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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[417]

No. 27.   1868.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Prinz oder Schlossergeselle.
Historische Novellette von Louise Mühlbach.
(Fortsetzung.)


Cläre überlegte lange, was sie für ein Kleid zum Ball anziehen solle, und suchte in den Truhen nach dem weißen Zitzkleide mit den bunten Blumen, welches die Frau Pathe im vergangenen Jahre der Cläre zu ihrer Einsegnung geschenkt hatte. Das Kleid mußte noch ein wenig mit Schleifen aufgeputzt werden, und dann war’s ein richtig Ballkleid. Und durch die langen goldenen Zöpfe, die, fest geflochten, doch fast wie ein Arm dick über den Nacken der Cläre hingen, da wollte man auch so ein paar rothe Bänder flechten, dann war’s ein schöner Staat zum Ball. Für die Mutter hatte es keine Noth, das Hochzeitskleid von blauem Tuch lag sorgfältig zusammengewickelt in der Truhe und nur an Ehrentagen ward’s hervorgeholt. Das Hochzeitskleid war noch wie neu, und übermorgen konnte die Frau Meisterin damit paradiren auf dem Ballfest. Aber die große Flügelhaube mit den weißen Spitzen und den langen Bändern, die freilich muß noch hergerichtet und in Ordnung gebracht werden. Und das ist der Cläre ihre Arbeit, die versteht prächtig die Flügelhauben und die Kragen zu waschen und zu plätten, ist wie eine richtige Putzmacherin, und bis übermorgen ist eine lange Zeit, da kann man noch gar schön Alles einrichten und vorbereiten.

Am Abend fand in der Herberge die Mahlzeit statt, zu welcher Ludwig Preuß den Meister mit seinen Gesellen eingeladen, indem er sie gleichzeitig beauftragt hatte, noch ein paar Andere mitzubringen.

„Ein richtiges Dutzend muß es sein,“ hatte Ludwig Preuß zu dem Altgesellen gesagt, als der ihn fragte, wie viel er noch einladen sollte, „ein richtiges Dutzend, und wenn ein Paar darüber sind, schadet’s auch nichts.“

„Und Ihr wollt bezahlen für so viele Menschen?“ fragte der Altgeselle ganz ehrfürchtiglich.

Ludwig Preuß nickte. „Ja, ich will bezahlen, so viel Ihr nur essen und trinken mögt, und Ihr sollt Euch nicht geniren, denn ich habe mir von meinem Vater expreß etwas Geld geben lassen zu dem Einweihungsschmaus, und es soll mich freuen, wenn’s schmeckt und Ihr fidel seid!“

„Nun, das wird keine Sorge haben,“ schmunzelte der Altgeselle, „fidel wollen wir schon sein, denn das kann man schon, wenn man’s umsonst hat.“

Und wahrhaftig, sie waren fidel, die ehrsamen Zunftmeister und Gesellen. An der langen Tafel saßen sie da, und drüben an der Seite neben dem Meister Kleemann saß der Mosje Ludwig Preuß und schaute so vergnügt und lustig um sich, als wär’s ein absonderlich Fest heut’, und schien sich gar köstlich zu amüsiren, wie jetzt beim Bierkrug der Altgeselle ein lustig Schmiedelied anstimmte und die Anderen dann im Chor einfielen und mit den blechernen Deckeln der Krüge den Schmiedetact dazu schlugen, als ob die Hämmer auf den Ambos fielen.

„Das klingt gar prächtig,“ sagte er vor sich hin, „das muß ich nur heut’ Abend noch aufschreiben, es ist ein frisches, urkräftiges Lied, das Niemand empfinden kann, wenn er’s nicht gehört hat.“

„Jetzt singt uns ein Lied, Ludwig Preuß!“ rief der Meister, als das Schmiedelied beendet war, „singt uns ein lustiges, flottes Lied, denn ich denke mir schon, Ihr wißt was davon und kennt recht die Lieder der neusten Mode; kommt ja aus Berlin, und da giebt’s übermüthiges Volk, das allerlei Neues weiß, was wir ehrsamen Leute in der kleinen Stadt Burg nimmer gehört haben; singt uns ein neues Lied!“

Ludwig Preuß blickte mit gar lustiger Miene um sich her und ganz leise sagte er zu sich selbst: „Ist’s nicht, als ob wir hier in Auerbach’s Keller wären, und wär’s nicht allerliebst, wenn ich die Scene aus dem Keller dem lieben Goethe zu Ehren hier in’s Leben setzte? Ich wünschte, er wäre dabei, Meister Goethe, er würd’ seine Freude daran haben!“

„Ludwig Preuß, singt uns ein Lied, ein lustiges Lied!“ schallte es wieder. Und da stand er auf, nahm den Bierkrug in die Hand, that einen tüchtigen Zug und neigte sich züchtig und fein zu beiden Seiten hin.

„Wenn’s die Herren befehlen, so sing’ ich ein Lied nach der neusten Mode, wie man es jetzt in Berlin liebt.“

„Das Lied wollen wir hören,“ riefen die Meister und Gesellen und schlugen mit den Deckeln auf ihre Krüge ein.

Und Ludwig Preuß hob das Glas empor und begann mit lauter, kräftiger Stimme:

„Es war einmal ein König,
Der hatt’ einen großen Floh.“

Da lachten die Gesellen und Meister unbändig und begleiteten das ganze Lied mit ihrem brüllenden Lachchor. Die ganze Nacht hindurch dauerte das Gelage, und als beim hereinbrechenden Morgen man sich heimbegab, da schwuren die Zunftmeister wie die Gesellen, daß man niemals einen prächtigeren, fideleren Menschen und einen flotteren Gesellen gesehen habe, als den Mosje Ludwig Preuß.




[418]
3. Das weiße Kleid.

Die Nacht vor dem Balle hatte die Cläre gar nicht geschlafen. Warum nicht? Sie konnte es nicht sagen und wußte es selber nicht. Es war nur die Freude und Erwartung, denn gewiß wird’s ein prächtiges Fest, und sie erröthete, als sie das dachte; – und der hübsche Schlossergesell, der Ludwig Preuß, wird gewiß mit ihr tanzen, mehr als einmal vielleicht. Der Vater ist ja ganz entzückt von ihm; nie hat’s einen prächtigeren Menschen gegeben und ein pfiffigeres Blut, als wie der gewesen ist gestern Abend auf dem Schmaus.

„Die Zunftmeister sind alle entzückt von ihm, und die Gesellen glotzen ganz wüthig hinter ihm her,“ hat der Vater gesagt, „denn sie wissen, daß es keiner mit ihm aufnehmen kann.“

„Nein, wirklich keiner,“ sagte die Cläre leise zu sich selber, und dann lachte sie, als sie an den Hans dachte, der sich einbilden konnte, sie heirathen zu wollen – sie! – „Ja, wenn er wäre wie der Ludwig Preuß. Aber es giebt nicht viele wie der, und der – nun, der wird schon längst ein Liebchen haben. Ist so reich, und Schlosser ist er ja auch nur zum Vergnügen. Wie lange wird’s dauern, und dann kann er einen Brettnagel schmieden. Adieu, adieu dann! – ’s wird Niemand ihm nachweinen. Ich nicht!“ sagte Cläre ganz laut und sprang aus dem Bett, um sich anzukleiden.

Sie wollte das buntgeblümte Zitzkleid noch plätten und die Schleifen recht schön daransetzen zur Verzierung. Und eigentlich wäre es hübsch, wenn man zwischen die Schleifen immer ein paar Blumen setzte. Natürliche Blumen, – so ein paar Veilchen und Stiefmütterchen, wie sie unten im Garten auf ihrem Beet hat.

Sie ging hinunter und theilte ihrer Mutter mit ehrbarer Miene diesen Gedanken mit. Und die nickte und gab ihre Einwilligung dazu. Und Cläre trank nun hastig zum Morgenimbiß ein Glas Milch, und dann ging’s hinaus in den Garten.

Die Sonne schien prächtig und ließ die Thautropfen in allen Blumen wie Brillanten erglänzen.

„Ja, wenn die Brillanten sich halten wollten bis zum Abend, das würde prächtig aussehen, diese Blumen mit den Brillanten.“ Und doch that es der Cläre leid, wie sie sich nun neigte und die schönen Stiefmütterchen, die so ernst und kokett sie anschauten, von ihren Stengeln brach. „Aber es muß sein, Cläre muß heute Abend schön aussehen!“

Die Blumen sammelte sie in ihrer Schürze, legte sie sorgfältig eine auf die andere, als würde sie ihnen wehe thun, wenn sie so durcheinander geworfen würden, und dann trippelte sie, die Zipfel der Schürze vorsichtig haltend, in die Laube hinein.

Und nun auf einmal schrie sie laut auf und ließ vor Erstaunen die Zipfel fallen, daß alle Blumen aus derselben vor ihren Füßen niederfielen.

„O je, – o Gott, – was war denn das?“

Da lag auf der Bank, wo sie immer zu sitzen Pflegte, ausgebreitet ein weißes Kleid mit Rosenbouquets unten am Saum verziert und dazu eine lange, rothe Schleife mit einem Gürtel daran. „O je, wem könnte das Kleid gehören?“

Ein Zettel stak daran, und um ihn zu lesen, schritt Cläre, nicht achtend der Blumen, die zu ihren Füßen lagen, über sie hin, und zertrat sie alle, die schönen, armen Blumen. Den Zettel, den vor allen Dingen mußte sie lesen.

Und als sie es that, da ward ihr Antlitz ganz dunkelroth und dann erblaßten die Wangen wieder und ein Zittern durchflog ihre Gestalt.

Auf dem Zettel stand: „An Jungfer Cläre. Zum Ballfest heut’ Abend.“

Von wem konnte das Kleid kommen? Wer hat daran gedacht, es ihr zu geben, wer hat ihr diese Freude bereitet – wer? Sollte es der Vater gewesen sein? Nein, Väter denken nicht an so etwas und machen keine Ueberraschungen. Die Mutter sicherlich auch nicht, denn die meinte ja, das Zitzkleid wäre so schön, und ganz unnöthig wäre es, ein neues anzuschaffen. Wer kann es gegeben haben? So fragte sie mit den Lippen, aber in ihrem Herzen tönte es laut und freudig: Er hat es gethan – er! –

Sie stieß das Kleid zurück. „Ich will’s nicht tragen, nein! Meister Kleemann ist reich genug, um seiner Tochter ein neues Kleid zu schenken, wenn’s nöthig ist. Es braucht’s nicht, daß ein fremder Mann hierher kommt und Meister Kleemann’s Tochter Kleider schenkt. Sie kennt ihn ja gar nicht, will’s nicht annehmen von ihm.“

Aber hübsch war es doch, das Kleid, von geblümtem Mull, und unten die Rosenbouquets so allerliebst. Kein Mädchen wird auf dem Ball sein mit solch’ einem Kleide, und sie werden sie Alle beneiden, Alle. Wie schade, daß gerade der fremde Mosje es ihr gegeben hat! Es ist unmöglich, sie kann’s nicht annehmen und sie will’s auch nicht.

Keinen Blick mehr warf sie auf das Kleid, sprang, ohne die Blumen zu beachten, aus dem Garten fort und hin zu ihrer Mutter und erzählte ihr die seltsame Mähr. Und dann gingen sie Beide zum Vater, der in der Schmiede war, und sagten es ihm auch.

Und der sagte: „Ich habe es wahrhaftig nicht gethan, da drauf kannst Du Dich verlassen, Cläre.“

„Und wer kann es denn sonst gethan haben?“ fragte die Mutter. „Wem kann’s einfallen, ein so prächtig Kleid der Cläre zu schenken? Wir wollen es doch ansehen, Vater.“

Er legte den Hammer hin, und die beiden Alten gingen in die Laube, und Cläre hüpfte ihnen voran und holte das Kleid hervor und hielt es triumphirend in die Höhe.

„Seht nur, seht, wie prächtig das ist!“

Die Mutter schrie laut auf vor Entzücken und hockte sich nieder neben dem Kleid, das Cläre hoch in die Luft hielt, und betrachtete es aufmerksam und ganz andächtig. Und der Vater stemmte die Hände in die Seiten, sah es auch an und schüttelte das ehrwürdige Haupt.

„Es sieht aus wie ein Brautkleid, Cläre, und weißt Du, was ich mir denke: Hans hat es geschickt aus Magdeburg. So ein Ding wie das da ist nicht hier in Burg gemacht; es wird es Jeder wissen, daß es von auswärts gekommen, und darum behaupte ich, der Hans hat es Dir aus Magdeburg geschickt.“

„Nein, das ist nicht wahr!“

Und bei dem Gedanken schon ließ sie das Kleid los, und es wäre zur Erde gefallen, wenn die Mutter es nicht sorgsam festgehalten hätte.

„Das ist nicht wahr! Hans denkt nicht daran, mir ein solches Kleid zu schenken, und wenn er es gethan hat, nehme ich es nicht an, ich mag’s nicht!“

„Was das nun für dumme Gedanken sind: Wenn er es gethan hat, nehme ich es nicht an! Der Hans ist Dein Bräutigam!“

„Nein, Vater, das ist er nicht, und Geschenke nehme ich nicht von ihm an!“

„Er ist Dein Bräutigam!“ rief der Alte heftig.

Aber die Mutter legte ihm die Hand auf die Schultern und flüsterte ihm zu: „Laß sein, Alter. Du weißt, sie ist störrisch. Es wird sich schon geben, wenn die Wohnung hergerichtet ist und Alles vorbereitet. Dann werden wir sie schon zur Raison bringen; laß sie nur.“

„Glaubst Du es auch, Mutter?“ fragte Cläre. „Glaubst Du es auch, daß mir Hans das Kleid geschickt hat?“

Sie nickte. „Bin überzeugt davon. Es wird sich sonst auch Keiner unterstehen und herausnehmen, Dir ein Kleid zu schicken. Hans hat es gethan.“

„Dann thut es mir leid,“ sagte Cläre achselzuckend, „ich ziehe das Kleid nicht an, und übrigens gefällt es mir auch gar nicht! Mein Zitzkleid mit den Blumenbuquets ist viel hübscher als das. Ich habe es von dem Vater, und was mir der Vater schenkt, ist mir lieber, als was mir Hans schenkt. Ich ziehe mein Zitzkleid heute Abend an und putze es schön aus mit Blumen.

O je, die schönen Blumen! Seht, Mutter, da liegen sie an der Erde! Ich hatte sie mir gepflückt, und vor Schreck habe ich sie fallen lassen und habe darauf getreten. Arme, kleine Blumen, ihr wäret so schön und sahet so lustig drein!“

Sie kniete nieder neben den Blumen und hob sie auf mit so trauriger Miene, als wenn es Leichen wären und sie über Todte jammerte. Sie blieb neben ihnen sitzen und legte sie dann auf den Tisch, um noch von ihnen ein paar herauszusuchen, die nicht gar zu schlimm zertreten waren.

„Wie leid es mir thut!“ sagte sie vor sich hin und merkte es gar nicht, daß die Alten fortgegangen wären, wieder in’s Haus hinein, und daß die Mutter das schöne Kleid mit fortgenommen hatte. Sie dachte nur an ihre Blumen, und Manches ging ihr dabei durch den Sinn. Und an sich selber dachte sie. So geht’s wohl [419] manchem Mädchen, es wird gepflückt zum Staat und gleich nachher unter die Füße getreten, daß nichts von all’ der Schönheit mehr übrig bleibt.

