Die Gartenlaube (1867)/Heft 41
Franzi hatte indessen angefangen, in den verschiedenen Zechstuben das Versäumte nachzuholen; sie bediente und räumte ab, und bald war nicht zu verkennen, was eine gewandte sichere Hand auch in kurzer Zeit vermag. In dem Cabinet, in welchem Meister Staudinger noch immer schlafend lehnte, war es dunkel geworden; das Unschlittlicht qualmte erlöschend auf, durch die Fensterscheiben aber quoll das Mondlicht herein, daß sie glitzerten und auf dem Boden widerschienen. So fest der Schlaf des Meisters war, schien er doch nicht ruhig zu sein, denn er regte sich manchmal schwerfällig, als liege er unter einer Last, die er abzuwälzen nicht vermöge, und unverständliche Worte kamen von den heißen Lippen. Franzi nahm die ausgebrannte Kerze hinweg, sie durch eine neue zu ersetzen; über der Bewegung oder von dem helleren Lichtschein erwachte der Schläfer – sein erster Blick fiel auf das Mädchen, er machte eine Bewegung, als wolle er erschrocken aufspringen, aber er vermochte es nicht und fiel schwer in seine erste Stellung zurück. Die Augen aber standen weit offen und hingen mit dem starren Ausdruck des Schreckens an Franzi, während der Mund sich lange vergeblich bemühte, ein Wort hervorzubringen. „Weg … weg mit Dir!“ stößt er endlich mit Anstrengung hervor. „Ich kann das Gesicht nicht seh’n … thut mir das Gesicht weg … ich kann’s nicht, ich will nichts wissen davon! Die Augen stechen mich … sie bohren mir mitten durch die Brust …“
Franzi hob verwundert das Licht empor und leuchtete ihm fest in’s Gesicht; der traumhaft verworrene Zustand, in dem er sich befand, verschwand darüber und er blickte das Mädchen mit geringschätziger Miene an, aus welcher unverhohlen der alte Groll hervorbrach. „Was thut Sie hier? Was will Sie?“ fuhr er sie an. „Ist das eine Art, die Leut’ so ihm Schlaf zu erschrecken?“
„Ich, glaub’, es träumt Ihnen noch,“ erwiderte sie, seinen Blicke fest aushaltend. „Ich hab’ Sie nit erschreckt, Herr … aber wenn Sie vor einem ruhigen Menschen und vor einem einfachen Licht so erschrecken, müssen Sie mit sich selber abraiten (rechnen), nit mit mir. …“
Sie trat an’s Fenster, wie allabendlich die äußeren Läden zu schließen; dem Meister war es unheimlich geworden, er ging in die große Stube, wo es noch Gesellschaft gab. „Was das nur gewesen sein muß!“ murmelte er in sich hinein, während es ihm wie fröstelnd über den Rücken lief. „Ich wollte darauf schwören, daß ich hellauf wach gewesen bin und sie so deutlich vor mir gesehen habe, als wie am lichten Tag. …“
Im Begriffe, das Fenster wieder zu schließen, hielt Franzi inne. „Da ist jetzt das Ding wieder vorbei gehuscht,“ flüsterte sie, „was soll das nur bedeuten? … Da schleicht was am Haus unter den Fenstern hin …“ Sie verstummte und hielt den Athem an, denn der Mond, der eben aus einem starken Gewölke hervorzubrechen begann, ließ sie ein paar Männergestalten erkennen, welche in dunklen Gewändern, die Gesichter unter großen Hüten verbergend, sich am Gemäuer niederduckten und mit einander zu flüstern begannen. „Drinnen ist er nicht,“ sagte der Eine, „ich habe vom Fenster aus die ganze Zechstube übersehen können.“
„Und hast Du auch gehörig aufgepaßt?“ fragte der Andere. „Vielleicht hast Du ihn nicht gesehen oder nicht erkannt …“
„Lehr’ Du mich den Aichbauern kennen,“ begann der Erste wieder,“ „im Haus ist er nicht, darauf kannst Du schwören. … Aber er wird wohl noch kommen und soll uns nicht entwischen. … Da schau,“ unterbrach er sich und zeigte gegen den Eingang, „was kommt da daher? Er ist’s – das ist unser Mann … geschwind, daß wir ihn nit verfehlen!“
Die Männer verschwanden; Franzi brachen fast die Kniee bei dem, was sie gehört, aber die Anwandlung ging rasch vorüber, denn es war ihr klar, daß Sixt, dem Jugendfreunde, etwas Außergewöhnliches bevorstand, daß ihn vielleicht eine schwere Gefahr bedrohte … sie konnte nicht unthätig bleiben und zusehen, und war er auch in grollendem Unfrieden von ihr gegangen, sie mußte ihn warnen, mußte, wenn das nicht mehr möglich war, wenigstens in der Nähe sein, für ihn zu wirken, ihm zu helfen, wie sie es vermochte. Geflügelten Schritts eilte sie durch die große Stube über die Hausflur, die Eingangsstufen hinab, aber – sie kam bereits zu spät: der Aichbauer war den beiden Vermummten schon begegnet und mit denselben in offenbar wichtiger, aber auch gefahrloser Unterredung begriffen.
„Geh’n wir etwas bei Seite,“ sagte Sixt, „damit uns Niemand belauscht …“ Die Männer traten näher in das Haus und Franzi, wenn sie nicht gesehen sein wollte, blieb nichts übrig, als hinter den Stufen in der Ecke nieder zu kauern.
Wurde das Gespräch auch noch so leise geführt, kein Wort konnte ihr entgehen.
„Es ist nit anders,“ sagte der Eine, „und Du mußt schon schauen, wie Du Dich darein findest! Du weißt, der alte Grundner ist gestorben …“
„Ich hab’ davon gehört …“ entgegnete der Aicher.
[642] „Du weißt auch, daß er Habermeister gewesen, ist und daß der Habermeister das Recht hat, vor sein’ Tod den zu bestimmen, der nach ihm kommen und Habermeister sein soll…“
„Das weiß ich wohl – aber was hab’ ich damit zu schaffen?“
„Frag’ nit so überzwerch! Bist nit ein Haberer, so gut wie wir Zwei, und willst Dich g’stelln, als wenn Du uns nit versteh’n thätst? Der alte Grundner schickt uns zu Dir…“
„Zu mir? Ich soll …“
Du und kein anderer Mensch sollst jetzt Habermeister sein. … Wie’s zum Sterben ’gangen ist, hat der alte Grundner uns Zwei und die vier andern Alten rufen lassen, die miteinander das Habergericht ausmachen, und hat uns gesagt, er wüßt’ kein Bessern und Richtigern, der nach ihm kommen sollt’, als den Aicher – Sixt von Aich – wir haben’s ihm in die sterbende Hand versprechen müssen, daß wir zu Dir geh’n und Dir die Botschaft bringen wollen, und wie wir das gethan gehabt haben, ist er ruhig ’worden, hat sich zurückgelegt und ist bald darauf gottselig verschieden. Wir aber haben Dich jetzt aufg’sucht…“
„Nein, nein!“ rief Sixt abwehrend, „dazu taug’ ich nit … dazu bin ich viel zu jung!“
„Das geht uns nichts an,“ sagte der Haberer, „der Meister hat das Recht, seinen Nachmann zu wählen, und sonst Niemand – Dich hat er gewählt, also bist Du der Habermeister und kein Mensch kann was dagegen haben, wenn Du Dir’s recht überlegst! Mach’ nit viel Umständ’, Aicher – der Haber ist abgeräumt überall, der Wind geht schon über die Stoppeln von der Leizach und von der Mangfall her … es ist Zeit, daß das Treiben ang’sagt wird… Also sag’ Ja und nimm den Stab in Empfang!“
„Was für ein’ Stab?“
„Wie Du redst und thust! Was sonst für einen, als den der Habermeister führt und der das Abzeichen ist von sein’ Amt, so lang als das Habergericht besteht? Der Kaiser Karl hat ihn dem ersten Habermeister selber gegeben und seitdem hat er sich heilig fortgeerbt von Hand zu Hand…“
Der Mann zog unter dem Mantel den Stab hervor und bot ihn dem Aichbauer, der ihn wie mit einer Geberde des Schreckens zurückwies; es war ein unscheinbarer Stab von altem, schwarzgebräuntem Holze, dünn und lang, einem Scepter nicht unähnlich; der Griff war in Form einer Kugel geschnitzt, am obern Ende eine Hand mit empor gehobenen Schwurfingern angebracht.
„Laßt mich in Ruh, Ihr Männer,“ sagte Sixt fast ängstlich, „das kommt über mich, wie vom Himmel gefallen … ich muß mich erst besinnen…“
„Besinnen? Ob Du die größte Ehr’ annehmen sollst, die Dir zu Theil werden kann in Dein’ ganzen Leben? Bist Du nit auch ein Haberer und willst Dich besinnen, ob Du den alten Brauch, das alte Recht bewahren willst, auf das wir stolz sind, und das nur wir haben in unserm Gau?“
Nahende Schritte und Stimmen wurden hörbar.
„Es kommt wer,“ flüsterte Sixt, „macht, daß man Euch nicht sieht … aber bleibt in der Näh’ … ich sag’ Euch später noch Antwort…“
Die Haberer verschwanden im Dunkel, Sixt wandte sich der Treppe zu – als er sie betreten wollte, stand Franzi vor ihm.
Sie war in hohem Grade ergriffen und erregt; sie vermochte nicht zu sprechen und hob nur wie innig bittend die gefaltenen Hände zu ihm empor.
„Du bist da? Wie kommst Du daher?“ rief er sie unwillig an. „Du verlegst Dich ja überall auf’s Horchen, wie’s scheint…“
„Gott ist mein Zeug’,“ erwiderte sie hastig, „ich hab’ nit horchen wollen – ich kann wahrhaftig nichts dafür, daß ich die Zwiesprach mit ang’hört hab’, aber ich will glauben, mein Schutzengel hat’s gethan und hat mich hergeführt gerad’ zu der rechten Zeit…“
„Was willst von mir? Geh’ mir aus dem Weg Du – Heimliche! Ich verlang’ nichts zu wissen von Deine’ Geheimniss’ … was willst Du Dich mir aufdringen?“
„Aufdringen? Ich Dir? .. Ich will ja nur ein einzig’s Wort sagen, nur eine einzige Bitt’… Laß’ Dich nit bereden, Sixt … thu’ das nit, was sie von Dir begehren!“
„Und warum nit? Ist es etwan was Unrecht’s?“
„Verzeih’s mir’s Gott’, wenn ich’s nit begreif’ … aber ich kann mir nit helfen. Ja, ich halt’s für ein Unrecht, wenn Einer sich zum Richter aufwerfen will über die Andern – wir sind alle schwache Menschen! Sixt, laß Dich nit verführen von der Eitelkeit… Ich hab’ Dir’s ja heut’ schon gesagt, was ich von dem Haberfeld denk’…“
„Und Du kannst auch wissen, was ich davon denk’ … meine Gedanken sind so viel werth wie die Deinigen, warum sollt’ ich gerad’ Dir nachgeben?“
„Weil ich eine Ahnung hab’, daß’s zu kein’ guten End führt!“ rief Franzi mit immer dringenderem Tone. „Foder’ unsern Herrgott nit heraus … laß’ das Richten und Strafen ihm über. … Thu’s nit, Sixt … es ist Dein Unglück!“
„Und wenn’s so wär’, was kümmert’s Dich? Was ist Dir an mir gelegen, ich bin für Dich ein wildfremder Mensch!“
„Du sollst so ’was nit sagen, Sixt,“ sagte sie so recht innig, daß man dem Tone anhörte, wie tief er aus dem Herzen kam. „Du sollst es nit einmal denken – wenn Du auch nichts mehr wissen willst von mir, so werd’ ich doch nie vergessen, daß ich auf dem Aichhof eine Heimath g’funden hab’ und Vater und Mutter und …“ sie stockte etwas, „einen Bruder, der alleweil gut gewesen ist mir…“
„So beweis’ mir’s!“ rief der Aichbauer, ebenfalls etwas erwarmend. „Zeig’s, daß das Alles nit blos ein leeres Gered’ ist! Du bittest mich … ich hab’ Dich auch gebeten, ich will Dir nachgeben, will thun, was Du verlangst – aber Du mußt auch mein’ Bitt’ erfüllen…“
„Was für eine Bitt’?“ fragte sie unsicher.
„Hast es schon vergessen? daß Du wieder zurückkommen sollst auf den Aichhof und zu mir!“
Er hatte, ohne selbst zu wissen, wie es gekommen, ihre Hand ergriffen, sie erbebte vor der unerwarteten Berührung, wie vor dem Worte, das er gesprochen.
„Nun,“ sagte er gedehnt, „ist das so was Fürchterlich’s? Du erschrickst ja ordentlich!“
Sie nahm sich zusammen und zwang sich zu sprechen. „… Auf den Aichhof zurück? … Nein, das – das kann ich nit…“
„Kannst nit?“ rief der Bauer in Unmuth auflodernd. „So sag’ wenigstens warum. … „Du mußt mir’s sagen! Ich muß wissen, was in meinem Hof ist, was Du so scheust, als wär’ der Aichhof eine Räuberherberg oder sonst ein unrichtiges Haus…“
„Frag’ nit …“ stammelte das Mädchen und suchte sich von seiner Hand, die sie immer fester hielt, zu befreien, „und wenn Du mich fragen thätst bis zum jüngsten Tag … ich kann nit!“
„Und wenn ich Dich halten müßt’ bis auf den jüngsten Tag … jetzt muß, jetzt will ich’s wissen…“
Er schlang den Arm um die ängstlich sich Losringende. Im Augenblicke öffnete sich die Thür des Seitenzimmers, in welchem der Amtmann seine Abendmahlzeit eingenommen hatte; heller Lichtschein fiel in den dunklen Vorplatz und beleuchtete das Paar, das für die Heraustretenden wohl den Anschein haben mochte, als wäre es aus einer Umarmung aufgeschreckt worden. Es war der freiherrliche Amtmann, der sich, vom Wirthe ehrerbietigst begleitet, seine Gemahlin am Arm, eben in den Wagen begeben wollte.
„Sieh da,“ sagte er mit triumphirendem Hohne, „unser junger Zeichner und Volksredner von heut Nachmittag! Bedaure, wenn ich gestört habe… Der Aicher von Aich braucht sich seines Geschmacks nicht zu schämen… Was sagen Sie dazu, ma mie … wird nicht eine stattliche Bäurin werden aus dieser hübschen Kellnerin?“
„Das ist nit so, Herr Baron,“ rief Sixt, mit Zorn und Beschämung ringend, „die Franzi ist meine Ziehschwester und mit mir aufgewachsen … was wir Zwei miteinander zu verhandeln haben, ist ganz was Anderes und das ist auf alle Fälle gewiß – eine Kellnerin wird niemals Bäurin auf dem Aichhof!“
Der Amtmann schien die Erwiderung gar nicht zu beachten; mit vornehmem Nicken war er schon vorübergeschritten und aus dem Hause getreten.
Franzi stand seitwärts wie betäubt. Auch Sixt hatte Mühe, nur einigermaßen seine Fassung zu behaupten; das Blut stieg ihm wieder wie kochend zum Gehirn, bei dem Gedanken, wie er dem Manne, der ihn so sehr gekränkt, gegenüber gestanden. Er schien unschlüssig, was er zu thun und zu sagen habe, als einer der Vermummten vorsichtig zur Thür hereinsah.
[643] „Nur herein!“ rief er ihm, plötzlich leicht aufathmend, zu und faßte nochmals Franzi’s Arm. „Das hab’ ich Dir zu verdanken!“ zwängte er zwischen den Zähnen hervor. „Und ich sollt’ thun, was Du von mir begehrst? Soll Dich unterstützen und gewähren lassen in Deinem versteckten Wesen? Nein, ich will Allem ein End’ machen, was heimlich ist, wo ich’s nur kann! Ich will’s nit leiden, wenn ich ein Unrecht seh’, und will nit rasten, bis es an’s Sonnenlicht kommt und sein Recht erhalten hat und sein Straf! … Kommt nur herein, Ihr Alten! Gebt mir den Stab … jetzt hab’ ich mich besonnen – jetzt will ich Habermeister sein!“
Es dämmerte schon stark; aus dem tiefen Bergeinschnitt, in welchem die Mühle am Baum sich an den brausenden Mangfall hinschmiegt, leuchtete bereits der Lichtschein des Heerdfeuers gegen die Straße hin, die zu beiden Seiten in starker Senkung niedersteigt. In der Thür stand der Müller und sah mit kundigen besorgten Blicken in das dunkle treibende Gewölk empor; neben ihm, den Lumpensack über’m Rücken, in der Hand ein kleines Glas Kirschgeist, womit der gastliche Müller ihn bewirthet hatte, stand der Nußbichler, bereit, seine Wanderung noch fortzusetzen.
„Sei gescheidt, Alisi,“ sagte der Müller „und bleib’ da! Der Wind geht so schneidig kalt, daß es mich gar nit wundern sollt’, wenn’s zu schneien anfangt… Du thust mir leid, wenn Du in dem Wetter noch so herumlaufen sollst; kannst Dich in’ Stall hinaus legen, jetzt kriegst Du doch keine Hadern mehr und hebst nirgens eine Ehr’ auf, wo Du auch hinkommst!“
Der Nußbichler schlürfte mit zurückgebeugtem Kopfe, daß ja kein Tropfen des köstlichen Getränks in dem Gläschen zurückbleiben solle; sein Gesicht war stark geröthet, vor innerer Erregung und wohl auch, weil er das Gläschen schon öfter geleert haben mochte; es hatte fast den Anschein, als ob er wieder nicht fest auf den Beinen stände.
