Ein wahres deutsches Nationalfest

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Autor: Arthur Müller
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Titel: Ein wahres deutsches Nationalfest, gefeiert zu Worms am 24., 25. und 26. Juni 1868
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aus: Die Gartenlaube, Heft 29, S. 459–462
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ein wahres deutsches Nationalfest,

gefeiert zu Worms am 24., 25. und 26. Juni 1868.
Von Arthur Müller.

Jedes Jahr, wenn die Sonne in ihrem Laufe auf dem Höhenpunkte angelangt war, wenn der Wald in seinem saftigsten Grün stand, die Flur ihren üppigsten Blüthenschmuck angelegt hatte und die wogenden Felder einer hoffnungsreichen Ernte entgegenreiften, feierten unsere Altvordern das Sommersonnenwendfest, indem sie dem Gott des Lichts zu Ehren auf allen Bergen unseres Vaterlandes weithin leuchtende Feuer, die Sonnenwendfeuer, anzündeten. Unsere Ahnen liebten das Licht, das goldene, freudige, herrliche Licht!

Aber es giebt nicht blos Sonnenwenden, die sich nach den ewigen Gesetzen des Planetenlaufs regeln. Es giebt auch Sonnenwenden in dem Leben und Schicksale der Nationen. Solch’ eine Zeit der Sonnenwende für unser Volk war es, als Luther von Papst und Kaiser die Freiheit des Geistes für unsere Nation zurückforderte, und eine hocherhabene Sonnenwendfeier war es, als am 25. Juni 1526 auf dem Reichstage zu Speier die lutherischen Stände des Reichs unter dem Zuruf alles Volks ihren Protest einlegten gegen jede Vergewaltigung ihres Glaubens und Gewissens. Eine verhängnißvolle Sonnenwende war es ferner, als in den Junitagen 1815 das deutsche Volk auf den niederländischen Schlachtgefilden von dem fremden Tyrannen die Freiheit endgültig sich zurück erkämpfte. Unsere Väter wissen noch von ihrer Feier zu erzählen. Die letzte und folgenschwerste Sonnenwende in dem Leben unserer Nation aber haben wir alle selbst mit erlebt in jenen schlachtgewittertobenden Junitagen des Jahres 1866, aus deren wildem Sturm und Drange die zwiegespaltene deutsche Nation sich näher zur Einheit hinüberrettete. Das Nationalfest zu Worms ist die jüngste Feier der Sonnenwende, und unsere ganze Nation hat Amen dazu gesagt. Zwar wurden dem Gotte des Lichts keine wirklichen Feuer angezündet, dafür aber loderten sie in den Herzen des deutschen Volks auf mit einem Flammenschein, der nicht vergehen wird bis an’s Ende der Welt.

Schon am Abend des 23. Juni war unter viel tausend Festgästen auch ich unter Donner und Blitz in Worms eingerückt. Unter Donner und Blitz, als wollte Gott der Herr selbst in der Sprache, die er redet, dem bevorstehenden Feste seine Nähe, seine Gnade und seinen Segen vorher verkünden.

Worms, welche Erinnerungen knüpfen sich an diesen Namen! Sage und Poesie vereinigen sich, ihn mit einem Glorienschein der goldensten Strahlen zu umweben, und in der Geschichte unseres Volkes steht er auf vielen Seilen mit unvergänglichen Lettern eingeschrieben. Die Treue, der heiligste Zug des deutschen Volkscharakters, ist es, die diese „wünnesame“ Stadt vor allen Städten Deutschlands verklärt hat. Die Treue, die Mannentreue ist das Band, welches die Gesänge des Nibelungenliedes zu einem Ganzen zusammenschließt, so herrlich, wie es nur noch einmal die Dichtung der Griechen der Menschheit geboten hat. Die Treue, die Treue zu ihren Kaisern in dem wilden, Jahrhunderte langen Kampfgewühl des Streites, welchen diese mit den Päpsten um die Herrschaft der Welt führten, ist es, die ihr zu ewigem Lob und Ruhm die Devise eingebracht hat:

„Worms, in Treue sonder Wank,
Aller Städte Preis und Dank,“

Die Treue, die Treue zu Gott endlich war es, die hier zu Worms ihren mächtigsten Ausdruck in dem Worte Luther’s gefunden hat, welches ebenfalls wie Blitz und Donner in die Herzen der Menschheit eingeschlagen hat, das hohe Wort: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen!“

Es ist doppelt und dreifach geweihter Boden, den wir treten!

