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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1867
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[49] No. 4.
1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen.     Vierteljährlich 15 Ngr.     Monatshefte à 5 Ngr.

Die Brautschau.
Ein Bild aus den oberbairischen Bergen.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


„Wie sie schön thun kann, die Kramer-Waben!“ dachte Clarinetten-Muckl, mit einem wiederholten Seitenblick. „Wenn man sie blos reden hört, meint man Wunder, wo die Stimm’ wohl herkommt, aber wenn man sie sieht mit der spitzen Nasen und dem spitzen Kinn … Nichts da, da sitzt der Teufel drinn! … Ich kann nit kommen, Waben,“ sagte er dann, zu ihr gewendet, „ich hab’ gar viel zu thun und bin nit in die Gegend ’kommen …“

„Das ist nit schön von Dir …“ erwiderte die Waben kokett, „Du bist auch auf dem Marbacher Kirchweih’ nit gewesen und hast es doch versprochen gehabt und ich hab’ Dir den Kehraus aufgehoben bis zu allerletzt …“

„Du meinst es ja gar schmalz-gut mit mir,“ rief er, „selbige Zeit war ja die Hochzeit vom Mauerwirth, in Holzkirchen drinnen, einen solchen Verdienst hab’ ich nit auslassen können …“

„Ach mein – die Hochzeit ist ja schon drei Wochen ehender g’wesen …“

„Was Du nit sagst! Ja, mir kommt Alles durcheinander und ich weiß oft gar nit, wie ich in der Zeit bin!“

„Thätst Dich kaum mehr auskennen, wenn Du zu uns kämst …“

„Ei – warum denn?“

„Der Vater hat bauen lassen eine große prächtige Stuben und zwei Kammern … er meint, wenn’s halt doch über kurz oder lang eine Veränderung abgeben thät …“

„Was denn für eine Veränderung?“

„Das ist eine g’spaßige Frage … Der Vater meint halt, ich werd’ bald Hochzeit machen …“

„Ja so – da hat er freilich Recht! Und jetzt seh’ ich es erst, daß Du schon aufgeputzt bist, nochmal wie eine Hochzeiterin! Du gehst wohl schon zum Stuhlfest machen oder was hast im Sinn?“

„Das könntest leicht errathen – weißt ja, daß heut’ in Schliers drüben die Sichelhenk g’feiert wird und das Erntefest …“

Muckel hatte über dem Gespräch ganz vergessen, was ihn vor der Begegnung so sehr erlustigt hatte, jetzt fiel es ihm wieder ein und packte ihn mit doppelter Gewalt.

„Zum Erntefest?“ rief er und konnte es vor Lachen fast nicht herausbringen. „Und Du bist wohl gar … Du bist Eine von den Prangerinnen?“

„Warum sollt’ ich nit?“ fragte sie bös. „Hast was einz’wenden dagegen?“

„Ich? O nein …“ rief er und lachte immer unbändiger. „Es ist mir nur was eing’fallen … ich hab’ mir nur vorgestellt, was das für Augen geben wird …“

„Du bist ein grober, ein unnützer Bursch!“ unterbrach sie ihn zürnend. „Ich kann so gut Prangerin sein, wie jede Andere – wer kann mir was Unrechtes nachsagen? – Wart’ nur, Muckl, das ist Dir nit g’schenkt … ich muß nur den Vater noch einmal über Dich schicken, damit er Dir’s austreibt, die Leut’ zu verspotten …“

Sie war roth und bleich geworden vor Aerger; mit Einem Satz war sie durch den berasten Straßengraben gelaufen und im Gebüsch verschwunden.

Muckl kehrte sich nicht daran und beachtete ihre Entfernung kaum; er war zu sehr mit dem lustigen Bilde beschäftigt, was Freund Vestl für ein Gesicht schneiden werde, wenn der Zufall die schneidige Kramer-Waben auf den gewählten entscheidenden Platz stellen würde; das kam ihm so lächerlich vor, daß er auch in den Graben sprang und sich auf den Rasen warf, die Clarinette neben sich – lachend, daß ihm die Augen übergingen, und mit den Beinen zappelnd.

Ein paar Bursche, mit denen er schon manche Nacht durchjubelt, kamen des Wegs, blieben vor ihm stehen und wurden von dem Anblick angesteckt, daß sie in das Gelächter einstimmten und dessen Ursache zu erfahren verlangten. Der Musikant vermochte es nicht, seinen Schatz länger allein zu bewahren – hatte es doch keine Gefahr mehr damit, denn die Entscheidung stand unaufhaltsam vor der Thür und die bewährten Genossen durfte er ja sicher in’s Vertrauen ziehen: je mehr Eingeweihte um das Geheimniß wußten, desto lustiger ward die Geschichte, desto größer der Spaß. Der Drang der Mittheilung siegte über die Klugheit und bald wußten die Bursche, die sich nebenan im Grase gelagert, was gestern Abend am Brunnhofe geschehn und beredet worden, und schritten unter lautem gemeinschaftlichem Lachen und Scherzen eilends dem Dorfe zu.

Eben ertönte das zweite Glockenzeichen vom Pfarrthurme.

Sie waren noch nicht weit, als an ihrem Lagerplatze das Gebüsch vorsichtig auseinander schlug und die listigen Augen der Krämerstochter ihnen nachfunkelten. Sie hatte erst einige Schritte gemacht, als sie, sich umwendend, die Bursche gewahr ward, wie sie bei Muckl stehen blieben, dann sich zu ihm setzten und in sein schallendes Gelächter einstimmten. Ihnen hatte er also den Grund seiner Lustigkeit mitgetheilt – sie war sich gewiß, daß es etwas sein müsse, was auch sie betreffe … Unbeachtet, langsam und geräuschlos schlich sie zurück und kauerte hinter der Hecke nieder; konnte sie auch nicht Alles verstehen, so viel ward klar, daß es eine [50] Hochzeit galt und vorher eine Brautschau und daß auch der Musikant, der sie so sehr beleidigt, eine Wahl getroffen habe …

Mit geballter Faust drohte sie dem Dahineilenden nach; als sie an einen Seitenpfad kam, lief sie, so steil er war, keuchend hinan, noch vor ihnen das Dorf zu erreichen.

In diesem war es indessen schon einsam und still geworden, das dritte Zeichen war verhallt, die Gemeinde war in der Kirche versammelt und harrte des beginnenden Gottesdienstes. Aber Minute um Minute verging, ohne daß der Pfarrer an den Altar trat, und die andächtigen Köpfe, besonders der Weiber, fingen an, sich gegen einander zu neigen und zischelnd nach dem Grunde der unbegreiflichen Zögerung zu forschen.

Niemandem aber schlichen die Augenblicke mit so peinlicher Langsamkeit dahin, als Sylvester, der sich bis an das Marmorgeländer vorgedrängt hatte, welches das Kirchenschiff von dem erhöhten Hochaltare trennte und von dem aus die ganze Kirche zu übersehen war. Er befand sich in einer sehr aufgeregten, höchst eigenthümlichen Gemüthsstimmung: im Augenblick der Ausführung erst stürmten alle die Bedenken auf ihn ein, die in jenem des kecken Entschlusses unbeachtet bei Seite geworfen worden waren. Es war etwas in ihm, das ihm sagte, die Base habe Recht gehabt mit ihrer Warnung, er sei daran einen Frevel zu begehen, einen Frevel am Hause des Herrn und in einer so ernsten Angelegenheit. Es engte und zwängte ihn auf der Brust, daß ihm fast der Athem verging; er wollte hinaus eilen in’s Freie, um frische Luft zu schöpfen, aber das Gedränge, das ihn umgab, machte das unmöglich und in den Knieen, die auf der Jagd bei manch verwegenem Klettersprung nicht gezittert hatten, begann es unsicher zu werden. Dazwischen mahnte er sich selbst wieder und schalt sich aus ob seiner feigen Kleinmüthigkeit und daß er nicht die Kraft habe, ein gegebenes Wort einzulösen, ein einmal begonnenes Unternehmen auch durchzuführen. Fast wollten in diesem Widerstreit die weichern Regungen die Oberhand gewinnen, als die Orgel einen langgehaltenen tiefen Ton anschlug, zum Zeichen, daß der erwartete Zug die Kirchenschwelle betreten habe.