„Mag nit im Stall schlafen,“ sagte er lallend, „in den Stall g’hört das Vieh … der Aicher hat’s gesagt, aber ich werd’s ihm schon ’denken, und werd’ ihm zeigen, daß ich auch eine Heimath hab’ und ein Bett, wenn ich auch kein reicher Bauer bin! Thut mir nit noth, daß ich im Stall’ schlaf’, Müller … da über’n Berg hinauf, noch ein Stündl … nachher bin ich daheim …“
„Wie? Sei doch nit thörisch, Alisi,“ sagte der gutherzige Müller und faßte ihn am Arme, um ihn in’s Haus zu ziehen. „Komm herein, der Sturm wird immer ärger, es wirft wahrhaftig schon Flocken, ich muß die Hausthür zumachen. Komm herein, sag’ ich … weißt es schon wieder nimmer, daß Dein’ Heimath verkauft ist und Dir nimmer gehört; willst wieder hingehen und Dich von dem, der jetzt darauf haust, hinauswerfen lassen, wie das letzte Mal?“
„Wer kann mir das nehmen, was mein gehört?“ schrie der Nußbichler, sich losreißend. „Ich will’s dem Schelmen zeigen, ich will’s ihnen zeigen, Allen miteinander, daß sie mir mein Eigenthum nit nehmen können! Ich werd’ den Stiel umkehren, ich werd’ ihn hinausjagen aus meiner Heimath … es ist gerade recht bei dem kalten Wetter, da kann man das Einheizen vertragen…“
„Na, wenn Du’s nit anders haben willst, so geh’ zu,“ entgegnete der Müller, trat in’s Haus und schlug die Thür fest in’s Schloß. „Er ist und bleibt halt doch ein Lump,“ fuhr er, mit sich selber redend, fort, „aber es ist schier, als wenn ihm das Concept ein bissel verrückt wär’ im Kopf; man sollt’ ihn fast nimmer so allein herumziehen lassen, sonst giebt’s noch einmal, ein Unglück…“
Alisi stand noch eine Weile nach Art solcher Leute vor dem Hause und schrie und polterte gegen die verschlossene Thür hin; dann machte er sich unsicheren Schrittes gegen die ansteigende Straße auf. Der Müller hatte seinen Zustand nicht ganz unrichtig erkannt; der Lumpensammler wußte in der Regel recht wohl, was er sagte und that, aber ein einziges Wort genügte, in ihm einen Gedanken, eine Vorstellung hervorzurufen, welche sich dann ganz seiner bemächtigte und ihm alle Fähigkeit nahm, klar zu denken und ruhig zu handeln. Der Gedanke an die ihm widerfahrene Schmach, die Vorstellung von dem Verluste seines Gütchens waren es, die ihn nicht losließen und die Verbitterung und Verbissenheit seines Gemüths fortwährend steigerten. Er hatte kein anderes Mittel, sich aus diesem qualvollen Zustande zu befreien, als die völlige Betäubung durch vieles und starkes geistiges Getränk; allein in den letzten Tagen wollte auch das nicht mehr verfangen, der Branntwein wirkte nicht mehr so dauernd wie früher, die abgestumpfte Natur schien sich daran gewöhnt zu haben.
Das war heute um so mehr der Fall, da der eisige Wind, je höher der Nußbichler den Berg hinan kam, ihn desto wilder umsauste und ihm den nassen, erkältenden Schnee in’s Gesicht warf. „Es thät mich fast frieren,“ fing er weinerlich mit sich selbst redend an und suchte die von der Kälte erstarrenden gerötheten Hände durch kreuzweises Anschlagen am Körper zu erwärmen. „Keinen Hund jagt man hinaus bei einem solchen Wetter … warum muß ich draußen sein? Bin ich schlechter als ein Hund? Und ich bin doch unschuldig! Ich hab’ kein’ Menschenkind was zu Leid’ gethan … sie haben gelogen, ich hab’ das Haus nit an’zünd’t, ich bin nit schuld, daß der Ahnl schier verbrunnen ist. Sie haben mir mein Gütl nit nehmen dürfen … sie müssen mir’s wiedergeben und mein’ ehrlichen Namen dazu, und sie müssen! … Und wenn ich’s hab’,“ fuhr er nach einer Weile leiser und mit innerlichem Behagen fort, „dann will ich schinden und scharren, bis ich auch reich bin … der Reichste von Allen muß ich werden und dann will ich’s ihnen gedenken … Allen, die mich wie ein Vieh in den Stall g’schafft haben und die mich hinaus jagen in das Wetter, wie einen Hund! Dann müssen sie arm werden und schlecht und müssen zum Alisi kommen – vor dem nichtsnutzigen Alisi sein Haus müssen sie kommen und müssen betteln… Hahaha, da will ich’s mir gut sein lassen und will’s ihnen eintränken, den Haberern und dem übermüthigen Bauern, dem Aicher-Sixt, zum Dank für den Fußtritt, den er mir ’geben hat … und ihr, der hoffärtigen Dirn’, die vor mir einen Scheu und ein Grausen g’habt hat, als wenn ich eine Krott’ wär’ oder ein giftiger Wurm …“
Während des Selbstgesprächs hatte er den letzten Abhang erreicht und von dem Sträßchen abweichend den Seitenweg betreten, der zu den zerstreuten einzelnen Berghöfen führt. Weit dahinter, etwa eine Stunde, gegen den Wald zu, lag das Gütchen, das einst sein Eigenthum gewesen.
Das Unwetter ward immer ärger; wie rasend stürmte der Wind um eine Hügelschneide und wirbelte die immer dichter fallenden Schneeflocken durcheinander, daß es unmöglich war, weiter als ein paar Schritte vor sich zu sehen. Der Schnee war schon reichlich gefallen, er fing an, auf dem Grasboden liegen zu bleiben und die Laubbüschel der Bäume mit weißen Ueberzügen zu bedecken. Ein noch weit stärkerer Windstoß sauste heran, riß Alisi den Hut vom Kopfe und wirbelte denselben den Berg hinunter. „Oho,“ rief er und schlug wieder ein gellendes Gelächter auf, „flieg’ davon, du alter Deckel, ich mach’ mir nichts aus dir! Jetzt kann mir der Wind gar nichts mehr anhaben, das bissel Haar muß er mir wohl stehen lassen! Wenn ich nur erst in meinem Haus bin, dann lach’ ich drüber … dann zieh’ ich die nasse Joppen aus und setz’ mich an den warmen Ofen und trocken’ mich und mein Weib bringt mir die Suppen und giebt mir meinen Buben her, daß er mit mir spielt… Oho, mein Alisel, mei’ Bub’, das ist ein ganzer Kerl…“
Ein ferner, wimmernder Ton drang leise und doch vernehmbar durch das Sturmgetöse; der Nußbichler stand still und horchte hoch auf.
„Das ist aber g’spaßig,“ sagte er, „jetzt ist mir gerad’ gewesen, als wenn ich seine Stimm’ gehört hätt’… Ich weiß nit, wie das ist, aber manchmal ist es gerad’, als wenn in meinem Kopf nicht mehr Alles recht aufeinander ging… Es wird wohl der Wind gewesen sein, der so besonders in den Bäumen saust und pfeift!“
Er ging ein paar Schritte weiter, dann hielt er wieder an. Wahn und Rausch begannen allgemach vollständig von ihm zu weichen – das war keine Täuschung, das Wimmern ließ sich wieder hören, bestimmter, näher, deutlicher als zuvor…
„Das kann der Wind nit sein,“ fuhr der Lumpensammler fort, „das ist eine wirkliche, leibhaftige Kinderstimm’ … es ist doch auf eine halbe Stund’ Wegs kein Hof und kein Haus, da giebt’s heilig ein Unglück ab… Es ist fast schon ganz finster, aber ich mein’, dort am Zaun in den Stauden, rührt sich was…“
Mit thierischer Schlauheit duckte er sich, hart an einen Baumstamm gedrängt, auf den Boden nieder und lauschte mit geschärften [644] Sinnen nach der Heckenumzäunung hin; er gewahrte deutlich, daß die Zweige sich regten, daß sie wie vorsichtig auseinander geschlagen wurden, ein Kopf und dann der Obertheil eines Körpers kamen spähend und langsam aus dem Gebüsche hervor.
Es war eine weibliche Gestalt, stark aufgeschürzt, Kopf und Schultern in dem hoch aufgeschlagenen Rocke verhüllt und drüber noch mit einem weiten Umschlagtuche verdeckt … die Gestalt schritt sachte und behutsam vor, sie schien etwas in dem Tuche und auf den Armen zu tragen.
„Was soll denn das bedeuten?“ fragte der Nußbichler in sich hinein … „von dort her geht ja gar kein Weg … wo will denn die Dirn’ hin und was hat’s denn in ihrem Tuch versteckt?“
Das Gewimmer traf wieder an sein lauschendes Ohr.
„Das kommt richtig von dort her,“ dachte er halblaut, „das ist eine leibhaftige Kinderstimm’ … die Dirn’ hat ein weinendes Kind im Arm … wo will die damit hin in dem Mordwetter? Da geht was Unrecht’s vor – ich muß wissen, wer die Person ist…“
Leise und gebückt schlich er an dem Heckenzaune in der Richtung hin, daß sie, quer über den schneeigen Bergesabhang heranschreitend, mit ihm zusammentreffen mußte; mit einmal aber schien sie den Lauscher zu gewahren, wandte sich mit einem halb unterdrückten Ausruf der Ueberraschung und huschte mit beschleunigten Schritten in der entgegengesetzten Richtung davon.
„Halt!“ rief der Nußbichler. „So kommst Du mir nit aus! Und wie ist mir denn auf einmal? Der Gang, die Stimm’, die ganze Figur … die Person sollt’ ich ja kennen… Das ist ja gar … na, Dich will ich wohl fangen und Dir in’s Gesicht sehen…“ Damit hatte er den Sack abgeworfen und rannte in angestrengtem Laufe hinter der Gestalt her, welche ebenfalls Alles aufzubieten schien, ihm durch noch vergrößerte Schnelligkeit zu entrinnen. Die Last in ihren Armen aber war ihr vielfach hinderlich und zwang sie nicht selten, der Sicherheit wegen einen Augenblick langsamer zu gehen oder einen weiteren Weg zu machen, weil er der verlässigere war. Bald kürzte sich die Entfernung zwischen ihr und dem Verfolger immer mehr, schon war er ihr so nahe, daß sie das Keuchen seines Athems zu fühlen, seine Hand schon im Nacken zu spüren glaubte, da machte der Verfolger in seiner Hast einen verfehlten Tritt, er glitt aus auf dem mit nässendem Schnee bedeckten schlüpferigen Boden und unfähig, sich irgendwo anzuklammern, kollerte er fluchend ein beträchtliches Stück des Berggeländes hinab. Als er sich unten wieder aufgerafft, hatte die Fliehende im Dunkel der vollends eingebrochenen Nacht Vortheil und Vorsprung wohl zu benutzen verstanden, sie war verschwunden und trotz des emsigsten Forschens und Suchens nirgends Spur oder Laut zu entdecken. „Meinetwegen!“ rief der Lumpensammler und hob die Faust drohend empor. „Du kommst mir doch nit aus, ich muß wissen, was das bedeutet und wer Du bist! … Aber wie dahinter kommen? Ich will in die Mühle zurück, will doch in den Stall kriechen und morgen in aller Früh’ die Spur aufsuchen und verfolgen… Aber nein, das hilft nichts! Bis morgen ist Alles verschneit oder es wird warm Wetter und Alles schmilzt durcheinander… Wie wär’s, wenn ich mich auf die Füß’ machte? Ich bin zwar müde zum Umsinken, ich brauche wenigstens eine gute Stunde, bis ich hinkomme, aber sie hat auch nicht näher… Ja, ich will hin! Will nachsehen, ob sie daheim ist, und wenn nicht … dann freu’ Dich, Alisi, dann hast Du sie in der Hand, dann ist es kein anderer Mensch gewesen, als sie…“
Er barg den Lumpensack möglichst unter einer dicht überhängenden Haselstaude und verschwand im Dunkel, als wäre er es selbst, der zu entfliehen genöthigt sei.
Ein stummer, aber laut beredter Zeuge längst versunkener Zeiten und dahin gegangener Geschlechter war vor vielen andern der Dom zu Frankfurt am Main. Was hat er erlebt! Was sah er Alles an sich vorübergehen! – Sein Ursprung reicht hinein in die Zeiten der Karolinger. Die „Mariencapelle Karls des Großen“ hieß der älteste Bautheil des Doms – und die Pfeiler der kürzlich bei dem großen Brande, von welchem wohl die meisten unserer Leser gelesen und gehört haben, zerstörten Orgel leiten ihre Abstammung noch von jener Capelle her. Auch „das Haus der heiligen Jungfrau auf der Mauer“ wurde die erste Kirche an diesem Platze benannt und, wie es heißt, deshalb so bezeichnet, weil die Capelle einstmals an die Stadtmauer anlehnte. Unter Ludwig dem Deutschen, dem Enkel Karls des Großen, der 876 in Frankfurt starb, erhielt die Mariencapelle erst den Namen „Königliche Capelle“, dann wurde sie „Salvatorkirche“ umgetauft. Im Jahre 1238 endlich empfing die einstige Mariencapelle Karls des Großen abermals einen andern Namen und zwar den „Bartholomäuskirche“, welchen sie neben der Bezeichnung „Dom“ bis auf die Jetztzeit getragen.
Mitte des vierzehnten Jahrhunderts erhielt Frankfurts Dom die Gestalt, die er bis in unsere Tage behalten. Er wurde im gothischen Style, in Form des Andreaskreuzes erbaut. Seine Länge beträgt zweihundertundsechsundvierzig Werkschuhe, von denen neunundachtzig auf das hohe Chor kommen, einhundertundsiebenundzwanzig auf das Schiff der Kirche und dreißig auf das Glockenhaus, über dem sich der im fünfzehnten Jahrhundert erbaute Pfarrthurm befindet. Die Breite des Doms berechnet man auf zweihundertundsechzehn Werkschuhe.
Der Pfarrthurm, zweihundertundsechzig Schuh hoch, an welchem fast ein Jahrhundert gebaut wurde, von 1415–1512, ist nie ganz vollendet worden und erhielt statt der ihm zugedachten Prachtspitze eine wunderliche runde Kappe, die tausend Mal besprochen und sicher Jedem aufgefallen ist, welcher den Dom sah. Jetzt war von Preußens König die Vollendung des Pfarrthurmes verheißen, und nun gerade vernichten die Flammen am meisten den alten Thurm, dem die preußische Spitze ebenso wenig zu behagen schien, wie Frankfurts Kindern Preußens Oberhoheit.
Der Pfarrthurm besaß ein herrliches Glockengeläute; es verkörperte alle Poesieen, die je von Glocken gedichtet haben. Die größte dieser Glocken, über einundneunzig Centner schwer, stammte von Karl dem Großen und trug nach ihm ihren alt-ehrwürdigen Namen „Carolusglocke“. Jahrhunderte tönte sie in tiefen, wunderbar ergreifenden Lauten, fort über eine freie Stadt, weithin durch freies deutsches Land! Sie grüßte die durch Frankfurts Thore einziehenden deutschen Könige und Kaiser und ihre eherne Stimme geleitete dieselbe auf den wichtigen und ehrenvollen Gängen zur Krönung im Dom. Geschlechter um Geschlechter rief sie zur Andacht, kündete ihnen treu des Tages Stunden und mahnte sie ernst und laut an das Gebot: „Du sollst den Feiertag heilig halten,“ – sie war allen Frankfurtern ein von Kindheit auf gewohnter trauter Ton und jetzt beim Dombrande am 15. August verstummte sie für ewig!
Beim Einzuge des Erzherzogs Johann in Frankfurt 1848 sollte die Carolusglocke den deutschen Reichsverweser auch festlich begrüßen. Sie – die aber so nur deutschen Königen und Kaisern gehuldigt – schien zu stolz dazu und sprang und barst in derselben Minute. Neu hergestellt vor Jahresfrist, war sie Zeuge der geschichtlichen Umwälzungen im alten Frankfurt, und an dem Morgen, wo Preußens König in seine Stadt und nicht mehr in die „freie deutsche Reichsstadt“ kam, da hatte die Carolusglocke schon ihren Platz in freier Höhe, in frischer freier Luft, umweht von allen Winden, verlassen und lag stumm und still im hochummauerten Grabe des Glockenhauses als Haufen Erz, der nicht mehr tönt, der nie mehr klingt! –
An den Domthurm knüpften sich einst gar seltsamer Brauch und originelle Sitte. Dort, hoch oben im spätern Wächterhaus des Thürmers, feierten Frankfurter Bürger ihre Hochzeiten, und nicht selten veranstaltete man einen Tanz. Die Neuzeit hat sich mit schlichtem Ersteigen des Pfarrthurms begnügt, und dies gehörte zu den Lieblingsvergnügungen der Frankfurter. Giebt es in der alten Kaiserstadt gar viele alte Leute, die seltsamer und mir stets unbegreiflicher Weise nie in die an den Dom stoßende Wahlcapelle gekommen sind, welche unstreitig eine der interessantesten Stätten der Kirche ist, so möchte wiederum kaum
[645]ein Kind in der Stadt zu finden sein, das noch nicht auf dem Pfarrthurm war. Er schien den besuchtesten Wallfahrtsort auch der ganzen Gegend zu bilden. – Die Aussicht von seiner geräumigen Galerie gehörte zu den reizendsten, die man nur erschauen konnte; blühendes Land ringsum, von den Zügen des Odenwalds bis hin zum Rheingau und Spessart, und nirgends schlossen die Höhen des Taunus einen so lieblichen Rahmen um das lachende Mainthal, wie von dort aus erblickt. Wie wunderbar schön und prächtig war aber das weite Bild jener Landschaft, wenn die glühenden Farben des Abendlichts sich leuchtend im Strome spiegelten, wenn die grünen Gefilde, die blüthenreiche Ebene, der bewaldete Berg und der baumbekränzte Hügel, die Stadt, das Dorf von jenen in Gold und Purpur erstrahlenden Wellen durchschnitten und bespült wurden! Doch kehren wir vom Pfarrthurm noch einmal zur Kirche zurück. Sie besitzt manch’ schönes und alterthümliches Denkmal, das jetzt die Flammen beim Brande verschonten, und höchst interessant war und ist der Dom selbst durch seine darin abgehaltenen Wahlen und Krönungen.