Und wie sie sich rührte und regte, die wackere Bevölkerung von Worms, um die letzte Hand an den Festschmuck ihrer Stadt zu legen! Kränze, Guirlanden, ganze Alleen von jungen Bäumen, Flaggenmaste, bunte Ballons, sinnige Sprüche, in Nahmen von Kränzen an Laubgewinden aufgehangen, und Fahnen, Fahnen nicht zu zählen, darunter aller Welt zum Staunen am zahlreichsten und hervorragendsten vertreten schwarz-weiß-roth, die Fahne des norddeutschen Bundes! „Quod felix faustumque sit!!“ (Was Glück bedeuten möge!) dachte ich bei mir, und gleich bei meinem Eintritt wurde es mir zur freudigsten Gewißheit, daß das Fest der Enthüllung des großen Luthermonumentes, welches die Gartenlaube in Nr. 27[WS 1] ihren Lesern in gelungenem Bilde vorgeführt hat, eine weit tiefere und umfangreichere Bedeutung gewinnen würde, als es anfangs den Anschein hatte.

Denn schon lange vorher hatte sich das Gerücht verbreitet, daß die streng kirchliche Partei in der lutherischen Kirche Alles daran setzen wolle, die Leitung des ganzen Festes in ihrem Sinne in der Hand zu behalten. Unterstützt wurde dieses Gerücht noch durch den Umstand, daß das Festcomité in der That für die verschiedenen Redefeierlichkeiten ausschließlich Persönlichkeiten gewählt hatte, deren exclusiv orthodoxe Stellung über jeden Zweifel erhaben war. Zu gleicher Zeit theilte man sich mit, daß die betreffenden Herren sogar die bei dem Festbanket auszubringenden Toaste schon längst unter sich vertheilt mit einer Engherzigkeit, die sogar dem Heidelberger [ADB:Schenkel, Daniel|Schenkel]], welcher sich zu einer Banketrede angemeldet, die Erlaubniß dazu versagt habe. Wie viel an diesen Gerüchten authentisch war, mag füglich dahingestellt bleiben. Nur so viel steht fest, daß, wenn die Herren wirklich diesen Plan hatten, sie damit gründlich in’s Wasser gefallen sind. Denn der gesunde Sinn des in Worms versammelten Volkes nahm gleich von vornherein die Führung und behielt sie auch, der Feier das Gepräge echt deutsch-nationalen Geistes aufdrückend, bis an’s Ende.

Und was war dies für ein Fest! Noch jetzt, indem ich dieses niederschreibe, treten mir in der Erinnerung daran – ich kann und will sie nicht zurückhalten – die Thränen in die Augen. Bei aller Begeisterung welches Maß, bei allem Jubel welche Reife, bei aller Berührung so vieler Gegensätze welcher Friede, bei aller Verschiedenheit der Bekenntnißformen welche Liebe, bei aller Bewegung welche Ruhe, bei allen Handlungen welche Weihe! Kein einziger Mißton, so gewaltige Dimensionen das Fest auch annahm! Ein Zusammenklingen und Zusammenrauschen der Herzen und Geister, wie es in so imposanter Majestät vielleicht noch bei keinem Fest, so lange die Erde steht, erlebt worden!

Erwarten Sie von nur keine chronistische Behandlung der ganzen großen, herzerhebenden nationalen Feier. Denn einmal würde, da die Gartenlaube nur wöchentlich erscheint und fast Monatsfrist für Druckherstellung jeder Nummer braucht, meine Beschreibung von den täglich erscheinenden Blättern schon längst überholt sein. Dann aber läßt sich aus dem Zusammenstellen des Nacheinander und Nebeneinander doch niemals das eigentliche Wesen eines Ereignisses, sein gewissermaßen organischer Charakter zur unmittelbaren Anschauung und Empfindung bringen. Auch von der Beschreibung und ästhetischen Würdigung des Denkmals nehme ich geflissentlich Abstand, denn es ist eine alte Erfahrung, daß der sinnliche Eindruck eines Bildes für das Verständniß eines Kunstwerks viel mehr leistet, als der durch das Wort vermittelte. Für die Gartenlaube kann es sich nur um das Festhalten lebensvoller, bleibender, individueller, dem Organismus des Festes selbst entwachsener Züge handeln, die ihre Leser den Geist und den Herzschlag, welche das Fest bewegten, doch wenigstens annähernd mit durchleben und nachempfinden lassen.

