalls gern gehört hätte. Aber nur bei spärlichem Wechsel und als guter Haushalter war seine Finanzeintheilung geschlossen und der zu diesem Colleg nöthige Honorar-Doppelfuchs mangelte. Daß Gesenius nicht stundete, war allen seinen Zuhörern nur zu wohl bekannt. Und er brannte doch auf diese Vorlesung, der junge Theolog! Wollte er es aber genießen, das Colleg, mußte er wohl oder übel sich entschließen, auf die Gefahr hin kurz abgewiesen zu werden, bei dem großen Hebräer seine Bitte um Stundung anzubringen. Bis zu seinem Abgange von Halle, also bis Schluß des Semesters, sollte er ihm das Honorar ja auch nur stunden. Ein kleiner Extrazuschuß von Hause würde ihn dann in den Stand setzen, auch diese Verpflichtung zu decken. K. entschließt sich zu dem sauern Gang und trifft den Professor in seinem Studirzimmer, allwo dieser, anscheinend in bester Laune, meditirend und dazu grausam rauchend auf und ab wandelt. Die das Arbeitszimmer mit den Familienräumen verbindende Thür steht offen, einen Durchblick auf die anstoßenden Zimmer und die darin anwesende Familie des Gelehrten verstattend.

Ehrerbietigste Verbeugung K.’s, höflichst erwidert von Gesenius.

„Studiosus theol. K.“

„Freut mich, Sie bei mir zu sehen. Sie sind mir als einer meiner stetigsten und aufmerksamsten Hörer von Person schon wohlbekannt. Und was verschafft mir für heute die Ehre Ihres Besuchs?“

K. trägt sein Anliegen im bescheidensten Bittton vor. Gesenius, nachdem er gehört, runzelt die Stirn und steht schweigend eine ganze Weile, den Petenten fixirend. Plötzlich faßt er diesen beim Arm, führt ihn an die offne Thür und, auf seine Familie in dem Nebenzimmer deutend, spricht er:

„Collegia stunden, Herr Studiosus, ist ganz gut, aber unmöglich, wenn man so stark mit Kindern gesegnet ist, wie ich es bin.“

Halb wirklich verlegen und erschrocken, halb den Schelm im Nacken, erwidert K. mit seltsam ängstlichem Gesicht:

„Ja, entschuldigen Sie, Herr Consistorialrath, dafür kann ich doch nicht?!“

„Was? – Nein! dafür können Sie allerdings nicht, was ich mir übrigens auch verbeten haben wollte!“ entgegnet lachend der Professor und stundet das Colleg.

K.’s Studienzeit ist zu Ende mit dem Semester, der Extrazuschuß eingetroffen. Er will Halle verlassen als redlicher Mann, also alle seine Schulden bezahlen. Alles ist denn auch glücklich gedeckt bis auf die semitischen Dialecte Gesenius’, und für diese bleibt dem angehenden Candidaten, er mag das Reisegeld noch so knapp berechnen, trotz allem Rechnen, nur ein einfacher Friedrichsd’or, und ein doppelter muß es doch sein! Den Professor noch einmal um Fristung der Hälfte bitten? – zu beschämend und deshalb nicht gut möglich. K. mustert wieder und wieder seine Habe, was etwa zu verkaufen sei, allein er findet nichts. Sinnend mißt er den Raum seiner Bude. „Welcher gute Geist verwandelt mir diesen einfachen Friedrichsd’or in einen doppelten?!“ murmelt er und betrachtet dabei den Goldfuchs in seiner Hand. „Halt! so kann’s gehn!“ ruft er plötzlich und eilt die Treppe hinunter und direct in die Werkstatt seines Hausphilisters, eines ehrsamen Schlossers.

„Herr Wirth, einen Hammer und ein Locheisen!“ schreit er diesen an und legt das Goldstück auf den Ambos.

Erstaunt reicht ihm der Schlosser das Verlangte und behutsam schlägt nun K. mit dem Eisen in die breite Randfläche des Goldfriedrichs eine kleine Vertiefung, die immerhin einem ziemlich großen Punkt verglichen werden darf.