Die erste Wahl in Frankfurt fällt in’s Jahr 1152, es ist die Friedrichs des Ersten, und der dabei in’s Auge tretende Mangel [646] an Raum in der Kirche mag ersten Anlaß zu ihrer Erweiterung gegeben haben. Frankfurt am Main hat die meisten Königs- und Kaiserwahlen aufzuweisen, und selbst die des erwählten Gegenkönigs, Günther von Schwarzburg, fand da statt. Er verglich sich, wie bekannt, mit seinem Gegner Karl von Böhmen und starb der Sage nach an Gift am 14. Juni 1349 im Johanniterhofe zu Frankfurt am Main. Günther wurde mit großem Gepränge im Dome beigesetzt, denn zwanzig Reichsgrafen trugen seinen Sarg und Karl, sein Gegner, folgte mit im Zuge. Drei Jahre später setzten ihm die Reichsministerialen Frankfurts und der Umgegend ein Denkmal, welches auch durch vier Jahrhunderte seinen Platz, inmitten des hohen Chors vor dem Hochaltare des Doms, behauptete und erst durch Karl den Siebenten von da entfernt und neben der Eingangsthür der Wahlcapelle aufgerichtet wurde. Leider sieht das alte Denkmal, erneuert wie es ist, bunt wie ein Tuschkasten aus und man begreift kaum, wer an einem Monument, das mehr denn fünf Jahrhunderte an sich vorüberziehen sah, solchen Aufwand an grellen Farben verschwenden mochte und ihm jene Zier der grauen Verwitterung nahm, die dem alten Gestein so wohl ansteht.
Die kleine interessante Wahlcapelle, die leider seit lange mit zur Sacristei dient, wurde auch vom Flammenmeer verschont und in nichts beschädigt. In dem Raume, wo die engere Wahl der Könige und Kaiser stattfand, sind noch in schwarzen Tafeln von Medaillenform die Namen der acht wahlberechtigten Kurfürstenthümer aufgezeichnet und hängen zur Seite des Altars neben einer Magdalena und Maria mit dem Leichname Christi: Mainz, Trier, Köln, Böhmen, die Tafeln zur Linken des Bildes der Magdalena, die Pfalz, Sachsen, Brandenburg, Braunschweig zwischen den beiden Gemälden. Das letztere, die Maria, wird Albrecht Dürer zugeschrieben, die Magdalena ist von Prante aus Prag.
In dieser kleinen alten Wahlcapelle zu weilen, ist für mich seit Jahren von großem Reiz gewesen; möglich auch, daß der Gang über das schöne hohe Chor den Magnet bildete. Wer den Weg öfter gemacht, dem wird die seltsame Beleuchtung dort aufgefallen sein, dies eigenartig gebrochene Licht, sowohl im Sonnenglanz des Tages, wie Abends, wenn die Schatten tiefer wurden. Nie fand ich das hohe Chor schöner, als eben im Dämmerlicht der Abende. Da umwob die ganze durch Kaiserwahl und Krönung so erinnerungsreiche Stätte ein gewisser magischer Schein von zauberhafter Wirkung, und wie es oft entzückend war, das Gold des Abendlichts an den Außenwänden des Domes zu betrachten, so noch hübscher und eigenartiger, die in die Kirche selbst einfallenden letzten Sonnenstrahlen zu sehen. Aus Schatten und Licht formten sich da nicht selten Gestalten und Figuren, bei denen es nur des Aberglaubens einer guten alten Zeit bedurft hätte, um den Wahn vollständig zu machen, daß hier noch einmal in lichten Gebilden phantastischen Spukes auftauche, was sich einst in Wahrheit und Wirklichkeit an der Stätte zugetragen und begeben hat.
Wie märchenhaft und phantastisch nun oft Abends die Stätte des Hochaltars sich ausnahm, so reizend die Kirche im hellen sonnigen Morgenlicht. Prächtig traten da die hochaufstrebenden Pfeiler, die geschmückten Seitenaltäre und Sacramentshäuschen mit der Jungfrau, die Orgel aus ihrem Schatten hervor; die scharf beleuchtete Kanzel und selbst das düstere Glockenhaus mit seinem schmalen Fenster erschienen freundlicher denn je.
In dem ganzen Zauber seiner eigenthümlichen und alterthümlichen Schönheit sah ich noch den Dom am 14. August, am Tage vor dem Brande, wo man in der Kirche Alles zum Marienfest herrichtete. Als sich an dem Abend des herrlichen Sommertages der Pfarrthurm dunkel aus der goldenen Fluth des Maines abhob, das Geläute seiner Glocken den stillen Abend durchtönte, wer hätte da gedacht, daß so zum letzten Male die Wellen ihn zurückspiegelten, daß dies Abendläuten das Sterbelied der Domes sei! –
Man dachte in und um Frankfurt in diesen Augusttagen wohl um so weniger an eine dunkle Zukunft, als sie zu solchen Tagen zählen, in denen eine lichte, glänzende Vergangenheit ihr Recht des Rückerinnerns beansprucht. Vier Jahre zuvor prangte um diese Zeit die alte freie Reichsstadt im reichen Festesschmuck des wie aus Wolken über sie herabgefallenen Fürstentages. Ueber den Glanz dieses Fürstentages zu Frankfurt hat der Sommer 1866 einen dunklen Schleier geworfen und die neuen Erinnerungen waren schmerzliche für die einstmalige freie Reichsstadt. Ihr Adler sank und über keine freie Stadt, kein freies Land tönte seit Jahresfrist mehr die Glocke Karls des Großen.
Wer das Weh, dies verspottete und mitempfundene Weh Frankfurts im vorigen Sommer mit erlebte, der wurde durch den Jammer daran mächtig gemahnt, als die Sonne des 15. August dieses Jahres über den alten Kaiserdom aufging, den Nachts die Flammen verwüstet hatten. Wie man im vorigen Sommer weinende Männer, schluchzende Frauen auf dem Domplatz zusammengeschaart fand, die sich zuflüsterten: „Heut’ steht zum ersten Mal nicht mehr ‚freie‘ Stadt Frankfurt auf unsern Zeitungen,“ so bestürzt, gleichsam vernichtet, umstand jetzt nach dem Brande die Menschenmasse den alten Dom, um den sich stets bei wichtigen Anlässen Frankfurts Kinder wie um einen alten treuen Freund schaaren. An diesem Augustmorgen weinten auch Viele, beweinten die gesunkene Größe des Domes, seine verhallten Glocken, und leise flüsternd ging’s von Mund zu Mund: „Heut’ kommt der König von Preußen nach Frankfurt und findet den alten Dom der deutschen Kaiser – als Ruine.“
Bald nachdem die erste Tagesstunde des 15. August geschlagen, weckte Feuerlärm die schlafende, vom Mondlicht hell überglänzte Stadt. In einer Bierbrauerei nahe dem Dome war Feuer ausgebrochen und kurze Zeit darauf stand auch schon der Dachstuhl der Kirche in Flammen, in Flammen standen auch viele der umliegenden Häuser. An siebenzehn verschiedene Stellen der Stadt trug der Morgenwind feurige Funken, glühendes Erz der brennenden Glocken und überall zündete schnell und hell dieser entsetzliche Gruß der alten Kaiserglocke, diese weithin getragnen lodernden Stücke der Dachsparren. Wandte sich der Wind nicht günstig und ließ er nicht nach beim vorrückenden Tage, der Frankfurter Brand hätte leicht ein Hamburger Brand werden können. Wie furchtbar der brennende Dom mit seinem flammenden Thurme, so wunderbar schön diese Gluthen, im matten Grau des dämmernden Morgens, im magischen Gegenlicht des sanft erglänzenden Mondes! Unvergessen, sagt ein Jeder, werden ihm Eindruck und Erinnerung bleiben.
Nicht minder ergreifend war ein andrer Act des nächtlichen Dramas: das letzte Schlagen, das Sinken der Domglocken. Die glühende, die gewaltige Wucht brach das Deckengewölbe des Glockenhauses und nun lagen die erznen Haufen im Dome selbst, dem Hochaltar gegenüber, am äußersten Ende der Kirche. Wer dies Grab der Glocken, diese letzten formlosen Reste weithin tönenden Geläutes, zusammengeballt in schwarzen Klumpen, liegen sah, fürwahr, unvergessen wird der Anblick auch Jedem sein, ihm eine der traurigsten Erinnerungen des Dombrandes bleiben.
Der Dom war früh Morgens wegen Lebensgefahr abgesperrt, und ich wüßte nicht anzugeben, was mir den Eintritt verschaffte. Darin aber war ich, und ebenso seltsamer Weise ließ man mich weit über zwei Stunden dort. Wohl fragte man mich, wie ich hineingekommen, und warnte auch gut gemeint, allein hinaus trieb mich Keiner, weder die Männer der Feuerwehr, noch jener wachthabende preußische Officier, dessen Machtspruch ich anfangs am meisten fürchtete, bis ich ihn, bis ich Alles über das Bild grausamer Zerstörung vergaß. Wie trostlos hatten wenige Stunden die stille, friedliche Stätte des Domes verändert! Wo war geblieben jenes poetisch-schöne Bild, das diese Kirche mir noch Tags zuvor im Abendschein geboten? Hin all der Zauber von einst, der erste Ueberblick und Anblick ein entsetzlicher! Ausgeräumt die ganze Kirche, kein Betstuhl, kein Beichtstuhl darin, die Altäre kahl und leer, zerrissene Blumen, zertretene Kränze auf ihren Stufen, die Orgel abgebrannt. Feuerwehr dort, die Balken um Balken hinabwarf, verkohltes Holz, geschmolznes Zinn; das ganze hohe Chor bedeckt mit den Trümmern und Splittern des mächtigen Kronleuchters, der weite übrige Kirchenboden, der hier und da schwamm und den Spritzenschläuche durchzogen, wie übersät mit halbverbrannten Notenblättern, verkohlten Gebetbüchern und Papieren. Das erste Blatt, das ich aufnahm, enthielt die Worte: „Amen, Amen, Alleluja!“ den Schluß eines Meßgesanges.
War kein Brand entstanden, so sang man wohl um diese Stunde jenes Alleluja – jenes Amen. Statt dessen Trompetensignale, die Wasser forderten, ein wahrer Höllenlärm, der die Kirche durchtönte und mahnte, daß das Feuer, trotz aller Mühe, aller Arbeit, immer noch nicht ganz überwältigt war.
[647] Und ob mit Wasser vollauf getränkt, so glomm doch immer wieder jener erzne Haufen der Glocken in einzelnen Funken auf, Rauchwölkchen stiegen über den verstummten Stimmen empor und zogen hinauf zu jenem halbverbrannten Christus am Kreuz in der Tiefe des Glockenhauses, dessen Dornenkrone die Strahlen der Sonne, welche durch’s schmale Fenster drangen, hell und licht umglänzten und der über diesem seltsamen Grabe sein Haupt herab neigte und seine Arme breitete. Grauenhaft!
Ob der Dom in seiner alten Herrlichkeit wieder aufgebaut werden wird, oder ob Frankfurts Bürger das stolze Gebäude in Schutt und Asche liegen lassen werden – ich weiß es nicht, denn noch ist ein bestimmter Entschluß nicht gefaßt worden und noch denkt man im übrigen Deutschland wenig an die Ehrenschuld für Wiederherstellung dieses Denkmals deutscher Macht und deutscher Geschichte. Gebe der Himmel, daß die Glocken, wenn sie wirklich wieder über das schöne Gelände am Mainstrom erschallen, hinaus in ein einiges, glückliches Deutschland tönen!
Wer von unsern Lesern hat nicht schon von dem Manne mit der eisernen Maske gehört? Wer nicht im Birch-Pfeiffer’schen Stücke diese unheimliche Erscheinung über die Bretter schreiten sehen? Wenn wir trotzdem diese geheimnißvolle Gestalt nochmals vorführen, so liegt unsere Berechtigung dazu in einer ganzen Reihe auf die merkwürdige Geschichte bezüglicher Thatsachen, die erst in neuester Zeit zu Tage gefördert worden sind. Bisher erzählte man von der eisernen Maske bloße Episoden, die zum kleinern Theil auf der im Mittelmeere nahe der französischen Küste liegenden Insel Marguerite, zum größern Theil in der Bastille spielten. Jetzt können wir der ganzen Kette von Gefängnißscenen folgen, die, in Pignerol beginnend und über Exilles – unweit Susa in Piemont – und Marguerite zur Bastille laufend, das Material zu der Geschichte des Mannes mit der eisernen Maske geliefert haben.
In einer Decembernacht des Jahres 1678 öffnete sich eine Hinterpforte der kleinen französischen Festung Pignerol, die, am Ausgange der Alpen gelegen, jetzt zu Piemont und zwar zur Provinz Turin gehört, für einen Fremden von militärischer Haltung. Pignerol hatte damals zwei Commandanten, den einen für die ganze Festung, den andern speciell für den Schloßthurm, der ein Staatsgefängniß war, und augenblicklich befanden sich zwei vornehme Gefangene daselbst, der Graf von Lauzun und der Oberintendant Fouquet. Der Commandant des Thurmes empfing den Fremden, der auf die geheimnißvollste Weise eingeführt wurde, persönlich am Eingange. In jener Nacht war es ein Officier, dessen Name Saint Mars blos einigen Cameraden und den Vorgesetzten bekannt war. Durch die Begebenheiten aber, die sich an das Erscheinen des Fremden knüpften, sollte er in beiden Welten zu einer traurigen Berühmtheit gelangen. Den wirklichen Namen des Gastes, den er begrüßte, kannte er nicht. Derselbe werde sich Richemont nennen und müsse für einen Staatsgefangenen gelten – das war Alles, was Saint Mars durch ein Schreiben des Kriegsministers Louvois erfuhr. So lange Richemont in Pignerol verweile, ordnete der Minister an, trete die den Staatsgefangenen Lauzun und Fouquet ertheilte Erlaubniß Besuche zu empfangen, außer Wirksamkeit. Dagegen könne Richemont mit den Beiden verkehren, das werde ihm helfen, sich die Zeit seines Aufenthaltes zu verkürzen, dessen Dauer sich noch nicht bestimmen lasse. Mehr hat Saint Mars über den Namen und die Mission des Fremden amtlich nie erfahren. Auf indirectem Wege verschaffte er sich indeß die Gewißheit, daß der angebliche Richemont der General Catinat, einer der besten von Ludwigs des Vierzehnten Feldherren, sei.
Im April des nächsten Jahres traf ein zweites Schreiben des Kriegsministers an Saint Mars ein. Es lautete dahin, daß die Verhaftung eines Mannes, mit dessen Betragen der König unzufrieden zu sein Ursache habe, nahe bevorstehe. Mit Niemand dürfe derselbe sprechen, Niemand dürfe wissen, daß Pignerol einen neuen Gast beherberge, und der Gefangene selbst sei so zu behandeln, daß er sein schlechtes Benehmen bereue. Der so übel Empfohlene war der Graf Ercole Antonio Matthioli; er hatte sich in der That schlecht benommen und Ludwig dem Vierzehnten alle Ursache zur Unzufriedenheit gegeben. Frankreich strebte nach dem Besitz von Casale, einer Festung, welche die Hauptstadt des Montferrat und einer der Schlüssel von Italien war. Obgleich nur sieben deutsche Meilen von Turin gelegen, gehörte Casale zu Mantua, mit dessen Herzog, Ferdinand Karl, sich ein Wort reden ließ. Er war ein Spieler und Verschwender mit keinem Pfennig in der Tasche. Auf Jahre voraus waren seine Einkünfte den Juden verpfändet. Er ließ sich gewiß auf einen Verkauf ein, und Matthioli, sein Günstling und Vertrauter, übernahm bereitwillig die Vermittelung. Er erschien in Versailles, nahm einen kostbaren Ring und vierhundert doppelte Ducaten dankend entgegen und erhielt eine weit größere Belohnung zugesichert, wenn er das Geschäft zu Stande bringe und bis dahin das tiefste Stillschweigen bewahre. Diese letztere Bedingung war keine müßige, denn erfuhren Spanien und Piemont, was im Werke sei, so wurde Alles vereitelt. Matthioli versprach Alles, aber da Turin und Mailand auf seinem Wege lagen, so benutzte er die bequeme Gelegenheit, sein Geheimniß an Spanien und Piemont zu verkaufen. Der Plan mit Casale war vereitelt, blos noch rächen konnte sich Ludwig der Vierzehnte, und dazu traf er die Vorbereitungen, von denen wir erzählt haben.