Daß das Fest nicht den Charakter eines gemachten, sondern eines sich wirklich und lebendig aus dem tiefsten, inneren Kern deutscher Volksthümlichkeit entwickelnden gewann, ist wohl zumeist dem Auftreten Schenkel’s am Abende der Vorfeier in der Festhalle zu verdanken. An seinem Erfolge, an der jauchzenden Zustimmung des massenhaft versammelten Festpublicums zu der durchaus freisinnigen Auffassung des zu feiernden Ereignisses, wie sie der begeisterte und begeisternde Redner niederlegte, konnte die Partei der Dunkelmänner gleich von vornherein die eng gesteckten Grenzen ermessen für ihre Hoffnung, auf den Gang des Festes maßgebend und führend einzuwirken. Ich hatte an dem Nachmittage desselben Tages den Superintendenten Gerock aus Stuttgart in der Dreifaltigkeitskirche predigen gehört. Man hatte mir diesen Geistlichen als denjenigen bezeichnet, der unter allen von dem leitenden Festausschuß designirten Festpredigern trotz des positiven Standpunktes, [460] den er einnähme, noch immer der freisinnigste wäre. Ließ sich nun auch nicht leugnen, daß seine Rede einige wirklich kraftvolle und schöne Stellen enthielt und auch hier und da des Schwunges nicht entbehrte, so war für mich der Eindruck im Ganzen doch nur der, daß, wenn die Rede des Herrn Gerock den Grundton für den weiteren Gang der Feier angeben sollte, der Verlauf derselben nur ein sehr lahmer geworden sein würde. Es war eine Rede, die so zu sagen mit der einen Hand wieder zurücknahm, was sie mit der anderen soeben erst gegeben hatte. Stellte er zuerst als einen Hauptgewinn der Reformation die freie Forschung dar, so legte er gleich darauf den wichtigsten Accent auf den Glauben. Wies er an einer anderen Stelle darauf hin, wie durch Luther’s kühne That der Geist der Menschen wieder frei geworden sei, so wollte er ihn doch später wieder durch das Wort gefesselt wissen. Auf diese Weise schmeckte die Rede stark nach dem Versuch zu einem Compromiß zwischen der orthodoxen und der freisinnigen Richtung und befriedigte dadurch selbstverständlich weder nach der einen, noch nach der anderen Seite.

Anders bei Schenkel am Abend in der Festhalle! Zwei Redner hatten bereits gesprochen, Dr. Eich im Namen des Festausschusses die Gäste willkommen geheißen, Professor Schlottmann von der Universität Halle-Wittenberg einen Festgruß überbracht, da trat ein kleines, unscheinbares Männchen auf das Orchester und bat um Gehör. „Das ist Schenkel! Der Heidelberger Schenkel! Der Schenkel, der das Leben Jesu geschrieben hat!“ ging es wie ein Lauffeuer durch das Publicum, und Alles drängte sich, um den Redner zu hören, von dem man wußte, daß er den Zionswächtern ein Dorn im Auge sei. Und siehe da! Schon nach einigen Worten brannte es lichterloh in den Herzen und aus den Augen seiner Zuhörer, und nicht enden wollender Jubel unterbrach fast jeden einzelnen Satz der gedankenfreiheitsflammenden Rede. Wohl versuchten es Einige von den Schwärzesten der Schwarzen, ihn zum Schweigen zu bringen. Vergebens! Ein Satz vor Allem war es, der feuersprühend in die Herzen seiner Zuhörer fuhr. „Wenn Luther jetzt wiederkäme,“ rief er mit weithinschallender Stimme, „dann würde er sagen: ‚damals war ich ein Kind, jetzt bin ich ein Mann!’ Und mit der Fahne der Geistesfreiheit in der Hand würde er seinen Weg gehen bis an’s Ende!“ Mit diesem Worte war sein Sieg entschieden, dem Strom des Festes seine Bahn gewiesen, den Finsterlingen ihre Ohnmacht der dominirenden Festesstimmung gegenüber klar gemacht. Von dieser Rede an verschwinden sie fast gänzlich aus der Geschichte dieses Festes.