„Mir soll es nicht so gehen! Nein, mir nicht!“ rief sie keck. „Ich will mich nicht pflücken lassen einem Andern zum Plaisir, um dann weggeworfen zu werden!“

Wie kam sie nur zu der Betrachtung, und was ging ihr durch den Sinn, daß sie an so etwas nur denken mochte?

„Wie sind wir doch grausam, wir Menschen!“ sagte sie dann kopfschüttelnd und nahm das schöne Stiefmütterchen, das traurig das Köpfchen senkte, nahm’s und preßte es an ihre Lippen. „Du arme Blume, habe ich dir weh gethan?“

„O Jungfer Cläre, wie beneidenswerth ist die Blume, und ich möchte, ich könnte an ihrer Stelle sein!“

Sie zuckte zusammen und sah sich um. Da stand der Ludwig Preuß hinter ihr. Nicht im Schmiedeanzug heut’, denn es war Sonntag und Kirchenzeit; da wird nicht gearbeitet, das ist der Gottestag. Es war der Ludwig Preuß im Sonntagsrock, und prächtig sah er aus. Es war derselbe Anzug, in dem sie ihn zuerst gesehen und den sie nicht vergessen hatte.

„Gott grüß Euch, Jungfer Cläre.“

Sie nickte stumm und raffte hastig ihre Blumen zusammen. „Was wollt Ihr mit den häßlichen zertretenen Dingern, Jungfer Cläre?“ fragte er und trat vorwärts.

Sie stand am Eingang der Laube, und es machte sich nicht anders, sie mußte eintreten in dieselbe, denn er kam hinter ihr und drängte sie fast hinein. Es war ihr so schwach in den Füßen und nur darum setzte sie sich auf die Bank nieder, und gleich nahm er Platz dicht neben ihr.

„Mosje Ludwig Preuß,“ sagte sie, auf die zertretenen Blumen hinschauend, „ich will Euch etwas sagen: Es schickt sich nicht, daß Ihr Euch so neben mich setzt. Wenn Jemand draußen vorüberginge und es sähe –“

„Nun, was dann?“ fragte er, da sie verstummte. „Was meint Ihr, was der Jemand sagen würde? Meint Ihr nicht, daß der sagen würde: das ist ein Liebespaar, und die Jungfer Cläre, die sonst so spröde, so stolz und schnippisch ist, hat, wie es scheint, sich einen Liebsten angeschafft. Meint Ihr nicht, Jungfer Cläre, daß sie das sagen würden?“

Sie hatte gesenkten Blickes ihm zugehört und nun schwieg sie einen Moment.

„Ja,“ sagte sie dann rasch das Haupt erhebend, „ja, das würden sie sagen. Und das will ich nicht, und darum, Mosje Ludwig Preuß, setze Er sich drüben auf die Bank nieder.“

Er stand auf und that, wie sie es ihm befohlen, setzte sich ihr gegenüber auf die Bank, und der Tisch mit den verwelkten Blumen war zwischen ihnen. Und die nahm er auf, hielt sie in der Hand und ließ sie dann, eine nach der andern, auf den Tisch niederfallen.

„Möcht’ wissen, wer so grausam gewesen ist, die armen Dinger zu zertreten. Ich könnt’s nimmer thun, Jungfer Cläre, könnt’ niemals eine Blume, die ich gepflückt, so achtlos niederfallen lassen und unter meine Füße treten.“

Da zuckte die Cläre zusammen und die Gedanken fuhren ihr wieder durch den Sinn, die sie vorhin gehabt.

Hatte er die Gedanken auf ihrem Angesicht gelesen, und war es deshalb, daß die großen braunen Augen, die so funkelten wie Sterne und so leuchteten wie die Sonne, daß die auf sie gerichtet waren? und war es deshalb, daß er lächelte?

„Wer hat es gethan, Jungfer Cläre?“

„Ich habe es gethan,“ sagte sie barsch, „und es hat Niemand drüber zu reden, es sind just meine Blumen! Ich hatte sie gepflückt, und dann nachher hatte ich einen Schreck und ließ die Blumen fallen und trat auf sie, nicht um ihnen wehe zu thun, nur weil ich im Schreck nicht daran gedacht.“

„Und so stirbt manche Blume, Cläre,“ sagte er lächelnd.

„Kennst Du nicht das schöne Lied vom großen Meister Goethe? Das Lied vom zertretenen Veilchen?“

Sie schüttelte das Haupt und sah ihn an und fragte nach dem Lied.

„Soll ich’s Euch sagen, Jungfer Cläre?“

Sie bat darum. Wenn er es auswendig wüßte, möcht’ er’s sagen, sie höre gar zu gern hübsche Lieder.

Da nickte er, und mit halblauter Stimme begann er das schöne Lied vom zertretenen Veilchen:

Ein Veilchen auf der Wiese stand
In sich geblickt und unbekannt –
Es war ein herzig Veilchen etc. etc.

Sie schaute zu ihm hin mit den großen blauen Augen, athemlos, ganz gespannt auf seine Worte, schaute ihm tief in das Angesicht, tief in die braunen Augen. – Still war es um sie her, ganz still.

Die Blumen standen auf ihren Stielen hoch aufgerichtet, als horchten auch sie auf die herrlichen Worte, die noch nie in diesem Raum erklungen waren. Der Wind zog leise zuweilen über die Blüthen hin und kräuselte die Blättchen an der Laube. Zuweilen kam ein Schmetterling daher geflogen und setzte sich auf das Blattwerk, als horchte er. – Und athemlos und klopfenden Herzens schaute Cläre immer noch in das erglühende Gesicht und auf die Lippen, die zu ihr so schöne Worte sprachen.

Fern her von dem Kirchthurm begann jetzt auf einmal das Geläut der Glocken. Sie riefen die Gläubigen zur Kirche hin, zur Sonntagsfeier.

Nie hatte Cläre bis zum heutigen Tag bei dieser Feier gefehlt, nie die Kirchenstunde vergessen. Aber jetzt, wie sie so da saß in der Laube und auf die Worte horchte, die von des jungen Mannes Lippen tönten, und wie es so duftig und hell und sonnenscheinig um ihn her war, da schien es ihr, als beginge sie auch eine Gottesfeier, und die Glocken tönten tief in ihr Herz hinein und klängen laut und hell. – O, selig ist es in Gottes Schöpfung und selig ist es ein Mensch zu sein!

Ach, aber ach, das Mädchen kam
Und nicht in Acht das Veilchen nahm,
Zertrat das arme Veilchen.

Die Cläre zuckte zusammen und das Blut trat ihr aus den Wangen fort, und er selber, wie er so sprach, schien ganz bewegt davon und sah sie an mit großen feurigen Augen. Und er sprach doch weiter, declamirte weiter, ganz leise nun mit zitternder Stimme:

Und sterb’ ich denn,
So sterb’ ich doch
Durch sie zu ihren Füßen dort.

„O Cläre, es wäre selig so zu sterben zu Deinen Füßen!“

Ein leiser Schrei tönte von ihren Lippen, denn da lag er vor ihr auf den Knieen, die zertretenen Blumen um ihn her – und da faßte er ihre Hand und drückte sie an seine Lippen, und der Kuß fuhr ihr wie ein Blitz durch’s Herz und alle Adern hin und es benahm ihr fast die Sinne.

„Steht auf! – steht auf! – ich kann’s nicht dulden ! Steht auf, – Ludwig Preuß!“

„Nein, Cläre, ich stehe nicht auf, sieh’ mich an und sage mir, daß Du nicht böse auf mich bist.“

„Und weshalb sollte ich böse sein? Nein! Doch ich bitt’ Euch, steht auf!“

Er stand auf, und diesmal merkte sie es nicht, daß er sich dicht neben sie setzte, und merkte es nicht, daß er ihre Hand fest in der seinen hielt.

„O Cläre, wie freue ich mich auf heute Abend! Es wird ein prächtiges Fest sein, und Niemand kann es mir wehren, Dich heute Abend in meinen Armen zu halten, Du süße, holde Cläre! Darfst keinen andern Tänzer nehmen, als mich allein, meine Tänzerin bist Du für den ganzen Abend!“

„Nein, das geht nicht! Nein!“ murmelte sie. „Die Leute würden darüber reden. Und ich mag auch nicht, ich will nicht!“

Der alte kecke Sinn regte sich wieder in ihr, und sie stieß ihn zurück.

„Steht auf, Ludwig Preuß! – Hab’s Euch schon einmal gesagt: es ziemt sich nicht, so nahe bei einem ehrbaren Mädchen zu sitzen. Steht auf! Ich habe auch noch zu thun für heute Abend, ich habe mein Kleid noch herzurichten.“

„Hast Dein Kleid herzurichten? Ist der Ballstaat noch nicht fertig, Jungfer Cläre?“

Wie er sie so lächelnd und fragend ansah, da fuhr es ihr wieder durch den Sinn: er hat dir das Kleid geschickt! – Und da regte sich wieder der Stolz des reichen Bürgermädchens, und sie blickte ihn an, gerade in’s Gesicht.

„Mosje Ludwig Preuß! weiß Er vielleicht von dem weißen Kleide, das hier in der Laube gelegen?“

Er machte ein ganz ernsthaftes Gesicht und schüttelte das Haupt.

[420] „Ein weißes Kleid? Bin ja kein Schneidermeister, Jungfer Cläre. Weiß nichts davon! Wie kam das Kleid hierher?“

„Das eben ist es! Ich weiß es nicht. Und weiß Er was, Mosje Preuß? – Ich denke mir so –“

„Nun, was denkst Du Dir so?“ fragte er, da sie verstummte unter seinem Blick.

„Der Vater sagt,“ murmelte sie mit niedergesenkten Augen, „es möchte wohl der Hans sein, der mir das Kleid aus Magdeburg zum Ballfest geschickt, und seht Ihr, da liegt noch der Zettel, der bei dem Kleide war.“

Sie sprang hin und hob das Papier von der Erde aus und reichte es ihm dar.

„Wißt Ihr vielleicht, wer das geschrieben hat?“

Er sah den Zettel an und lächelte. „Möglich wär’s ja, Jungfer Cläre! Der Hans ist ein gar so zärtlicher Liebhaber, und er weiß, daß die Jungfer Cläre heut’ zum Ballfest geht. Ich habe es ihm selbst geschrieben und ihn eingeladen herzukommen.“

„Das habt Ihr gethan!?“ rief sie erglühend, „habt ihn eingeladen?! Nun, dann ist es schön! Dann seid recht vergnügt heute Abend, denn ich, Mosje Ludwig Preuß, ich komme nicht, wenn der Hans da ist!“

„Und nicht wahr, Du ziehst auch das Kleid nicht an, wenn der Hans Werner es geschickt hat?“

„Nein! sicherlich nicht! Ich ziehe das Kleid nicht an!“ sagte sie stolz den Kopf erhebend. „Der Hans Werner hat gar nicht das Recht, mir ein Kleid zu schicken, und der Vater ist reich genug, daß er seiner Tochter allein ein Kleid schenken kann, und ich trage nichts, wo ich nicht weiß, von wem es ist. Und ich brauche heute Abend überhaupt gar kein Kleid, denn ich sage: ich gehe nicht zum Ballfest, wenn der Hans Werner kommt!“

„Du gehst zum Ballfest, Cläre, denn der Hans Werner kommt nicht. Und Du ziehst das Kleid nicht an, wenn es Hans Werner geschickt hat?“

„Ich ziehe es nicht an, o, ganz sicherlich nicht!

„Nun,“ flüsterte er noch leiser und legte, ohne daß sie es merkte, ganz leise den Arm um ihre schlanke Taille, „nun, holde Cläre, Hans Werner hat das Kleid nicht geschickt. Willst Du wissen, wer es gethan? – Ein fremder Mensch, ein arger übermüthiger Geselle hat es gethan! – Aber Eins kann er Dir zu seiner Entschuldigung sagen: er hat es gethan, weil er der Cläre eine Freude machen wollte!– Nicht aus Uebermuth und nicht, weil er dachte, Meister Kleemann wäre nicht reich genug, der schönen Tochter selbst ein Kleid zu kaufen; er hat es nur gethan, weil er der Cläre und sich selber eine Freude machen wollte und weil er meint, die Cläre müsse sich heute Abend schmücken mit ein paar von ihren Schwestern, mit ein paar kleinen Rosen. Und das weiße Kleid sollte ja nur ein Abbild ihrer Seele sein, die ist so weiß wie ein Lilienblatt, und in ein Lilienblatt möchte er sie hüllen, der fremde Geselle, der sie liebt und anbetet und der niemals etwas Schöneres und Köstlicheres gesehen hat, als die Jungfer Cläre.“

„O, sprecht nicht so zu mir,“ flüsterte sie ängstlich. „Ich meine, ich habe eine Todesfurcht, und es ist mir, als möchte ich jetzt so sterben.“

„Willst Du wissen, Cläre, wie der fremde Geselle heißt, der Dich so liebt und Dich so anbetet? Willst es wissen?“

„Nein, nennt ihn nicht,“ murmelte sie ganz leise in sich erschauernd, „ich bitte, nennt ihn nicht.“

„Ich nenne ihn doch,“ murmelte er ihr in’s Ohr. „Ludwig heißt er. Sprich es einmal aus, sage einmal seinen Namen, sage zu ihm Ludwig, sage Ludwig! Und sage ihm, Cläre, daß Du ihm die Freude gönnen willst, daß Du heute Abend das weiße Kleid anlegen willst, damit er Dich sieht in Deiner Schönheit und Lieblichkeit, Du holdes Lilienblatt mit dem Rosenknospenherzen.“

„Es kommt von Euch,“ flüsterte sie angstvoll, fest den Blick zu ihm erhebend, „von Euch, nicht wahr?“

Er antwortete nur mit den Augen.

Und sie seufzte tief auf und legte die Hand auf das Herz, das so stürmisch pochte.

„Cläre, willst Du mir zu lieb heut’ Abend das Kleid tragen?“

„Ja, ich will’s. Aber bitte, sagt’s nicht zu Vater und Mutter, daß das Kleid von Euch ist. Möcht’s um Alles in der Welt nicht, daß irgend Jemand wüßte, Ihr hättet es mir gegeben.“

„Niemand soll es wissen, Cläre, Niemand außer Dir. Wir wollen lieber sagen, daß es der Hans geschickt hat.“

„Nein, nein! Das wollen wir nicht!“ rief sie. „Kann nimmer etwas tragen, was Hans Werner mir geschickt hat, und wenn er kommt –“

„Er kommt nicht, Cläre. Er ist krank geworden. Ich hatte an ihn geschrieben, er kann nicht kommen.“

„Cläre!“ rief es vom Hause her. „Es ist die höchste Zeit zur Kirche. Cläre, komm’!“

Da zuckte sie zusammen. „O lieber Gott im Himmel, verzeihe, daß ich dich vergessen konnte!“ Und ohne Ludwig Preuß noch einmal anzusehen, schlüpfte sie an ihm vorüber und aus dem Garten hinaus.

Er schaute ihr nach mit einem langen seligen Blick und stand unbeweglich noch lange auf derselben Stelle, hörte auf das Rauschen des Windes, sah auf die nickenden Blumen hin, hörte auf das ferne Läuten der Glocken, und friedlich und still ward’s in seiner Seele und Sonnenschein leuchtete in seinem Herzen.

„Ja, Schiller hat wohl Recht:

Ein Augenblick gelebt im Paradiese
Ist nicht zu theuer mit dem Tod bezahlt!