Matthioli hatte keine Ahnung davon, daß man in Versailles seinen Verrath kenne, und ging in eine ziemlich plumpe Falle. Der Abbé Estrades, französischer Gesandter in Turin, redete ihm ein, daß Catinat, die Hände voll von Gold, in Pignerol angekommen sei, um in einer persönlichen Zusammenkunft Alles zum Abschluß zu bringen. Matthioli willigte in die Unterredung, kam nach Turin und wurde ganz arglos, als ihm gesagt wurde, daß Catinat in einer Kirche dicht vor den Thoren auf ihn warte. Er stieg mit dem Abbé in den Wagen und wurde im Galopp über die französische Grenze geführt. Noch an demselben Tage befand er sich in Pignerol und in den Händen von Saint Mars. Es war ein Maitag, an dem er die Sonne zum letzten Male als freier Mann aufgehen sah.
Catinat war mit Matthioli’s Einbringen von seiner freiwilligen Gefangenschaft noch nicht erlöst. Es war ihm die Aufgabe gestellt, sich die Beweisstücke der fehlgeschlagenen Unterhandlung zu verschaffen. Der Herzog von Mantua besaß blos die Abschriften der Documente, die Originale hatte Matthioli in seinem väterlichen Hause zu Padua vermauern lassen. Man drohte ihm nun mit der Folter, bis er einen Brief an seinen Vater schrieb, der die Auslieferung der Documente zur Folge hatte. Da den Feinden des Königs jetzt die Mittel genommen waren, die Existenz einer Intrigue, die einen beinahe lächerlichen Ausgang genommen hatte, zu beweisen, so hatte Catinat seine Mission beendet. Ehe er Pignerol verließ, empfahl er Saint Mars, den Gefangenen, den er Lestang nannte und dessen wahren Namen nicht einmal die Officiere des Schloßthurms kannten, „hinsichtlich der Reinlichkeit und Nahrung so gut wie möglich (fort honnêtment) zu behandeln, ihm aber jede Verbindung mit der Außenwelt abzuschneiden.“ Louvois bestätigte jedoch diese Anordnung seines Agenten nicht. „Es ist nicht die Absicht des Königs,“ schrieb er an Saint Mars, „daß der Herr Lestang gut behandelt werde. Se. Majestät befiehlt vielmehr, daß man blos seine nothwendigsten Bedürfnisse befriedigt und ihm nichts giebt, was das Leben angenehm macht.“ Auf diese Weisungen kommt er mehrmals zurück. „Was die Härte betrifft, mit welcher der genannte Lestang zu behandeln ist, so hat es dabei sein Bewenden,“ heißt es in einem seiner Briefe und in einem zweiten schreibt er: „Der genannte Lestang muß in der strengen Haft gehalten werden, von der ich Ihnen geschrieben habe, und man darf ihm nur dann einen Arzt bewilligen, wenn es unbedingt nothwendig ist.“
Der Gefangenwärter, dem Matthioli übergeben war, hatte seine Laufbahn als einfacher Soldat in der ersten Compagnie der königlichen Musketiere begonnen. Auf die Empfehlung seines Hauptmanns d’Artagnan wurde er mit der speciellen Bewachung Fouquet’s betraut und mit einer Freicompagnie, die man eigens [648] zu seiner Unterstützung bildete, nach Pignerol geschickt. Er correspondirte direct mit Louvois, ohne dem Festungscommandanten und dem königlichen Statthalter jemals Rechenschaft oder auch nur Kenntniß von irgend einem Vorgange oder einer Maßregel zu geben. Hatte er Wichtiges zu melden, so geschah es nicht durch die Post, der man nicht traute, sondern durch einen besondern Boten, einen Officier. Es war derselbe, welcher in den seltenen Fällen einer Reise von Saint Mars nach Paris an dessen Stelle trat. Dieser letztere scheint zwar ein strenger Mann gewesen zu sein, doch seinen unglücklichen Gästen alle Bequemlichkeiten gewährt zu haben, die sich mit der vorgeschriebenen stricten Ueberwachung vertrugen.
Als Matthioli in Pignerol anlangte, bewohnte Fouquet den Schloßthurm seit vierzehn und Lauzun seit acht Jahren. Jeder der beiden vornehmen Gefangenen hatte seinen Kammerdiener, der aber auch als Gefangener behandelt wurde, und jedem stand ein ganzes Stockwerk des Thurms zur Verfügung. Zu Anfang war ihre Haft die strengste gewesen. Nach Jahren hatten sie endlich die Erlaubniß erhalten, an drei Wochentagen, aber zu verschiedenen Zeiten, auf dem Wall vor ihren Fenstern einige Stunden frische Luft zu schöpfen, und wieder zwei Jahre später war ihnen die Haft so weit erleichtert worden, daß sie sich besuchen, mit einander speisen und frei in der ganzen Citadelle herumgehen konnten. Etwa ein Jahr darauf starb Fouquet und wieder ein Jahr darauf wurde Lauzun in Freiheit gesetzt. Außer diesen Beiden gab es im Thurm noch vier Gefangene, untergeordnete Menschen, von denen aber einer in der Geschichte der eisernen Maske eine Rolle spielt. Seine Verbrechen kennt man nicht; er war ein Mönch vom Orden der Jacobiner und Louvois hatte ihm die Empfehlung mitgegeben: „Er ist ein großer Spitzbube und hat angesehenen Leuten in einer ernsten Sache übel mitgespielt.“
Matthioli war kaum ein Jahr in Haft, als er Zeichen von Geistesstörungen gab. Er wollte ein naher Verwandter des Königs sein und sprach von Besuchen der Engel. Wir wollen nicht untersuchen, ob es eine Handlung der Menschenfreundlichkeit war, daß man ihn mit dem Mönch zusammensetzte, denn auch der Jacobiner war geisteskrank. Als Saint Mars einmal in den Kerker trat, lief Matthioli, den Mantel bis über die Nase hinaufziehend, hin und her, und der Mönch saß auf seinem Bett, stützte die Ellbogen auf die Kniee und starrte seinen Gefährten immerfort an. So trieben sie es ganze Tage und dann entkleidete sich der Jacobiner einmal, stieg von seinem Bett herunter und hielt eine Predigt.
Den beiden Unglücksgefährten stand eine Uebersiedelung in einen andern Ort bevor. Saint Mars wurde zum Gouverneur von Exilles ernannt und erhielt Befehl, seine Freicompagnie und die „beiden Gefangenen“ aus dem Erdgeschoß des Thurmes mitzunehmen. Um die übrigen fünf Gefangenen kümmerte sich der Kriegsminister nicht, doch fragte er bei dieser Gelegenheit an, wie viel ihrer seien und für welche Verbrechen man sie bestrafe. Louvois schrieb in dieser Zeit an Saint Mars mehrere Male und aus seinen Briefen ergiebt sich mit der klarsten Bestimmtheit, daß im Erdgeschoß des Thurmes anfänglich noch die zwei Gefangenen saßen, die wir kennen. Zuletzt aber blos einer. Der andere ist im Herbst 1681 verschwunden. Aber welcher, Matthioli oder der Jacobiner? Höchst wahrscheinlich der Letztere. Er war ein gemeiner Verbrecher, den man gewiß lieber als Matthioli entfernte, als ein neuer Gefangener ankam, wegen dessen wieder große Vorsichtsmaßregeln ergriffen wurden.
Daß ein neuer Gefangener im Winter von 1681 zu 1682 gekommen ist, wird durch den Briefwechsel zwischen Louvois und Saint Mars außer Zweifel gestellt. Nachdem zuerst von zwei Gefangenen, dann von einem die Rede gewesen ist, treten plötzlich wieder zwei Gefangene auf. Aus Exilles meldet Saint Mars an Louvois, daß er seine beiden Gefangenen in demselben Thurme, aber in getrennten Zimmern, untergebracht habe. Er beschreibt die Vorsichtsmaßregeln, die er ergriffen habe, um sie völlig von der Welt zu trennen. „Meine Gefangenen,“ sagt er, „können die Leute hören, die auf dem Wege unter dem Thurme vorbeigehen, aber sie können sich mit Niemand verständigen, wenn sie auch wollen. Sie sehen die Personen auf dem Berge vor ihren Fenstern, aber sie selbst werden wegen der Gitter nicht gesehen.“ Tag und Nacht gingen zwei Schildwachen vor dem Thurme auf und ab und duldeten nicht, daß ein Vorübergehender stehen blieb. Saint Mars schlief neben den Gefängnissen und konnte aus seinem Fenster Alles sehen, was auf dem Wege vorging und was die Schildwachen trieben. Der Arzt, der die beiden Gefangenen behandelte, mußte in Pragelas, sechs Stunden von Exilles entfernt, wohnen. Seine Hülfe wäre gleichwohl oft nöthig geworden, denn Ende 1685 schreibt Saint Mars: „Meine Gefangenen sind immer krank und mediciniren; übrigens benehmen sie sich mit großer Ruhe.“
Nach diesem Briefe schweigt Saint Mars länger als ein Jahr über seine Gefangenen, und als er wieder schreibt, spricht er blos von einem. Wenn auch nicht aus den amtlichen Documenten, nach denen wir bisher berichtet haben, so doch aus einer anderen zuverlässigen Quelle, aus den Aufzeichnungen eines in der Freicompagnie angestellt gewesenen Officiers, geht mit Bestimmtheit hervor, daß in der Zwischenzeit, oder im Jahre 1686, Matthioli gestorben ist.
Ende April 1687 begab sich Saint Mars, zum Gouverneur der in der Nähe von Cannes aus dem Mittelmeere sich erhebenden Inseln Honorat und Marguerite ernannt, an den Ort seiner neuen Bestimmung. Seinen Gefangenen nahm er mit. Aus den Registern der Bastille geht hervor, daß die Haft des Unglücklichen bereits in Pignerol begonnen hat. Ist es richtig, was sich mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen läßt, daß der Jacobiner ohne Namen aus dem Thurme von Pignerol entfernt wurde und Matthioli in Exilles starb, so kann er nur der Unbekannte sein, der in Pignerol nachher eingebracht wurde. Gleich dem Jacobiner wird er in dem Briefwechsel zwischen Louvois und Saint Mars niemals genannt. Er heißt entweder „der Gefangene der Provence“, oder noch kürzer „der Gefangene“. Die Reise von Exilles nach der Insel Marguerite dauerte zwölf Tage. Unterwegs saß der Gefangene in einem Tragsessel, den ein Mantel von Wachstuch umgab. Schon in Exilles war er leidend gewesen und auf der Reise wurde er in Folge des Mangels an frischer Luft krank. Ihren Zweck hatte diese Art der Beförderung erreicht. „Ich darf Ihnen die Versicherung geben, gnädigster Herr,“ schrieb Saint Mars an Louvois, „daß kein Mensch auf der Welt ihn gesehen hat und daß durch die Weise, wie ich ihn geführt und bewacht habe, alle Leute neugierig geworden sind, zu erfahren, wer mein Gefangener ist.“ Welche Rücksichten auf den Letzteren genommen wurden, mag der Leser aus der folgenden Stelle des Briefes schließen, durch den Saint Mars dem Kriegsminister seine Abreise von Exilles anzeigte: „Das Bett meines Gefangenen war so alt und abgenutzt, sein Leinenzeug, sein Tisch und alle Möbeln, deren er sich sonst bediente, so schlecht, daß es sich nicht der Mühe verlohnte, diese Sachen, für die ich blos dreizehn Thaler bekommen habe, mit hierher zu nehmen.“
Saint Mars blieb elf Jahre, von 1687 bis 1698, auf der Insel St. Marguerite und eben so lange war sein Gefangener dort eingeschlossen. Um diesen Aufenthaltsort beginnt die Sage von der eisernen Maske ihre ersten Gewebe zu spinnen. Louvois soll den geheimnißvollen Sträfling in seinem Thurme besucht und stehend, den Hut in der Hand, mit ihm gesprochen haben. Aus dem Briefwechsel des Kriegsministers ist indessen bis zur Evidenz nachgewiesen worden, daß er nie einen Fuß auf die Insel Marguerite gesetzt hat. Fischer sollen einen silbernen Teller gefunden haben, auf den die eiserne Maske Nachrichten über ihr Schicksal eingekritzelt habe. Etwas Aehnliches ist vorgekommen und in die Sage verwoben worden. Ein protestantischer Geistlicher, der zu den Gefangenen gehörte, hat, wie Saint Mars in einem Bericht meldet, auf Leinenzeug und zinnerne Teller Armseligkeiten geschrieben. Uebrigens wird die Geschichte mit dem silbernen Teller auch von einem gewissen Valzin erzählt, der auf Richelieu’s Befehl gefangen gehalten wurde.
Authentische Angaben über den Aufenthalt des Gefangenen auf Marguerite existiren nicht. Erst mit der Versetzung von Saint Mars nach der Bastille tritt die eiserne Maske wieder in den Gesichtskreis der Geschichte. Wie von Pignerol nach Exilles und von Exilles nach Marguerite, wurde der Gefangene auch von Marguerite nach der Bastille mitgenommen. Er reiste in einer Sänfte. Daß er eine Maske getragen habe, wird blos von einer, noch dazu unzuverlässigen, Seite erzählt. In der Bastille trug er wirklich eine Maske, aber nicht von Eisen, sondern von schwarzem Sammet, wie sie von den Damen auf Reisen allgemein getragen und Wolf genannt wurde. Hier in der Bastille starb er auch am 19. November 1703 und wurde auf dem Kirchhofe des Gefängnisses begraben. Das Kirchenbuch nennt ihn Marchiali und giebt sein Alter zu fünfundvierzig Jahren „oder ungefähr so“ an.
[649] Wer war die eiserne Maske? Mit Bestimmtheit können wir sagen: weder Fouquet, der 1680 in Pignerol gestorben ist, noch der Herzog von Beaufort, den die Türken bei der Belagerung von Candia erschossen haben, noch der Herzog von Monmouth, der in London öffentlich hingerichtet worden ist, noch der Graf Vermandois, der, an den Blattern gestorben, in Arras begraben liegt, noch endlich Matthioli, von dem mit höchster Wahrscheinlichkeit angenommen werden muß, daß er in Exilles gestorben ist. Indem wir alle diese Persönlichkeiten, die man für die eiserne Maske gehalten hat, bei Seite schieben, bleibt nur eine übrig, welche allerdings unter den verschiedenen bald hier bald da genannten unser größtes Interesse erregen würde, – wenn sie überhaupt existirt hätte.
Die eiserne Maske soll ein illegitimer älterer oder jüngerer Bruder Ludwig’s des Vierzehnten sein. Voltaire hat diese Vermuthung aufgestellt und in Folge des ungemeinen Ansehens des großen Philosophen, der bekanntlich nichts weniger als ein gewissenhafter Historiker gewesen, ist sie zu einer sehr verbreiteten geworden. Wer eine solche Thatsache aufstellt, muß Beweise für sie beibringen. Wo sind diese? Für die Behauptung, daß die eiserne Maske ein jüngerer Bruder Ludwig’s des Vierzehnten, ein Sohn Anna’s von Oesterreich und Mazarin’s, gewesen sei, läßt man eine zweite Behauptung den Beweis übernehmen: die Königin Wittwe sei mit Mazarin heimlich vermählt gewesen. Das ist möglich, mehr nicht, und nirgends findet sich auch nur die leiseste Andeutung, daß aus dieser Verbindung ein Sohn hervorgegangen sei.
Mehr einem Beweise sieht das ähnlich, was man dafür gesagt hat, daß die eiserne Maske ein älterer Bruder Ludwig’s des Vierzehnten gewesen sei. Ist das wahr, so kann die Geburt nur 1631 erfolgt sein. Mit dieser Zeit beschäftigt sich ein merkwürdiges Tagebuch, das 1648 im Druck erschien ist und für dessen Verfasser Richelieu selbst gilt. Ein näheres Eingehen auf den Inhalt dieses fürchterlichen kleinen Buches, wie Michelet es nennt, verbietet sich in einer Zeitschrift, auf deren Zeilen schöne Augen zu ruhen pflegen. Genug, daß Anna von Oesterreich beschuldigt ward, einen Ehebruch begangen und die Folgen, ein kaum entstandenes Leben wieder vernichtend, beseitigt zu haben. Also auch dieser einzige angebliche Beweis, daß ein älterer Bruder Ludwig’s des Vierzehnten am Leben gewesen und wegen seiner großen Aehnlichkeit mit dem König den Augen der Menschen entzogen worden sei, wird hinfällig. Man hat dies zugeben müssen und alle Bemühungen darauf gerichtet, einen indirecten Beweis zu führen. Wäre die eiserne Maske kein Bruder des Königs, hat man gefragt, warum dann dieses Geheimniß, dieses Ketten des Gefangenen an Saint Mars, die gute Verpflegung und besonders wozu die eiserne Maske?
Die Erklärung aller dieser Maßregeln haben die neuesten geschichtlichen Forschungen über das alte französische Gefängnißwesen gegeben. Besonders werthvoll sind die Aufschlüsse, welche Ravaisson’s im vorigen Jahre erschienene „Archive der Bastille“ liefern. Die eiserne Maske wurde genau so behandelt wie alle Gefangenen, die in „geheimster Haft“ (au secret absolu) saßen. Ohne auf die Leiden, die man wichtigeren Gefangenen zufügte, die geringste Rücksicht zu nehmen, hatte man nur das Eine im Auge, daß sie für die ganze übrige Welt todt seien, und dies Verfahren beschränkte sich nicht auf Frankreich allein. Auch Deutschland hat seine Oublietten gehabt, und erst durch die Julirevolution sind die armen Carbonari, deren Existenz von der Hofburg aus bis in’s Kleinste geregelt wurde, aus ihren Zellengräbern auf dem Spielberg erlöst worden.