Von welchem Geiste der Versöhnung und Humanität übrigens in diesen Tagen die allgemeine Stimmung aller nur irgendwie durch die Feier Berührten getragen war, leuchtet wohl am unwidersprechlichsten und unzweideutigsten aus der Theilnahme hervor, welche die Juden von Worms bei jeder sich ihnen bietenden Gelegenheit an den Tag legten. Sie feierten mit dem Feste unserer Erlösung von Tyrannei und Knechtschaft das ihrer eigenen Befreiung, und es war ein Anblick, der Vielen zu denken geben konnte, wenn jüdische Familien die christlichen Priester, welche bei ihnen als Festgäste einquartiert waren, durch die Straßen von Worms führten, um ihnen die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen. – Als ich an dem Morgen des Hauptfesttages ausging, um mir noch einmal den herzerhebenden Anblick der festgeschmückten Stadt recht tief in’s Gedächtniß zu prägen, da fiel mir auf der Hauptstraße ein prächtig decorirtes Haus auf, weniger wegen des Schmuckes selbst, als wegen des Sinnspruches, welchen es auf den oberen Scheiben der sechs Fenster seiner Front im Erdgeschoß in fußlangen Buchstaben, Weiß auf Schwarz, zur Schau trug. „Wir glauben All’ an Einen Gott!“ stand da geschrieben, und als Illustration dazu schaute ein Jude mit seinem Töchterchen aus einem der Fenster heraus, das Gesicht des Vaters von heller Festfreude strahlend und das Kind jauchzend hinausgreifend nach all’ dem bunten Schmuck und den im Morgenwind auf- und niederwehenden Flaggen und Fahnen. Wäre ich ein Maler gewesen, ich hätte dieses Bild gemalt, so tief ergriffen war ich von der Scene. Wir glauben All’ an Einen Gott! Ja gewiß! – Wie? – Das sei Jedem überlassen! – Von uns soll Keiner mehr seines Glaubens wegen verflucht und verfolgt werden.

Meinen Weg fortsetzend, gelangte ich endlich auch auf die Judengasse und zu der Synagoge. Der freundliche Schließer lud mich ein, näher zu treten und das Innere derselben zu besichtigen.

Es war für mich kein Grund vorhanden, diese Einladung auszuschlagen, und so vertraute ich mich denn seiner Führung an. Freilich für das Auge war da wenig genug zu sehen; aber die frommen Sagen, die er in einfacher Beredsamkeit als an diesen Tempel sich knüpfend mir mittheilte, konnten nicht umhin, meine Aufmerksamkeit und Theilnahme zu fesseln. Mit Stolz erzählte er mir, daß die Wormser Judengemeinde die älteste in Deutschland sei, und zeigte mir die Mauerreste einer Synagoge, die schon fünf Jahrhunderte vor der Geburt Jesu erbaut worden sein soll.