Aber nein, so schlimm soll es nicht kommen, mit dem Tode soll es Niemand bezahlen. Einen Augenblick will ich wohl leben im Paradiese, aber will doch auch Sorge tragen, daß kein Menschenherz darüber bricht. Es wäre schlecht, zu schlecht!“

Er bückte sich und pflückte eins der Stiefmütterchen, steckte es in sein Knopfloch und ging langsam aus dem Garten hinaus. –


(Fortsetzung folgt.)


Vier Stunden in Reserve bei Königgrätz.

Eine Erinnerung zum Jahrestage der Schlacht von, 3. Juli 1866.

Die fünfte preußische Division, bestehend aus dem achten, zwölften, achtzehnten und achtundvierzigsten Infanterieregiment nebst der dazu gehörigen Cavalerie und Artillerie, bezog nach einem sehr anstrengenden Marsche am 2. Juli 1866, also am Tage vor der Schlacht bei Königgrätz, Bivouac beim Dorfe Dobes. Der unvermeidliche Ochs, welcher unserem Bataillon für heute das Leben fristen sollte und den Tag über der marschirenden Colonne nachgeführt worden war, wurde geschlachtet und zerlegt. Er verschwand in unglaublich kurzer Zeit in unseren hungrigen Magen, obwohl dieselben nur noch widerwillig diese täglich wiederkehrende Nahrung annahmen. Brod war ein seltener Leckerbissen geworden. Allmählich verstummte der Lärm des Lagers; Jeder richtete sich in dem nassen Getreidefelde so gut ein, wie es eben gehen wollte; die Feuer erloschen nach und nach, und bald senkte sich die tiefste Stille auf die eben noch so laute und trotz aller Strapazen und Entbehrungen fröhliche Menge herab. Aber wir sollten uns nicht lange der uns sehr nothwendigen Ruhe erfreuen. Plötzlich rasselte die Trommel durch das Lager. Ich fuhr empor, und da noch Alles um mich her dunkel und still war, glaubte ich geträumt zu haben; indessen belehrten mich das anhaltende Wirbeln der Trommeln und ein lauter Zuruf, der sich hie und da vernehmen ließ, bald eines Anderen. Ein Blick auf die Uhr, welche eben eine halbe Stunde nach Mitternacht zeigte, und der Umstand, daß für morgen ein Ruhetag angesagt war, gaben mir die Ueberzeugung, daß etwas Ungewöhnliches vorgehen müsse. Niemand hatte auch nur eine Ahnung davon, daß uns die große Entscheidungsschlacht so nahe bevorstehe.

Bald traf der Befehl ein, Alles zum Abmarsch vorzubereiten. Vorher sollte Kaffee gekocht werden. Als wir jedoch das brodelnde Wasser geschüttet hatten, erhielten wir Ordre, sofort aufzubrechen. Was half es? Unsere braven Musketiere gossen brummend die schwarze Flüssigkeit in das Feuer, und in kürzester Zeit standen

[421]

Ruhe im Feuer.
Originalzeichnung von Ch. Sell in Düsseldorf.

[422] die Colonnen lautlos da, der Dinge harrend, die da kommen sollten. Das Commando ertönte, und vorwärts ging es in den naßkalten Morgen hinein mit nüchternem Magen und seufzend über den schönen, vergeudeten Kaffee, von welchem Jeder nur noch ein Minimum in Reserve hatte, aber fröhlich und guten Muthes. So marschirten wir südwärts bis zum Dorfe Horziz. Hier wurde Halt gemacht, und abermals wurde befohlen, Kaffee zu kochen. Das Holz dazu mußten die nächsten Gehöfte hergeben, und bald kamen die zum Wasserholen commandirten Leute zurück, mit den gefüllten Kochgeschirren klappernd. Wir hatten aber heute mit dem Kaffeekochen ganz entschiedenes Unglück. Schon stieg der Duft des halbfertigen Getränkes verlockend in die Nase, schon versuchte hie und da ein lüsterner Musketier, mit aufgeblasenen Backen die Flüssigkeit kühlend, einen Schluck des siedendheißen Getränkes über die Zunge zu bringen – da erscholl wiederum das unerbittliche Commandowort: „Vorwärts!“ und wieder mußte der kostbare Stoff ungenossen aus die Erde fließen. Irre ich nicht sehr, so entlockte diese nothgedrungene Kaffeeverschwendung den Lippen mehr als eines Musketiers höchst respectwidrige Aeußerungen gegen den unbekannten Urheber derselben. Indessen „Vorwärts!“ hieß es, und vorwärts ging es trotz leerem Magen und Mangel an Allem, was mit einem Nahrungsmittel Aehnlichkeit hatte. Gott sei Dank, wir sind niemals rückwärts gegangen!

Wir marschirten in südlicher Richtung weiter bei strömendem Regen auf grundlosen Wegen, langsam vorrückend und dann und wann anhaltend. Da ertönte plötzlich in den hinter uns marschirenden Colonnen lauter, endloser Jubel, und, umgeben von seiner Stabswache, in offenem Wagen, kam unser greiser König Wilhelm daher. Bei dem jubelnden Zuruf der Truppen stimmte das ganz in unserer Nähe befindliche Musikchor des achten (Leibgrenadier-) Regimentes die Hymne an: „Heil Dir im Siegerkranz“, und des Königs Auge flog leuchtend über die jubelnden Soldaten, von denen jeder einzelne bereit war, für ihn und das ganze deutsche Vaterland in den Tod zu gehen, und von denen manch einer am heutigen Tage sein Bett in böhmischer Erde finden sollte. Welche Gedanken mochten in diesem Augenblicke, den ich nimmermehr vergessen werde, den greisen Monarchen bewegen, ihn, auf dessen Geheiß in den nächsten Stunden tausend und abertausend der kräftigsten Männer den Tod finden sollten für die große Sache, für welche sein Leben einzusetzen ein Jeder bereit war vorn Tambour bis zum commandirenden General!

Wohl hatten wir geahnt, daß etwas Großes, Gewaltiges sich vorbereite, daß die Entscheidung in die nächsten Tage fallen müsse; jetzt gab uns die Anwesenheit des Königs mitten unter den marschirenden Colonnen die Gewißheit, daß der Würfel, durch dessen Fall das Schicksal Deutschlands bestimmt werden sollte, im Begriff sei, dem Becher zu entrollen. Wer wird den höchsten Wurf thun? –

Es mochte gegen neun Uhr Morgens sein, als ein fernes, dumpfes Dröhnen an unser Ohr schlug, dessen Bedeutung uns von Gitschin her wohlbekannt war. Die Schlacht war eröffnet. War unserer Division bei Gitschin die Hauptarbeit zugefallen, so hatten wir diesmal die Bestimmung, in Gemeinschaft mit der sechsten Division – die fünfte und sechste Division bilden zusammen das dritte Armeecorps – den bereits im Gefecht befindlichen Truppen der Armee des Prinzen Friedrich Karl als Reserve zu dienen und sie, wenn nöthig, zu unterstützen. Bekanntlich griff Prinz Friedrich Karl im Centrum unserer und der feindlichen Aufstellung an. Lange schwankte der Kampf, unsere braven Truppen leisteten Unübertreffliches, indessen gelang es nicht, der gedeckten Stellung und dem überlegenen Artilleriefeuer des Feindes gegenüber, eine Entscheidung herbeizuführen. Es gab Augenblicke, in denen das Auge sehnsüchtig nach Osten spähte, von wo aus der Kronprinz, welcher mit seinen Truppen den linken Flügel der gesammten Aufstellung bildete, in den Kampf eingreifen sollte. Um für den Nothfall bei der Hand zu sein, wurde unsere Division, die neunte Brigade voran, bis in den Bereich der auf den Höhen bei Lipa aufgestellten feindlichen Batterien vorgezogen. Wir überschritten gegen zwölf Uhr die Bistritz beim Dorfe Unter-Dohalitz und gingen durch dieses Dorf hindurch bis auf die Chaussee, welche von Unter-Dohalitz nach dem bei unserer Ankunft bereits in Brand geschossenen Dohalicka führt. Zwischen diesen Dörfern, theils auf der Chaussee, theils südwestlich von Unter-Dohalitz, standen drei Batterien von der dritten und zwei Batterien von der zweiten Artilleriebrigade. Meine Compagnie wurde zunächst in einen am Auswege des Dorfes befindlichen Obstgarten postirt, woselbst ich auch einige Leute vom vierten Jägerbataillon bemerkte, welche, die Büchse unter dem Arme, gedeckt hinter den Bäumen standen. Der Feind mußte unser Vorrücken frühzeitig bemerkt haben, wenigstens schlug, sowie wir die ersten Häuser von Unter-Dohalitz erreicht hatten, eine Granate, von dem Hurrah der Soldaten begrüßt, in sehr verdächtiger Nähe in die Giebelwand eines Hauses, ohne jedoch zu crepiren, und von diesem Augenblicke an hatten wir wahrlich keine Ursache, uns darüber zu beklagen, daß der Feind uns unberücksichtigt lasse. Die Granaten fuhren in fast ununterbrochener Reihenfolge zischend und brausend, für jetzt noch unschädlich, über unsere Köpfe und fielen, meist ohne zu crepiren, in die sumpfigen Ufer der Bistritz.

Indessen nahm unsere Artillerie, sowie sie aufgefahren war, das feindliche Feuer auf und lenkte dadurch einen Hagel feindlicher Granaten auf die Chaussee, auf welcher das Füsilierbataillon meines Regiments und, wenn ich nicht irre, auch mehrere Compagnien des ersten und zweiten Bataillons möglichst gedeckt im Chausseegraben lagen. Es war ein Sausen und Zischen in der Luft, ein Dröhnen und Knallen beim Platzen der Geschosse und ein markerschütterndes, gellendes Klingen beim Umhersprühen der Sprengstücke, als sei heute die ganze Hölle losgelassen. – Ich stand, wie erwähnt, in einem Obstgarten am Ausgange des Dorfes, denselben mußten die Munitionswagen passiren, die unseren Batterien von einer Colonne Munition zuführten, welche auf der Chaussee zwischen Sadowa und Unter-Dohalitz stand. Sowie ein Wagen im Galopp heranrasselte, verstärkte sich das feindliche Feuer, ein Zeichen, daß ein Theil des Terrainabschnittes, den die Wagen passiren mußten, vom Feinde übersehen werden konnte. Glücklicher Weise wurde kein Wagen getroffen; wir würden sonst wahrscheinlich mit ihm in die Luft geflogen sein. Nur ein Mal wurde, etwa dreißig Schritte von mir entfernt, ein Stangenpferd eines heranrasselnden Wagens von einer Granate ereilt und buchstäblich zerrissen. In unbegreiflich kurzer Zeit waren die Stränge durchschnitten, und der Wagen eilte von dannen seiner Bestimmung zu.

Indessen prasselte und zischte es höchst unheimlich durch die Zweige der hohen Obstbäume; mehr als ein Mal fühlte ich den warmen Luftzug eines vorübersausenden Geschosses; ein Sprengstück, handgroß, kam auf mich zugekollert, langsam übereck, wie ein Topfscherben von Knabenhand geschleudert, und blieb unschädlich einige Schritte von mir im Grase liegen. Die Krankenträger mußten ihre traurige Thätigkeit beginnen. Eine Bahre nach der andern, auf denen blutende, zerrissene Menschen stöhnend sich wanden, wurde in das Dorf getragen, woselbst in einem Bauernhause der Verbandplatz etablirt war. Der erste Verwundete, den ich sah, war ein Artillerist. Ich werde seinen Anblick nie vergessen! Der linke Unterarm war ihm zerschmettert, und das verletzte Glied in dem unterschlagenen rechten Arme tragend, schritt er schmerzverzerrten Antlitzes Lei uns vorüber, indem er uns zurief: „Kinder, haltet ihr fest, wir können fast nicht mehr!“ Hier war es auch, wo der brave, wegen seiner Bravour und wegen seiner umfassenden Kenntnisse allgemein hochgeachtete Artilleriemajor Rüstow, der Bruder des berühmten Militärschriftstellers, die Todeswunde erhielt. Unfern von mir ward ihm der rechte Unterschenkel zerschmettert. Ein Officier meines Regimentes sprang hinzu und half ihn auf die herbeigeholte Bahre legen. So ward er vorbeigetragen, regungslos, bekleidet mit seinem Regenmantel. Kurz vor seiner Verwundung hatte er, wie ein Artillerieofficier mir erzählt, auf dem rechten Flügel seiner ersten vierpfündigen Batterie gehalten und war auf die Meldung, daß die Munition anfange zu mangeln, fortgeritten, um die Zufuhr der Munition zu beschleunigen. Auf diesem Ritte traf ihn die tödtliche Kugel. Sein Tod ist ein schmerzlicher Verlust für die preußische Armee und insbesondere für die Artillerie.

Es klingt fast unglaublich, wenn ich sage, daß mitten unter den Scenen des Todes und der Verwüstung auch erheiternde Momente, Augenblicke voll Humor und Komik Platz fanden. Ein Camerad, unser guter, dicker A., sorgte dafür. Seine unverwüstliche gute Laune, sein schlagender Witz hatte oft in schwierigen Lagen mit Erfolg eine momentan um sich greifende Mißstimmung in das Gegentheil umgewandelt. Auch er befand sich in dem mehrerwähnten Obstgarten, und während Alles, so gut es gehen wollte, in Gräben und hinter kleinen Terrainerhöhungen Deckung suchte, stand er [423] allein aufrecht hinter einem kaum armdicken Pflaumenbaum, an dem sein wohlgenährter Leib wohl eine halbe Elle auf jeder Seite hervorquoll, indem er mit seinen großen, guten Augen hinüberstarrte nach den feindlichen Batterien, die uns mehr, als behaglich war, mit Eisen überschütteten. Endlich ward ihm zugerufen, er solle sich doch nicht unnütz exponiren, er solle sich vielmehr in den nahen Graben legen, wie alle Uebrigen tbaten. Da rief er in aller Seelenruhe mit seiner fetten Stimme zurück, indem er auf das Bäumchen deutete, welches sich an ihn lehnte, wie etwa ein Bleistift an eine Tanne: „Ich habe ja Deckung!“ Erst nach wiederholtem Andringen der Cameraden verließ er den gefährlichen Platz, und zu seinem Glück, denn kurz nachher wurde der Baum von einer daherbrausenden Granate durchschnitten. Ein anderer Freund, ausgezeichnet durch fast gänzliche Abwesenheit des Haarwuchses und einigermaßen gefürchtet wegen seines kaustischen Witzes, lag gedeckt im Chausseegraben. Als ein Camerad von einem dienstlichen Auftrage dicht bei ihm vorbeigeführt wurde, tauchte das kahle Haupt plötzlich aus dem Graben auf, und lachenden Mundes rief der Inhaber desselben dem Vorüberschreitenden zu: „Ein frischer, fröhlicher Krieg heute!“ um ebenso schnell wieder unterzutauchen, als eine Granate in demselben Augenblicke wenige Schritte von ihm vorüberzischte.