Ehe die eiserne Maske, sagt man weiter, in der Bastille ankam, wurde für sie ein Zimmer besonders möblirt. Das war keine Auszeichnung, sondern Regel. Erst seit 1746 hat es in der Bastille möblirte Zimmer gegeben. Wenn 1698 ein Gefangener kam, hatte er sich mit dem Tapezierer der Bastille über seine Einrichtung zu verständigen. Im Jahre 1709, sechs Jahre nach dem Tode der eisernen Maske, wies der König Gelder an, um für fünf bis sechs Zimmer Möbeln, nämlich ein Bett, einen Tisch und zwei Stühle, anzuschaffen. Die Möbeln der eisernen Maske sollen sehr kostbar gewesen sein. Wer hat sie gesehen, wer über sie berichtet? Wie die Einrichtung in Exilles beschaffen war, wissen wir. Daß sie in der Bastille nicht besser gewesen, schließen wir unter Anderm aus den Klagen eines andern Gefangenen von Stande, dessen Gefängniß unter dem der eisernen Maske lag, und zwar im zweiten Stock, so daß er es gewiß nicht schlechter gehabt hat, als sein Leidensgefährte im dritten Stock.
Daß die eiserne Maske gute Kost gehabt hat, ist gewiß. Alle Gefangenen hatten ihre Verpflegung nur zu loben. Lägen nicht authentische Beweise vor, so könnte man an den Tafelluxus, der in der Bastille herrschte, kaum glauben. Jedes Mittagessen bestand aus mindestens drei Gerichten und einem Nachtisch, Alles reichlich und wohlschmeckend. Dazu wurden zwei Flaschen Wein gegeben und am Abend gab es eine dritte. Die Schließer brauchten zum Abdecken eine lange Zeit, denn sie gingen langsam von Zelle zu Zelle, um unterwegs das Uebriggebliebene zu verzehren. Die Speisereste überließ ihnen jeder Gefangene, die Weinneigen keiner. War bei Tische noch kein Durst da, so kam er gewiß später. Kranken schickte der Gouverneur Speisen von seiner Tafel, und die eiserne Maske, die oft unwohl war, wird dieser Gunst auch oft genossen haben. Der Gouverneur, der die Speisung besorgte und dem Staat große Rechnungen zu machen verstand, hatte natürlich ein Interesse daran, daß seine Gefangene leben blieben, und pflegte sie daher gut.
Daß der Gefangene, der den Namen der eisernen Maske führt, in der Bastille nicht zu den Vornehmen gerechnet wurde, ergiebt sich mit Gewißheit daraus, daß er in einem Thurm untergebracht wurde. Die „Personen von Distinction“ erhielten Gefängnisse in den Gebäuden zwischen den Thürmen, die armen Teufel steckte man in die letzteren und zwar jeden zu seines Gleichen. Der Dieb kam zum Diebe, der Fälscher zum Fälscher, der Giftmischer zum Giftmischer. Da der unter der eisernen Maske sitzende Gefangene ein Spion war, so läßt sich mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß auch jener ein Spion gewesen sei. War er es, so erklärt sich, daß er Saint Mars bei jeder Versetzung desselben zu folgen hatte. Er hatte bei seinem Gewerbe Staatsgeheimnisse erfahren, die es räthlich machten, mit seinem Hüter nicht zu wechseln.
Aber die eiserne Maske? Man erinnere sich doch der Einrichtungen bei unserem modernen Zellensystem. Wie wird dafür gesorgt, daß kein Gefangener mit dem andern verkehre, keiner den anderen sehe! Selbst „eiserne Masken“ sind früher wenigstens üblich gewesen, namentlich wenn ein Sträfling in’s Sprechzimmer geführt wurde. Der Mann mit der eisernen Maske saß in geheimster Haft und durfte sein Zimmer eigentlich nie verlassen. Er kränkelte und aus Humanität gestattete man ihm Spaziergänge, ließ ihn aber eine Sammetmaske tragen, damit Niemand ihn erkenne. Wahrscheinlich hat es vor ihm verschiedene Männer mit der eisernen Maske gegeben, und er als der letzte hat sich im Andenken der Menschen erhalten, die auf ihn, wie es mit Repräsentanten einer ganzen Classe zu geschehen pflegt, alle die Romantik concentrirt haben, welche mit den Schicksalen mancher seiner Vorgänger verbunden gewesen sein mag.
Wenn im prachtstrahlenden Zuschauerraum eines neuen Theaters die staunende Menge vor den Geheimnissen des Vorhangs sitzt, in den Garderobezimmern die Künstler und Künstlerinnen des Dramas, der Oper oder des Ballets für das verkündete Spiel die Glieder geschmückt haben, der Dirigent an sein Orchesterpult, der Souffleur in seinen Kasten eilt und der Director Regisseure und Maschinenmeister, wie der Capitän eines Schiffs Officiere und Steuerleute, auf ihre Posten stellt und „alle Mann an Bord“ ruft, – in solchen Augenblicken ist die Bühne ein unnahbares Heiligthum, und wenn der Vorhang endlich sich erhebt, steht sie vor uns als das Spiegelbild all’ der Natur und Kunst, die draußen in der Welt seit Ewigkeit den Rahmen für das große Bild darstellen, welches „Leben“ heißt.
Und welche Erscheinung der Natur, welche Gestaltung der Kunst kann sich heutzutage der Nachahmung auf der Bühne entziehen? Keine! Ueber wogendem Meere raucht der Feuerberg [650] und über Wald und Au schimmert das Alpenglühen, daß man zur Lorgnette greift, um das Wunder zu beobachten; in die Felsenschlucht leuchtet der aufgehende Mond und über der endlosen Wüste geht so majestätisch die Sonne auf, wie Tausende auf den Sitzen der Logen es im Leben nie gesehen; vom Markt sieht man in die langen Straßen der Städte, und im Park erfreut uns der köstliche Blumenflor und darüber das Wolkenspiel am blauen Himmel; ja, noch mehr – die Gewitternacht erschüttert uns, Blitze leuchten, Donner rollen, Winde heulen und das schwankende Schiff versinkt in den Wogen, daß uns im Herzen graut; und noch nicht genug: Geister steigen aus der Erde, Genien fliegen durch die Luft, wie von himmlischen Melodien getragen; ja, die Hölle selbst kann vor unsern Augen toben, lodern und versinken und ein Paradies niederschweben aus der Höhe, um den grausigen Abgrund zu bedecken, – denn nichts ist den Beiden unmöglich, die hier in Eintracht walten, der Decoration und der Maschinerie.
Wollten wir aber am Morgen nach solch’ einer erscheinungsreichen Nacht die Bühne betreten, um hinter das Geheimniß all’ der Herrlichkeiten und Schrecknisse zu gelangen, so würden wir leicht in ein wildes Durcheinander von Coulissen und Versetzstücken, Hinterwänden und Requisiten gerathen und nur ein Grauen verspüren, wo wir Aufklärung suchten. Wie ganz anders ist dies bei einer noch unberührten Bühne, die, in ihrer Vollendung dastehend, aber noch frei von aller Bekleidung, allem Decorationsschmuck, welche wohlgeordnet in ihren Magazinen aufbewahrt sind, uns den Blick freigiebt in all’ die kunstreiche Gliederung, die so großartige Bewegung von Massen und Einzelnem in geregeltester Ordnung möglich macht. Ein solcher Blick ist uns jetzt noch auf der Bühne des neuen Theaters zu Leipzig gewährt, und wir glauben, unsere Leser werden uns um so lieber zu einem Morgenbesuch bei derselben folgen, als sie von allen Sachverständigen als eine Musteranstalt im Maschinen- und Decorationswesen anerkannt wird.
Wie jungfräulich unberührt, wie rein und blank ist Alles in dem hellen Bau! Noch uneingeweiht, aber auch noch unentweiht jeder Raum dieses Tempels! Der Blick frei überall bis in’s Herz hinein. Den Zuschauerraum füllt noch das Gebälke der Gerüste vom Boden bis zur Decke an und der Schall rastloser Werkzeuge dringt zu uns herüber; aber auf der Bühne ist Friede und Ruhe: sie ist fertig und bereit, jeden Augenblick sich in den gebotenen Schmuck zu werfen und ihre Wunder zu entfalten. Und wie seltsam nimmt sie sich dabei aus! Schauen wir von der Stelle des Souffleurkastens aus empor, so erscheint es uns, als ob da ein hänfener Regen mit gewaltigen Eisentropfen losgelassen werden sollte: so hängen von der Decke des Schnürbodens bis weit herab zum Bühnenboden die Schnüre mit den Gewichten, welche zum Herab- und Hinaufziehen der Hinterwände bestimmt sind. Zwischen diesen standhaften Regenstrahlen hindurch erkennen wir an den Coulissen- und Hinterseiten der Bühne vier Maschinengalerien übereinander aufsteigen. Auf einer später nur dem Maschineriepersonal zugänglichen steinernen Wendeltreppe gelangen wir zur ersten Galerie, welche die Höhe der Soffiten einnimmt, d. h. der Leinwandstreifen, welche als Himmel oder Decke zwischen den beiden Coulissenreihen das Bühnenbild nach oben begrenzen. Von einer Seite dieser Galerie zur anderen laufen quer über diesen Maschinenraum der Bühne hin sechs schwindelnde Stege oder Brücken, von welchen aus die Beleuchtung der Soffiten, die Flugmaschinen und sonstigen höheren Ueberraschungen geleitet werden. Zu den übrigen Galerien bis zum Schnürboden hinauf gelangt man auf Holztreppen; die Fußböden all’ dieser Galerien und Brücken sind leichtes Lattenwerk, so daß von oben bis unten Alles hübsch durchsichtig ist in diesen Hallen.
Werfen wir auf einer dieser vier Galerien einen Blick an die Wand zur linken oder rechten Seite der Bühne, so könnten wir uns einbilden, uns auf einem Schiff zu befinden, so massenhaft laufen Taue, Seile und Schnurbündel daran aufwärts, um mächtige Segel zu halten; und es ist auch so etwas, nur daß hier die Segel jene großen Hinterwände und Versetzstücke vorstellen, welche, in ihrer ganzen Ausdehnung in Rahmen gespannt mit Hülfe die Last beherrschender Gewichte nieder- und aufgeführt werden. Gewichtsstückreihen zu handlichem Bedarf sehen wir auf jeder Galerie, und die großen Gewichtsmassen der schweren Hintergründe laufen in besonderen Holzkasten zu beiden Seiten der Bühne vom Schnür- bis zum Bühnenboden. Welches Geschäft für den Seiler dabei heraussprang, mögen einige Zahlen verrathen. Wenn wir nämlich alle die Taue und Seile, welche in der Ober- und Untermaschinerie zur Benutzung eingezogen worden sind, aneinander binden wollten, so würden nur fünfundsechszig Ellen an der Strecke von vier deutschen Meilen fehlen, die man damit abmessen könnte, d. h. diese Bühne beanspruchte siebenundvierzigtausend neunhundert fünfunddreißig Ellen von der hänfenen Arbeit des Rückschritts, welcher allein den Seiler vorwärts bringt.
Wir verlassen die erhabene Lattenpromenade, um uns wieder auf den sicheren Boden der Bühne zu begeben. Sicheren Boden? Keinen Schritt sind wir auf ihm sicher. Mit ausgesuchtester Tücke hat der Maschinenmeister ihn so eingerichtet, daß er uns in die Unterwelt da verschwinden lassen kann, wo wir es am wenigsten vermuthen. Den vier Galerien der Obermaschinerie entsprechen vier Untermaschinerie-Räume, nämlich drei Versenkungsabtheilungen und darunter der Kellerraum, des Schnürbodens Antipode. Gleich der erste Versenkungsraum zeigt uns an den großen Winden und Walzen mit mächtigem Tauwerke, daß man hier nichts Kleines im Schilde führt. Ueber die ganze Bühne laufen lange, durchgehende Versenkungen, mittels welcher man in großer Gesellschaft verschwinden und in welche man ganze Prospecte, wenn deren Emporziehen störend sein sollte, in die Tiefe abgehen lassen kann; für Personen kann dieselbe nach beliebigem Bedarf verkleinert werden. Soll aber ein Aeußerstes geschehen, so kann sämmtliches den Bühnenboden tragendes stehendes Gebälk in kürzester Zeit herausgenommen, ein hängendes an dessen Stelle gebracht und dann, auf des Schicksals Wink, die ganze Bühne zwischen Coulissen und Hinterwand mit Einem Schlage versenkt werden. Für das bescheidenere Auftreten oder Verschwinden einzelner Gespenster dienen zwei ebenfalls ganz neue kleine transportable Versenkungen, deren jede ein Mann dirigiren kann. Dazu ist eine „schräglaufende Versenkung“ gefügt, eine äußerst sinnige Maschinerie, die irgend ein unheimliches Wesen der Tiefe auf die unheimlichst langsame Weise aus der runden Oeffnung eines durch sogenannte Jalousieklappen gebildeten Versenkungsbodens gleichsam herauswachsen läßt, und zwar langsam vorwärtsschwebend bis zur völligen Erscheinung über der Bühne. Das Verschwinden des betreffenden Unholdes kann auf dieselbe sanfte Weise geschehen, wenn derselbe nicht mit Ach und Krach abfahren soll, was ebenfalls gemacht werden kann. Eine ganz neue Einrichtung sind auch die sogenannten Fahrstühle für den Maschinenmeister; dieselben befördern ihn in einem Augenblick von der Bühne aus in die Unter- oder Obermaschinerie, wo irgend in der Versenkung oder im Prospect- und Soffitenbereiche einer Hemmung und Störung augenblicklich abgeholfen werden muß.
Die nämliche Beachtung, wie diese, nehmen als ebenfalls ganz neue Einrichtungen die Coulissenbeleuchtungs- und Gasregulirungsapparate in Anspruch. Trotz der ziemlich langen Fahrrinne der Coulissenwagen folgen die Gasrohre jeder Bewegung derselben. Am unteren Theile des Eisenblechkastens, welcher die Lampen mit den Färbungsgläsern hält und umschließen kann, ist ein neuer Verfärbungsapparat angebracht, indem mittels einer konischen Schraube leicht und geräuschlos die bestimmten Gläser in den Beleuchtungskreis geschoben werden. Sehr interessant sind auch die Apparate zur Regulirung der Beleuchtung. Der eine, an der linken Bühnenwand hinter den Coulissen angebrachte Apparat dient zur Regulirung der Lichtstärke der sechs Reihen Soffitenlampen, denen das Gas in langen Schläuchen von den Maschinerie-Galerien her zugeführt wird; der andere Apparat setzt einen Mann in den Stand, die Beleuchtung des großen Kronleuchters im Zuschauerraume, die Beleuchtung der Rampe, der Coulissen und der Versetzstücke, sowie die der etwaigen Kronleuchter auf der Bühne von einem Kasten aus und zwar auch so zu reguliren, daß die eine Seite der Bühne in Dunkel gehüllt und die andere zugleich in das hellste Licht gesetzt werden kann. Auch den Blitzschlauch hat derselbe Mann in seiner Gewalt.
Den Blitzschlauch? Ja wohl! Für das übrige Donnerwetter sorgt der Maschinenmeister in gar absonderlicher Weise. Wenn so ein Sturm der Natur auf der Bühne ausbricht, wie schauerlich erscheint das im Zuschauerraume, – und wie gemüthlich ist’s hinter den Coulissen! Die Scene verfinstert sich und der Wind erhebt sich – denn die Maschinisten am Regulirungskasten und bei den Coulissen sorgen dafür, daß erst rothe, dann blaue Gläser oder Gazeschirme vor die sich mehr und mehr leise zurückziehenden [651] Gasflammen kommen, immer dichtere dunkle Gazestücke von dem Soffitenhimmel niedersinken – bis „des Donnrers Wolken hangen schwer herab auf Ilion“[WS 1] – während ein harmloser Mann die Kurbel eines trommelartigen Rades handhabt, von dessen Welle Latten ausgehen, deren zugespitzte Enden an durch Gewichte festangespannter Leinwand hinstreichen. Je nachdem diese „Windmaschine“ in Bewegung gesetzt wird, läßt sie die Sprache der Lüfte vom Sausen bis zum Pfeifen und Heulen vernehmen, genau wie der Dichter es vorgeschrieben. Schon gruselt’s dem zartnervigen Publicum der Logen und die Galerie lauscht freudig der vielversprechenden nächsten Zukunft entgegen. Da tritt ein Mann mit der Sicherheit des Künstlers an einen Tisch, als dessen Platte ein großes Trommelfell dient, das rings am Tischrahmen fest angespannt ist. Ueber dieser wunderlichen Tischplatte erhebt sich ein Gestell, von welchem herab viele kleine und größere mit Leder oder Leinwand überzogene hölzerne Kugeln so an Schnuren hängen, daß sie, falls sie etwa auf dem Tischtrommelfell das Tanzen ankommen sollte, nicht durch ihre eigenen Sprünge herabgeworfen werden können. Dieses Tanzen ist aber ihr ganzer Zweck und wird dadurch bewirkt, daß der besagte sichere Mann mittels ein paar Handeln oder Pauken- oder große Trommelschlägel das Tischfell nach Vorschrift bearbeitet. Je nachdem er sanft berührend oder stärker betastend oder tapfer daraufschlagend zu Werke geht, wird ein fernher nahendes Rollen des Unwetters, ein erhabener Donner mit seinem Widerhall an den Festen des Himmels oder ein Donnerkrach mit wildem Dröhnen der Wolkenwände erfolgen, und um so majestätischer wird das Vergrollen und Verrollen am erschütterten Firmamente lauten, je länger die kleinen Kugeln auf dem Felle der „Donnermaschine“ herumhüpfen.