„Hochverehrter Herr Consistorialrath, ich komme, Ihnen dankbarst das gestundete Colleghonorar zu überreichen,“ spricht er zehn Minuten später zu Gesenius und legt dabei den Friedrichsd’or, den Punkt nach oben, vor dem Professor auf den Schreibtisch.

„Schön, schön! Herr Candidat, danke Ihnen. Aber verzeihen Sie,“ – der Gelehrte hebt das Goldstück auf – „das ist nur ein Friedrichsd'or, und das Honorar beträgt doch zwei?!“

„Ganz recht, Herr Consistorialrath! Das ist aber einer mit ’nem Dagesch forte!“ (das hebräische Verdoppelungszeichen) antwartet tout à coup K. und deutet dabei ernsthaft auf den Punkt am Rand des Goldstücks.

„Sie wissen Ihr Hebräisch gut an den Mann zu bringen,“ sagt halb lachend, halb ärgerlich der Professor. „Nun, behüt’ Sie Gott! Das Colleg ist bezahlt.“ C. Sp.     




Musikalisches. Die Tonkunst hat für das Culturleben der Gegenwart eine von Vielen willkommen geheißene, von Anderen beklagte, von Niemand aber bestrittene Bedeutung. Wenn wir absehen einerseits von den strengen Fachwerken, andererseits von dem breiten trüben Strome, der sich in zahllosen Büchern und Tagesblättern über die Lesewelt ergießt

[368] und nur unter die Rubrik „Musikgeschwätz und Parteigezänk“ fällt, so lassen sich die eigentlich ästhetisch-musikalischen Schriften in zwei Classen theilen. Die eine sucht ihren Schwerpunkt in einer tiefeingehenden Zergliederung der einzelnen Tonstücke, bringt allerdings dem Künstler die reichere wissenschaftliche Ausbeute, vermehrt, verbessert, schärft sein „Handwerkszeug“, ist aber Allen, denen es nicht um Studium behufs eigenen Schaffens und Reproducirens, sondern nur um Anregung und allgemeine Bildung zu thun ist, ein unnahbares Gebiet. Die sehr wenigen Schriftsteller der zweiten Gattung bekunden zwar, daß sie in die Geheimnisse der musikalischen Baustyle eingeweiht, mit ihren technischen Hülfsmitteln vertraut sind, ziehen jedoch hiervon in den Bereich ihrer Darstellung nur so viel, wie nöthig ist, um ihren eigentlichen Zweck zu erreichen: die künstlerischen Persönlichkeiten der Tondichter in ihrem Gesammtwesen und in ihren Werken zu überzeugender Anschauung zu bringen, in der Weise, daß ein inneres und inniges Verhältniß zum Gegenstand vermittelt wird. Weiteren Leserkreisen lebendige und nachhaltige Wirkung einzuflößen, vermag allein diese letztere Classe von Schriften. Ihr gehört ein eben erschienenes Werk an, welches wir unseren Lesern mit gutem Gewissen empfehlen können; Verfasser desselben ist der auf dem Gebiete der musikalischen Kritik rühmlich bekannte geistvolle Otto Gumprecht in Berlin, und sein Buch führt den Titel „Musikalische Charakterbilder“.

In der Form von „Essays“ enthält das Werk die sechs bedeutendsten Componisten der nachclassischen, der Mozart-Beethoven’schen sich anschließenden Periode: Franz Schubert, Mendelssohn, Weber, Rossini, Auber, Meyerbeer. Streng genommen hätte Robert Schumann und Spohr wohl auch ein Platz in der Reihe gebührt, der erstere wird indessen von Vielen dem neuesten, noch nicht abgeschlossenen Zeitabschnitt zugerechnet, und beide Meister stehen gerade den großen Kreisen, an welche unser Verfasser sich wendet, weniger nahe.