Inzwischen mochte ungefähr eine Stunde verflossen sein; das feindliche Feuer nahm an Heftigkeit zu, und unsere Verluste mehrten sich. Wir erhielten deshalb den Befehl, in das Dorf zurückzugehen, da die theilweis massiven Gebäude einen größeren Schutz versprachen. Dieser Befehl wurde compagnieweise langsam und in musterhafter Ordnung ausgeführt, ein glänzendes Zeugniß für den guten Geist und die Disciplin der Truppen; denn nichts ist mehr geeignet, den Soldaten unruhig zu machen und die unentbehrliche Ordnung zu lockern, als lange Unthätigkeit und müßiges Abwarten in heftigem Feuer. Der avancirende, kämpfende Soldat concentrirt sein ganzes Denken und Fühlen auf den Kampf, auf den zu bezwingenden Gegner. Er weiß, daß es gilt, sich seiner, Haut zu wehren, und die Möglichkeit dazu ist ihm gegeben. Dies Bewußtsein und die Aufregung des Kampfes lassen kein anderes Gefühl in ihm aufkommen. Der unthätig dem Feuer ausgesetzte Mann hat zu viel Zeit zum Nachdenken. Die Granaten umzischen ihn: er darf nicht wanken und weichen; sein Nebenmann sinkt zerfleischt zu Boden: die eiserne Disciplin fesselt ihn an den angewiesenen Platz. So muß er stehen lange Stunden hindurch und zusehen, wie ein Camerad nach dem andern hinsinkt, um niemals wieder aufzustehen. Es wäre geradezu wunderbar, wenn da nicht bei jedem Einzelnen der Gedanke auftauchen sollte: „Wann wird dich die Kugel treffen?“ Ich habe diesen Gedanken auf vielen Gesichtern gelesen, und ich habe ihn selbst gehabt. In der That sollte unsere Standhaftigkeit heute noch auf eine harte Probe gestellt werden.

Bei der neuen Stellung, die wir einnahmen, erhielt meine Compagnie ihren Platz vor der offenen Seite eines großen geräumigen Gehöftes, offenbar des Gutshofes, welcher auf den anderen drei Seiten von langen massiven Gebäuden umschlossen war. Auf diesem Hose befand sich ein Bataillon, oder mehr, vom achten (Leibgrenadier-) Regiment. Unmittelbar an der offenen Seite führte die Chaussee vorbei, und längs ihrer stand das Bataillon, welchem ich angehörte. Hinter meinem Zuge stand der Schützenzug der siebenten Compagnie. Jenseit der Chaussee neben einem großen, zweistöckigen, massiven Speicher befanden sich dichtgedrängte Abtheilungen des achtzehnten Regimentes, und etwa fünfzig Schritte westlich von diesem Speicher lag ein Bauerhaus, in welchem unsere Aerzte sich ihrer traurigen Pflicht widmeten. Südlich von diesem Hause, mit meinem Standpunkte auf gleicher Linie, hielten zu Pferde an der Giebelwand eines Stalles der Divisions- und der Brigadegeneral, sowie mehrere Stabsofficiere mit ihren Adjutanten. Diese Localität meinem Gedächtnisse unauslöschlich einzuprägen, hatte ich drei lange Stunden Zeit, denn so lange waren wir, buchstäblich ohne von der Stelle zu rücken, an dem beschriebenen Orte dem feindlichen Artilleriefeuer ausgesetzt! Die Granaten flogen ununterbrochen mit jenem entsetzlichen Gezisch, das Niemand vergessen wird, der es ein Mal in seinem Leben gehört hat, vorläufig aber noch in hohem Bogen über unsere Köpfe hinweg, um unschädlich weit hinter ihrem Ziele in den Sumpf zu fallen, und hohe Schmutzgarben bei ihrem Zerplatzen auszuwerfen. Augenscheinlich vermuthete der Feind, daß weiter hinter dem Dorfe Reserven aufgestellt seien.

Die Soldaten fingen an schlechte Witze über das schlechte Schießen des Feindes zu reißen. Ueberhaupt machte sich allmählich eine Gleichgültigkeit gegen die Gefahr bemerkbar, welche wohl nur auf Rechnung der sich einstellenden Abspannung gesetzt werden kann. Wir hatten von Gitschin ab höchst anstrengende Märsche bei unzureichender Verpflegung gehabt, und in vergangener Nacht waren uns nur wenige Stunden Ruhe geworden. Dazu kam der Umstand, daß wir, da es inzwischen nahe an drei Uhr Nachmittags geworden war, bei einem tüchtigen zurückgelegten Marsche absolut nichts genossen hatten. Kein Wunder, wenn unter solchen Umständen eine Abspannung, eine Gleichgültigkeit gegen Alles eintritt. Ich habe in der That Leute während der heftigsten Kanonade ruhig und fest schlafen sehen. Andere suchten die letzten Reste ihres Tabaks zusammen, um sich gemüthlich eine Pfeife zu stopfen, vielleicht die letzte. Ich selbst begann einen nagenden Hunger zu empfinden und holte deshalb eine Tafel Chocolade hervor, die ich für den äußersten Nothfall aufgespart hatte. Als ich bemerkte, daß die Soldaten sehnsüchtig auf den Leckerbissen in meiner Hand schauten, brach ich die Tafel in kleine Stücke und theilte sie aus, so weit sie reichen wollte, indem ich die Empfänger versicherte, daß ein ganz kleines Stückchen des braunen Stoffes genüge, einen Löwenhunger auf drei Tage zu stillen. Ob diese Versicherung gefruchtet hat, steht freilich zu bezweifeln.

Inzwischen machte sich bemerkbar, daß immer drei feindliche Geschosse schnell hintereinander auf derselben Stelle einschlugen und daß sich die Entfernung zwischen ihnen und uns immer mehr verringerte, so daß man mit Sicherheit annehmen konnte, dieselben würden in nächster Zeit unsere Reihen erreichen, und diese Annahme erwies sich nur allzubald als begründet. Zu bewundern ist nur, daß wir hier verhältnißmäßig wenige Verluste zu beklagen hatten, trotzdem die ganze Division in gedrängter Colonne in und dicht hinter dem Dorfe stand. Zuerst schlugen einige Granaten in die Dächer der uns umgebenden Gebäude ein, so daß die Leute, welche nahe an denselben standen, sich dicht an die Wand drücken mußten, um nicht von den herabrasselnden Dachsteinen getroffen zu werden. Ein Sprengstück fuhr einem dicht vor mir knieenden Manne durch den Feldkessel. „Die Kerle gönnen einem nicht einmal das Bischen Speck, welches man noch bei sich hat,“ bemerkte der Soldat gelassen. Bald aber wurde die Lage ernster. Eine Granate schlug mitten in eine dichte Colonne des achtzehnten Regimentes, Tod und gräßliche Verstümmelungen mit sich bringend. Eine andere fuhr durch den achten Zug meines Bataillons hindurch, jedoch Niemanden verletzend und nur die Leute rechts und links zu Boden schleudernd, um alsdann einem Manne vom Schützenzuge der siebenten Compagnie den Leib aufzureißen. Der Arme verschied nach leisem, kurzem Schmerzensschrei. Er wurde hinweggetragen, und die aus seiner von dem Geschoß ebenfalls zerrissenen Patrontasche herausrollenden Patronen wurden von seinen Nebenmännern sorgfältig aufgelesen und aufgehoben. Vielleicht konnte eine von ihnen zum Werkzeug werden, den gefallenen Cameraden zu rächen.

Zwischen dem erwähnten Speicher und dem Bauerhause, in welches die Verwundeten gebracht wurden, stand der Medicinkarren meines Bataillons und bei demselben der zu ihm gehörige Trainsoldat. Zu diesem trat ein Feldwebel des achtzehnten Regimentes mit der Bitte, ihm etwas Wasser zur Stillung seines brennenden Durstes zu holen. Kaum hatte sich der Trainsoldat einige Schritte entfernt, als eine einschlagende Granate Wagen, Pferd und den zurückbleibenden Feldwebel in einen formlosen Haufen verwandelte.

Um solchen von Minute zu Minute sich mehrenden Scenen ruhig zuschauen zu können, dazu gehörten so abgestumpfte Nerven, wie die unsrigen nachgerade geworden waren. Entsetzlich aber war der Anblick, als ein Geschoß in das zum Verbandplatz eingerichtete Bauerhaus einschlug. Glücklicher Weise blieben unsere Aerzte, deren braves Verhalten, deren unermüdliche, aufopfernde Thätigkeit über alles Lob erhaben ist, unverletzt. Verstörten Antlitzes stürzten sie aus dem Hause, um einen sicherer gelegenen Ort für ihre Thätigkeit zu suchen, und ihnen nach schleppte sich jammernd und wehklagend, was von den Verwundeten sich noch fortzubewegen vermochte.

Zum neuen Verbandplatz wurde der mehrerwähnte Speicher ersehen, dessen feste eiserne Thür im Nu mit Axt und Spitzhaue eingeschlagen wurde. Dr. H., ein zu uns commandirter Landwehrarzt, lief aus dem Speicher nach dem Bauerhause zurück, um den [424] Transport der noch dort befindlichen Verwundeten zu leiten. Ganz in der Nähe des zertrümmerten Medicinkarrens schlug eine Granate wenige Schritte vor ihm in den Erdboden, einen Trichter von Schmutz, Feuer und Eisen auswerfend, ohne ihn jedoch zu verletzen. Ich könnte ihn zeichnen, wie er einen Augenblick starr wie eine Bildsäule mit zurückgebeugtem Oberleibe abwehrend die rechte Hand ausstreckte, alsdann sich auf dem Hacken mit der Schnelligkeit eines Gedankens um seine eigene Achse drehte und nach dem Speicher zurücklief. Nach einem Augenblick des Besinnens aber schritt er ruhig dem Bauerhause zu und kehrte ebenso ruhig wieder zurück.

Dergleichen Scenen wie die geschilderten ereigneten sich leider in großer Anzahl. Ich habe nur aufgezeichnet, was nur besonders lebhaft im Gedächtniß geblieben ist, und jeder Camerad wird Aehnliches zu berichten wissen. Die Haltung der Truppen während der langen vier Stunden, während deren wir den feindlichen Kugeln zum Kugelfang dienen mußten, war musterhaft. Schwerverwundete, Todte wurden fortgetragen, und sofort schloß sich die Lücke. Ich habe wohl ernste Gesichter, hier und da auch ein bleiches Antlitz gesehen, aber keines, welches Angst und Furcht verrathen hätte. Die Stabsofficiere, begleitet von ihren Adjutanten, ritten, die Pfeife oder die brennende Cigarre im Munde, dann und wann langsam auf der Chaussee auf und nieder, hier und da eine ermunternde Bemerkung, wohl auch ein Scherzwort an die Truppen richtend, und jeder Subalternofficier that dasselbe in Betreff der ihm untergebenen Leute.

Es war fast vier Uhr Nachmittags geworden, und noch immer dauerte die Kanonade mit gleicher Heftigkeit fort. Wir hatten keine Ahnung davon, daß die Schlacht durch das Eingreifen der kronprinzlichen Armee längst entschieden war und daß der Feind nur noch focht, um seinen Rückzug zu decken.

Da plötzlich lief die frohe Kunde durch die Reihen: „Der Kronprinz ist da!“ Und gleich darauf verstummte mit einem Male, wie abgeschnitten, der Donner der Geschütze. Der Wechsel zwischen dem Getöse der Schlacht und der eintretenden Stille war ein so plötzlicher, unerwarteter und unvermittelter, daß man förmlich Mühe hatte, sich in der neuen Situation zurechtzufinden. Gleich nach dem Verstummen der Kanonen bekamen wir den Befehl, gegen die südlich von Dohalitz und Dohalicka gelegenen Höhen vorzugehen. Die ganze Division debouchirte aus dem Dorfe und marschirte über ein von Kugeln buchstäblich durchfurchtes Terrain in der ihr angewiesenen Richtung. – Ich will nicht leugnen, daß mir trotz der Gleichgültigkeit, welche während der vierstündigen Kanonade über mich gekommen war, ein Stein, und zwar ein recht großer, vom Herzen fiel, als wir endlich, endlich Dohalitz im Rücken hatten, welches von den Soldaten in ihren späteren Gesprächen scherzweise stets „der Wurstkessel“ genannt wurde. So muß einer armen Seele zu Muthe sein, die aus dem Fegefeuer plötzlich in’s Paradies versetzt wird!

Es war ein imposanter Anblick, den unser Vormarsch bot. So weit das Auge reichte, reihte sich Bataillon an Bataillon, in langer, unübersehbarer Linie avancirend gegen die gegenüberliegenden Anhöhen, auf denen ein gutes Auge die abziehenden feindlichen Colonnen erkennen konnte. Da brachen plötzlich in unserer linken Flanke wie eine Windsbraut mehrere feindliche Reiterregimenter hervor, bereit, sich auf uns zu stürzen, um die Verfolgung aufzuhalten und zu retten, was noch zu retten war.

Ihnen entgegen, noch ehe sie in Schußweite gekommen waren, warf sich unsere Cavalerie, jählings hervorbrechend, ich weiß nicht woher. Ein heftiger Anprall, ein kurzes, wüthendes Einhauen, und die österreichischen Reiter stoben auseinander nach allen Richtungen der Windrose; ihnen nach die Unserigen, die blutige Wahlstatt zurücklassend voll ächzender, verwundeter und zertretener Menschen und herrenlos umhergaloppirender Pferde. Dies war der letzte Act des großen Dramas, den wir zu sehen bekamen.

Wir bezogen Bivouac beim Dorfe Wunster. Jetzt endlich gelangten wir dazu, das in der vergangenen Nacht um ein Uhr begonnene Geschäft des Kaffeekochens mit Erfolg fortzusetzen und zu einem glücklichen Ende zu führen. Als wir uns eben dazu anschickten, rasselte mitten durch unser Lager eine Brigade Cavalerie und einige reitende Batterien zur Verfolgung des flüchtenden Feindes, und bis in den späten Abend hinein tönte der Kanonendonner von Königgrätz und der Elbe zu uns herüber. Ich für meine Person habe freilich nicht mehr viel davon gehört, denn ich schlief den Schlaf des Gerechten, nachdem ich mich durch einen Schluck Kaffee und eine erbettelte Brodrinde erquickt hatte. Aber noch Wochen hindurch hatte ich bei jedem Geräusch das Gefühl, als wurde in nächster Nähe ein Geschütz gelöst.[1]

- z.





Ein merkwürdiges Künstlerleben.

Von Ludwig Kalisch.

Seit einer langen Reihe von Jahren besuche ich in Paris jeden Sonntag ein Maleratelier, wo sich Künstler, Schriftsteller, Beamte und Industrielle einfinden. Jeder dieser Herren weiß etwas von den Ereignissen der vergangenen Woche zu erzählen, und so ist die Unterhaltung fruchtbringend für Alle. Eines Sonntags nun fand ich dort einen mir unbekannten ältlichen Mann von überaus einnehmendem Aeußern. Er hatte nicht nur aller Herren Länder gesehen, sondern auch die Herren aller Länder persönlich gekannt. Seine Schilderungen der berühmtesten Persönlichkeiten Europas und der Vereinigten Staaten Amerikas waren ebenso angenehm wie belehrend, und man hörte ihm um so lieber zu, als er eine höchst wohlklingende Stimme besaß und in seinen fesselnden Erzählungen nichts von jener Selbstgefälligkeit verrieth, der sich vielgereiste Leute so gern hingeben. Durch das Eintreten mehrerer Personen wurde er unterbrochen, und die Unterhaltung sprang nun von einem Gegenstände auf den andern. Da er in seinen Erzählungen einige Male die hervorragendsten Männer unserer Literatur genannt hatte und zu denselben in persönlicher Beziehung gestanden zu haben schien, so war meine Neugierde sehr gespannt; ich setzte mich daher zu ihm und gab meinen Wunsch zu erkennen, etwas Genaueres über diese Beziehungen zu erfahren.

„Ich habe die Heroen der deutschen Literatur, Kunst und Wissenschaft, die im zweiten, dritten und im Anfang des vierten Decenniums unsers Jahrhunderts lebten, mehr oder minder genau gekannt,“ sagte er. „Schenken Sie mir die Ehre Ihres Besuches, ich werde Ihnen dann mit Vergnügen mittheilen, was Ihr Interesse besonders erwecken könnte.“

Er überreichte mir seine Karte und empfahl sich.