Das Gewitter verlangt jedoch mehr: ein Blitz leuchtet auf und auch das geht natürlich zu, denn wenn man eine Vorrichtung hat, daß über ein winziges Pünktchen Gaslicht durch Berühren einer Klappe an einem Gasschlauch plötzlich ein Gasstrahl dahinfahren muß, der augenblicklich durch Schließung der Klappe wieder erlischt, so muß dies in der finsteren Bühnennacht blitzartig wirken. Durch mehrmaliges Oeffnen und Schließen einer Klappe hintereinander wird das Gewitter noch schwerer gemacht; wenn aber gar das Aeußerste geschehen soll, wenn es einschlagen muß, dann bleibt dem Mann an einem hohen viereckigen Holzkasten nichts übrig, als die Schnur zu ziehen, welche das oberste Querbret voll großer und kleiner Kieselsteine oder steinernen Kugeln zum Umkippen bringt: die krachende Last fällt auf ein darunter querliegendes Bret, das etwa nur Zweidrittheil des Kastens ausfüllt, also Raum genug offen laßt, daß die einmal im Schuß befindliche Steinmasse auf ein in entgegengesetzter Richtung darunter ebenfalls geneigt laufendes Bret stürzt und von dem wieder auf eins und so ein Dutzend Male fort, bis die letzten nachrollenden Klumpen den untersten Raum des Kastens erreicht haben. Furchtbar ist die Wirkung dieses einfachen Naturspiels; Blitz, Donner und Krach haben das Ihre geleistet, und es ist nun nothwendig, daß der Regen losgeht, erst sanft, dann immer rauschender, bis zum Gießen, und auch das geschieht, ohne daß sich Jemand einen Finger dabei naß macht. Wir können sogar mit zwei Regen dienen, die ein Mann mit Gemüthsruhe leisten kann. Ein langer Holzkasten, ähnlich wie der Einschlagapparat, nur so eingerichtet, daß er in der Mitte seiner Länge, wie eine Sanduhr, umgedreht werden kann, ist ebenfalls mit etwa einem Dutzend Querbrettern durchzogen; diese schließen jedoch den Raum ganz und sind dafür selbst so durchlöchert, daß eine auf dem obersten Brette aufgeschüttete Viertel- oder halbe Metze Erbsen langsam hindurchfällt bis auf das unterste Bodenbrett. Ist sie unten angekommen, so dreht man die Maschine herum, und der Regen geht von Neuem seinen schönen, geregelten Gang. Ungestümer durch des Menschen Hand ist er zu machen, wenn die Erbsen (oder auch Schrotkörner) in einer viereckigen Blechröhre laufen, die um den Kranz eines Rades befestigt ist; innerhalb der Röhre treten, wie bei der Einschlagmaschine abwechselnd links und rechts Querbrettchen, hier Querstreifen von Blech, die Hälfte bis Zweidrittel des Raums einnehmend, hervor, und wenn nun mittels der Kurbel das Rad gedreht wird, so fallen oder schlagen die Erbsen oder Schrote, mit denen man eine Abtheilung der Röhre gefüllt hat, von Blech zu Blech mit einem Geräusch, an welchem Jedermann einen tüchtigen Platzregen erkennt, genau wie er im Buche steht. Und soll nun post nubila Phoebus (denn „nach Regen folget Sonnenschein“) der Erde wieder leuchten, so stellt man alle Unwettermaschinen bei Seite, läßt die Gasflammen der Rampen, Coulissen und Soffiten wieder durch das blaue und rothe Glas zum hellen Lichte zurückkehren und kann, wenn auch die Gazewolken sich in ihre Behälter verzogen haben, mittels elektrischen Lichtes Tagesklarheit über die ganze froh aufathmende Bretterwelt verbreiten.
Ehe wir von unserer jungfräulichen Bühne und den Wundern ihrer Coulissenwelt Abschied nehmen, betrachten wir im Vorbeigehen noch ihre drei prachtvollen Vorhänge, von denen der erste der Haupt-, der zweite der Zwischenacts- und der dritte der Verwandelungsvorhang ist. Ob für Fälle von Bühnenbränden auch hier, wie im Drurylanetheater zu London und im Münchener Hoftheater, ein Vorhang von Eisenblech bereit sein wird, die Bühne vom Zuschauerraum hermetisch abzusperren, wissen wir noch nicht; das aber wissen wir, daß nicht, wie einst im Londoner Coburg-Theater, ein Vorhang von Spiegelglas dem gesammten Publicum sein eigenes Bild entgegenwerfen wird, weil die Bühne selbst es sich nicht nehmen läßt, diese Bespiegelung zur Aufgabe ihres ganzen Wirkens zu machen. Möge dies stets in edler, wahrhaft kunstwürdiger Weise geschehen!
Unvergeßlich bleibt mir der erste Morgen, der mir in der heutigen Capitale des alten Pharaonenlandes, im märchenhaften Kairo, aufging; unvergeßlich die ernsten, feierlichen Männerstimmen, die mich weckten, jener eigenthümliche Gesang, mit dem die Muezzin von den unzähligen, wie Pfeilspitzen in den Himmel strebenden Minarets der Kalifenstadt die Gläubigen zum Gebete laden; unvergeßlich vor Allem der Eindruck, welchen mir das bunte Gewühl auf den engen Straßen machte, das unaufhörliche Gedränge von Eseln und Pferden und langen Zügen beladener Kameele, durch die sich unter beständigem Eifern, Schreien und Schimpfen von Seiten der Thier- und Wagenlenker der Fußgänger nur mühsam windet. Aber gar bald wird man dieses ewigen Tobens und Lärmens müde und sehnt sich nach einem Augenblicke der Ruhe. In solchen Momenten flüchtete ich hinaus in die Allee riesiger Sykomoren, die nach den üppigen Gärten von Schubrah führt, welche die Harems Halim Paschas bergen. Der weiche, zarte Morgenduft schwebte noch über den grünen Feldern, die sich wie Teppiche zwischen den Landhäusern der Reichen an beiden Seiten der Straße ausbreiten. Schwärme von Pelikanen und Flamingos eilten hoch in den Lüften dem nahen Nile zu, während Ibisse und blendendweiße reiherartige Vögel auf den Feldern, wie bei uns die Störche, inmitten des weidenden Viehs umherstolzirten, zwischen den Reihen an Pfähle gebundener Büffel, Kühe, Ziegen, Pferde, Schafe, Esel, Dromedare, Kameele, Maulthiere, die das Grünfutter in bewundernswerther systematischer Ordnungsmäßigkeit abweiden – eine wahre Ausschüttung der Arche Noah’s. Die Allee war heute belebter, als gewöhnlich. Schaaren zu Fuß und zu Wagen, Männer und Frauen, Alt und Jung waren auf dem Wege zu den Begräbnißstätten, die, wie die Bäder, vorzugsweise und häufig von den Frauen besucht werden, und heute mochte ein besonderes Fest noch größere Massen, als gewöhnlich, zu den Stätten des ewigen Friedens rufen.
Plötzlich machen zwei junge Barbariner in weißseidenen aufgeschürzten Hemden, kurzen Hosen, mit nackten braunen Armen, lange [652] Peitschen schwingend, im größten Schnelllauf eine freie Bahn. Zwei Vorreiter sprengen im Galopp sechs vierspännigen Carossen vorauf, an deren Seiten berittene und bewaffnete Eunuchen einhertraben. In den Wagen sieht man unter reicher weißer, mit Gold durchwirkter Umhüllung nur dann und wann beim schnellen Vorüberrollen Brillantgeflimmer von Ringen an rosigen Fingern oder ein wetteiferndes Sprühen schwarzer Augensterne. Wir haben die Frauen aus dem Harem Halim Paschas erblickt. Das bescheidene Harem eines Bei folgt langsameren Schrittes auf abyssinischen Eseln, die mit hohen Sätteln versehen und mit bunten Teppichen behangen sind.
Am häufigsten begegnet man indeß derartigen Frauenzügen zu Fuß. Ihnen voraus bewegt sich gravitätisch der dicke, würdige Eunuch mit langem Rohrstabe, um die Neugierigen von beiden Seiten der seiner Obhut übergebenen Heerde fern zu halten.
In achtungswerthem Anstandsgefühl meidet es der Morgenländer, den Blick auf vorübergehende, wenn auch tief verschleierte Frauen zu richten. Der harmlose Europäer kennt solche feinen moralischen Scrupel nicht; erhält sein Rücken indeß keine Verwarnung durch des Eunuchen kernfesten Stab, dann darf er darin keine Billigung seiner Keckheit, sondern nur die Anerkennung ausgedrückt finden, deren sich zu seinem Heil die europäischen Consuln erfreuen. Aber trotz der moralisch gebotenen Verhüllung lautet ein arabisches Sprüchwort: „Nur die Häßliche verbirgt sich,“ und hierauf läßt sich die Hoffnung bauen, daß der kecken Neugierde gegenüber einmal dennoch einer Schönen der Schleier entfallen werde.
Daß übrigens in der ägyptischen Frauenwelt moralische oder religiöse Scrupel stark im Schwange sind und zu nachhaltiger Geltung kommen, darüber konnte mir mein Freund, der bekannte Berliner Architekt Karl v. Diebitsch, den ich zu meiner Freude in Kairo vorfand, erbauliche Mittheilungen machen. Diebitsch, bekannt als Restaurator und geistvoller Fortbildner arabischer Architektur, neuerdings vielbesprochen wegen seines in Paris ausgestellten herrlichen arabischen Kiosk, von dem die Leipziger Illustrirte Zeitung jüngst eine Abbildung lieferte, war vom Vicekönig Ismael Pascha zur Ausführung größerer Bauten nach Kairo berufen und hatte neben anderen Gebäuden auch für einen reichen europäischen Bankier einen orientalischen Prachtbau durchgeführt, dessen Geschichte interessant genug ist, um als Beitrag zur Sittenschilderung modern-orientalischen Lebens hier erwähnt zu werden. Der Bankier, mosaischen Ursprungs, aber christlicher Convertit, welcher in sieben Jahren sein Vermögen von eintausend auf eine Million Pfund Sterling gebracht hatte, mußte wohl auch in der Frömmigkeit einen besonders hohen Grad erreicht haben; da seine Mittel es ihm erlaubten, glaubte er sich den Luxus einer eigenen christlichen Capelle in dem neuen Prachtbau gestatten zu können. Aber die Ungunst der Verhältnisse gewährte ihm den Genuß nicht, in der prächtig geschmückten Capelle seine Andacht zu verrichten. Er fiel beim Vicekönig in Ungnade und mußte mit seinen Millionen nach Paris übersiedeln, während sein schöner Palast an Nubar Pascha, den Minister der öffentlichen Bauten, vermiethet ward. Dieser, obwohl armenischer Christ, fand es sehr bedenklich, eine christliche Capelle im Hause zu haben, und ließ sie daher zumauern. Seine Gemahlin indeß, die Tochter eines reichen christlichen Juweliers aus Constantinopel, hielt noch strenger auf die Dehors; sie beklagte sich bei Herrn von Diebitsch, daß sie durch die Fensterkreuze – die Form des Kreuzes – bei den dominirenden Muhamedanern in den Verdacht kommen könne, mit ihrem Christenthum prunken zu wollen. Kurze Zeit darauf kaufte Mohammed Bey, ein Moslim, das Haus, und Herr v. Diebitsch mußte einen Theil des Gebäudes zum Harem umbauen. Da entstand plötzlich die heftigste Opposition unter den Frauen Mohammed Bey’s; sie wollten durchaus nicht in ein von einem Christen erbautes Haus hineinziehen, ja, selbst in dem Mausoleum, welches mein Freund für den Bey errichten sollte, wollten die gläubigen Frauen sich nicht einmal begraben lassen. Sie mietheten Leute, welche beim Beginn des Baues die Arbeiter mit Steinen von der Begräbnißstätte verjagen mußten. Nach diesen Symptomen erscheint in der That das von uns als unterdrückt bemitleidete schöne Geschlecht des Morgenlandes dem Fortschritt weniger zugethan, als man erwarten sollte.
Der Grund solcher religiösen oder fanatischen Richtung, die bei den Frauen des Orients sehr verbreitet ist, liegt unzweifelhaft in der Gesammtheit der orientalischen Institutionen, welche sich gegenseitig bedingen und halten und von denen man nicht die eine oder andere umbilden kann, ohne, wie das Ganze, so mit diesem die gesicherte Stellung der einzelnen zu gefährden. Diese innere Zusammengehörigkeit wird durch die Religionsanschauung sanctionirt, welche den Heiligenschein gerade über diejenigen Gestaltungen ergießt, die dem Europäer verdientermaßen am anstößigsten sind. Hierzu gehören vor Allem die Eunuchen, die ich geneigt bin, als besondere Träger und Repräsentanten des muhammedanischen Fanatismus anzusehen. Als Schutzpatrone ihrer weiblichen Pflegebefohlenen genießen sie eine besondere Achtung, welche sie durch gravitätisches Exterieur, durch moralisch-religiöse Haltung, durch eifriges Besuchen der Moscheen und treues Beobachten der Ritualien zur wahren Ehrfurcht zu steigern wissen, die ihnen auch zum Theil als Sühne für das ihnen zugefügte Unrecht erwiesen werden mag. Sie treten in würdiger Gestalt auf, und wie bei uns Bischöfen und Priestern, nahen sich ihnen viele der Vorübergehenden zum ehrfurchtsvollen Handkuß. Ihre Stellung ist namentlich in reichen Häusern oft sehr glänzend.
Ich hatte es mir zur Aufgabe gemacht, jedem Eunuchen, dem ich begegnete, die unbescheidene Bitte auszusprechen, mir zu einer Zeichnung zu sitzen. Immer aber wurde mein Gesuch mit Entrüstung zurückgewiesen, während doch andere Muselmänner keineswegs so difficil für die Gewährung meiner Bitte waren. Nur einmal gelang es mir, ein nachgiebiges Individuum dieser Species zu treffen; seine charakteristischen Züge schmücken den Führer des Frauenzuges auf dem Genrebild, welches diese Mittheilungen illustrirt. Zuerst wurde meine Bitte von ihm rundweg abgeschlagen, dann aber gestattet, wenn ich das Portrait in fünf Minuten auf der Stelle machen könnte und einen Fiorino (Gulden) opfern wollte. Der in kürzester Frist glücklich vollendete Umriß erregte die heitern Scherze der Umstehenden, allein der Eunuch erblaßte vor Schreck, als er seine wohlgetroffenen Züge in schwacher Bleistiftzeichnung, nicht in tiefem Schwarz, durchgeführt erblickte. Ein Silhouettenschneider in Schwarz würde seinem Wünsche besser entsprochen haben.
Eine unbezwingliche Eitelkeit, namentlich ihre Liebhaberei für Schmuck und Tand, macht die Eunuchen in hohem Maße habgierig und bestechlich. Auch „ihr Magen kann ungerechtes Gut vertragen“. Als Beleg führe ich eine Historiette an, die auch in anderer Hinsicht als Beispiel orientalischen Lebens gelten kann.
Eines Paschas Frau verliebt sich in einen jungen und schönen Wasserträger und besticht den Eunuchen, damit er in Abwesenheit des Gatten ihr den Geliebten zuführe. Aber die Aussicht des sichern hohen Lohnes macht den Eunuchen zum Verräther der treulosen Herrin. Zur bezeichneten Stunde überrascht der Pascha das zärtliche Paar; der junge Wasserträger wird bleich und zitternd aus seinem Versteck hervorgezogen und muß auf dem Divan Platz nehmen, während das treulose Weib genöthigt wird, dem vor Entsetzen halb ohnmächtigen Geliebten die Kaffeeschale, einen Schibuk und Wasser zu reichen, um Hände und Füße zu waschen. Aber die festliche Bewirthung nimmt ein schreckliches Ende. Der hintergangene Gatte ergreift die Treulose bei den Haaren und ein mächtiger Säbelhieb läßt ihr bleiches Haupt zu den Füßen des Geliebten rollen. „Du wolltest mein Weib, jetzt gehört es Dir!“ Dem vor Todesangst schlotternden Wasserträger wird der in einen Sack gesteckte Leichnam aufgebürdet, er muß ihn davontragen, um ihn den verschwiegenen Fluthen des Stromes zu übergeben. Allein einem Polizeibeamten erscheinen Träger und Bürde verdächtig, und die amtliche öffentliche Untersuchung constatirt die angegebenen Thatsachen, die in den mannigfachsten Verzerrungen lange noch Phantasie und Interesse der Bevölkerung Kairos beschäftigten. Es ist ein psychologisches Factum, daß der schauerliche Reiz solcher blutig verlaufenden Haremsgeschichten erhitzte Gemüther oft gerade zu kecken Frevelthaten stachelt.