Unwillkürlich schloß Sylvester die Augen, als die Mädchen an seinem Platze vorüberschritten; er wollte sie nicht eher sehen, als bis sie vor dem Altare aufgestellt sein würden. Desto größer war die allgemeine freudige Theilnahme der frommen Gemeinde, und die Prangerinnen, meist schöne Gestalten mit klaren Augen und offnen unverdorbenen Gesichtern, in ihren weißen Röcken, dunklen Miedern, mit den Rosmarinzweigen im Haar und den Aehrengarben, Blumensträußen und Fruchtgewinden in den Händen, gewährten auch einen Anblick, der wohl jedes Herz zu bewegen vermochte, das noch eine verwandte Regung für einfache Schönheit hatte, für schlichte Unschuld und kindergläubige Frömmigkeit.

Jetzt ward es still; der Lehrer droben auf der Orgel stimmte an: „Hier liegt vor Deiner Majestät – im Staub die Christenschaar“ – die Klingeln der Ministranten verkündeten, daß der Pfarrer zum Hochamt an den Altar getreten sei – die Prangerinnen mußten nun um denselben aufgestellt sein, im weiten Halbkreise …

Jetzt wagte es Sylvester, die Augen zu öffnen, einen furchtsamen Blick nach der Evangeliumseite zu werfen … schnell wie ein ertappter Uebelthäter wollte er wieder hinwegblicken, aber er kam nicht mehr los, sein Auge wurzelte fest und immer fester an der gesuchten Stelle. Er besann und fragte sich, ob er denn träume: er rieb sich die Augen, um recht klar zu sehen … die Gestalt, das Antlitz, das er erblickte, blieb und blieb – es war kein Traum, keine Täuschung … die fünfte der Prangerinnen an der Evangeliumseite, die zweite vom Altare her, war seine schöne Gegnerin, die Waldsängerin vom Kohlenmeiler …

Im ersten Augenblick durchfuhr es ihn wie Schrecken, blitzartig wie Flugfeuer zuckte es ihm durch Sinn und Herz und verzehrte mit Einem Schlage Alles, was darin gehaust hatte von hochmüthigen, hinterhältigen oder widerstrebenden Gefühlen, und wie entfesseltes Wasser aus einer Schleuße goß sich der siegende Strom der Liebe triumphirend durch sein ganzes Wesen.

Er stand und schaute und schaute und stand wieder und war wie versteint – darüber ward er gar nicht gewahr, daß bald nach dem Eintritt des Zuges auf dem Orgelchore arges Gepolter entstanden war; eilige Schritte kamen die Treppe herab. „Kein Wunder,“ sagte eine Bäuerin zu der andern, „es ist so voll und dunstig in der Kirch’, kein Wunder, wenn Einem nicht gut wird!“

Der, dem ‚nicht gut‘ geworden, war kein Anderer, als der Clarinetten-Muckel … ein halber Blick auf den Zug der Prangerinnen war für ihn hinreichend gewesen: die schneidige Kramer-Waben mit der hohen Schulter war die von ihm erkorene Ehrenführerin.

Der Gottesdienst ging seinen feierlichen Gang. Bald war der Segen über alle Frucht gesprochen, daß sie ergiebig sein möge und gedeihlich; die Prangerinnen hatten ihre Körbchen, Garben, Büsche und Kränze zierlich niedergelegt auf den Altar und die Stufen davor; das Ite, Missa war gesungen und auf den Weihrauchwolken verschwammen die letzten wehmüthig feierlichen Töne des Orgelnachspiels, das die Andächtigen aus der Kirche geleitete und ihnen nachklang, wie die Erbauung, welche ihnen darinnen geworden.

Wie ein weltlicher Widerhall begrüßten sie von draußen andere Töne – durch den klaren, angenehm sonnigen Herbstmittag klang es vom Wirthshause her hell und dumpf, schmetternd und schnurrend, Trompete und Baß, sich lustig einübend für den frohen Schluß des Festtages, den nachmittägigen Tanz. Die Einwohner des Dorfs ließen sich nicht verlocken, ihrer wartete die Mahlzeit am nahen eigenen Heerd; von den Auswärtigen aber ließ Mancher sich verleiten, vor der Wanderung Halt zu machen und eine kleine Stärkung mitzunehmen auf den Weg.

Vor der Kirche aber, da wo der Weg zum See hinunter sich um die Friedhofmauer wendet, da stockte der Menschenstrom; Alt und Jung drängte heran und bildete eine schmale Gasse, durch welche die Prangerinnen herangeschritten kamen; sie wanderten dem Pfarrhofe zu, denn die Köchin und Schwester des alten Pfarrers war es ja, bei der die Mädchen sich zu solchen Anlässen immer versammelten; verstand es doch Niemand besser, sie einfach und doch so recht sinnig zu schmücken, als das alte freundliche Fräulein, von der noch kein Mensch ein übles Wort gehört oder eine unliebe Miene gesehen. Der Pfarrer aber, der den Brauch wie manche andere sinnige Freude eingeführt hatte in der Gemeinde, ließ es sich nicht nehmen, die Jungfrauen nach dem Gottesdienst mit einem Stück Kuchen zu bewirthen und einem Gläschen süßen Wein, den er eigens deshalb verschrieb aus dem nahen Tirol.

Zuvorderst an den Stufen stand Sylvester, hinter ihm Muckel mit trostlos verzogenem Angesicht, halb versteckt in den Hollundersträuchen des Wegs.

Sylvester wollte die Erwählte noch einmal sehen; sie kam heran und schritt vorüber, schlicht und unbefangen und doch schüchtern ob der drängenden Menge; sie erhob die Augen nicht von dem Gebetbuch, das sie in den Händen hielt und um das ein Rosenkranz geschlungen war … des Burschen ganze Seele war in seinen Augen, sie schien ihn nicht zu gewahren und doch regte sich ein nie gekanntes Entzücken in ihm, denn trotz ihrer Achtlosigkeit glaubte er zu bemerken, daß im Vorüberschreiten eine leise Bewegung sie überflog und das Roth ihrer Wange sich tiefer färbte.

Er stand noch an seinem Platze und starrte nach dem Eingang des Pfarrhofes, in dem sie verschwunden war; Muckel hatte sich auf die Stufen niedergesetzt, er war so matt in den Beinen, als hätte er drei Faschingsnächte hindurch zum Tanze geblasen.

„Nun?“ sagte er endlich, „bist ganz verzuckt? Mir scheint, Du bist ganz wohl zufrieden mit dem, was ich Dir zugebracht hab’ … und Du hast wohl auch Ursach’ dazu!“

„Muckl …“ erwiderte Sylvester halblaut und haschte nach der Hand des Freundes … „ich weiß selber nit, wie mir ist! Ich kenn’ mich selber nimmer mehr … aber ich bin der unglücklichste Mensch auf Gottes Erdboden, wenn das Madel nit mein wird.“

„Dein werden! Warum sollt’ sie nicht? Du bist ein sauberer Bursch’, bist jung, reich – sie ist arm wie eine Kirchenmaus, sie wird mit allen zwei Händen zugreifen! Du kannst lachen – aber was fang’ ich an? An mir ist das Trumm’ aus’gangen!“

„An Dir?“ fragte Sylvester zerstreut.