Ich las auf derselben den Namen Alexandre Vattemare und war so klug wie zuvor. Erst auf meine Fragen erfuhr ich, daß es der berühmte Bauchredner und Schauspieler Alexander war, der seiner Zeit die Federn aller Journalisten in Bewegung gesetzt und die Bewunderung Blumenbach’s, Osiander’s und Alexander’s von Humboldt erregt hatte.

Ich säumte auch nicht, ihm einen Besuch abzustatten, und fand ihn in einem alten Saal, der mit Büchern, Mappen, Cartons und Fascikeln vollgestopft war. Nachdem die Unterhaltung durch die herkömmlichen Redensarten eingeleitet war, sagte er:

„Ich liebe Deutschland, denn dort war es, wo ich meine Laufbahn als Künstler begann und wo ich unter den berühmtesten Zeitgenossen die vielfachsten Beweise des Wohlwollens, ja der Freundschaft fand.“

„Wie kommt’s, daß Sie als Franzose just in Deutschland Ihre Carriere begonnen haben?“ fragte ich.

„Durch folgende Umstände,“ erwiderte er. „Nach meiner ersten Jugend, welche durch die seltsamsten Familienverhältnisse nichts weniger als eine heitere war, studirte ich Chirurgie und wurde 1814 beauftragt, dreihundert preußische Soldaten, die in der Genesung begriffen waren, von Paris nach Berlin zu bringen. Ich entledigte mich dieses Auftrags mit der Gewissenhaftigkeit eines [425] Mannes, dem das Wohl seiner Nebenmenschen am Herzen liegt, und es wurde mir die Zweite preußische Kriegsdenkmünze zuerkannt. Da ich während der hundert Tage aus leicht begreiflichen Gründen verweigerte, als Chirurg in die preussische Armee zu treten, wurde ich als Kriegsgefangener in Berlin zurückgehalten. Ich hatte damals noch nicht das zwanzigste Jahr erreicht, besaß ein leidliches Aeußere und wußte mich durch die Gabe der Stimmtäuschung überall angenehm zu machen. Der damalige französische Gesandte am preußischen Hofe, Herr von Caraman, der mich lieb gewonnen hatte und, obgleich für die Bourbonen schwärmend, doch meinen Entschluß, keine preußischen Dienste anzunehmen, sehr billigte, sagte mir eines Tages, er sehe nicht ein, warum ich aus meinem Talente der sogenannten Bauchrednerkunst nicht einen Erwerbszweig mache.

,Trotzen Sie allen Vorurtheilen,‘ rief er, ,Sie werden es nicht bereuen?‘

Nun befand sich zu jener Zeit in Berlin eine französische Emigrantenfamilie, die gegen die bitterste Armuth kämpfte. Ich beschloß zum Besten derselben eine Vorstellung zu geben; diese glückte so sehr, daß ich sogleich die Familie als die meinige betrachtete und eine Kunstreise durch Deutschland machte, wo ich überall mit der größten Zuvorkommenheit behandelt wurde. In Deutschland begann ich auch die Sammlung meiner Autographen und Originalzeichnungen. Ich besitze jetzt an zehntausend Autographen,“ fuhr er fort, indem er auf die Mappen, Bündel und Hefte deutete, „und unter diesen sind fast sämmtliche Größen der deutschen Literatur vertreten.“

Er öffnete eine der Mappen, und ich sah sogleich folgende Zeilen von Goethe:

„Herrn Alexander wüßte nicht entschiedener meinen Beifall auszusprechen, als durch die Erklärung: daß ich allen denen ihm schon ertheilten Zeugnissen mit Vergnügen beistimme. Zu empfehlen weiß er sich selbst.

Diese Zeilen waren von Jena, 8. Juni 1818, datirt.

Ich bewunderte auf diesem Blatte den Abdruck eines Siegels, einen prachtvollen antiken Kopf darstellend.

„An dieses Siegel knüpft sich eine interessante Erinnerung,“ sagte Vattemare. „Man hat von vielen Seiten behauptet, Goethe sei kalt und steif gewesen. Es war natürlich, daß er sich gegen Diejenigen zugeknöpft zeigte, die ihn aus bloßer Neugierde besuchten. Gegen mich war er die Liebenswürdigkeit selbst. Ich hatte ihm einige Proben meines Talentes gegeben, und er schien mit mir sehr zufrieden. Als ich ihm meinen Wunsch zu erkennen gab, eine Handschrift von ihm zu besitzen, ging er sogleich an den Schreibtisch. Er hatte mir die Zeilen bereits eingehändigt, als er sie wieder zurückforderte und, das Siegel aus einer Schublade nehmend, sagte: ,Ich habe soeben dieses Siegel zum Geschenk erhalten, wir wollen nun sehen, wie sich der Abdruck auf dem Papier ausnimmt.’

Wir betrachteten Beide den Abdruck mit Wohlgefallen, und der alte Goethe wünschte mir dann mit einem Lächeln, das ich niemals vergessen werde, und in den liebenswürdigsten Ausdrücken viel Glück auf meinen Irrfahrten.“

„Sprach er Französisch mit Ihnen?“ fragte ich.

„Ja, und er drückte sich mit Bequemlichkeit im Französischen aus; er unterbrach jedoch mehrere Male das Französische durch deutsche Sätze, da er wußte, daß ich Deutsch ziemlich gut sprach und sehr gut verstand.

So oft ich später mit einer Berühmtheit zusammenkam,“ fuhr Vattemare fort, „mußte ich immer von meinem Besuche bei Goethe sprechen; am begierigsten, etwas über die Persönlichkeit des großen Dichters zu erfahren, zeigte sich Walter Scott, den ich im Frühling 1824 kennen lernte. Das war ein Mann! Eine biederere, schlichtere, wohlwollendere Natur läßt sich nicht leicht denken. Ich wurde von ihm und seiner vortrefflichen Gattin wie ein Sohn behandelt, und die heiteren Stunden, welche ich bei ihm in Abbotsford und in Edinburgh zubrachte, werden niemals aus meiner Erinnerung schwinden.“

Indem er diese Worte sprach, zeigte er mir eine sehr gelungene, in einer Messingkapsel befestigte Bronzemedaille, auf welcher der interessante Kopf Walter Scott’s vortrefflich geprägt war. Auf der Rückseite der Kapsel wären die Worte gravirt: „Mr. Alexandre with I ady Scott's best compliments. Edinburgh, 15. May 1824.

„Diese Medaille,“ sagte Vattemare, „sendete mir Lady Scott vor meiner Abreise von Schottland. Wie fast alle geniale und thätige Menschen, liebte Walter Scott einen guten Spaß. Eines Tages führte er mich bei einem Doctor Taylor in Edinburgh ein. Das war ein alles, kleines putziges Männchen mit einem fast fratzenhaften Gesichte. Nach einer kurzen Unterhaltung mit demselben empfahlen wir uns, und Walter Scott fragte mich, ob ich im Stande wäre, die Physiognomie dieses Doctors und sein Gebahren genau nachzuahmen. Ich antwortete ihm, daß mir dies nicht die mindeste Schwierigkeit verursachen würde. In der That hatte ich mir die sonderbare Gestalt des Doctors genau in’s Gedächtniß eingeprägt und konnte ihn auf’s Täuschendste nachahmen. Walter Scott war sehr zufrieden und führte mich, als ich mir einen Anzug verschafft, wie ihn der Doctor trug, und eine Perrücke aufgestülpt hatte, zu einem Bildhauer, der mich alsbald als den Doctor Taylor begrüßte und meinem Wunsche, in einer Büste von ihm portraitirt zu werden, gern entgegenkam. Der Bildhauer begab sich sogleich an’s Werk und modellirte tüchtig darauf los. In der vierten Sitzung sollte die in Thon modellirte Büste vollendet sein. Walter Sott wollte dieselbe in Gyps vervielfältigen lassen und dem Doctor selbst und dessen Bekannten eine Ueberraschung bereiten. Ich meinerseits wollte aber auch Walter Scott überraschen und bat ihn, der vierten Sitzung beizuwohnen. Er willigte gern ein. Wie in den früheren Sitzungen, sprach ich mit dem Bildhauer englisch und hüstelte und räusperte mich wie der Doctor. Nach einer Stunde sagte der Bildhauer, er betrachte die Arbeit als vollendet, worauf ich bemerkte, daß er an dem Schläfenhaar eine kleine Veränderung vornehmen müßte; während er aber dies that, warf ich rasch die Vermummung ab. Als sich nun der Künstler umdrehte und statt des kleinen, verhutzelten Männleins einen jungen, blonden, schlankgewachsenen Menschen sah, stand er einen Augenblick wie erstarrt, und um sein Erstaunen noch zu vermehren, sagte ich ihm in französischer Sprache: Ich danke Ihnen, mein Herr, für die prachtvolle Büste, die an Aehnlichkeit gewiß nichts zu wünschen übrig läßt und Ihrem Talent alle Ehre macht.‘ Walter Scott, der sich bisher in einer Ecke des Ateliers gehalten, strengte sich an, ernsthaft darein zu schauen, konnte aber doch, als er das verdutzte Gesicht des Künstlers sah, am Ende das Lachen nicht mehr zurückhalten. Wir klärten nun Beide den Künstler über den Scherz auf, den wir uns mit ihm erlaubt hatten; er ließ sich jedoch nicht früher überzeugen, als bis ich mich wieder in der früheren Vermummung vor ihm niedergesetzt hatte.

Dieser muthwillige Scherz,“ fuhr Vattemare fort, „wurde bald nicht nur in Schottland und England, sondern, ich darf es sagen, in ganz Europa bekannt, und als ich acht Jahre später München besuchte, schrieb mir König Ludwig, er wünschte den Namen des schottischen Doctors so wie des Bildhauers zu erfahren.“

Vattemare zeigte mir den Brief des Königs. In diesem Briefe kam die Phrase vor: „Quoique peu de temps à ma disposition, j'aime à écrire à un artiste si célèbre comme vous.“ Man sieht, König Ludwig schrieb Französisch, wie er Deutsch schrieb, nur daß er im Französischen, wie ich aus dem Briefe ersah, die derbsten grammatikalischen und orthographischen Schnitzer machte.

„Der König von Baiern,“ sagte Vattemare, „war die personificirte Neugierde. Als ich ihn besuchte, zog er sich mit mir in ein kleines Cabinet zurück und bestürmte mich mit unzähligen Fragen. Er sprach auch viel von Goethe, der einige Monate vorher mit Tod abgegangen war, und äußerte zu wiederholten Malen mit sichtbarem Stolze, daß er sich dessen Freundschaft erfreut habe.

Zur selben Zeit lernte ich sämmtliche große deutsche Dichter persönlich kennen, und sie gaben nur alle mit der größten Bereitwilligkeit einen Beitrag für mein Album, das bereits mehrere tausend Handschriften enthielt. Ich erinnere mich noch mit vielem Vergnügen Ludwig Tieck’s, der damals schon kränkelte und meiner Vorstellung, die ich in Dresden gab, nicht beiwohnen konnte. Ich bat ihn um einige Zeilen für meine Sammlung und erhielt von ihm folgenden Brief:

,Meine Krankheit ist mir oft hinderlich und raubt mir so manches Erfreuliche. So hat sie mich zu meinem großen Verdrusse gehindert, Ihr so allgemein bewundertes mimisches Talent [426] kennen zu lernen. Indessen ist mir doch Ihre eigene persönliche Liebenswürdigkeit, geehrter Herr Alexander, nicht unbekannt geblieben, und ich widme Ihnen mit Vergnügen dieses Blättchen, um es Ihrem Album beizufügen, das ich mit großem Ergötzen einige Male durchblättert habe: wie viele Namen, und unter diesen wie viele berühmte enthält es! Wie erfreulich die Schriftzüge eines Roscoe und vieler Anderer kennen zu lernen!

Möge das Schicksal Ihnen, geehrter Mann, noch lange Gesundheit und Lebensfrische schenken, um sich und Andere durch Ihre Talente zu erfreuen.

     Dresden, den 12. Sptbr. 1833.

          Ihr ergebenster

               Ludwig Tieck.’

Nachdem ich diesen Brief erhalten, gab ich ihm eine Vorstellung in seiner Wohnung. Den folgenden Morgen sendete er mir folgendes Blatt:

,Vielen Dank, geehrter Herr Alexander, daß Sie so freundlich mir auf meinem Zimmer einige Proben Ihres Talentes haben zeigen wollen, welches Alles, was ich erwartete, übertroffen hat. Man kann es wunderbar nennen. Diese schnelle Veränderung aller Gesichtszüge bis zur Unkenntlichkeit, dieser sichere Wechsel der Töne, alles dies, verbunden mit Grazie und Witz, hat mich in Erstaunen gesetzt. Nehmen Sie meinen Dank für diese Freundlichkeit, mit der Sie einem Kranken eine so frohe Stunde gemacht haben. Diese Eindrücke verwischen und verbleichen sich niemals wieder, und wie vielen Schauspielern möchte man nur etwas von diesem überreichen Talente wünschen!

Ludwig Tieck.’

„Tieck hatte große, prachtvolle Augen,“ sagte Vattemare, „die, wenn er sich im Gespräch belebte, sehr feurig glänzten. Er begleitete die Vorstellung, die ich vor ihm gab, mit der größten Spannung und klagte dann, daß nur wenige Schauspieler wahrhaft mimische Künstler seien, daß sie aus ihrem Gesichte nichts zu machen wüßten und in ihren Zügen zwar eine heftige Leidenschaft bis zur Verzerrung ausdrückten, aber die verschiedenen Gemüthsbewegungen weder durch Stimme, noch durch Geberdenspiel zu schattiren verstünden. Sie belauschten zu wenig die Natur. Und hierauf sprach er mit großer Lebhaftigkeit über die mimische Kunst so viel Wahres und Schönes, daß ich wie gebannt von dein Zauber seiner Rede war.“

„Wie war es Ihnen möglich,“ fragte ich, „sämmtliche Personen in Ihren Stücken zu spielen, ohne auch nur einen einzigen Augenblick eine Pause auf den Brettern eintreten zu lassen? Wie konnten Sie in kaum einer Minute als Officier, als altes Weib, als junges Mädchen erscheinen und die Täuschung im Publicum erhalten?“

„Diese Fragen sind während meiner Künstlerlaufbahn tausend und aber tausend Mal an mich gerichtet worden. Ja, nur Wenige wollten glauben, daß ich wirklich alle Personen in meinen Stücken spielte. Am allerungläubigsten zeigte sich die Herzogin von Berry. Nachdem dieselbe einigen meiner Vorstellungen im Théâtre de Madame beigewohnt, sagte sie mir geradezu, sie werde sich nimmer und nimmermehr überzeugen lassen, daß alle Rollen in meinen Stücken von mir selbst dargestellt würden, wenn ich sie nicht durch die unwiderleglichsten Beweise eines Bessern belehrte. Kurze Zeit darauf gab ich eine Vorstellung vor der königlichen Familie in St. Cloud. Wie bei allen meinen Vorstellungen wachte ich auf’s Strengste darüber, daß Niemand, wer es auch wäre, Eintritt in die Coulissen erhielte. Ich hatte in der ersten Scene einen Kutscher zu spielen. Wie ich nun in meinem dicken Mantel auftrat und mich schimpfend an den Tisch setzte, um dort einzuschlafen, merkte ich, daß die Herzogin sich hinter meinen Stuhl schlich und den Kragen meines Mantels faßte. Ich ließ sie gewähren, sprach, was ich zu sprechen hatte, und trat dann aus einer andern Thür als normannische Amme mit einem Säugling im Arm auf.