Eine elegante Equipage rollt vorüber, in der eine verschleierte Dame in türkischer Kleidung sitzt; sie nickt mir zu, sie winkt mir mit der Hand. „Wie,“ fragt erstaunt mein Begleiter, „Sie haben schon Haremsbekanntschaften trotz Ihrer kurzen Anwesenheit?“ Ich bin selbst einen Augenblick im höchsten Grade überrascht, aber die hinten auf der Equipage stehenden Söhne des Sudan lösen mir schnell das Räthsel. Ich erkenne in ihnen die Diener der in der geographischen Welt bekannten holländischen Reisenden Fräulein Alexine Tinne, deren Bekanntschaft ich seit einigen Wochen gemacht habe und zu deren interessanter Behausung und Umgebung mich der freundliche Leser begleiten möge. Fräulein Tinne hat
[653][654] große Reisen im geographischen Interesse in das tiefe Innere Afrika’s unternommen und ist aus den gefahrvollen Gebieten des Gazellenflusses allein mit dem Herrn von Heuglin zurückgekehrt, während ihre andere Begleitung, Dr. Steudner, die Mutter, die Tante, der Arzt und zwei Kammermädchen der Reisenden, die Beute des mörderischen Klimas geworden sind. Fräulein Alexine Tinne ward auf ihren Expeditionen im tiefen Sudan – wegen ihres imponirenden und glanzvollen Auftretens – für eine Tochter des Sultans gehalten und hatte eben deshalb Gelegenheit gehabt, viele Anschauungen zu gewinnen, die Männern nicht leicht geboten werden; ihre freundlichen und geistreichen Mittheilungen erstreckten sich vornehmlich auf die Lebensverhältnisse der muhammedanischen Frauenwelt, die wegen ihrer Abgeschlossenheit, wie jedes Mysterium, stets einen so außerordentlichen Reiz auf die Phantasie der Menschen ausgeübt hat und Dichtern und Malern zum beliebten Vorwurf geworden ist.
In Alt-Kairo, etwa eine halbe Meile von der neuen Stadt, bewohnt die junge Dame, in der die phantasiereiche Bevölkerung wegen ihres Reichthums und der reichlich gespendeten Almosen wohl eine Sultanstochter vermuthen konnte, ein labyrinthisches, ruinenartiges Haus, in welches sich leicht eine märchenhafte Geschichte aus Harun al Raschid’s Tagen hineinphantasiren ließe. In den ersten Vorhof gelangt man durch dunkle, kellerartige Gänge, in denen sich zugleich Esel- und Pferdeställe befinden; von dem Hof, welchen drei mächtige Palmenbäume schmücken, führen freistehende, steinerne, sehr defecte Treppen auf die Plattform der Hinterhäuser. In den zerbrochenen Fenstern springen allerhand Affen herum, nubische, zur Gazellenjagd abgerichtete Windhunde kommen uns kläffend entgegen, kleine Sclavenknaben und -Mädchen, die wenig bekannten sudanischen Racen angehören, lagern auf dem Boden und sonnen sich. Ein alter, weißbärtiger arabischer Diener führt uns durch einen zweiten Hof in ein großes, parterre gelegenes Zimmer, welches in seinen Einrichtungen vollständig einem Bivouac gleicht.
Seltsame Waffen und Sättel liegen in den Winkeln umher, überall sieht man aufgebrochene Kisten und Koffer; ausgestopfte Vogelbälge, Geweihe aller Arten Antilopen hängen an den Wänden. Fräulein Tinne, von unserm Besuch benachrichtigt, erscheint; ein dunkles Tuch umschließt ihre schönen blonden Haare; über einem schwarzen Unterkleide trägt sie ein grau-seidenes schillerndes Uebergewand arabischen Schnittes; ihre Füße stecken in gelb-ledernen arabischen Stiefeln. Ihre große schöne Gestalt mit den prononcirten Zügen, dem milden Ausdruck, dem freien und feinen Benehmen macht einen imposanten und zugleich gewinnenden Eindruck, aber die Anstrengungen ihrer Reisen, die Trauer über liebe Anverwandte und Freunde, die ein herbes Geschick von ihrer Seite dahin gerafft, haben ihrem Antlitz den Charakter des Leidens aufgeprägt. Sie führt uns in ihren Salon, das Hauptlocal eines alten Harem. Von drei Seiten fällt das Licht durch die großen Fenster, wird aber in seiner Wirkung durch das feine in Holz geschnitzte Gitterwerk gedämpft, welches den Frauen wohl erlaubt, hinauszublicken, aber nicht gestattet, von außen gesehen zu werden. Von Mobilien enthält das Gemach nur Divans, die von Dattelholzstäben verfertigt an den Wänden herumlaufen, während in der Mitte ein paar sehr originell geformte sudanische Sessel stehen. So stellt sich das Innere eines Harems in seinem Hauptlocal dar.
Zu den Personen des Harems zählen außer der Herrin oder den Herrinnen auch die Sclavinnen und Dienerinnen, deren Anzahl bald größer, bald geringer nach dem Reichthum des Herrn bemessen ist; sie gehören den verschiedensten Nationen an und mögen daher dem socialen Leben einen recht bunten Charakter verleihen. Eine ganz seltsame Menschenmenagerie, wie sie wohl zuweilen, doch gewiß nur selten in ägyptischen Harems gefunden werden mag, lernte ich in den weiblichen Personen kennen, mit denen Fräulein Tinne sich wie eine orientalische Dame umgeben hatte. Diese Wesen sind nicht von Fräulein Tinne gekauft, sondern ihr freiwillig gefolgt, besonders aus denjenigen Gegenden, wo die Dame auf ihren Reisen am längsten ihr Lager aufgeschlagen hatte, also auch am längsten durch ihre Wohlthaten die Herzen gewinnen und an sich fesseln konnte. Eines dieser Lager ist auf der Karte von Baker angegeben, dem berühmten Entdecker des Albert Nyanza, des zweiten großen Beckens, aus dem der Nil neben dem von Speke entdeckten Victoria Nyanza seine Wassermassen über so unermeßliche Flächen ausgießt. Die naiven jugendlichen Schönheiten entblößten mir Arm und Brust, um mich die auf ihnen tättowirten Scorpionen, Schlangen und Krokodile bewundern zu lassen, und enthüllten mir dadurch den primitivesten Zustand der schmückenden bildenden Kunst. Ein zartes Galla-Mädchen, der schönsten Race des Sudans angehörig, trug ihr Köpfchen so stolz, wie eine Bronzestatue der Königin Candace. Das arme Kind war in Suez todtkrank geworden, weil das Klima Aegyptens dem exotischen Gewächs schon zu kalt geworden war. – Diese Personen, welche Fräulein Tinne um sich gesammelt hatte, boten mir eine herrliche Gelegenheit für Bereicherung meiner ethnographischen Studienmappe. Sie präsentirten sich mir zum Zeichnen in allen gewünschten Positionen, ohne sich zu rühren, ohne zu wanken. Einst hatte ich die kleine Kammerzofe von Fräulein Tinne gezeichnet, war dann aber auf ein Viertelstündchen hinausgegangen; da traf ich bei meiner Rückkehr das kleine niedliche Kind geduldig noch in derselben Position ausharren, in der ich es verlassen; ich hatte vergessen, ihm das„chalass“, „es ist fertig“ zuzurufen.
Es ist gewiß schwer, den Schleier der orientalischen Schönheiten zu heben, gleichwohl habe ich eine ganze Mappe voll orientalischer weiblicher Studienköpfe gesammelt; wie überall thut ja auch hier das Geld Wunderdinge. Die Vermittelung übernehmen ältere Frauen, die in die Harems gehen, dort kaufen und verkaufen und Gelegenheit zu Intriguen suchen und finden. Die Durchführung derselben ist leichter, als man wohl wähnt. Wenn die Eunuchen die Damen in’s Bad führen, so bleiben sie selbst bis zur Rückkehr derselben vor der Thür sitzen und rauchen eine Pfeife nach der andern. Die Rückkehr verzögert sich indeß oft sehr lange; denn im Bade wird geschwatzt, geraucht, Kaffee getrunken, Toilette gemacht. Zieht nun eine der Damen im Bade ein anderes Costüm, etwa das eines Fellahweibes, an, so kann sie ruhig an ihrem bewachenden Cerberus vorübergehen; er erkennt sie nicht. Sie kehrt dann zurück, schlüpft in die eigenen Kleider und läßt sich von dem getreuen Wächter nach Hause zurückbegleiten.
Es ist auch Fräulein Tinne’s Meinung, daß die orientalischen Frauen weit davon entfernt sind, vor ihren Herren und Gebietern zu zittern. Vergleicht man unbefangen den Zustand der Frauen im Morgenland mit denen des Abendlandes, so werden sich unzweifelhaft auf beiden Seiten verschieden vertheilt Licht und Schatten finden, aber es ist nicht unmöglich, daß die Bilanz – Alles in Allem gerechnet – keine erhebliche Differenz aufweist. Die orientalischen Damen theilen ganz die ehrenvolle Stellung ihrer Männer; ihr Leben, ihr Vermögen, ihre Wohnung sind heilig und sicher, selbst wenn der Ehemann politischen Gefahren unterliegt; sie genießen dieselbe Erziehung und Bildung wie die Männer und werden verheirathet ebenso selbstständig oder selbstständiger als die occidentalischen Frauen. Ihr Vermögen wird nicht Eigenthum des Mannes; im Gegentheil geht ein Theil des Vermögens ihrer Männer als Aussteuer, welche nicht die Eltern geben, in ihren Besitz über, und so wird die Frau materiell in eine vollständig unabhängige Lage gebracht. Sie disponirt durchaus frei über ihr Vermögen, haftet auch nicht für die Schulden ihres Mannes. Nach dem Tode desselben bleibt sie in ihrem Besitz, ja erhält selbst noch einen bedeutenden Theil seiner Hinterlassenschaft und genießt auch als Wittwe eine höchst achtungsvolle Behandlung. Das Alles sind Thatsachen, welche die Frauen des Orients in vielen Punkten ebenso gut oder vielleicht besser situirt erscheinen lassen, als die des Occidents. Aus eigenen Beobachtungen und zuverlässigen Mittheilungen weiß ich, daß sie sich entschieden nicht für unglücklich halten und keinen Neid wegen der freieren Stellung ihrer abendländischen Schwestern hegen.
Von der Terrasse des Fräulein Tinne genießt man eine herrliche Aussicht auf die Nilinsel Rhoda, die mit ihren herrlichen Gärten voll tropischer Vegetation sich wie ein kleines Paradies darstellt. Dort befindet sich das Harem Mustapha Pascha’s, und das bewaffnete Auge erblickt hin und wieder prächtig gekleidete Damen, die unter den herrlichen Cypressen dahinwandeln, gefolgt von Dienerinnen und Kindern und geführt von dem dickwangigen Führer, dessen ungeschlachte Formen die Anmuth der Frauen und die Liebenswürdigkeit der Kindesnatur nur um so reizender hervortreten lassen. Auch ich war mehrmals Zeuge solcher Damenpromenaden, und die meine Schilderung begleitende Zeichnung verdankt einer dieser interessanten Scenen ihre Entstehung.
Eine berühmte Schönheit. In den Räumen des neuen Museums zu Berlin, in welchen die Kunstschätze und Curiositäten des königlichen Kupferstichcabinets aufgestellt sind, hängt ein verblichenes Pastellbild inmitten einiger Thierstücke und alter Männerköpfe; es hat schon seit längerer Zeit die Aufmerksamkeit von Kennern und Liebhabern erregt. Fast immer sitzen Künstler beiderlei Geschlechts mit ihrem Malapparat davor und copiren mit grellen Farben das blasse Bild. So vervielfältigt hängt es jetzt auch schon in den Kunstläden am Schaufenster und die Leute bleiben davor stehen, indem sie bewundernd fragen: wer ist das? oder auch wohl ohne Neugier sich an der Schönheit laben, die sie für irgend eine Künstlerphantasie halten.
Allein das Bild gehört der Wirklichkeit an, es ist kein Ideal, es ist ein holdes Frauenantlitz, dessen märchenhafte Schönheit allerdings dem Lande der Träume zu entstammen scheint. Dem Lande des Wunderbaren gehörten Erscheinung und Schicksal dieser Frau aber in der That an; die Lebensgeschichte der Gräfin Sophia Potocka gleicht einem barock erfundenen Roman. Einige ihrer berühmten Zeitgenossen, der Graf de la Garde, der Fürst von Ligne, Herr von Varnhagen, haben dieselbe umständlich erzählt; nach ihnen berichteten Hofrath Förster und Baron Zedlitz darüber. Das große Publicum, besonders das weibliche, ist aber gewiß unbekannt mit den Einzelheiten dieses bunten Frauenlebens; ohne weitere Ausschmückung sei es deshalb hier erzählt.
Im Jahr 1786 war ein Herr du Barry französischer Gesandter in Constantinopel; er sah einst bei einem Spazierritt eine Gruppe spielender Kinder auf der Straße, unter denen ihm ein reizendes Mädchen von dreizehn Jahren auffiel. Dunkle Locken und Augen, eine marmorweiße Gesichtsfarbe, eine edle Nase und schlanke Glieder verriethen die griechische Abkunft desselben. Der Gesandte, ein Kenner der Frauenschönheit, bot sich bei den Eltern des Mädchens als Käufer an, was in Constantinopel nichts Ungewöhnliches war, denn die Muselmänner erhandelten sich oft eine schöne Fanariotin oder Georgierin für ihren Harem. Einem vornehmen Franken, der versprach für die gute Erziehung des Kindes und für seine Zukunft zu sorgen, wurden weniger Schwierigkeiten beim Abschluß des Kaufes gemacht, als es vielleicht bei einem Türken geschehen wäre. Im Hotel des Gesandten hatte die kleine Sophia gute Tage, sie bekam eine Erzieherin, schöne Kleider und Geschenke, ihre Eltern und Geschwister durften sie besuchen; ihr Leben glich einem Frühlingstage. Aber schon nach einigen Jahren änderte es sich, der Gesandte wurde von seinem Posten abgerufen. Er reiste plötzlich ab und nahm Sophia, für die er fünfzehnhundert Piaster gezahlt hatte, als sein Eigenthum mit.
Die Reise war sehr beschwerlich, da der Gesandte den Landweg durch die europäische Türkei nehmen mußte. In dem russischen Grenzorte Podolski hielt sich der Gesandte einige Tage bei dem Commandanten der Festung auf, um sich von den Strapazen der Reise zu erholen, und überließ auch die schöne Sophia ganz arglos dem Verkehr mit dem russischen General Johann de Witt, einem Abkömmling des einstigen berühmten Großpensionärs von Holland. Derselbe war ein ebenso schöner wie tapferer Officier, der alsbald eine heftige Leidenschaft für die junge Fanariotin empfand. Er überredete sie, sich heimlich mit ihm trauen zu lassen, und als der Gesandte eine Ausfahrt unternommen hatte, ließ der Festungscommandant alle Thore schließen, schickte ihm dieselbe Geldsumme nach, die der Preis Sophia’s einst gewesen, und ersuchte den Gesandten gefälligst weiter zu reisen, ohne diese wiederzusehen. Ein Danksagungsbrief für die genossenen Wohlthaten begleitete die überraschende Nachricht. Der Gesandte sah ein, daß er nach der vollzogenen Ehe seines Pflegetöchterchens keine Gewalt mehr über dasselbe habe, und folgte der Weisung des Commandanten, ruhig nach Frankreich heimzureisen.
Das junge Ehepaar lebte sehr glücklich, ein Sohn ward nach Jahresfrist geboren, der später als General und berühmte Männerschönheit auf dem Congreß in Wien so viel Aufsehen hervorrief. Sophiens Reize erblühten nach ihrer Verheirathung nur noch schöner und ihr Gemahl konnte der Versuchung nicht widerstehen, eine Befriedigung seiner Eitelkeit darin zu finden, die holde Frau in die große Welt einzuführen. Er machte Reisen mit ihr, namentlich stellte er sie bei den Höfen aller großen Staaten vor. Alles wetteiferte in Huldigungen für sie. Fürsten, Dichter, Maler und Bildhauer schwärmten für so viel Schönheit; der eitle Gemahl genoß in vollen Zügen ihre Triumphe mit und es schien eine Zeit lang, als sollte er keine Dornen an seiner Rose finden. Sophia blieb taub für alle Schmeicheleien und beachtete die Männer nicht, die sie anbeteten. Da begegnete ihr Graf Felix Potocki, einer der reichsten Grundbesitzer; in Polen wie in Rußland besaß er Güter, um die ihn Könige beneideten. Er war nicht gewohnt, seine Wünsche zu überwinden; nachdem er erfahren, daß die schöne Frau schon einmal durch eine Geldsumme errungen worden war, faßte er den Entschluß, es abermals zu versuchen. Er legte zwei Millionen Gulden in ein Kästchen, in ein anderes zwei geladene Pistolen und begab sich damit zum General de Witt, der sich in sehr geldbedürftiger Lage befand, wie er wußte. Die Wahl zwischen beiden Kästchen mag demselben schwer genug geworden sein, aber anstatt sich mit seinem Rival zu schießen, bewilligte er die Scheidung und Sophia ward Gräfin Potocka.