„Etwan nit?“ rief der Musikant und fuhr sich, da die Haare fehlten, wie trostlos über die Glatze. „Hast etwan in Deiner Verzuckung gar nit einmal geseh’n, was mir passirt ist? Ich hab’ mich aufgeopfert wegen Deiner und jetzt soll ich das Bad austrinken für Dich? … Du hast wohl gar nit geseh’n, wer die Ehrenführerin war? Die Kramer-Waben mit ihrem Buckel und ihrer spitzigen Nasen! Und die soll ich heirathen? Lieber schau’ ich, wo der Schliersee am tiefsten ist …“

[51] „Du mußt Wort halten …“ rief Sylvester, „ich will keine gesunde Stund’ mehr haben, aber ich hätt’s auch gethan und wenn’s noch so schlimm ausgefallen wär …“

„Ja,“ entgegnete der Dicke mit bitterem Lachen, „Du hast jetzt gut reden hintennach! Aber mir ist’s justament, als wenn ich mein Todesurtheil unterschreiben sollt’ … und nit geschwind den Kopf herunter, nein, schön langsam und nach und nach gebraten bei einem Kreuzerkerz’l … Ich riskir’ ja, daß sie mich beim ersten Bussel ersticht oder mitten von einand’ schneid’t, wie die eiserne Jungfrau!“

„Wenn ich nur wüßte, wer sie eigentlich ist!“ rief Sylvester vor sich hin; er war zu sehr mit den eigenen Gedanken beschäftigt und hatte die Lamentation des betrübten Clarinettisten ganz überhört. „Wer sind ihre Eltern?“

„Wer sonst, als die Kramerleut’ da oben, wo’s gegen den Rohnberg hinauf geht? Der Vater ist eine lange, dürre Hopfenstang’ und die Mutter …“

„Willst mich foppen?“ unterbrach ihn Sylvester unmuthig. „Ich red’ von der Meinigen … Von der möcht’ ich was wissen!“

„Ja – von der weiß ich auch nit viel …“ brummte Muckel, „aber da kommt die alte Austrags-Wirthin noch aus der Kirchen angehinkt … die kennt jedes Haushalten in und auswendig, die kannst ausfragen …“

Die redselige Alte kam heran; Gruß und Ansprache ergaben sich wie von selbst und es fiel nicht schwer, sie zur Mittheilung ihrer gesammten Wissenschaft zu bestimmen und das Brünnlein ihrer Rede plätschern zu machen. Was aber daher geplätschert kam, war wohl nur Wasser, aber rein, frisch und hell, wie es aus den Bergen quillt; auch die Klatschchronik des Dorfes wußte die klare Fluth nicht zu trüben. Die Alte wußte nicht genug zu rühmen, wie die Clar’l nicht blos ein braves Mädchen sei, eine gute Tochter und eine tüchtige Arbeiterin; wie keine Mühe ihr zu schwer sei und keine Arbeit zu schlecht; wie sie immer fröhlich und guter Dinge sei, für Jeden ein freundlich Wort habe und doch sich wieder ein Wesen zu geben verstehe, daß Keiner es wage, sie mit einem unrechten Auge anzusehen. Das habe sie erst in Tirol drinnen wieder gezeigt, wo sie, weil es den Eltern etwas sehr hinderlich gegangen, bei einem Verwandten mehrere Jahre gewesen und aufgezogen worden sei. Da sei in der Nachbarschaft ein Ritterschloß gewesen und in dem Schloß ein vornehmer junger Herr, dem habe das hübsche Mädel in die Augen gestochen und er sei ihr nachgegangen und habe ihr das Blaue vom Himmel herab versprochen für ein gutes Wort und einen freundlichen Wink, sie aber habe ihm heimgeleuchtet, und wie er einmal eine Gelegenheit abgelauert, wo sie allein gewesen, und zudringlich geworden sei … „da,“ sagte die Alte lachend, „da ist sie nicht faul gewesen, hat das vornehme Herrlein um die Mitt’ gefaßt, wie einen ungezogenen Buben, hat ihn in den Milchkeller hinuntergetragen und eingesperrt und nicht eher heraus gelassen, bis Alles vom Feld daheim war und von der Arbeit, daß er sich nirgends mehr hat sehen lassen können vor Schand’ und Spott und Gelächter. … Ihr fragt mich wohl,“ fuhr die Frau fort, „weil das Dirn’l heut’ unter den Prangerinnen gewesen ist? Ja, das ist eine merkwürdige Geschichte und müßt’ ich nit heim und nach der Kuchel schau’n, ich wollt’ Euch davon erzählen, eine Stunde lang … Sie ist erst gestern heim ’kommen aus der Fremd’ und hat wohl gar nit daran ’denkt, daß sie mit sollt’ prangen geh’n, es ist ja allemal eine hübsch lange Zeit vorher, daß die Dirndeln dazu ausgesucht werden. Aber unverhofft kommt oft und so ist’s da auch wieder so ’gangen; die Schmied-Zenzi von der Einöd’, die ist ausgewählt gewesen, die sollt’ die Ehrenführerin sein …“

„Was?“ rief Muckl und sprang von seinem Treppensitz auf, als hätt’ ihn eine Natter oder irgend ein Ungethier gestochen. „Die Schmied-Zenz? Das bildsauberste Dirnd’l auf sieben Meilen Wegs, und nit die schneidige Kramer-Waben? Warum ist sie nachher nit Ehrenführerin gewesen? Wer hat sich unterstanden und hat sie mir aus’tauscht?“

„Wer kann für’s Unglück, wenn ’s Haus davon voll ist?“ kicherte die Alte. „Gestern war die Zenz noch hechten-gesund, über Nacht ist s’ krank ’worden und liegt im Bett, über und über klitschroth, wie eine Kornrosen … Das war keine kleine Verlegenheit, wie heut’ der Zug in die Kirch’ geh’n soll: Alle sind schon da fix und fertig und die Ehrenführerin ist aus’blieben! Aber die Schwester vom Herrn Pfarrer, das alte Fräulein, die weiß Rath in Allem … die sieht die Kohlenbrenner-Clar’l, die vorbeigeht und an nichts denkt, als daß sie noch recht kommt zu Amt und Predigt; die muß herein und mag reden, was sie will, das Fräulein putzt sie auf, die Andern geben auch von ihrem Gewand, was sie nit ang’habt hat, und so muß sie mit in die Kirch’ …“

Sylvester hatte schweigend zugehört; er war immer ernster und ernster geworden und bei den letzten Reden hatte er den Hut in der Hand und fühlte es durch seine Seele gehen wie warmen Märzwind, der den Schnee mürbe macht, daß die ersten Blumenglocken darunter hervorbrechen können. „Ja,“ flüsterte er in fromm bereuender Regung in sich hinein, „ja, die Heirathen werden im Himmel geschlossen! Ja, das ist wahrhaftig eine Schickung … ich dank’ Dir, lieber Gott, daß Du’s so gnädig g’macht hast mit mir … verdient hab’ ich’s wahrhaftig nit!“

Er eilte fort, unbekümmert um den Genossen, der seinerseits zu sehr mit sich selber beschäftigt war, um seine Entfernung zu beachten.

„Aber wie war’s denn mit der Ehrenführerin?“ fragte Muckl die Alte, die sich ebenfalls zum Gehen anschickte. „Wenn die Clar’l für die Kranke hat eintreten müssen, warum ist sie dann doch nit Ehrenführerin gewesen?“

„Ich hab’ wahrhaftig keine Zeit mehr,“ sagte die Alte und wollte sich los machen, „das wär’ auch wieder eine lange G’schicht …“

„Halt, Alte,“ rief Muckl, „ich laß’ Dich nit fort, und wenn Deine ganze Kuchel in Rauch aufgeht, das muß ich vorher wissen! Es ist meine Haut, um die es dabei geht! Wenn die Clar’l die Ehrenführerin hätt’ sein sollen, dann gehört sie von Gott und Rechtswegen mir und es kann leicht sein, daß die Waben auf’n Sylvester seinen Antheil trifft …“

„Das mußt halt mit der Waben ausmachen, Du narreter Ding,“ lachte die Alte, hinweg trippelnd, „der Clar’l ist’s gleich gewesen, wo sie sie hingestellt haben, aber die Waben hat’s verlangt, daß man sie zur Ehrenführerin machen sollt … sie hat sich’s eigens ausgebeten …“