Die Herzogin, die noch den Kragenzipfel in der Hand hielt, stieß einen Schrei der Verwunderung aus, indem sie sah, daß nur noch der Mantel, aus dem ich, ohne daß sie es gemerkt hatte, wie ein Küchlein aus dein Ei geschlüpft war, am Tische saß.“

„Vortrefflich!“ sagte ich, „indessen ist dies noch keine Antwort auf meine Frage.“

„Eine Engländerin,“ erwiderte er, „Miß Wylton, die wahrend fünfundzwanzig Jahre mir und meiner Familie treu ergeben diente, begleitete mich auf allen meinen Reisen und war tüchtig eingeschult. Sie, und nur sie allein, hielt sich hinter den Coulissen und stand bei jeder Costümveränderung bereit, mir die Metamorphose zu erleichtern, die mit Blitzesschnelle geschehen mußte.

Auch trug ich in vielen Fällen mehrere Costüme übereinander, so daß ich mich gleichsam wie eine Zwiebel schälen konnte, und endlich kam mir meine eigentliche Kunst, die Stimm-Täuschung, am meisten zu statten. Da ich alle Stimmen, alle Arten von Geräusch, und zwar mit den genauesten Abstufungen je nach Entfernung und Richtung, nachahmen konnte, war es mir sehr leicht, die Aufmerksamkeit des Publicums in beständiger Spannung zu erhalten. Wenn ich auch selbst nicht auf der Bühne war, so war doch meine Stimme dort, und ich konnte auf den Brettern einen Monolog sprechen, oder eine von verworrenem Thiergeschrei unterbrochene Unterhaltung sich auf den Brettern entspinnen lassen, während ich mich hinter den Coulissen verwandelte.“

„Man hat mir gesagt,“ bemerkte ich, „daß Sie die Stimmen aller Thiere, das Geräusch aller Handwerksgeräthe, kurz, alle Töne, die unser Ohr treffen, so täuschend nachahmen konnten, daß eben Niemand an eine Täuschung glaubte.“

„Ich habe Proben von dieser Fähigkeit nicht nur in meinen eigentlichen Vorstellungen, sondern auch in Privatkreisen abgelegt, wenn es galt, eine Gesellschaft zu erheitern,“ antwortete Vattemare.– „Ich will Ihnen einen Fall erzählen, der nicht bekannt geworden. Als ich im Jahre 1834 in Berlin war, erfreute ich mich der besondern Gunst des damaligen Kronprinzen von Preußen und seiner Gattin. Der Kronprinz gab mir ein sehr warmes Empfehlungsschreiben an seine Schwester, die Kaiserin von Rußland, so daß ich am Petersburger Hofe die freundlichste Aufnahme fand. Kaiser Nicolaus, dessen Namen so viele Menschen nicht ohne einen gewissen Schauder aussprachen, gewann mich bald sehr lieb. Eines Abends, als ich mich bei Hofe in einer Gruppe diplomatischer und militärischer Größen befand und Nicolaus ungewöhnlich ernst schien, sagte ich, es sei nicht schwer, ihn in heitere Stimmung zu versetzen. In demselben Augenblicke summte eine freche Schmeißfliege um das Haupt des Selbstherrschers. Er machte eine Bewegung, um das widerwärtige Insect von seinem Kopfe zu entfernen. Umsonst! Das Thier wurde immer unverschämter, immer zudringlicher, bis der Kaiser endlich die Haltung verlor und zornig mit beiden Händen in den Scheitel griff. Das Thier floh summend und brummend unter einen Gueridon, und als der Kaiser erfuhr, daß ich es war, der das Geräusch gemacht und ihn getäuscht hatte, lachte er laut auf und war dann sehr aufgeräumt.“

„Wie konnten Sie aber diesen Spaß wagen?“ fragte ich.

„Die Hohen und Höchsten dieser Erde,“ antwortete er in schwermüthigem Tone, „verzeihen Alles, wenn man sie nur belustigt. Die Hofnarren durften sich Alles erlauben; Hofweise hat es niemals gegeben. Der furchtbare Czar war gegen mich die Liebenswürdigkeit selbst. Er lud mich nach Peterhof ein, zeigte mir die prachtvollen Gemächer des Schlosses und ließ mich immer zuerst in dieselben mit den Worten eintreten: ,Monsieur Alexandre je suis chez moi’. Er wünschte meine Albums zu sehen, die sehr reich an Zeichnungen berühmter Künstler waren. Ich brachte ihm die Sammlung. Als er aber die Mappen öffnen wollte, legte ich die Hand darauf und bemerkte ihm, daß ich grundsätzlich nur Denjenigen diese Schätze öffnete, welche dieselben durch einen Beitrag bereicherten. ,Ich habe keine Zeichnung’ sagte er. – ,Sire’ erwiderte ich, ,die Zeichnung, die auf Ihrem Arbeitstische liegt?’ – ,Das ist eine Uniform für meine Grenadiere!’ – ,Eure Majestät werden eine Copie davon machen?’ – Er gab mir lächelnd die Zeichnung, nachdem er seinen Namen und das Datum unter dieselbe gesetzt.“

Vattemare zeigte mir sie, sowie eine Handzeichnung des damaligen Großfürsten Alexander. Es waren keine Meisterwerke.

Ich fragte ihn, ob er niemals unter dem Namen Vattemare gereist sei?

„Als Stimmen-Künstler,“ sagte er, „hieß ich Alexander; im Privatleben und als Sammler von Doubletten hieß ich Vattemare. Ich hatte nämlich schon in meinen Jünglingsjahren mit Bedauern gesehen, daß in den öffentlichen Bibliotheken, Münz- und Antikencabineten gar manche Werke und Kunstgegenstände mehrfach vorhanden sind, während dieselben Werke in anderen öffentlichen Anstalten gänzlich fehlten. Es tauchte nun in mir der Gedanke auf, daß durch gegenseitigen Austausch der mehrfach [427] ,vorhandenen Werke diese aus der unnützen Verborgenheit gezogen werden könnten, daß auf diese Weise fast sämmtliche Bibliotheken, ohne einen Heller auszugeben, ihre Schätze um ein Beträchtliches vermehren würden. Die Ausführung dieses Gedankens lag mir so sehr am Herzen, daß ich seit meiner ersten Kunstreise bis auf den heutigen Tag, in Europa sowohl wie in den Vereinigten Staaten, unausgesetzt daran arbeitete. Aber gegen welche Hindernisse hatte ich nicht zu kämpfen! Nun, wenn die Trägheit oder das Mißwollen der Beamten den Reisenden Vattemare vergebens reden ließ, so stellte sich der Spaßmacher Alexander ein und erreichte seinen Zweck. Ich erinnere mich noch, daß ich mich einst in einer deutschen Residenz bei dem Minister des öffentlichen Unterrichts anmelden ließ, um ihn für meinen Lieblingsgedanken zu gewinnen. Ich wartete lange im Vorzimmer. Endlich kam der Bediente zurück und sagte mir, Seine Excellenz sei sehr beschäftigt und könne mich nicht empfangen. ,Melden Sie Seiner Excellenz,’ rief ich, „Herr Alexander wünsche ihm seine Aufwartung zu machen? Kaum hatte der Bediente sich entfernt, als die Thür sich öffnete und der Minister mir beide Hände zugleich entgegenstreckend auf mich losstürzte, mich in sein Cabinet zog und nur unter den schmeichelhaftesten Ausdrücken über mein Talent das Wort gab, meine Bestrebungen zu fördern. Ohne Alexander hätte Vattemare überall verschlossene Thüren gesunden.“

Durch diesen ersten Besuch waren meine freundlichen Beziehungen zu Vattemare eingeleitet. Wir sahen uns in der Folge häufig, und er äußerte mehrere Male den Wunsch, ich möchte seine Denkwürdigkeiten veröffentlichen. Er wollte mir zu diesem Zwecke alle geschriebenen und gedruckten Materialien ,liefern und dieselben durch mündliche Unterhaltungen ergänzen. Ich bemerkte jedoch später, als ich von der Veröffentlichung dieser Memoiren sprach, eine gewisse Verlegenheit, die ich mir nicht erklären konnte. Er wich dieser Frage aus, und wie ich sah, mit Bedauern und Verdruß. Nach seinem Tode, der vor vier Jahren erfolgte, erfuhr ich, daß sein ältester Sohn, ein Geistlicher, sich der Publicirung widersetzt hatte. Sein zweiter Sohn hingegen, Hippolyte Vattemare, ein tüchtiger Publicist, dem man eine Reihe vortrefflicher Artikel über die politischen Zustände der Vereinigten Staaten verdankt, stellte mir mit der größten Bereitwilligkeit manche schätzbare Reliquien aus der Hinterlassenschaft seines Vaters zur Verfügung und unter andern viele Originalbriefe deutscher Dichter, Gelehrten und Fürsten. Von diesen Papieren besitze ich noch das Manuscript der Autobiographie Vattemare’s. Die Bekenntnisse, welche seine erste Jugend und den Beginn seiner Kunstreifen schildern, bieten ein lebhaftes Interesse dar. Merkwürdig ist es, daß Vattemare sehr ungern vor dem Publicum erschien, ja, daß er in späteren Jahren oft unter schwer zu unterdrückenden Thränen auf die Bühne trat. Er haßte überhaupt das Theater und besuchte niemals ein Schauspielhaus. Seit er seiner Kunst den Rücken gekehrt, war er selbst in den allervertrautesten Kreisen nicht mehr zu bewegen, eine Probe seines Talentes zu zeigen. Er beschäftigte sich ausschließlich mit seinem Lieblingsgedanken, dem internationalen Bücheraustausch. War es ihm doch geglückt, zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten allein den Austausch von dreihunderttausend Bänden zu bewirken!

Vattemare hatte in allen Schichten der Pariser Gesellschaft viele aufrichtig ergebene Freunde, die in ihm den liebenswürdigen Gesellschafter, den geistvollen Erzähler und ganz besonders den unbescholtenen Biedermann schätzten.





Kleine amerikanische Sittenbilder.[2]

Nr. 6. Schicksale eines Eheringes.

Die Pfandhäuser in den Vereinigten Staaten sind nicht, wie in Europa, autorisirte und von der Polizei überwachte Creditanstalten, sondern Privatgeschäfte wie alle anderen, deren Vorstände jedoch nahezu alle im Geruch des Wuchers und der Diebeshehlerei stehen. Die Locale, in denen diese halb entehrenden Geschäfte betrieben werden, sind entweder zeisiggrün oder himmelblau, scharfgelb oder ziegelroth angestrichen und tragen als Abzeichen drei etwa achtzöllige vergoldete Kugeln über der Eingangsthür. Sie sind gezeichnet wie Kain; ihr bloßer Anblick ist eine genügende Warnung für Jeden, der sich ihnen naht und auf den ein Warnungszeichen noch Eindruck macht.

Seit Jahren führt mich mein Weg alltäglich durch eine Straße, in welcher vier dieser abschreckenden Gaunerbuden nebeneinander belegen sind. Als ich jüngst rasch an der letzten vorübergehen wollte, trat eine junge Dame mit den Worten auf mich zu:

„Ich bitte Sie um einen kleinen Dienst.“

„Und womit kann ich Ihnen gefällig sein?“ fragte ich.

„Sie wissen, daß eine junge Dame nicht wohl allein in ein solches Haus gehen kann. Ich habe keinen Begleiter und bitte Sie daher, mit mir einzutreten.“

„Und was dann?“ fragte ich.

„Sie sehen hier im Schaufenster eine Menge goldener Ringe auf einem schwarzen Sammetpolster. Bitte, gehen Sie mit mir in den Laden, begehren Sie diesen mit A. von L. gravirten Ring und kaufen Sie ihn für mich um jeden Preis. Es schaudert mich, ihn hier unter all dem infamen Gerümpel liegen zu sehen. Er gehört einem Manne, der –“

Sie konnte nicht weiter sprechen, aber sie hielt mir ihr Portemonnaie entgegen, und ohne es ihr abzunehmen, ging ich ihr voraus in den Laden, verlangte den bezeichneten Ring, erhandelte ihn um zwei Dollars wohlfeiler, als der Pfandverleiher ihn möglicher Weise verkaufen zu können behauptete, bezahlte ihn aus dem Portemonnaie, welches die junge Dame in den zitternden Händen hielt, und wollte sie eben wieder auf die Straße geleiten, als sie sich an den Kaufmann wendete und ihn fragte, ob er den Namen des Herrn kenne, der ihm den Ring verkauft habe.

„Des Herrn? Es war gar kein Herr. Ein altes Weib, das mir schon öfter solche Waare gebracht, hat ihn mir verkauft. Doch muß der Ring seiner Größe nach für einen ziemlich starken Mann gemacht worden sein.“

Meine neue Bekannte oder besser Unbekannte stammelte einige Dankesworte und dann trennten wir uns auf Nimmerwiedersehen. Denn hier endet der kurze Roman, den ich zu erzählen hatte, und es steht meinen Leserinnen frei, ihn nach Belieben fortzuspinnen oder ihn rückwärts verfolgend auf seine ersten Anfänge je nach der Stärke ihrer Einbildungskraft zurückzuführen. Ich selbst kenne weder Anfang noch Ende davon. So viel aber weiß ich, daß, wenn ein scharfblickender Fremder durch die Straßen einer großen amerikanischen Stadt geht und in den Schaufenstern unserer Pfandverleiher Hunderte von Braut- und Eheringen mit den verschlungenen Anfangsbuchstaben der Namen der früheren Besitzer und dem Datum der glücklichsten Stunde im Leben so vieler Liebenden liegen sieht, er bei einigem Nachdenken eine gewisse Sittenrichtung besser beurtheilen kann, als aus langem Umgang mit gewöhnlichen Gesellschaftsmenschen, die ja die Sprache so oft benutzen, um ihre Denkungsart, und ihr süßestes Lächeln, um ihres Herzens Bosheit oder Schwächen zu verbergen. Diese Ringe lügen nicht, der Platz, an dem sie ausgestellt sind, verräth den Weg, auf dem sie dahin gelangten. Könnten sie sprechen, sie erzählten von Elend und Verzweiflung, aber mehr noch von schmählichem Leichtsinn, von Treulosigkeit und Heuchelei, von Tücke und frohlockendem Verrath. Ein solcher Ring, zwei, sechs, ein Dutzend möchten in einer volkreichen Stadt auf mit edler Sitte verträgliche Weise ihren Weg zu Pfandleihern gefunden haben, – beim Anblick von langen Reihen solcher Liebespfänder will es selbst dem wohlmeinendsten Sinn nicht gelingen, sich schwerer Anklagen gegen eine Gesellschaft zu enthalten, in der eine solche Barbarei zur alltäglichen Uebung zu gehören scheint.

So ungefähr erzählte und commentirte ich im Freundeskreise den mir jüngst begegneten Vorfall, als ein norddeutscher Gutsbesitzer, der schon seit zwanzig Jahren in St. Clair County, im Staate Illinois, lebte, die Bemerkung machte, daß ihm vor nahe achtzehn Jahren ein junger Mann in den Weg gekommen wäre, dem es schwerer geworden sei, seinen Trauring loszuwerden. Voll allen Seiten gebeten, die Geschichte zu erzählen, ließ sich der alte Pionier also vernehmen:

[428]

Das Lutherdenkmal in Worms. Enthüllt am 25. Juni 1868.