An der wohlthuenden Wärme, welche die Schilderung der erstgenannten drei deutschen Tondichter, namentlich die Schubert’s, athmet, läßt sich wohl fühlen, daß sie dem Herzen des Autors wie dem des deutschen Volks die nächsten, die verehrtesten und vertrautesten sind; aber auch der Italiener Rossini, der Franzose Auber und der Kosmopolit Meyerbeer sind mit jener Unbefangenheit, Reife und Milde des Urtheils gewürdigt, welches sich nicht durch Nationales, der Sache zum Nachtheil, beeinflussen läßt. Das Biographische ist mit Recht äußerst knapp gehalten und dient nur der ästhetischen Charakteristik als Ausgangs- und Anhaltspunkt, den künstlerischen und allgemein menschlichen Entwickelungsgang jedes einzelnen Componisten erläuternd und belebend. Auch der Musiker von Fach, der nicht ganz in Formalismus verknöchert ist, wird eine Fülle von Anregungen aus dem Buche schöpfen, ganz besonders aber werden der Glanz und die Reinheit der Darstellung jeden gebildeten Leser fesseln, selbst einen solchen, den mit der Musik und ihren unsterblichen Vertretern kein engeres Band verknüpft. Das Ganze aber wird, um mit dem Wunsche unseres trefflichen Verfassers zu schließen, „Empfindungen und Eindrücke, die in jeder für die Seligkeit der Töne empfänglichen Brust ruhen, zu hellerem Bewußtsein und bestimmteren Vorstellungen erwecken und die Liebe zum Gegenstande, welche dem Verfasser die Feder geführt, auch andere Gemüther, dem Gesetze der musikalischen Sympathie gemäß, in mitschwingende Resonanz versetzen.“




Ein Ehrenvermächtniß. Ein Vermächtniß, das Beide ehrt, den Geber wie den Empfänger, und an welchem auch die Leser der Gartenlaube Antheil nehmen, wird uns soeben aus St. Gallen bekannt gemacht. Der dortige Bürger und Tabaksfabrikant, Herr Johannes Vonwiller, hat durch Testament bestimmt: „Herrn Wilhelm Bauer, Submarine-Ingenieur, für seine Beharrlichkeit bei Hebung des ‚Ludwig‘ aus dem Bodensee 1/100tel (gleich 220 Frcs.)“

So wenig, wie bei dem armen Bergmanne in Halle an der Saale, welcher die ersten Groschen zur Ludwigshebung darbot, kommt es bei diesem Vermächtniß eines Schweizer Bürgers auf die Summe an: Beider Werth ist der, daß sie Vertrauen und Anerkennung aus den Volkskreisen für Bauer aussprechen, leider das Einzige, was ihm als Lohn der unterseeischen Schifffahrt, der Ludwigshebung und der Schießproben unter Wasser geblieben, seitdem die Ungunst der Verhältnisse ihn wieder einmal bei Seite gestellt hat.




Deutsche Preiscompositionen in Amerika. Vom Directorium des elften Allgemeinen Sängerfestes des Nordöstlichen Sängerbundes von Amerika erhalten wir folgenden Bericht über das Endresultat des von uns seiner Zeit mitgetheilten Preisausschreibens für Originalcompositionen: Die Entscheidung des Preisgerichts für die zum nächsten Sängerfest eingesandten achtundsechszig Preiscompositionen erfolgte Donnerstag, den 6. Mai, indem die versiegelten Couverte, die Namen der Componisten enthaltend, in Gegenwart der hiesigen Preisrichter, des Bundesvorstandes und des Musik-Comités, eröffnet wurden. Der erste Preis von hundert Dollars Gold wurde der Composition zuerkannt, die das Motto trägt: „Das letzte Lied dem Vaterland“. Componist ist Herr Hermann Franke, Cantor an der Marienkirche und Gesangslehrer zu Crossen an der Oder. Den zweiten Preis von fünfzig Dollars Gold erhielt die Composition mit dem Motto: „Vom Nord zum Süd, von Ost zum West, erschalle des Herrn Lied in tausend Zungen“, von Herrn J. C. Metzger, Capellmeister und Dirigent in Wien componirt.