„Ausge …,“ stammelte der Musikant und sah der Alten mit offenem Munde nach. „Das gilt nit!“ rief er dann plötzlich und sprang vor Ingrimm mit beiden Beinen in die Höhe. „Die Clar’l war mir vermeint! Die Wab’n gehört dem Sylvester zu, er kann schauen, was er mit ihr anfangt! … Ausgebeten? Warum denn etwann?“ Im Augenblick verstummte er wieder, denn wie ein Blitz schoß ihm die Antwort auf diese Frage durch den Kopf. „Herrgott, was geht mir auf einmal für ein Licht auf! … Wenn die Waben was gemerkt hätt’? … Ah, das kann ja nit sein … Aber warum nit? Hab’ ich mich nit an den Zaun hing’setzt und an die offene Straß’ und hab’s in Wind hinaus erzählt, wie ein Narr … Es ist nit anders! Sie ist in der Näh’ gewesen und hat zugehört … und d’rum hat sie sich die Zugführerin ausgebeten … Aber nein, das gilt nit! So ist’s nit ausgemacht worden … da thu’ ich nimmer mit! Vest’l, he, Vest’l … wo bist denn? Das gilt nit …“

Er eilte fort, am Pfarrhofe vorüber; im nämlichen Augenblicke traten Clar’l und die Krämerstochter aus der Thür. Er prallte zurück und machte einen Seitensprung, als er sie erblickte; sie aber lachte und nickte ihm zu mit der freundlichsten und vertrautesten Miene und rief: „Wo ’naus, Muckl? Wie ist’s, wann wollen wir denn d’ Stuhlfest machen?“

Er war nicht aufzuhalten. „Wenn Pfingsten vor Ostern kommt, Du … Du Kreuzspinn’ Du!“ rief er im Entspringen, halb zurückgewendet, und verschwand um die Ecke.

„Lauter Neuigkeiten, die ich erfahr’!“ sagte die Köhlerin. „Das hab’ ich ja auch nit gewußt, daß Du mit dem Clarinetten-Muckel so gut bekannt bist! Seit wann denn?“

„Das will ich Dir wohl erzählen,“ sagte die Waben mit bissigem Lächeln, „jetzt ist ja keine Gefahr mehr dabei … aber komm’, nur, ich möcht’ den ersten Tanz nit versäumen, das können wir auch unterwegs ausmachen!“

Im Wirthshause war es schon lebendig und laut; in den Trinkstuben summte es wie in einem schwarmbereiten Bienenstock, vom Tanzboden herab begann es zu poltern und die Töne des ersten Ländlerischen machten die fröhlichen Paare drehen und sich schwingen. Die Kramer-Waben konnte es kaum erwarten, die Stiege hinauf zu kommen; ihre Gefährtin aber war nicht zu bewegen, ihr zu folgen; es war während des kurzen Weges, den sie [52] miteinander durch das Dorf gewandert, eine große Veränderung mit ihr vorgegangen: der anmuthige Mund hatte sein liebliches Lächeln verlernt und um die treuherzigen Augen zuckte und blinkte es, als entstehe eine Thräne darin.

Hastig eilte sie am Heckenzaune dem Gestade zu, sich über den See rudern zu lassen.

In der engen Gasse stand auf einmal Sylvester vor ihr.

„Wo ’naus, Dirn’l,“ rief er ihr entgegen und seine Augen blitzten vor freudiger Erregung. „Hast’n Weg verfehlt? Dort hinum geht’s zum Tanzboden!“

Als das Mädchen ihn erblickte, schoß ihr das Blut in’s Gesicht, aber sie faßte sich rasch und entgegnete, zur Seite weichend, in fast nur unmerklich bebendem Tone: „Kann sein – mein Weg führt nit zum Tanzboden!“

„Wär’ nit übel!“ lachte er in der seligen Ausgelassenheit seines Glücks. „Die schönste von den Prangerinnen darf beim Erntetanz nit fehlen! Komm’ mit, Clarl, mir müssen wieder gut freund werden miteinander, wir tanzen miteinander, wir schwatzen miteinander … o mein! Ich hab’ Dir so viel zu sagen …“

„Ich hab’ nichts zu schaffen mit Dir,“ sagte sie finster, „und will nichts zu schaffen haben; geh’ mir aus dem Weg!“

„Oho, bist noch fuchtig, Madel? Wirst schon wieder gut werden, hör’ mich nur erst an und tanzen mußt Du mit mir, das hab’ ich mir einmal vorgenommen und lass’ Dich nit aus …“

Sie sah ihn mit einem Blick an, der ihm ein gut Theil seiner zuversichtlichen Laune raubte. „Müssen?“ sagte sie. „Nit auslassen? Hätt’st Schneid’ über ein einschichtig’s Madel, wie über die armen Rothkröpfeln mit Dein’ Netz?“

Sylvester zuckte zusammen und trat erbleichend einen Schritt zur Seite … „Das dürft’ mir kein and’rer sterblicher Mensch sagen, als Du …“ stammelte er, „aber es mag geh’n, wie’s will, anhören mußt’ mich doch, ich hab’ ein ernsthaftes Wort mit Dir zu reden … Du kennst mich ja noch gar nit, Du weißt ja gar nit, wer ich bin …“

„O,“ erwiderte sie, „ich kenn’ Dich wohl, Vestl: wenn Du’s auch vergessen hast, ich denk’s noch wohl, wie wir miteinander gespielt haben, als kleine Kinder … Ich bin dazumal in Fischhausen gewesen, beim Fischer, weil der Vater seine Kohlhütten im Josephsthal drinnen gehabt hat … da bist Du manchmal mit dem Vetter hereingekommen zum Kirchenbauern, dann haben wir am See gespielt miteinander …“

„Ja, ja …“ rief der Bursche mit aufleuchtenden Augen, „das hab’ ich nit vergessen! Und das bist Du gewesen? Und wie ich mich einmal zu stark hinausgebeugt hab’ über’n Kahn und bin hineingestürzt in den See … da ist das Kind hineingewatet und hat mich herauszieh’n wollen und wär’ mit mir ertrunken, wenn nit justament der Vetter herzu’kommen wär … Und das bist Du gewesen, Clarl? Weiß Gott, ich hab’ Dich nit wieder erkennt, aber jetzt weiß ich, warum Du mir gleich so eigen vor’kommen bist, warum’s über mich ’kommen ist auf einmal, gerad’ wie wenn der Blitz einschlagen thät … Clarl, geh’ nit fort, bleib’ bei mir, Clarl … schau, ich hab’ Dich so gern!“

Sie stand mit glühenden Wangen und gesenkten Augen, aber regungslos. „Es ist nit wahr …“ sagte sie und wollte an ihm vorüber.

„Nit wahr? Ich will Dir den Beweis geben dafür! Mein Vetter ist gesinnt, mir Haus und Hof zu übergeben … nichts brauch’ ich mehr, als ein Madel, das Brunnhoferin wird … Sag’ Ja, Clarl, und auf Heilig-Drei-König ist Hochzeit! … Glaubst mir noch nit?“

„Es ist doch Alles, Alles nit wahr …“ wiederholte sie, beinahe wehmüthig, aber fest.

„… Madel …“

„Du weißt gar nit, was das heißt, Jemand gern haben, so recht gern, von Herzensgrund!“ fuhr sie fort. „Du bist ein eigensüchtiger Mensch, der an Niemand denkt, als an sich selber! …“

„Aber Clarl!“

„Ob’s etwann anders ist? Deinem Vettern zum Widerspielen bist statt einem Bauern ein halbeter Jager ’worden; wann’s ihn auch ’kränkt hat – nur weil Dir selber das Herumschlenzen lieber gewesen ist! Dein Vetter verlangt, Du sollst den Hof übernehmen und Dir eine Bäurin suchen; Du thust ihm den Willen, aber wie? Auf Deine eigensüchtige Weis’! Wie’s Dir gefallt in Dein’ übermüthigen Sinn, Du treibst Dein G’spött mit der Lieb’, mit der Kirch’ und mit unserm Herrgott … Aber auf Eins,“ fuhr sie näher tretend fort, „auf Eins hast doch nit ’denkt, Du übermüthiger Bue … ob Dich das Madel auch mag, die die Fünfte ist auf der Evangeliseiten …“

„Das weißt Du …“ rief Sylvester bestürzt.