[429] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [430] „Ich hatte mich etwa seit einem Jahre auf dem Gute festgenistet, das ich heute noch bewirthschafte, als sich mir ein etwa dreißigjähriger, wohlgebauter und rechtschaffen dreinsehender Prairiesohn vorstellen ließ mit der Bitte um Kost und Wohnung in meinem Hause für einige Monate, vielleicht auch Jahre, wie er sagte. Der junge Mann sprach etwas Englisch, aber sehr gut Französisch neben seiner Muttersprache, und da ich nach kurzer Unterhaltung entdeckte, daß er in der modernen Literatur sowohl, wie auch in den exacten Wissenschaften wohlbewandert sei, so hielt ich ihn für einen erfreulichen Zuwachs zu meiner Familie. Da wir uns gegenseitig gefielen, wurden wir schnell über unsere Bedingungen einig und niemals hatten wir Ursache, den raschen Handel zu bereuen. Wir hatten einen wackeren Mann, nur von etwas schwermüthigem Wesen, bei uns angenommen, der in mancher Gefährde unseres harten Prairielebens treu zu uns gestanden, von dem Alt und Jung vieles Nützliche lernten und von dessen verständigem, vorsichtlichem Sinn heute noch prachtvolle Alleen von Fruchtbäumen und beim Ausreuten des Waldes stehen gelassene Baumgruppen beredteres Zeugniß ablegen, als ich es in Worten thun könnte.

Unserem neuen Freunde wurde einstweilen ein gegen Westen gelegenes Dachzimmer mit einem Giebelfenster auf einen freien mit Haselbüschen und üppigem Unkraut bewachsenen offenen Platz eingeräumt, und den Tag nach seinem ersten Besuche zog er ein. Er brachte eine Menge von Kisten und Koffern, mehr, als ich mit Frau und Kindern über den Ocean nachgeschleift, und doch war auch ich nicht armer Leute Kind. Es mag wohl am dritten oder vierten Tage nach seiner Ankunft gewesen sein, – wir saßen gerade um den Mittagstisch – als mein damals fünfjähriger Knabe mit einem goldenen Ringe in der Hand herbeigesprungen kam.

Er sagte, er habe ihn draußen an einer Haselhecke hängend gefunden. Unser neuer Freund, – ich sehe ihn noch jetzt vor mir – weiß wie die Wand und am ganzen Körper bebend, streckte die Hand nach dem Ringe aus und sagte: ,Bitte, geben Sie, der Ring gehört mir!’

Es wurde bei Tisch kein Wort mehr über den Vorfall gesprochen, aber sobald wir allein waren, erzählte mir unser Freund unaufgefordert seine traurige Geschichte. Er hatte sich vor etwa drei Jahren in Turin mit einer gefeierten Schönheit verheirathet. Wenige Tage nach der Hochzeit führten ihn dringende Geschäfte nach Nizza, und bei seiner Rückkehr, die schneller erfolgte, als man zu Hause erwartete, fand der Unglückliche sein heißgeliebtes Weib in den Armen eines piemontesischen Kapitäns, den seine Frau, wie er später erfuhr, schon vor ihrer Vermählung wohl gekannt und hinter dem Rücken ihrer Eltern öfters allein empfangen haben sollte. Die Neuvermählten wurden bald darauf von Tisch und Bett geschieden; mein Freund gab sein erst kurz vor seiner Verbindung etablirtes Geschäft wieder auf, zog wieder zu seiner bereits bejahrten Mutter und beschloß bald darauf, wenigstens für einige Jahre in die weite Welt zu gehen, wo dann die Zeit und veränderte Umstände sein krankes Herz vielleicht heilen würden.

Beim Packen seiner Sachen sei ihm eine Weste in die Hände gefallen, in deren eine Tasche er unmittelbar nach der entsetzlichen Entdeckung seinen Trauring gesteckt hatte. Er ließ ihn unberührt und unbetrachtet, hängte aber die Weste in den hintersten Winkel einer dunkeln Kammer, die ihm als Garderobe diente, überzeugt, daß seine sorgsame Mutter nach seiner Entfernung die Weste finden, den Ring entdecken und, die Ursache begreifend, warum er ihn zurückgelassen, für immer nach Schicklichkeit darüber disponiren würde, so daß er ihm selber wenigstens niemals mehr vor Augen käme. Doch es sollte anders sein. Die sorgsame Mutter fand die Weste schon vor der auf den nächsten Tag bestimmten Abreise ihres Sohnes, glaubte, er habe sie in dem dunkeln Winkel nicht gesehen, und packte sie nebst manchen Gedenkzeichen ihrer mütterlichen Sorgfalt in eine von seinen Kisten, und das Erste, was beim Auspacken in unserer Wohnung dem neuen Hausgenossen in die Hände fiel, war die Weste und mit ihr der Ring. Ein tiefer Schmerzensschrei habe sich seiner Brust entrungen und als würfe er das ihn hartnäckig verfolgende Symbol ihrer Treulosigkeit in die tiefe See, habe er den Ring aus seinem Dachfenster hinaus in’s Freie geschleudert.

Bei dieser Stelle seiner Erzählung angelangt, übergab er mir den Ring, einen massiven einfachen Goldreif, auf dessen innerer Fläche sein und seiner Frau Name ineinander verschlungen eingegraben waren.

,Jch beschwöre Sie, befreien Sie mich für immer von dem Ringe. Verkaufen Sie ihn bei Ihrer ersten Reise nach der Stadt an einen Goldarbeiter, der Ihnen jedoch versprechen muß, ihn umzuschmelzen, und schenken Sie den Erlös für den Goldwerth der Bettlerin, die jede Woche um ihr Almosen kommt?

Ich versprach es, vergaß aber leider bei meiner nächsten Reise den Ring mitzunehmen. Bei meiner Heimkehr erinnerte mich ein fragender Blick unseres Hausfreundes an seinen Auftrag, und um alle unangenehmen und weitläufigen Explicationen abzuschneiden, nickte ich mit dem Kopfe, und ein zufriedener Zug auf seinem Gesichte absolvirte mich von der Nothlüge, die ich mir gewiß in der besten Absicht von der Welt zu Schulden kommen ließ. Er war glücklich – so weit er es sein konnte – unter dem Eindruck, daß er endlich dem Ringe nicht mehr begegnen werde. Als nun zwei Tage darauf auch noch die alte Bettlerin mit einem Goldstück überrascht wurde, das, wie ich ihr sagte, bei der Kindtaufe ‚unseres Jüngsten’ für sie bestimmt worden sei, da konnte er nicht mehr bezweifeln, daß dies sogar die letzte Anspielung sein werde, die ihm den Ring jemals wieder in’s Gedächtniß zurückrufen würde.

Aber es sollte anders kommen. Wir bauten damals eine Küche unmittelbar neben das Haus; derselbe kleine lebhafte Junge, der früher den Ring gefunden, steckte die von den Tischlern zusammengekehrten Spähne in Brand, und ehe wir’s uns versahen, brannte die ganze Küche lichterloh, ja es war selbst die größte Gefahr für das Haus. Als dem verlässigsten männlichen Hausgenossen reichte ich unserm piemontesischen Freunde die Schlüssel zur Commode, in der mein Geld und meine Werthpapiere, sowie eine nicht unbedeutende Summe, die er selbst mir zum Aufbewahren gegeben hatte, lagen, und bat ihn, während ich und das Hausgesinde das Feuer löschen würden, den Inhalt der Geldschieblade auf alle Fälle in Sicherheit zu bringen.

Das Feuer war bald gelöscht, die Schublade wieder an ihren Platz gebracht, und ohne eine einzige Bemerkung übergab mir der unglückliche Mann wieder den Schlüssel dazu. Der erste Blick, den er in die Lade gethan, mußte den entsetzlichen Ring getroffen haben. Ein Zettel – ich bewahre ihn bis auf diese Stunde – auf welchem ein zerklopftes Stückchen Gold lag, belehrte mich über den ganzen Vorfall. Er lautete wie folgt:

,Lieber Freund! Das beiliegende Klümpchen Gold gehört Ihnen. Sie haben es mit fünf Dollars sogar viel zu theuer bezahlt. Nur auf die Form und Bedeutung hatte ich leider noch ein Recht, und diese habe ich nunmehr für immer zerstört. Ich hätte dies schon vor Jahren gethan, aber ich fürchtete, daß die Unglückliche, die mir den Ring einst gegeben, jeden Hammerschlag, den ich ihm versetzen würde, mitfühlen möchte. Jetzt ist sie todt, und oben im Himmel oder sonstwo wird sie wohl die Art nicht gewahr, wie ich endlich für immer das Symbol ihrer gebrochenen Treue zu zerstören gezwungen worden war?‘

Wir sprachen niemals wieder über den Vorfall. Kurze Zeit darauf rief den vortrefflichen Menschen die Todeskrankheit seiner Mutter nach Italien zurück. Ich erfuhr seitdem, daß er bald nach seiner Mutter Tode ebenfalls erkrankte und ihr nach drei oder vier Jahren in’s Grab folgte.“

Kein Zweifel, daß es auch hier zu Lande so fein fühlende Menschen giebt, wie diesen Piemontesen. Die Tausende aber, die alljährlich in den Vereinigten Staaten ihre Trau- oder Verlöbnißringe bei Pfandverleihern verkaufen oder versetzen, gehören gewiß nicht in diese Classe.

C. L. B. in St. Louis.



[431]

Das angebliche „Finis Poloniae“ des Thaddäus Kosciuszko.

Von Karl Blind.

Um der geistigen Befreiung der Menschheit willen möchte man wohl wünschen, daß einmal alle berühmten sogenannten „historischen Worte“ genau untersucht und ihre Wahrheit und ihr Werth festgestellt würden. Es giebt eine ganze Literatur solcher Schlag-, Kern und Gelegenheitsworte. Daß aber die falsche Münze dabei haufenweis unter die echte eingemischt ist, kann Niemand bezweifeln, der auf dem einen oder anderen Gebiete des Geschichtsstudiums den Quellen nachgeforscht hat.

Schwer ist es, ein Bild von der Ausdehnung des Unfugs zu geben, welchen das Wiederholen sogenannter historischer, im Grunde aber erdichteter Aeußerungen anrichtet. Manches berühmte Wort gilt als „beliebte Geschichtszierde“, das der vermeintliche Urheber, könnte er aus dem Grabe sprechen, mit Entrüstung zurückwiese, als eine ihm angethane tödtliche Beleidigung. Mancher andere angebliche Ausruf, welcher nie aus dem Munde gekommen, den man ihn zuschreibt, dient noch heute dazu, Völker untereinander zu verhetzen und böse Leidenschaften aufzuregen. Erst vor wenigen Monaten brachte die Pariser Bühne den Untergang des Schiffes „Le Vengeur“ (der Rächer), dessen Befehlshaber angeblich unter dem Rufe: „Es lebe die Republik!“ lieber mit seiner ganzen Mannschaft in den Wellen versank, als daß er sich den Engländern ergeben hätte. Die republikanischen Kämpfe Frankreichs in Ehren; sie waren ruhmvoll, einer guten Sache würdig! Darum bleibt es nichts desto weniger wahr, daß der Befehlshaber jenes Schiffes nebst dem größten Theile seiner Mannschaft die durch die Engländer angebotene Rettung annahm, zuerst als Gefangener nach England gebracht wurde und später ruhig in seiner Heimath verstarb, während Hunderttausende von Franzosen zähneknirschend dem „perfiden Albion“ fluchten, das den Tod eines solchen Helden verschuldet! Ich habe einen hochgebildeten Franzosen gekannt, der an den Ufern dieses Landes Schutz vor der in Frankreich herrschenden Willkür fand; er glaubte fest an die Mähr vom „Rächer“, nannte seinen Sohn „Le Vengeur“ und pflanzte ihm eine ganze Saat des Hasses gegen die verruchten Briten ein. Um wie viel milder hätte diesen würdigen Mann etwas mehr Geschichtskenntniß gestimmt, und um wie viel besser wäre es, wenn der Sohn sich nicht mit einer falschen Rolle trüge!

„Die Garde stirbt, doch sie ergiebt sich nicht!“ An diesem heldenhaften Ausruf Cambronne’s hat sich die bonapartisirende Ruhmsucht so lange geweidet und weidet sich noch daran. Victor Hugo hat in seinen „Unglücklichen“ jenes falsche historische Wort auf seine wirkliche Wurzel zurückgeführt. Es besteht aus einer einzigen Silbe, ist nicht druckfähig, auch für die geschichtliche Aufbewahrung gar nicht zu empfehlen, wenngleich Frankreichs großer Dichter in wahrhafte Begeisterung über dasselbe geräth. Zur Vervollständigung des Beweises von der bloßen Sagenhaftigkeit des „La Garde meurt, mais elle ne se rend pas!“ sei indessen hier erwähnt, daß Cambronne auf dem Felde bei Waterloo von einem hannoverschen Officier gefangen genommen und an den Achselschnüren über’s Schlachtfeld geführt wurde. Cambronne lebte noch manche Jahre später. Mit ihm und nach ihm lebte die unausrottbare falsche Sage. Und über solche Dinge gerathen sich Franzosen und Deutsche gelegentlich in die Haare!

„Nichts hat sich verändert; es giebt nur einen Franzosen mehr!“ soll Ludwig der Achtzehnte nach der Wiederherstellung der Bourbonen ausgerufen haben. Mit diesem Worte sollte gesagt werden, daß das wiederhergestellte Königsgeschlecht die neue Zeit begreife und nicht an Reaction im Sinne der ‚Ci-Devants‘ denke. Was ist aber der wahre Sachverhalt? Bei dem feierlichen Umzug, bei welchem der Bourbon dies Schlagwort geäußert haben soll, verhielt er sich stumm wie ein Fisch. Als die Sache zu Ende war und ein Bericht darüber im „Moniteur“ erscheinen sollte, frugen die Hochweisen des engeren Rathes sich untereinander: „Was hat Seine Majestät heute gesagt?“ – Allgemeine Verlegenheit! Nicht einer einzigen Bemerkung konnte man sich von ihm entsinnen! – „Das geht nicht,“ sagte einer der Anwesenden, ein Mann von feinem, witzigem Geist, „er muß etwas gesagt haben!“ – Frankreich ist in der That das Land der bezeichnenden Worte; hat man sie nicht bei der Gelegenheit, so erfindet man sie nachträglich. Also er mußte etwas gesagt haben! „Ich hab’ es,“ rief der Geistvolle endlich aus; er hat gesagt: Rien n’est changé; il n’y a qu’un Francais de plus!“ So geschah es; so kam es in den Staats-Anzeiger. Als der König am folgenden Tage erwachte, fand er, daß man ihm ein historisches Wort in den Mund gelegt hatte. Seit damals spielt dasselbe in der Geschichte und ist doch eine Erfindung. Denn daß sich unter der Restauration „sehr Vieles veränderte“, ist nur allzubekannt. Die Bourbonen hatten wahrhaftig „nichts gelernt und nichts vergessen“ (das ist historisch); und der „eine Franzose“ nebst seinem Nachfolger wußte sich der Nation so widerwärtig zu machen, daß schließlich „1830“ erfolgte.

Das Sprüchwort sagt: „Lügen haben kurze Beine.“ In der Geschichte aber haben sie sehr lange; sie schreiten damit in’s Unendliche fort, und das Untergestell scheint ihnen im Laufe der Zeit eher zu wachsen, als sich zu vermindern. Das beweist unter andern der Ausruf: „Finis Poloniae“, den man Thaddäus Kosciuszko angedichtet hat und der, wie es scheint, aus der Geschichte, aus Zeitschriften und aus Zeitungen gar nicht mehr fortgeschafft werden kann.