Mit königlicher Pracht wurde sie von ihrem neuen Gemahl überschüttet; ein Perlenhalsband ist besonders berühmt geworden, das er ihr zum Geburtstage schenkte. Es enthielt hundert große Perlen, von denen jede hundert Friedrichsd’or gekostet hatte. Am Hofe zu Petersburg wurde sie die Diamantenfee genannt, weil sie von Juwelen strahlte, wo sie erschien. Die Kaiserin Katharina dachte daran, sie zur Königin von Polen zu machen, weil Graf Potocki gegen sein Vaterland für die russische Herrscherin die Waffen getragen hatte. Auf einem Balle nahm sie ihr eigenes Diadem ab und setzte es dem Grafen auf die Stirn mit den Worten: „Das gäbe eine schöne Krone für Polens König.“
Der Graf zog sich indessen nach der zweiten Theilung von Polen zurück und versuchte es, gegen Rußland zu kämpfen; man traute ihm indeß nicht. Die polnischen Patrioten confiscirten seine Güter und verschmähten seine Dienste. Nachdem Kosciusko jedoch die Schlacht bei Maciejowice verloren hatte und „Finis Poloniae“rief, gelang es dem Grafen Potocki, die Gnade der Kaiserin Katharina und durch dieselbe seine Güter wieder zu erlangen. Seine schöne Gemahlin hatte ihm zwei Söhne geboren und stand im dreißigsten Jahre noch in der vollsten Blüthe ihrer Reize; der Graf sollte indessen sein Glück nicht lange genießen. Er starb 1805, nachdem er kaum Zeit gehabt hatte, sein kolossales Vermögen wieder einigermaßen zu ordnen.
Sophia blieb Wittwe, führte jedoch ein Leben, das dem Glanz und dem Vergnügen gewidmet war; sie bewohnte das prachtvolle Schloß von Tulkzin in Rußland, dessen Park weit und breit berühmt war durch die ungeheuren Kosten seiner Anlage. Zweitausend Leibeigene hatten zehn Jahre lang daran gearbeitet, Felsenpartien, rauschende Wasserfälle, prächtig grüne Wiesengründe und hohe Baumgruppen waren aus der unfruchtbaren russischen Steppe durch Ausdauer und Kunstfleiß hervorgezaubert. Weiße Hirsche zierten den Park, vergoldete Gondeln schwammen mit den Schwänen um die Wette auf den künstlichen Seen. Jeder Tag ward durch Feste bezeichnet, Feuerwerke prasselten, herrliche Tanzmusik erschallte und die Gäste strömten aus allen Weltgegenden herbei, um unter den Fittigen der großartigsten Gastfreundschaft das Leben zu genießen und die Zaubergärten der neuen Armida kennen zu lernen.
Der Graf de la Garde gehörte zu den eifrigsten Verehrern der schönen Wittwe, er schilderte sie folgendermaßen: „Ein hinreißenderes Geschöpf, als diese berühmte Sophia, gab es nicht noch einmal. Sie übte mit dreißig Jahren durch Schönheit und Liebenswürdigkeit noch eine unbegrenzte Macht aus. Ihre regelmäßigen Züge, ihre lebhaften Farben, ihre schwarzen, flammenden Augen, welche das Feuer der Liebe ausstrahlten, die Zartheit und Grazie ihres Wuchses, die Fülle ihrer Formen bildeten ein Ganzes, wie es die Bildhauer der alten Griechenwelt als unerreichbares Ideal der Schönheit dargestellt haben. Man müßte ganze Bände schreiben, wollte man eine deutliche Vorstellung von dem bewegten Leben geben, welches in Tulkzin geführt wurde. Sophia mußte glauben, sie gehöre nicht mehr zu den Sterblichen, wenn sie die Vergötterung betrachtete, womit ihr von allen Seiten gehuldigt ward. Sie war nicht eigentlich eitel, nur sich ihrer Schönheit bewußt und ließ es sich mit holdem Lächeln gefallen, daß man vor ihrem Altar verschwenderisch Weihrauch opferte.
Mitleidsvoll und freigebig bezeichnete sie jeden Tag mit einer Wohlthat; sie beschäftigte sich selbst mit der Verwaltung ihrer Güter, die in der That für ein Königreich gelten konnten. Sie linderte das Loos ihrer Leibeigenen, beförderte den Landbau und den Handel; in ihrer Jagd-Droschke oder auf stolzem Renner durcheilte sie ihre Besitzungen, um Alles selbst zu sehen. Der Abend gehörte erst dem Vergnügen; Ballets, Concerte, Schauspiele in allen Sprachen wurden aufgeführt und durch ihre Mitwirkung verherrlicht.“
In allem Lebensgenuß kam aber doch zuweilen eine leise Trauer über die schöne Griechin; man hat sie oft auf einer ihrer Besitzungen in der Krim, wo einst Iphigenie auch am Meeresstrand gestanden und nach Griechenlands Küsten ausgeschaut haben mag, gesehen, wie sie in Erinnerung verloren der einstigen Heimath gedachte mit Thränen der Wehmuth in den schönen Augen. Sie wollte an dieser Stelle eine Stadt erbauen, die Sophiapolis heißen sollte. Doch reichten ihre Schätze und ebenso ihre Lebensdauer nicht aus für den großen Plan. Ein Brustleiden zwang sie zu ernsten Vorsichtsmaßregeln. Sie reiste nach Berlin, um die berühmten Aerzte damaliger Zeit, Hufeland und Horn, zu consultiren. Aber ihre Kunst vermochte sie nicht zu retten. Sophia starb 1823 in Berlin, wo ihre Anmuth und Liebenswürdigkeit trotz des herannahenden Alters noch viele Anerkennung gefunden hatten. Ein Pastellgemälde enthielt den einzigen schwachen Abglanz ihrer Schönheit; es ist dasselbe, welches Eingangs dieses Aufsatzes erwähnt wurde. Es stellt sie in einfachem grauen Seidenkleide dar, der reizende Hals bis zum zartgeformten Busen ist von einer Spitzenkrause eingerahmt. Das reiche Haar schwebt wie eine dunkle Wolke in losen leichtgepuderten Locken um das helle Antlitz. Ein blaues Band zieht sich durch dieselben und hebt sie über der Stirn ein wenig in die Höhe, ganz wie es die jetzige Mode auch liebt. Das rosige Colorit ist wohl der Zeit gewichen, das Gesicht ist bleich und zart wie eine weiße Perle und die Augen weich und dunkel wie schwarzer Sammet. So rein und sanft blicken nur noch Kinderaugen!
Wie das liebliche Bild nach Berlin gekommen, läßt sich nicht mehr ermitteln; es fand sich unter den Kunstsachen des Prinzen Heinrich von Preußen, jenes Bruders des Königs Friedrich Wilhelm’s des Dritten, den die Vorliebe für römische Kunst und Religion dem Vaterlande entfremdete. Durch Vermittelung des verdienstvollen Geheimen Raths Schorn wurde das Portrait der berühmten Schönheit dem königl. Kupferstichcabinet einverleibt. Es hat nicht an Zweiflern gefehlt, welche die Aechtheit des Bildes bestritten, namentlich auch den einfachen Anzug als der reichsten Grundbesitzerin in Rußland und Polen nicht würdig erachteten, indessen ist die Zeit doch noch nicht so lange her, daß die Geschichte mit der Sage verwechselt werden könnte, und die mitgetheilten Einzelheiten sind durchaus wahr.
Ungerecht und doch gerecht. Ich war Staatsanwalt in X. und erhob als solcher gegen zwei Brüder Schmidt und einen Arbeiter Lorenz Anklage, deren Inhalt kurz folgender war.
Dem Gutsbesitzer M. war mitgetheilt worden, daß man in der nächsten Nacht in seine Scheune einbrechen und Roggen stehlen würde. M. legte sich mit seinem Sohne in einer Abseite der Scheune auf die Lauer. Beide konnten von ihrem Verstecke aus, soweit die mondhelle Nacht es erlaubte, die Scheunentenne und die Eingänge überschauen. Um Mitternacht Geräusch an der Hinterthür. Sie geht auf und es treten drei Männer in die [656] Scheune ein und wollen sich zum Roggenhaufen begeben. Im Mondenschein erkennen M. und dessen Sohn deutlich ihre beiden Arbeiter, die Brüder Schmidt, den dritten Dieb dagegen, der mit abgewendetem Gesicht steht, halten sie nach Größe, Kleidung und Gestalt für ihren Arbeiter Lorenz. Da ergreift den jungen M., der sich in der Nachtluft erkältet hat, ein unbesiegbarer Drang zum Niesen und die drei Diebe nehmen Reißaus. Um sich zu überzeugen, ob der dritte Dieb wirklich Lorenz gewesen, begeben sich M. und Sohn sofort in das Lorenz’sche Haus. Als sie hereintreten, liegt Lorenz anscheinend in tiefem Schlafe im Bette. Der junge M. entdeckt aber an dem unteren Rande des Deckbettes etwas Schwarzes, und siehe da, es ergiebt sich, daß Lorenz gestiefelt und gespornt im Bette liegt und frischer Straßenschmutz an seinen Stiefeln klebt. Auf Befragen erklärt er, daß er gewöhnlich mit den Stiefeln zu Bett gehe. Eine Mitbewohnerin des Hauses aber, die an Schlaflosigkeit leidet, hat wenige Minuten vor der Ankunft der beiden M. den Lorenz in raschem Laufe aus der Gegend der M.’schen Scheune heimkehren sehen.
Genug Material zur Anklage! Der Diebstahl war mittels falschen Schlüssels versucht, beide Schmidt und Lorenz waren schon früher wegen Diebstahls bestraft, also war die Competenz des Schwurgerichts begründet. Letzteres stand keinen Augenblick an, alle Drei ihres Leugnens ungeachtet der That für schuldig zu erklären, und der Gerichtshof verurtheilte Jeden zu zwei Jahren Zuchthaus. Das Urtel wurde ohne Anstand rechtskräftig und die Verurtheilten wanderten auf die Strafanstalt.
Es sind sechs Monate vergangen. Ich sitze eines Morgens am Schreibtisch, als eine Arbeiterfrau, Namens Köpping, zu mir eintritt.
„Herr Staatsanwalt, meinem Manne läßt es keine Ruhe, Lorenz ist unschuldig bestraft, mein Mann ist der Dritte gewesen. Sein Gewissen quält ihn so sehr, daß der Lorenz unschuldig leiden muß.“
Der Leser kann sich denken, wie diese Worte im Ohr des Staatsanwaltes klangen, der die hohe Pflicht hat, nicht nur den Schuldigen zu strafen, sondern den Unschuldigen zu schützen. Und doch sind solche Selbstbezichtigungen nur mit Vorsicht aufzunehmen, da es vorzukommen pflegt, daß alte, lebenssatte und nahrungslose Leute die Schuld für einen jungen, rüstigen Freund auf sich zu nehmen versuchen.
Noch an demselben Tage ließ ich den Köpping kommen. Er legte ein volles, unumwundenes Geständniß ab, beschrieb alle Einzelheiten der That, sogar solche, die M. und Sohn bei ihrer Vernehmung anzugeben vergessen hatten; kurz, es war kein Zweifel, er war der Dritte im Bunde gewesen und Lorenz war – unschuldig bestraft. Der Telegraph ist schnell, Lorenz wurde sofort vorläufig entlassen, Köpping kam unter Anklage, wurde verurtheilt, zumal auch die beiden Brüder Schmidt jetzt den Mund aufthaten und Köpping’s Mitthäterschaft bestätigten, und Lorenz wurde nun vollständig begnadigt und rehabilitirt.
Es war der erste derartige Fall, der mir passirt war. Ein Trost blieb mir, freilich ein schlechter. Es hatten sich außer mir die Geschworenen und die Richter zum Nachtheile des Lorenz geirrt. Eines aber fiel mir auf. Es war der Umstand, daß Lorenz gegen das Urtel des Schwurgerichts kein Rechtsmittel einzulegen versucht hatte. Ich calculirte, daß, wenn Jemand unschuldig bestraft wird, er kein Mittel unversucht läßt, seine Unschuld zu beweisen. Aber nicht ein einziger Antrag des Lorenz befand sich bei den Acten, nicht einmal die Gnade des Königs hatte er angerufen. Wie war das zu erklären? Ich mußte Licht haben und ließ Lorenz kommen.
„Lorenz, Ihr seid unschuldig verurtheilt und habt unschuldig sechs Monate auf dem Zuchthaus gesessen!“
„Ja, Herr Staatsanwalt.“
„Köpping ist der Dritte gewesen, er wird Euch entschädigen müssen.“
„Er hat aber nichts, Herr Staatsanwalt.“
„Das ist schlimm, Lorenz; dann werdet Ihr Euch wohl damit trösten müssen, daß Köpping nun auch sitzt!“
„Es wird wohl nichts Anderes übrig bleiben, Herr Staatsanwalt.“
„Sagt, Lorenz, Ihr wart unschuldig bestraft; es fällt mir daher auf, daß Ihr gegen das Urtel nicht die Nichtigkeitsbeschwerde eingelegt oder, wie Ihr es nennt, nicht appellirt habt!“
Das Gesicht des Lorenz verzog sich zu einem eigenthümlichen Grinsen. Verlegen drehte er die Mütze in der Hand.
„Sprecht, Lorenz, weshalb habt Ihr nicht appellirt?“
Lorenz grinste mehr und mehr. Endlich sagte er: „Darf ich es Ihnen sagen, Herr Staatsanwalt?“
„Ja, Lorenz, Ihr könnt Alles sagen. Ihr seid vollständig begnadigt worden. Seid Ihr etwa doch dabei gewesen?“
„Ne, Herr Staatsanwalt,“ fuhr Lorenz auf, „da bin ich nicht mit gewesen, aber ich bin in der Nacht wo anders gewesen, und da dachte ich, wenn’s auch nicht für das Mal ist, so ist es für das andere!“
Interessantes Giro. Von einem Herrn Aufermann in New-York ging neulich ein Wechsel von fünfundzwanzig Thalern für die Freiligrath-Dotation ein, der folgendermaßen girirt war:
Zahlet an die Ordre dessen,
Der den Löwenritt erdacht;
Der bei Belgrad die Affaire
In gehör’gen Reim gebracht;
Der die Wüste Sahara
Und den Mohrenfürsten sah.
Zahlet dem, der uns die Riegel
Schob von ferner Zone Pforten;
Der das Drängen seines Volkes
Ausgedrückt in Freiheitsworten;
Der den Werth entrichtet hat –
Zahlt an Ferdinand Freiligrath!
Findel’s Geschichte der Freimaurerei. Durch die Verdammungsbulle des römischen Papstes wie der Wiener „Neuen Freien Presse“ ist die allgemeine Aufmerksamkeit wiederholt auf den Freimaurerbund hingelenkt worden. Dieser Umstand mag es rechtfertigen, wenn wir die Leser unsers Blattes auf ein Hauptwerk über diesen Gegenstand hinweisen, nämlich auf die culturhistorisch wichtige und auch sonst interessante „Geschichte der Freimaurerei von der Zeit ihres Entstehens bis auf die Gegenwart. Von J. G. Findel“. Die früher herrschende Dunkelheit und Mythologie durchbrechend, hat der Verfasser darin den Ursprung des Maurerbundes in den deutschen Bauverbrüderungen des Mittelalters nachgewiesen und dessen Ausbreitung und Entwickelung mit vorurtheilsfreiem Sinne, mit großem Fleiße und mit Klarheit dargelegt. Die Idee echter Humanität und der Geist des Fortschritts, dem Findel wie hier so auch auf religiösem, socialem und politischem Gebiete huldigt, durchdringt das ganze Werk, welches wir als die erste vollständige und zuverlässige Geschichte der Freimaurerei um so freudiger begrüßen, als es einem Deutschen vorbehalten war, eine solche zu liefern. Im Auslande ist der Werth des Werkes dadurch anerkannt worden, daß es in’s Englische, Französische und Holländische übersetzt wurde.
Die Deutschen Blätter. Der heutigen Nummer unserer Zeitschrift liegt zugleich eine Nummer der Feuilletonbeilage der Gartenlaube, der von Dr. Albert Fränkel redigirten „Deutschen Blätter“, bei, auf die wir unsere Leser aufmerksam zu machen nicht verfehlen. Die Aufgabe der „Deutschen Blätter“ ist es bekanntlich, durch die Frische und Schnelligkeit ihrer Mittheilungen die Gartenlaube insoweit zu ergänzen, als dieser bei ihrer durch die große, immer steigende Auflage bedingten sehr langwierigen Herstellung tagesgeschichtlich Neues zu bringen nicht möglich wird.
Inhalt. Der Habermeister. Ein Volksbild aus den bairischen Bergen. Von Herman Schmid. (Fortsetzung.) – Das Glockengrab im Kaiserdom. Von M. v. Humbracht. Mit Abbildung. – Neues Licht in ein altes Dunkel. – Die Wunder der Coulissenwelt. – Frauenleben in der Kalifenstadt. Von W. Gentz. Mit Illustration. – Blätter und Blüthen. Eine berühmte Schönheit.– Ungerecht und doch gerecht! – Interessantes Giro. – Findel’s Geschichte der Freimaurerei. – Die Deutschen Blätter. – Freiligrath-Dotation. – Für Johann-Georgenstadt.
- ↑ Das Morgenland hat von Neuem eine Invasion in’s Abendland unternommen, wenn auch diesmal nur zu „moralischen Eroberungen“. Das bisher unerhörte Ereigniß, daß sich der Beherrscher aller Gläubigen zu einem friedlichen Besuche nach den ungläubigen Hauptstädten des Occidents begeben, hat den Blick mehr denn je dem Orient zugewandt, für den jene Kaiserfahrt wohl nicht ohne wichtige Folgen bleiben dürfte; wir meinen daher unsern Lesern besonders Interessantes und Zeitgemäßes darzubieten, wenn wir ihnen in der obenstehenden Skizze, die zugleich eine meisterhafte Zeichnung von der Hand ihres Verfassers schmückt, eine Schilderung jenes abgeschlossenen Frauenlebens vorführen, in welchem der Islam seinen wesentlichsten Stützpunkt und der Orient sein bezeichnendstes Merkmal findet. D. Red.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Friedrich Schiller, „Kassandra“, Schlußvers.