„Wohl weiß ich’s und mehr … und darum weiß ich auch, daß Du gar kein’ Ahnung davon hast, was das heißt, Jemand gern haben, so recht von Herzensgrund gern, und daß Du nur Dein’ Muthwillen treiben willst mit mir! Wer sich ein Weib aussucht durch’s Loos und durch’s blinde Ungefähr, der taugt nit zu mir, und wenn er zehn Bauernhöf’ hätte und ich noch zwanzigmal ärmer wär’, als ich bin! B’hüt Dich Gott, Sylvester … es ist schad’ um Dich … aber wir Zwei kommen nit zusammen!“

Sie ging; sie hatte mit Strenge gesprochen, aber durch die Strenge klang der Schmerz, bebte die Wehmuth, so sprechen zu müssen.

Vernichtet, keines klaren Gedankens fähig, starrte ihr Sylvester nach.

Eine schöne reine Gluth war angefacht in den beiden Herzen, aber eine finstere Aschenschicht legte sich erstickend auf die glimmenden Kohlen.



(Fortsetzung folgt.)


Die letzte Ehre.


Sie nennen’s „Bett der Ehre“, wo als Held
Der Krieger in dem Kampfgetümmel fällt.
Beim Trommelschall, beim Knattern der Gewehre
Legt man die Todten in ihr großes Grab.

5
Oft keine einz’ge Thräne fällt hinab –

Ein froher Marsch – vorbei die „letzte Ehre“.

Und spät darnach, und hundert Meilen weit
Fließt erst die Thräne all dem großen Leid,
Das tausend arme Menschenherzen tragen.

10
Da schreit der Schmerz: Du siehst ihn nimmermehr!

Da fühlt die Seele erst, wie schwer, wie schwer
Ist ohne Kranz und ohne Grab das Klagen!

Wie blickt voll Neid zu Dir der tiefe Schmerz,
Wie bist Du glücklich, treues Mutterherz,

15
Daß Du kannst weinen auf dem Sarg des Lieben!

Heim kam Dein Kind, Dein Sohn aus blut’ger Schlacht,
Und hat er heim den Tod mit sich gebracht:
Dein ist sein Grab, sein Sarg, sein Kranz geblieben!

Die Rosse, die sein starker Arm gelenkt,

20
Der alte Vater führt, das Haupt gesenkt

Zum Beten, auf der Grabfahrt ihre Zügel.
Und Du, o Mutter, siehst verklärt im Licht
Durch Sarg und Thränen nur sein Angesicht,
Und Deine Blumen schmücken seinen Hügel!

25
Des Himmels Abendglühen grüßt herab,

Wo klanglos zieht ein Held der Schlacht zu Grab,
Kein Trommelschall, kein Knattern der Gewehre!
Doch ward vor Tausenden ihm wohl und gut,
Dem unter Vaterhand und Mutterhut

30
Die letzte Liebe weiht die letzte Ehre!
Friedrich Hofmann.
[53]

Die letzte Ehre.
Originalzeichnung von A. Nikutowski.

[54]
Vogelfrei.
Nach den Untersuchungsacten erzählt.


Gegen Ende des Jahres 1859 herrschte am Niederrhein eine außerordentliche Aufregung. Alle Blätter, namentlich die kleinen Localblättchen, welche in den Städtchen des Niederrheins Moers, Rheinberg und Xanten erschienen, brachten zahlreiche Nachrichten, daß sich ein verwegener, mit Waffen versehener Räuber auf der Lönninghardter Haide, einer von jeher verrufenen Gegend, herumtreibe und Land und Leute unsicher mache. Diese Aufregung nahm noch zu, als aus der Festung Wesel sogar ein Militärcommando ausgesandt wurde, um den angeblichen Räuberhauptmann einzufangen. Es gelang dies auch endlich. Brinkhoff – so hieß der Gefürchtete – wurde verhaftet. Aber man verhaftete keinen Räuberhauptmann, sondern einen jungen Menschen von einundzwanzig Jahren, der, durch einen zweijährigen Aufenthalt in Amerika an Freiheit gewöhnt, sich nicht entschließen konnte, freiwillig in’s Zuchthaus zu wandern; einen jungen Ehemann, der sich nicht bereit finden lassen wollte, kurz nach der Trauung sich von seiner reizenden, kaum achtzehnjährigen Frau zu trennen; ein armes gehetztes Wild, das keine Lust hatte, sich wie einen tollen Hund todt schießen zu lassen, sondern mit aller Energie, die allerdings einer bessern Sache würdig gewesen wäre, seine Freiheit und sein Leben der Staatsgewalt gegenüber vertheidigte! Die Geschichte ist merkwürdig und lehrreich, sie thut dar, wie ein Mensch, ohne von Natur böse oder roh zu sein, aus einem ungemessenen Freiheitstrieb zum Mörder werden kann.

Brinkhoff ist der Sohn braver Eltern, die in Alpen, einem Dorfe an der Straße zwischen Geldern und Wesel, wohnen. Er erlernte das Schreinerhandwerk und machte sich in seiner Jugend dadurch bemerklich, daß er zu allen waghalsigen Knabenstreichen aufgelegt war. Er konnte z. B. wie eine Katze klettern, und machte als Knabe manchmal den Spaß, das Dach eines Bauernhauses blitzschnell zu erklimmen, durch den Schornstein zu verschwinden und plötzlich geschwärzt, wie ein kleiner Teufel, unter den Bauern in der Küche zu erscheinen.

Leider wohnte damals in Alpen viel schlechtes Gesindel, das vom Diebstahl lebte; in diese Gesellschaft gerieth Brinkhoff zu seinem Unheil. Die Bande fand ihn wegen seiner Behendigkeit zu ihren Expeditionen sehr brauchbar und veranlaßte Brinkhoff, noch ehe er siebenzehn Jahre alt war, sich an schweren Diebstählen zu betheiligen. Die Folgen konnten natürlich nicht ausbleiben. Brinkhoff wurde verhaftet und am 13. März 1857 vom kgl. Assisenhofe zu Cleve zu einer Zuchthausstrafe von vier Jahren verurtheilt. Zur Abbüßung dieser Strafe wurde er in’s Zuchthaus nach Werden abgeführt. Dort wußte er sich bald bei den Beamten durch seine Geschicklichkeit im Arbeiten und durch sein einnehmendes Benehmen beliebt zu machen; man betrachtete ihn kaum wie einen Verbrecher, sondern wie ein Kind, das einen Fehltritt gethan und das sich bessern will. Er aber benutzte die für ihn günstige Meinung und war plötzlich auf unerklärliche Weise aus Werden verschwunden. Indem er einsah, daß er in Europa nicht mehr bleiben konnte, schiffte er sich am 2. Januar 1858 in Rotterdam nach Nordamerika ein.

Dort war für, ihn, den geweckten und unternehmenden Menschen, das richtige Feld. Eine in Amerika verheirathete Schwester, die in guten Verhältnissen war, bot ihm einen Anhaltspunkt. Als tüchtiger Schreiner verdiente er bald reichlich so viel Geld, daß er nach der Arbeit als Gentleman auftreten und sich noch Ersparnisse zurücklegen konnte. Im Besitze von einigen Mitteln begann er einen Cigarrenhandel, der sich gut rentirte, da er es verstand, billig zu kaufen und theuer zu verkaufen; kurz, nach einem Jahre war er ein gemachter Mann, der über zwölfhundert baare Dollars verfügen konnte. Seine Geschäfte führten ihn nach dem Norden und nach dem Süden, nach dem Osten und Westen. Im Juni 1859 kam er aus Californien nach Philadelphia, kehrte dort in einem der ersten Hotels ein und machte in demselben die Bekanntschaft der Caroline Ernst, eines siebenzehnjährigen hübschen, schwarzäugigen deutschen Mädchens, welches im Hotel das Departement des Kaffees unter sich hatte. Die jungen Leute waren bald einig. Nach echt amerikanischer Weise begaben sich die Liebenden bereits am dritten Tage ihrer Bekanntschaft zum Friedensrichter, der ihrem Herzensbunde die gesetzliche Weihe ertheilte.