Er berührte die bekannte Legende, nach welcher die Judenschaft von Worms gegen die Kreuzigung Jesu bei dem hohen Rathe zu Jerusalem Protest eingelegt habe. Er zeigte mir die alten vergriffenen und verbräunten Pergamentbände, die, lange vor der Erfindung der Buchdruckerkunst geschrieben, noch heute so wie damals bei dem Gottesdienst benutzt würden. Er hob den Deckel von einer vor der Bundeslade hängenden Ampel, die, wie er mir versicherte, schon sieben Jahrhunderte zum Gedächtnisse von zwei Unbekannten brannte, welche, als die Wormser Judenschaft im zwölften Jahrhundert der Brunnenvergiftung und des Kindermordes angeklagt und in Gefahr war, niedergemetzelt und gänzlich ausgerottet zu werden, sich als die Thäter angegeben und so für die jüdische Gemeinde geopfert hätten. Ich gestehe, es wehte mich aus diesen Erzählungen an wie der Zauber, der über Heine’s „Rabbi von Bacharach“ ausgebreitet liegt, und gern und lange hörte ich meinem Cicerone zu. Dabei drängte sich mir von selbst der Vergleich auf zwischen jenen finstern Zeiten, aus welchen diese Sagen herübertönten, und der lichtvollen Gegenwart, die eben jetzt durch ein Fest ohne Gleichen den Gewinnst an Liebe und Humanität, welchen die Menschheit seit Luther’s Auftreten nach allen Seiten hin eingeheimst hat, feierlich zu bestätigen und seiner sich zu freuen im Begriff war. Bewegt in meinem tiefsten Herzen, nahm ich Abschied von meinem Führer. „Gott, was ein Himmel!“ sagte er, als wir wieder in’s Freie getreten waren, mit einem Blicke nach oben, darauf anspielend, daß das Wetter des vorhergehenden Tages das Fest ernstlich zu stören gedroht hatte. „Ach, wie gut! wie gut! Gottes Segen ist mit diesem Feste! Gottes sichtbarer Segens! Gottes Segen sei auch mit Ihnen! Ein fröhliches Fest! Ein fröhliches Fest!“ Dabei stand dem Mann das Wasser in den Augen. Ich gab ihm die Hand und wandte mich, meine eigene Rührung zu verbergen, schnell zum Gehen. Und in der That, schon jetzt war ein überströmendes Gefühl des Segens über mich gekommen, des Segens, aus dem hohen, heiligen Geiste sich ergießend, dem zu Ehren das heutige Fest gefeiert ward.

Mit Uebergehung alles sonstigen Festbeiwerks, wie des Festzuges und der eigentlichen Festreden, die im vollkommenen Gegensatze zu Luther’s kraftvoll-oratorischer Regel: „Tritt stark auf! Thu’s Maul auf! Hör’ bald auf!“ – die Rede des Herrn Oppermann aus Zittau, des Biographen Rietschel’s, ausgenommen – durch Breite ersetzen zu wollen schienen, was ihnen an Tiefe abging, gelange ich nunmehr zu dem eigentlichen Gipfelpunkte des Festes, der Enthüllung des Lutherdenkmals.

Wo aber nehme ich Worte her, um die Wucht und Gewalt dieses Augenblickes zu schildern?! – Höchster Erschütterung gegenüber ist alles Reden doch nur Stammeln.

Machen wir uns noch einmal in kurzen Zügen die Situation klar!

Vor dreihundertsiebenundvierzig Jahren war ein einfaches Mönchlein, der Sohn eines armen Bergmanns aus Thüringen, in Worms eingezogen, um vor Kaiser und Reich mit einem reineren Christenthum die geschwundene Treue und das verlorene Gewissen des deutschen Volkes von einem Klerus zurückzufordern, der in Sünden und Lastern die heiligsten Schätze unserer Nation vergeudet und verpraßt hatte. Damals mußte es flüchten bei Nacht und Nebel. Heute hat dasselbe Mönchlein die deutschen Fürsten und Völker zu einem Reichstage geladen, den er selbst ausgeschrieben, und sie haben seinem Rufe gehorcht.

Damals lag der Fluch der katholischen Kirche auf seinem Haupt, wie auch noch heute. Heut’ aber gilt er dem deutschen Volke als ein Prophet, wie es einen größeren aus seinem Schooße noch nicht geboren hat.

Damals hatte die Reichsacht seinen Leib den Hunden und den Vögeln unter dem Himmel zugesprochen. Heute hat die deutsche Nation sein Bild in Erz verewigt.

Damals war unser armes Volk von einem grauenhaften [461] Priesterthum wie von einem Lindwurm umrungen, und wenn es sich regte, spritzte sein bestes Herzblut noch unter den sich zusammenziehenden Ringen, die das Ungeheuer um dasselbe geschlungen. Heute zittert der Lindwurm, von der siegenden Masse des neuen Siegfried’s getroffen, in schwachen Zuckungen sein letztes Leben aus, trotz aller päpstlichen Allocutionen, bischöflichen Hirtenbriefe und ökumenischen Concile.