Der Reihe nach den erstgenannten am nächsten stehend wurden folgende Compositionen befunden:

1. Du bist an kurze Zeit, doch nicht an Raum gebunden;
1. Geh’ hin, betritt ergeben Deine Bahn!
1. Es hat der Sänger mit dem Dichter sich gefunden. –
1. Dank Euch! und nehmt die Gabe freundlich an!

Componist: Theodor Berthold, königlich sächsischer Hoforganist in Dresden.

2. „Des Kriegers letzte Stunden“ mit dem Motto:
2. „D Wo Euch des Himmels heil’ge Luft umweht,
2. „D Da rauscht die Phantasie mit ihren Schwingen.

Componist: Ernst Wilhelm Sturm, Mitglied des königlich sächsischen Hoftheaters in Dresden.

3. „Dein ist die Macht und Herrlichkeit.“

Componist: J. E. Becker in Würzburg.

4. „Und mein Gebet am fernen Strand,
4. Gilt dir, mein deutsches Vaterland.“

Componist: Wilhelm Tschirch, Capellmeister in Gera.




Bocks Briefkasten. Ist das Impfen von Vortheil oder von Nachtheil? Diese Frage ist dem Verfasser seit Jahren so oft und in der Neuzeit so dringend gestellt worden, daß er sich endlich gezwungen sieht, darauf zu antworten. Er thut dies jedoch mit großem Widerstreben, da ein einzelner Mann der Wissenschaft, und wenn er auch noch so viele Erfahrungen in Impfangelegenheiten hätte, gar nicht im Stande und berechtigt ist, zu entscheiden, ob das Impfen wirklich schädlich oder nützlich ist. Um dies endlich aufzuklären, wird die Wissenschaft noch viele Jahre brauchen und sehr genaue Forschungen anstellen müssen. Und diese Forschungen müssen noch dazu von ganz unparteiischen, nicht von vorn herein für das Impfen eingenommenen Heilkünstlern angestellt werden. Denn leider spielt in der Heilkunst, und zwar ebenso in der der Aerzte wie der curirenden Laien, die oft ganz ungerechtfertigte Zuneigung zu diesem und jenem Heilmittel und Heilhokuspokus eine solche Rolle, daß daraus geradezu Abneigung zu ganz vernünftigen Mitteln und Curarten erwächst. Daß der heilkünstelnde Gevatter Schuster, Schneider und Handschuhmacher die Impf-Frage beim Glase Bier und zwar, wie bei uns in Leipzig, mit schlagenden Gründen, entscheiden und sich gegen das Impfen aussprechen kann, darüber wird sich Niemand verwundern, der den hohen Bildungsgrad und die übernatürliche Heilgabe solcher Heilwüthriche, so wie deren große angeborene Einsicht in den gesunden und kranken menschlichen Körper kennt. – Verfasser hat in seiner vierzigjährigen Praxis vom Impfen allerdings weit mehr Schlimmes als Gutes gesehen und impfte deshalb seine eigenen Kinder erst in ihrem dritten oder vierten Lebensjahre, wo sie gesund und kräftig waren. Er würde sie aber gar nicht geimpft haben, wenn bei uns nicht insofern indirecter Impfzwang bestände, als ein Impfzeugniß bei mancherlei Gelegenheiten durchaus verlangt wird. Erst ganz neuerlich wurden auch ungeimpfte Kinder in die Schule aufgenommen. – Daß durch das Impfen im kindlichen Körper eine Art Eitervergiftung (Pyämie) veranlaßt wird, selbst wenn die Lymphe zum Impfen von ganz gesunden Kindern oder Kühen genommen wird, das kann nicht bezweifelt werden, und daß eine solche Blutvergiftung sicherlich auch schlechte Folgen haben kann, ist erwiesen. Verfasser würde deshalb niemals einen Säugling in den ersten Monaten seines Lebens, am allerwenigsten aber zur Zeit des Entwöhnens und Zahnens impfen. Ob er damit Recht thut oder nicht, läßt er zur Zeit dahingestellt; auch will er sein Verfahren durchaus nicht zur Nachahmung empfehlen. Er glaubt aber Recht zu haben; der Glaube fängt aber freilich erst da an, wo das Wissen aufhört, und ist in den meisten Fällen Aberglaube. – Recht komisch und für die Anti-Impfhelden aus dem Volke recht bezeichnend ist deren Behauptung, daß durch das Impfen auch die Krätze auf das geimpfte Kind übertragen wird. Wer nämlich weiß, und das sollte eigentlich jeder nur halbwegs gebildete Mensch wissen, daß die Krätze nur durch ein spinnenartiges Thierchen, die Krätzmilbe, erzeugt wird, der muß obige Behauptung belächeln und diese Anti-Impfer fragen: werden denn nicht vielleicht auch Läuse, Flöhe und Wanzen mit eingeimpft? Sollte denn nicht etwa mit dem Impfen auch die große Denkunfähigkeit so vieler Menschen im Zusammenhange stehen? Bock.     