Die junge Frau war eine deutsche Eingewanderte, gebürtig aus Sieglingen im Königreich Würtemberg. Sie hatte Sehnsucht nach der Heimath, und wollte gern den dort zurückgebliebenen Freundinnen ihren jungen, schönen und reichen Mann vorführen. Nachdem am 1. August die Heirath stattgefunden, begab sich das junge Paar bereits am 15. August zu New-York auf ein Dampfschiff und gelangte am 1. September wohlbehalten nach Hamburg. Nach einer kurzen Vergnügungsreise nach Amsterdam und einem heimlichen Besuche bei den Eltern in Alpen reisten Beide in die Heimath der jungen Frau nach Sieglingen. Brinkhoff, in seinem Aeußern vollständig Gentleman, legitimirt durch einen regelrechten Paß, in dem das amerikanische Bürgerrecht, welches er sich dort erworben, bescheinigt war, nebenbei ein ausgezeichneter Jäger und Schütze, war in der Heimath seiner Frau bald eine gesuchte Persönlichkeit. Der Amerikaner wurde zu Jagden eingeladen; dafür revanchirte er sich glänzend, gab im Gasthofe Gesellschaften, machte den Verwandten seiner Frau Geschenke; kurz, die sauer erworbenen Dollars rollten und rollten, bis dieselben auf ein kleines Häufchen zusammen geschmolzen waren. Da nun der amerikanische Gentleman sich in der Heimath seiner Frau nicht als Schreinergeselle entpuppen wollte, so beschloß das junge Paar, nach Alpen zu reisen und von dort mit Hülfe von Brinkhoff’s Eltern sich wiederum nach Amerika einzuschiffen. Schon am 1. November war in Darmstadt der letzte Dollar ausgegeben; um die Reise fortsetzen zu können, wurden die Schmucksachen der Frau versetzt. In Mainz war die Baarschaft soweit zusammengeschmolzen, daß Brinkhoff seine Frau dort zurücklassen mußte. Er reiste nach Alpen und erst am 8. November, nachdem die Frau auch ihre letzten guten Kleidungsstücke verkauft hatte, zog nächtlicher Weise nicht der amerikanische Gentleman, nein, der preußische entsprungene Zuchthaussträfling in Alpen bei den Eltern ein. Ihn durfte Niemand sehen, denn die Luft, die er athmete, durfte er gesetzlich nicht athmen; er mußte das Licht scheuen, denn jeder Beamte der Polizei war verpflichtet, ihn sofort zu verhaften und in’s Zuchthaus abzuliefern! Der an das Uebermaß persönlicher Freiheit gewöhnte amerikanische Bürger sollte in’s Zuchthaus wandern und sich dort mit fünfundzwanzig Hieben zum Willkommen begrüßen lassen?[1]

Der alte Vater, der sich als Schachtmeister mit seiner Familie kümmerlich ernährte, konnte dem Sohne nicht helfen; er hatte sein letztes Geld nach Mainz geschickt, um die Schwiegertochter auszulösen. Brinkhoff war in Verzweiflung. Er wollte wiederum zum Verbrechen übergehen; mit dem Revolver in der Hand wollte er bei einem reichen Gutsbesitzer in der Nacht eindringen und sich das Reisegeld nach Amerika holen. Aber sein braves Weib hielt ihn zurück und erklärte ihm, sie wolle lieber vor Hunger sterben, als ein auf unrechtmäßige Weise erworbenes Stück Brod essen! Eins vergaß B. in seiner Lage, daß es in Europa noch Menschen giebt, die dem Elend des Nebenmenschen gern abhelfen, und die nicht, wie oft der Amerikaner, die Tasche voll Dollars, den am Wege Schmachtenden keines Blickes würdigen. Wäre Brinkhoff damals ohne Revolver vertrauungsvoll zu dem reichen Gutsbesitzer gegangen, den er berauben wollte, so würde ihm dieser das Geld zur Rückreise nach Amerika geschenkt haben. Aber Brinkhoff hatte in Amerika den Glauben an die Menschheit verloren.

Was kommen mußte, blieb nicht lange aus. Es wurde bald in dem kleinen Dorfe Alpen bekannt, daß Wilhelm Brinkhoff aus Amerika zurückgekehrt sei. Merkwürdigerweise unternahm der Bürgermeister von Alpen nichts gegen ihn. Er ging ihm aus dem Wege und brachte so Brinkhoff die Idee bei, die Polizei fürchte sich vor ihm. Ein großer Theil der späteren traurigen Vorfälle ist der Schwachheit dieses Bürgermeisters zur Last zu legen. Wäre derselbe sofort mit Energie aufgetreten, so würde Brinkhoff nie gewagt haben, was er gethan.

Er wurde jetzt immer kühner, ging am Tage aus, besuchte die Wirthshäuser und legte in denselben einen geladenen Revolver vor sich, mit dem Bemerken, daß er Denjenigen, der ihn verhaften wolle, niederschießen [55] werde. Daß in einem geordneten Staate ein derartiges Auftreten unter keinen Umständen geduldet werden darf, ist keine Frage, denn die Achtung vor der Obrigkeit würde dadurch untergraben. Es kommt nicht darauf an, ob ein oder der andere zur Zuchthausstrafe Verurtheilter seine Strafe abbüße oder nicht; aber es kommt wohl darauf an, daß die Gesetze und Diener der Gesetze nicht verhöhnt und beschimpft werden. Kaum hörte daher der damalige Landrath des Kreises Moers, in dem Alpen liegt, von Enshausen, von dem Treiben Brinkhoff’s, so entbot er alle ihm zur Disposition stehenden polizeilichen Kräfte. Er selbst, an der Spitze von Kreissecretair, Kreisbote, Gensd’arm und mehreren Polizeidienern, umstellten in der Nacht vom 1. auf den 2. December das väterliche Haus des Brinkhoff und schritten sodann zur Haussuchung. Im Hause fand sich nichts, als ein neu angelegter heimlicher Durchgang nach dem Nachbarhause. Plötzlich aber erschien eine Person in dem Durchgang, der das Brinkhoff’sche Haus von dem des Nachbarn trennte und dessen Ausgang von einem Polizeidiener besetzt war. Es war Brinkhoff; den Revolver in der Hand rief er dem Polizeidiener zu: „Mach’ Dich fort.“ Als dies nicht sofort geschah, fiel ein Schuß, durch welchen der Polizeidiener am Arme unerheblich verwundet wurde. Der Durchgang war frei und Brinkhoff floh in den nahegelegenen, mit Moor und Sumpf durchzogenen Wald, genannt „die Leucht“.

Brinkhoff war frei, aber es war eine schreckliche Freiheit!

Die Behörden gingen jetzt zu einer energischen Thätigkeit über. Auf die Habhaftwerdung des Brinkhoff wurde eine Geldbelohnung von zwanzig bis achtzig Thaler gesetzt. Brinkhoff verhöhnte die Polizei; er schlug Bekanntmachungen an die Bäume des Waldes an, in denen er ebenfalls eine Belohnung von fünfzig Thalern Demjenigen versprach, der ihm einen Polizeibeamten todt oder lebendig liefere.

Das Publicum wurde nun auf die Strafe der Theilnahme an einem Verbrechen aufmerksam gemacht; Jedem wurde es eingeschärft, daß es schon eine strafbare Handlung sei, den Brinkhoff in sein Haus aufzunehmen, dem Hungernden ein Stück Brod zu schenken.