Damals hielt der Ultramontanismus seine Hand noch über die Welt. Heut’ hat er aufgehört endgültig über die Schicksale der Völker zu entscheiden. Damals saß ein rechtgläubiger Kaiser, der rechtgläubigsten einer, auf dem Herrscherthrone des deutschen Volks. Heut’ ist es ein Ketzer, mit seinem Haus und seinem Volk noch immer von der katholischen Kirche verflucht, der zum Haupt der deutschen Nation emporgewachsen ist und ihre Schicksale verwaltet.

Tausende und Abertausende erfüllen den Festplatz, die Herzen offen für die Dinge, die da kommen sollen, und von der Ahnung eines herannahenden Augenblicks erfüllt, den so groß und gewaltig Nationen oft in Jahrhunderten nicht erleben. Die mächtigsten Fürsten Deutschlands sind erschienen, – an ihrer Spitze der natürliche Schirmherr deutscher Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Einiger des Reiches – um dem Geist und der That des Bergmannssohnes zu huldigen, zum Zeugniß dafür, daß es noch gewaltigere Dinge giebt in der Welt, als irdische Größe, Macht und Herrlichkeit.

Da weht in der Hand eines Mannes ein weißes Tuch in der Luft. Kanonen donnern, Glockengeläut mischt seinen Schall hinein. Posaunen klingen und aus tausend und aber tausend Kehlen braust es empor, das hohe, heilige Lied, der Schlachtgesang des freien deutschen Geistes, das Lied: „Ein’ feste Burg ist unser Gott.“ Die Hüllen um das Denkmal sinken nieder, allmählich, es ist als ob die mächtige Gestalt Luther’s hinein in den blauen, [462] sonnigen Himmel wachsen wollte! Endlich liegt es da, frei, vor jedem Blick, das ganze Denkmal,[1] ein Denkmal Luther’s, ein Denkmal der Reformation, eine Trophäe, die das deutsche Volk sich errungen in seinem Jahrhunderte langen Kampfe um die heiligsten Güter der Menschheit, ein Siegeszeichen der Freiheit und der Wahrheit, der Liebe und des Glaubens, und vor Allem der ewigen Hoffnung des deutschen Volks, der Hoffnung, die es durch alle Kämpfe getragen hat und weiter tragen wird, der Hoffnung, daß es der Geist ist, und nur der Geist allein, der überwindet!

Als wäre mir ein ungeheurer Schmerz geschehen, so stand ich da bei diesem Anblick. Fassungslos rang ich nach Athem, die Thränen stürzten mir aus den Augen, die Worte versagten mir. Und doch war es nur die ungeheure Erschütterung der Freude, des Jubels, des Entzückens, die über meine überwältigte Seele hereinstürmten. Und wohin ich sah, Gesichter bleich vor tiefinnerster Erregung, Thränen in Aller Augen, sprachloses Entzücken.

Wie die Hülle fiel, wurde es mir auf einmal klar, warum Rietschel so früh gestorben ist. Solche Gedanken, wie dieses Denkmal, denkt ungestraft kein Sterblicher. Die Göttlichkeit derselben sprengt die irdische Hülle, die Ströme der Begeisterung, die einem solchen Schaffen entquellen, reißen die Seele fort und tragen sie weiter, immer weiter, widerstandslos, in’s Meer der Ewigkeit! Aber es muß ein seliges Sterben sein, an der Größe und Herrlichkeit seiner eigenen Gedanken zu sterben! Ein Künstlersterben!

Lassen Sie mich hier abbrechen! Es verschwindet doch Alles, was das Fest noch brachte, neben dem Eindruck dieses Moments.

Nach der Sonnenwende pflegt die Zeit der Ernte herbeizukommen. Möge die Ernte, welche diesem Sonnenwendfeste folgt, der Feier selbst entsprechen: dann wird unser Volk auf Jahrhunderte hinaus gesegnet sein!



  1. Bekanntlich ist der Guß des Monumentes – wie wir in Nr. 27 des letzten Jahrganges unseres Blattes, wo wir auch die einzelnen Gruppen und Figuren des Denkmals beschrieben und erläutert haben, bereits ausführlich erzählt – aus den großartigen Werkstätten der Gräflich Einsiedel’schen Hütten von Lauchhammer in der preußischen Provinz Sachsen hervorgegangen, denen somit auch kein unwesentlicher Theil der Ehren des großen Tages gebührt.
    Die Redaction.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Nr. 28