Zur Berichtigung eines in der Gartenlaube, unter der Aufschrift: „Der ,alte Feldherr‘ in Solothurn“ enthaltenen Aufsatzes hatte ich in Nr. 10 Ihres geschätzten Blattes mit wenigen Worten mitgetheilt, daß Kosciuszko selbst sich einst mit Unwillen dagegen verwahrte, auf diese Weise das Leben einer Nation von dem Leben eines Einzelnen abhängig gemacht zu haben. Die Berichtigung trug mir vor wenigen Tagen einen Brief der Redaction, unter Beischluß eines anderen aus Mainz, ein, woraus ich ersehe, daß der Zweifel an der Echtheit des Kosciuszko’schen Ausspruches großes Erstaunen erregt. Ich kann mich über dies Erstaunen um so weniger wundern, als mir noch kaum Jemand vorgekommen ist, der das „Finis Poloniae“ nicht in sein geschichtliches Glaubensbekenntniß eingeschlossen hätte. Fand ich doch zwei Geschichtsschreiber – darunter einen berühmten französischen, der sonst nicht leicht nachbetet – die beide fest überzeugt waren, der polnische Führer sei mit jenem Ausruf verwundet vom Pferde gesunken.

Da man mich ersucht, „das Mögliche für die Ausmerzung dieser Geschichtsfälschung zu thun“, so gebe ich hier Kosciuszko’s eigenen Brief in der Uebersetzung aus dem mir vorliegenden französischen Text. Der Brief war an den Grafen Segur, Verfasser der „Decade Historique“, gerichtet und ist aus Kosciuszko’s eigenen Papieren von Georg Zenowicz gezogen. Er lautet wie folgt:

               „Herr Graf!

Anknüpfend an das Ihnen gestern übersandte Schriftstück, welches sich auf die Haltung des Herrn Adam Poninski wahrend des Feldzuges von 1794 bezieht, wünschte ich noch einer anderen Sache zu erwähnen, welche die unglückliche Schlacht von Maciejowice betrifft und die ich ein großes Verlangen trage aufzuhellen.

Die Unwissenheit oder der böse Wille steifen sich darauf (l’ignorance ou la mauvaise foi s’acharnent), mir das Wort ‚Finis Poloniae‘ in den Mund zu legen, das ich an jenem schicksalsvollen Tage ausgesprochen haben soll. Nun denn, vor Allem sei dies bemerkt: ehe noch die Schlacht zu Ende, war ich fast tödtlich verwundet worden und ich kam erst zwei Tage nachher wieder zu Sinnen, wo ich mich in den Händen meiner Feinde fand. Sodann: wenn ein solches Wort widersinnig und verbrecherisch in dem Munde eines jeden Polen (inconséquent et criminel dans la bouche de tout Polonais) ist, so wäre es dies in noch viel höherem Grade in dem meinigen.

Als die polnische Nation mich zur Vertheidigung der Zusammengehörigkeit, der Unabhängigkeit, der Würde, des Ruhmes und der Freiheit des Vaterlandes berief, wußte sie wohl, daß ich nicht der letzte Pole sei und daß mit meinem auf dem Schlachtfeld oder anderwärts erfolgenden Tode Polen nicht enden konnte, nicht enden sollte. Alles, was die Polen seitdem in den ruhmreichen polnischen Legionen gethan haben, Alles, was sie noch in der Zukunft thun werden, um ihr Vaterland wieder zu gewinnen, beweist genügend, daß, wenn wir, die ergebenen Soldaten dieses Vaterlandes, sterblich sind, Polen unsterblich ist; und Niemandem ist es erlaubt, das gröblich beleidigende Wort (l’outrageante épithète) ‚Finis Poloniae‘ zu gebrauchen oder zu wiederholen.

[432] Was würden die Franzosen sagen, wenn bei der unglücklichen Schlacht von Roßbach der Marschall Karl Rohan, Fürst von Soubise, ausgerufen: ‚Finis Galliae!‘ oder wenn man ihm in den Beschreibungen seines Lebens dies grausame Wort in den Mund gelegt hätte!

Ich werde Ihnen daher verbunden sein, wenn Sie in der neuen Ausgabe Ihres Werkes nicht mehr von diesem ‚Finis Poloniae!‘ sprechen wollen, und ich hoffe, daß der Einfluß Ihres Namens allen Denen Schweigen gebieten wird, die in Zukunft dies Wort wiederholen und mir eine schmachvolle Lästerung (un blasphème) zuschreiben wollten, gegen die ich mit meiner ganzen Seele Verwahrung einlege.

Es ist mein Vetter und Zögling, der junge Georg Zenowicz, der die Ehre haben wird, Ihnen diesen Brief einzuhändigen. Obgleich es seine Absicht ist, sich der kriegerischen Laufbahn zu widmen, wird er gleichwohl glücklich sein, sich Ihres wohlwollenden Schutzes würdig machen zu können, wenn die Verhältnisse ihn je in die Lage setzen, desselben zu genießen.

Empfangen Sie, Herr Graf, die Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung.

      Paris, den 10. Brumaire, im Jahre XII. (31. (October 1803). T. Kosciuszko.

Dies der Brief, der allen Zweifel niederschlägt. Ich habe nach dem von der Redacteur der „Gartenlaube“ mir mitgetheilten Schreiben von einem Polen von hervorragender Stellung, auf die an ihn gerichtete Anfrage, die Nachricht erhalten, daß sich die Urschrift des Kosciuszko’schen Briefes in dem Urkundengewölbe der Familie Segur befindet.




Blätter und Blüthen.

Der Preis der Popularität. Vor einigen Jahren tritt eines schönen Sommermorgens Theodor Döring, der große Menschendarsteller, an eine der Fruchtbuden unter den Linden in Berlin, um eine Melone zu kaufen. Mit kundigem Auge wählt er die schönste Frucht aus dem Vorrath und fragt nach dem Preise.

„Diese Melone da kostet zwei Thaler,“ giebt die Händlerin, die jung und von angenehmem Aeußern ist, zur Antwort.

„Zwei Thaler? ein wenig sehr theuer!“ spricht der Künstler gedehnten Tones.

„Zwei Thaler für diese Prachtmelone ist durchaus kein zu hoher Preis,“ meint die Händlerin. „Für einen so berühmten Künstler, wie Herr Döring, ist eben das Beste doch nur gerade gut genug,“ setzt sie mit einem verbindlich graciösen Lächeln hinzu.

Die Mienen des Künstlers erhellen sich sichtbar.

„Wie, Sie kennen mich?“

„O, ich bitte, wie sollte ich Herrn Döring nicht kennen?“

„Haben Sie die Güte, mir die Melone einzuschlagen,“ sagt der Schauspieler und legt allsogleich zwei Thaler auf das Zahlbrett.

Die Melone wird in zartes rosa Seidenpapier geschlagen und der Künstler verläßt, die eingewickelte Frucht in der Hand, die Händlerin mit großer Huld grüßend, die Bude.

Es ist nicht Fashion – gilt wenigstens dem Berliner nicht dafür – zwischen den Linden selbst zu gehen. Unser Künstler wendet sich demnach links und setzt auf dem Trottoir auf der Kranzler’schen Seite seinen Weg fort. Da begegnet ihm von ungefähr der Komiker und urkomische Mensch, Rudolph Haase, damals Menschendarsteller am Thaliatempel des großen Deichmann.

„Ah, guten Tag, lieber Haase,“ redet der königliche Hofkomödiant den Collegen aus der Schumannsstraße mit herablassender Freundlichkeit an. „Wohin des Weges? Begleiten Sie mich doch ein Streckchen.“

Und der königliche Kunstbeamte legt mit einem plötzlichen Anflug cordialer Collegialität seinen Arm in den des komischen Gauklers.

„Ich habe mir soeben eine Melone gekauft und dabei eine mir schmeichelhafte Erfahrung gemacht,“ nimmt Döring weiter das Wort und erzählt den Vorfall. „Sehen Sie, lieber Haase,“ fährt er dann fort, „populär muß der Künstler sein, Popularität muß ihm seine Kunst und seine Künstlerschaft erwerben, darin bestehen seine erhabensten Lorbeeren. Alles Lob der Kritik und der einzelnen Kenner wiegt die Popularität nicht auf, kann sie niemals ersetzen. Und ich besitze diese Popularität, und ich bin stolz auf diesen Besitz“

„Hm,“ macht Haase, und sein unendlich gutmüthiges, mädchenhaft rosiges Gesicht nimmt einen unbeschreibbar komisch listigen und schlauen Ausdruck an. „Wat haben Sie für det Ding Melone bezahlt? Zwee Dahler? Is ’n bisken ville Jeld, aber ’t schad’t nischt. Woll’n wir nich ’n Ojenblick mang die Linden jehn?“

„Weshalb?“

„Na, komm’n Sie man, man enen eenzijen Ojenblick.“

„Aber ich begreife nicht, lieber Haase – indeß, wenn Sie es so sehr gern wünschen - -“

Die beiden Künstler überschreiten die Straße und promeniren die Linden hinauf nach dem „alten Fritz“ zu. Kanin haben sie zehn bis zwanzig Schritte gemacht, so hält Haase den Hofschauspieler zurück.

„Was giebt’s?“ fragt dieser.

„Passen Sie auf!“ antwortet Haase und legt seine Hand auf die Schulter eines Exemplars jener Species humani generis, die man Berliner Gamins nennt, welches eben eifrig die Affichen an einer Litfaßsäule studirt.

Der Junge dreht sich mit einem zornigen: „Nanu, wat is ’u det?“ um und starrt den beiden Männern in’s Gesicht.

„Junge, kennst Du mir?“ fragt Haase.

Ohne sich eine Secunde nur zu besinnen, setzt der edle Gamin beide Hände mit ausgespreizten Fingern an seine Nase und schreit: „Ach, Knobbe, Knobbe! Ich soll Knobbe’n nich kennen?“ (,Knobbe’ heißt nämlich jener an habituellen Zahnschmerzen – gegen die er erfolglos zwar, aber trotzdem nicht minder eifrig und unausgesetzt, gebrannte Wässer innerlich anwendet – leidende Schlossergesell in der bekannten Posse ,die Maschinenbauer’, dessen Figur eben Rudolph Haase’s Verkörperung auf der Bühne zu einer Berliner Originaltype geschaffen hat.)

„Da, Junge, hast’n Silberjroschen!“

„Seh’n Sie, Herr College,“ wendet sich jetzt der komische Mensch Rudolph Haase zu dem großen Künstler Theodor Döring, „Sie haben Recht, Popularität is für ’n Künstler die Hauptsache. Wir sind Beide populär – ich bin populär für’n Silberjroschen und Sie sind populär für zwee Dahler! Na, lassen Sie sich die Melone gut schmecken! Adieu!“

Theodor Döring, behauptet die Medisance, soll zu dieser Melone furchtbar viel Zucker verbraucht, dennoch aber ihr Fleisch bitter gefunden haben. C. F.




Deutscher Einfluß in Amerika. Die Deutschen in den Vereinigten Staaten von Amerika sind eine Macht geworden. Ihre Stimme ist in allen bedeutenden Fragen von großem Gewicht und zuweilen entscheidend. In allen westlichen Staaten, namentlich aber im Staate Missouri, wird ohne die Zustimmung der Deutschen keine Maßregel von Bedeutung angenommen. Und selbst in denjenigen Staaten, in denen bisher die Irländer die herrschende Partei waren, kommen die Deutschen täglich mehr zur Geltung. Es war ein Deutscher – Hermann Raster – der es in Chicago kürzlich durchsetzte, daß die republikanische Partei den Grundsatz annahm, daß die Vereinigten Staaten nicht nur dem Wortlaut, sondern auch dem Geiste der die Vereinigten-Staaten-Obligationen creirenden Gesetze genügen, d. h. diese Obligationen, wenn sie fällig werden, in Geld zurückzahlen müssen. Ein Deutscher – Karl Schurz – war der vorläufige Präsident der betreffenden Convention. Im Staate New-York ist die für die deutschen Auswanderer so überaus wichtige Auswanderungscommission, in der früher nur Irländer regierten, von einem einflußreichen Deutschen – Friedrich Kapp – einem Mann, auf den die Deutschen mit Stolz hinweisen können, für die Interessen der Deutschen gewonnen worden. Mächtige deutsche Institute erstehen überall. Eine deutsche Sparbank, eine deutsche Feuerversicherungs-Gesellschaft und eine deutsche Lebensversicherungs-Gesellschaft nehmen unter ähnlichen Anstalten New Yorks den ersten Rang ein. Namentlich hat sich die Lebensversicherungs Gesellschaft Germania zu New-York unter der Leitung des aus dem Jahre 1848 bekannten früheren Parlaments-Abgeordneten Wesendonck eines blühenden Aufschwunges zu erfreuen, und man wird daher dort mit Freuden vernehmen, daß diese Gesellschaft nunmehr auch in den meisten Staaten Deutschlands concessionirt ist. Die Deutsche Gesellschaft zu New York hat ein Wechsel- und Passagegeschäft etablirt, welches den deutschen Einwanderer, der kleinere Summen nach Deutschland zu senden hat oder seine Freunde nach den Vereinigten Staaten kommen lassen will, von den Blutsaugern befreien wird, die den Auswanderer bisher ausbeuteten. Das deutsche Hospital naht seiner Vollendung und bietet einen neuen Beweis, wie unter den größten Schwierigkeiten ein gutes Unternehmen dennoch durchgeführt werden kann, wenn es mit Energie angegriffen wird. Kurz, es ist erfreulich, zu bemerken, daß der deutsche Name hier täglich mehr zur Geltung gelangt, und auch im Congreß, sowie unter den Vertretern der Vereinigten Staaten im Auslande werden die Deutschen in kurzer Frist Namen haben, die uns berechtigen, stolz darauf zu sein, daß das deutsche Vaterland überall ist, wo die deutsche Zunge klingt. Viator.




Das Lutherdenkmal in Worms, dessen Enthüllung (s. Abbildung) vor wenigen Tagen stattgefunden hat, gehört unstreitig wie zu den bedeutendsten, so auch zu den umfänglichsten Sculpturwerken aller Zeiten. Ueber die Einweihung des Monumentes selbst werden wir in der nächsten Nummer unseres Blattes aus der Feder unseres Specialcorrespondenten, Arthur Müller’s, des bekannten freisinnigen Dramatikers, eine eingehende Schilderung bringen.




Zur gefälligen Beachtung!

Den Abonnenten der Wochenausgabe unsers Blattes, die erst mit dieser Nummer zugetreten sind, machen wir die Anzeige, daß sie die beiden Nummern, welche die ersten Abschnitte der eben laufenden Novelle von Louise Mühlbach Prinz oder Schlossergeselle enthalten, durch jede Buchhandlung zu dem Preise von 5 Ngr. beziehen können. Die Verlagshandlung


  1. Die Treue und Lebendigkeit des obigen Artikels hat den bekannten Schlachtenmaler Ch. Sell in Düsseldorf, dessen großes Oelbild der Schlacht von Königgrätz den ersten Preis davon trug, nicht nur bewogen die beigegebene Illustration für die Gartenlaube zu zeichnen, sondern der Darstellung auch das Motiv zu einem umfänglichen Oelgemälde zu entnehmen, mit dessen Ausführung er in diesem Augenblicke noch beschäftigt ist.
    D. Red.
  2. S. Jahrg. 1863, Nr. 5.