Für die Wasserbeschädigten in der Schweiz

gingen ferner ein: Von einigen Kirmeßgästen in Ernstthal 1 Thlr. – A. H. in Remda 2 Thlr. – Aus Heldburg 3 Thlr. – Sammlung der Expedition des Anzeigers für Cottbus und Umgegend durch A. Heine 20 Thlr. – W. A. J. Krüger in Deutsch-Crone 1 Thlr. – Sammlung in der Bürgerschule zu Waltershausen durch die Schuldirection 6 Thlr. – G. Z. in Plauen 2 Thlr. – Anna G. 2 Thlr. – Robert Geibelt in Pirna in Erinnerung an die freundliche Aufnahme in Basel im Jahre 1863 2 Thlr. – F. L. 2 Thlr. – O. und A. in Bremen 5 Thlr. – Wiese in Stralsund 1 Thlr. – Mit dem Motto: „Wie schön wäre es auf der Welt etc.“ 2 Thlr. – Gesammelt in Eydtkuhnen durch O. 26 Thlr. – K. und F. bei B. 1 Thlr. – Aus Ober-Frohna 1 Thlr. – W. H. in Magdeburg 15 Ngr. – Stralau 1 Thlr. – Ungenannt 5 Fl. österreich. Währung. – Ungenannt 1 Thlr. Dr. Wohlfahrt in Dippoldiswalde 1 Thlr. – Germania-Verein in Sebewaing, Huron Ct., Mich. 5 Doll. Pap. – Rahm in Mautern 2 Fl. 50 Kr. österreich. Währung. – Aus Nordhausen, Erlös einer von Kindern veranstalteten Lotterie 6 Thlr. – Durch G. Stalling in Oldenburg, als bei ihm eingegangen, 1 Thlr. – W. Pf. Rathenow 1 Thlr. – A. D. in Essen 1 Thlr. – Summa aller bisherigen Eingänge 315 Thlr. 15 Ngr.

Die Redaktion.     

Inhalt: Reichsgräfin Gisela. Von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Altfränkisches Eherecht und Kampfgericht. Von Heinrich Vocke. Mit Abbildung. – Ein excommunicirter Protestant. Von Stephan Born. – Schöne Geister und schöne Seelen. 1. Der Philosoph Hemsterhuys und die Fürstin Gallitzin. Von F. v. Hohenhausen. Mit Portrait. – Das Wildschützenthum. Von Adolf Müller. Mit Illustration. – Blätter und Blüthen: Ein General „zu vermiethen“. Von Arthur v. Truhart. – Der Proceß Zastrow. – Theologische Schalkheiten. – Musikalisches. – Ein Ehrenvermächtniß. – Deutsche Preiscompositionen in Amerika. – Bock’s Briefkasten. – Für die Wasserbeschädigten in der Schweiz.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Eine deutsche Ausgabe dieses Vortrags ist so eben in der Schweighauserischen Verlagsbuchhandlung in Basel erschienen. Eben daselbst Buissons’s zweiter Vortrag „Das freie Chrisienthum und die Kirche der Zukunft“. Wir möchten die Leser der „Gartenlaube“ speciell auf diese beiden durch Inhalt und Form gleich ausgezeichneten Schriften aufmerksam machen.