In einer dieser Publicationen heißt es wie folgt:

„Wer auf irgend eine Weise mit dem Wilhelm Brinkhoff, genannt Lemke, verkehrt, ihm Eßwaaren oder Schießbedarf bringt, ihn verbirgt, seinen Aufenthalt nicht anzeigt, oder in irgend einer Weise seinen Ungesetzlichkeiten Vorschub leistet, wird sofort zur Haft gezogen werden.“

Brinkhoff war mithin vogelfrei im vollen Sinne des Wortes.

Die Bürgermeister der Umgegend boten alle disponiblen Mannschaften auf und hielten Kesseltreiben; ein Militärcommando wurde von Wesel requirirt, das den ganzen Wald mit einem Cordon umzog; kurz man stellte eine Jagd an, welche jeden gewöhnlichen Menschen zur ruhigen Unterwerfung bewogen hätte, die indessen bei Brinkhoff nur die Folge hatte, daß er sich entschloß, sein Leben so theuer wie möglich zu verkaufen. Allen, die ihm zu Gesicht kamen, theilte er mit, daß er entschlossen sei, Jeden, der ihn angreifen wolle, zu erschießen. Daß dies keine Redensart war, geht daraus hervor, daß er sich bald ein Jagdgewehr mit Pulver und Blei zu verschaffen wußte. Am 5. December, am hellen Tage, drang er, den Revolver in der linken Hand, in die alleinstehende Wohnung eines Waldhüters, und mit den Worten: „Du bist der Kerl, der mich verfolgt hat! Jetzt müßte ich Dich niederschießen, das Gewehr nehme ich zu meiner Sicherheit mit; dann werde ich Dich kriegen; wenn Du vor die Thüre kommst, schieße ich Dich nieder,“ ergriff er mit der rechten Hand dessen an der Wand hängendes Jagdgewehr nebst Pulverhorn und Schrotbeutel und entfernte sich.

Er hatte nun eine Waffe, die in der Hand des nie Fehlenden noch Manchem das Leben gekostet hätte, wenn nicht sein Schutzengel ihm zur Seite gestanden. Als Brinkhoff’s Frau von diesen Vorgängen hörte, entschloß sie sich, sein Elend zu theilen, um ihn nur vom Verbrechen zurückzuhalten. Im December bei Kälte, Nässe und Frost ging das an allen Comfort des Lebens gewöhnte junge Weib in den Wald und suchte den armen Mann. Sie theilte sein Lager unter freiem Himmel auf zusammengescharrtem Laub, sie theilte das letzte Stück Brod mit ihm, das sie mitgebracht hatte, und hungerte dann mit ihm. Allein sie wirkte auch auf ihn, daß er die blutigen Gedanken fallen ließ. Einige Tage darauf begegnete er einem andern Förster im Walde; nachdem er anfangs demselben mit der Pistole gedroht hatte, sagte er: „Ich thue Ihnen nichts und werde auch Niemand etwas thun.“

Auf den 11. December war großes Treibjagen arrangirt. Alle Männer von sechs um den Wald herumliegenden Bürgermeistereien, die Waffen tragen konnten, besetzten die Leucht, den Wald, in dem sich Brinkhoff aufhielt. Es war eigentlich nicht mehr nöthig, denn Kälte und Hunger sind mächtiger als die Menschen, und der Anblick eines geliebten Weibes, das hungert und friert, zwingt auch den energischsten Mann, um die Geliebte zu retten, sich in das Unvermeidliche zu fügen.

Am Abend vor jenem Treibjagen schlich sich Brinkhoff an ein einsam gelegenes Gehöft. Als der Bauer desselben vor die Thür kam, hörte er leise seinen Namen rufen; es stand dort Brinkhoff mit seiner vor Kälte zitternden Frau; er bat um etwas warmes Essen und um ein Nachtlager. Der Mann, von Mitleid gerührt, konnte ihm Beides, trotzdem, daß er mit Bestimmtheit wußte, daß sein Haus revidirt werden konnte, nicht abschlagen. Ohne irgend einem Hauseinwohner etwas zu sagen, brachte er das Ehepaar in eine Stube seines Hauses, gab ihnen warmes Abendessen und räumte ihnen ein Bett ein. Ha, welch’ ein Genuß, im warmen Bett zu schlafen, nachdem man im December beinahe vierzehn Tage unter freiem Himmel zugebracht hat!

Doch die Gefahr war groß. Brinkhoff wurde bereits um drei Uhr geweckt, allein er konnte sich nicht entschließen, das langentbehrte Bett zu verlassen. Um fünf Uhr jedoch verließ er mit seiner Frau das Haus und brachte diese in ein etwa zehn Minuten entferntes leer stehendes Häuschen, das der Bauer zu einer Werkstätte benutzte. Dort machte er Feuer an und wartete den Tag ab. Es war aber auch die höchste Zeit gewesen, denn noch vor Tagesanbruch erschienen die ersten Schützen des angesagten Treibens. Zwei Polizeidiener, unkenntlich gemacht durch blaue Bauernkittel, besetzten das Haus des Bauern und legten sich hinter der halbgeöffneten Thür auf die Lauer. Gegen Tagesanbruch bat Frau Brinkhoff ihren Mann, zu versuchen, ob er vielleicht von dem Bauer ein wenig Milch erhalten könne. Brinkhoff ging nach dem Hause und rief leise den Namen des Bauern. Als er keine Antwort erhielt, entfernte er sich wiederum in der Richtung nach dem Häuschen, wo seine Frau sich befand. Da machte der eine Polizeidiener rasch die Thür auf und schoß auf eine Entfernung von vier Schritten Brinkhoff zwei Schrotladungen in Rücken und Beine. In diesem Moment bewies Brinkhoff die Geistesgegenwart, welche dem Amerikaner in der gefährlichsten Lage eigen ist. Mit dem Ausrufe: „O weh!“ drehte er sich um, und im nächsten Moment lag der Polizeidiener, der geschossen hatte, in’s Herz getroffen, todt zu seinen Füßen, und der andere, der im Anschlag lag, erhielt einen Streifschuß an den Kopf; der Menschenjäger hatte die auf Brinkhoff’s Kopf gesetzte Prämie theuer erkauft!

Brinkhoff verschwand im Dickicht des Waldes, aber durch die an den Beinen erhaltenen Verletzungen kam er nicht weit; er blieb liegen. Seine Frau kam ihm zu Hülfe; man brachte ihn in die ärmliche Hütte eines Taglöhners und legte ihn in’s Bett. Dort wollte er zuerst seinem Leben ein Ende machen, allein seine Frau faßte seine Hand mit dem gespannten Revolver und brachte ihn durch die Worte: „Wilhelm, wenn Du auch festkommst, ich werde Dich immer besuchen,“ von dem Entschluß ab. Er ergab sich nun in sein Schicksal und wollte nach Alpen gefahren werden, um sich dort den Behörden zu überliefern.

Unterdessen war auch eine Abtheilung Militär bis zu der Taglöhnerhütte gelangt, in welcher Brinkhoff lag. Als Letzterer dies hörte, sprach er den Wunsch aus, sich diesem zu ergeben. Der commandirende Lieutenant trat in die Stube. Brinkhoff überreichte ihm mit den Worten: „ich übergebe mich Ihnen,“ seine Waffen, Revolver und Jagdmesser (das verhängnißvolle Gewehr hatte er gleich nach dem Schuß fortgeworfen) und wurde sodann mit seiner Frau, die man für seine Zuhälterin hielt, über Alpen und Wesel in das Arresthaus zu Cleve geführt. Als er in Alpen ankam und ihm mitgetheilt wurde, daß der eine Polizeidiener todt sei, fing er unter den Worten: „also wirklich todt! Hätte der Mann mich nur angerufen, dann wäre das Unglück nicht geschehen!“ heftig an zu weinen.

Die Abführung Brinkhoff’s in das Arresthaus glich einem Triumphzuge; so hatte er namentlich überall die Damen auf seiner Seite, die sich herandrängten, um ihn zu sehen. Große Freude verursachte die Einbringung des Brinkhoff bei den Sicherheitsbeamten; [56] allein die Freude war von kurzer Dauer. Bereits am 23. December gelang es Brinkhoff seine Freiheit wieder zu erlangen. Von dem Krankenzimmer des Arresthauses kletterte er, nachdem er auf unerklärliche Weise die Angeln der Thüre der Krankenstube abgebrochen, über Mauern bis auf das Dach des neben dem Arresthause liegenden Landgerichtsgebäudes, deckte dort einen Theil der Dachpfannen. ab, gelangte auf diese Weise auf einen kleinen Söller, wo er sich, nachdem er die Pfannen wieder eingesetzt hatte, bis zum Abend ruhig verhielt. Als der Castellan des Landgerichts am Abend die Lichter anzünden wollte, huschte auf der Treppe ein Schatten an ihm vorbei. Es war Brinkhoff.

Vergeblich wurden abermals alle Polizeibehörden in Bewegung gesetzt, man konnte seiner nicht habhaft werden, und erst am 13. Februar wurde er wiederum zur Haft gebracht, nachdem er freiwillig sich den Behörden ausgeliefert hatte. Ein Vorfall während dieser Zeit belehrt uns, daß Brinkhoff es verstand, sich auch als Flüchtling den Verhältnissen nach so angenehm wie möglich einzurichten.

In der Nähe von Rüderich bei Wesel liegt ein allerliebstes Gütchen, genannt „Jägersruh“, ziemlich entfernt von andern Höfen, das einer in Köln wohnenden Familie gehört. Das Haupthaus wird nur im Sommer von den Eigenthümern bewohnt, ist deshalb mit allen zu einem längeren Aufenthalte nöthigen Mobilien versehen, im Winter abgeschlossen und wird nur zuweilen von dem in einem daneben liegenden Hause wohnenden Pächter des Guts geöffnet und nachgesehen.

Hier ließ sich Brinkhoff nach seinem Entspringen häuslich nieder. Schön möblirte Zimmer, gute Betten, ein guter Weinkeller bildeten zwar eine einsame, jedoch für einen Flüchtling gewiß beneidenswerthe Wohnung. Durch ein Fenster des zweiten Stockes wußte er sich Eingang in das Haus zu verschaffen. Er fand auch ein Jagdgewehr, Pulver und Blei. Am Tage blieb er ruhig in seinem Schlosse, Nachts aber ging er aus und verschaffte sich die nöthigen Lebensmittel. Leider dauerte dieses idyllische Leben nicht lange. Eines Tages, am 8. Januar, bekam der Pächter von Jägersruh Besuch von seinem Bruder. Dieser sprach den Wunsch aus, das Herrenhaus zu sehen, dem auch entsprochen wurde. Als man nun die Thür öffnete, stand Brinkhoff mit einem Doppelrohr in der Hand vor den Eintretenden und rief: „Zurück!“ Man verständigte sich jedoch bald. Brinkhoff bat die Pächterin, ihm eine Wurst, die er ihr überreichte, zu braten, zog sodann eine Flasche Wein hervor und lud die Gesellschaft zum Essen und zum Trinken ein. Brinkhoff aß und trank, das Gewehr mit gespanntem Hahn auf dem Schooße, entschuldigte sich sodann durch seine eigenthümliche Lage auf das Höflichste, daß er ohne Miethcontract gewohnt habe, und verschwand im Dunkel der Nacht.

Lange hörte man nichts von ihm. Er würde sicher entkommen sein, wenn er nicht das Mißgeschick gehabt hätte, sich aus Unvorsichtigkeit durch die Hand zu schießen. Heimlich ging er nach Rheinberg zu einem Arzte, und als dieser ihm erklärte, wenn die Wunde nicht sorgfältig behandelt würde, könnte der kalte Brand eintreten, entschloß er sich, freiwillig sich zu stellen. Dem armen Teufel von Besenbinder, in dessen Höhle er versteckt war, gab er den Auftrag, seinen Aufenthalt anzuzeigen, damit derselbe die ausgesetzte Belohnung verdiene. Am 13. Februar erfolgte die Wiederverhaftung. Die Frau Brinkhoff, die man unter der Beschuldigung der „Landstreicherei“ fest genommen, wurde indessen in Freiheit gesetzt, weil aus Amerika die Atteste darüber eingelaufen waren, daß sie die rechtmäßige Gattin Brinkhoff’s sei.

Mildthätige Seelen brachten die Protestantin in dem sogenannten protestantischen Stift zu Cleve unter. Das arme Weib kam hier aus dem Regen in die Traufe; sie wurde einer moralischen Folter unterworfen. Es wurden Bekehrungsversuche mit ihr angestellt; sie sollte ihren Wilhelm verlassen und sich von dem Verbrecher scheiden lassen. Man hatte sie so weit, daß sie die Ehescheidungsklage einleiten wollte. Nach der dortigen Gesetzgebung muß der Kläger die Klage durch persönliches Erscheinen vor dem Präsidenten des Landgerichts einleiten, und der Präsident soll demselben die geeigneten Vorhaltungen machen. Als sie nun zu dem alten ehrwürdigen Präsidenten kam, soll dieser sie darauf aufmerksam gemacht haben, daß Brinkhoff die ihm vorgehaltenen Verbrechen ja gerade begangen habe, um sich nicht von ihr zu trennen, daß also ihrerseits kein Grund zur Scheidung vorliege. So erzählte man; gewiß ist aber, daß seit dem Besuche bei dem Herrn Präsidenten jene Bekehrungsversuche wirkungslos blieben und von Ehescheidung nicht mehr die Rede war. Durch eine Collecte wurden die Mittel zur Reise nach Amerika aufgebracht, sie reiste dahin ab, um ihrem Wilhelm das Haus einzurichten.

Mit der größten Sorgfalt wurde nun Brinkhoff bewacht, die Untersuchung gegen ihn wurde mit Energie betrieben, so daß er schon am 28. März vor den königlichen Assisenhof zu Cleve gestellt werden konnte. Der Vertheidiger hatte gewünscht, daß die Frau Brinkhoff’s den Verhandlungen beiwohne, weil er es für unzweifelhaft hielt, daß der Anblick der jungen Frau einen günstigen Einfluß auf die Herren Geschworenen ausüben würde, allein die um ihr Seelenheil besorgten Freunde hielten sie davon ab; sie durfte das Verbrechen nicht unterstützen, sie durfte nicht bei der Verhandlung erscheinen.

Brinkhoff war angeklagt; in der Nacht vom 1. zum 2. December 1859 zu Alpen den Polizeidiener Husmann vorsätzlich und mit Ueberlegung zu tödten versucht; am 5. December 1859 in der in dem Walde bei Alpen belegenen Wohnung des Jagdhüters Jakob Esselborn diesem unter Drohungen ein Gewehr, in der Absicht, sich dasselbe rechtswidrig zuzueignen, weggenommen; am 11. December 1859 zu Saalhof den Tagelöhner Ingenilm vorsätzlich und mit Ueberlegung zu tödten versucht; am 11. December zu Saalhof den Polizeidiener Murmann vorsätzlich und mit Ueberlegung getödtet; endlich in der ersten Nacht des Januar 1860 zu Jägersruh, in dem Hause des Directors Götz, mittelst Einbruchs und Einsteigens ein Gewehr, ein Pulverhorn und einige Munition an sich genommen zu haben.

Wurde dieser Anklage, aus der indeß das Vergehen des eigentlichen gemeinen Diebstahls nirgends hervorgeht, entsprochen, so mußte auf die Todesstrafe erkannt werden.

Auf der Bank der Angeklagten erschien ein schlanker junger Mensch, mit blassem, länglichem Gesichte, schwarzen langen Haaren und einem dunkeln, brennenden Auge. Sein ganzes Auftreten war ruhig und gemessen, seine Haltung anständig. Nach zweitägiger Debatte bejahten die Herren Geschworenen die ihnen vorgelegten Fragen, jedoch mit der Modification, daß Brinkhoff zu der Tödtung durch den getödteten Polizeidiener selbst, der ihm eine schwere Mißhandlung zugefügt, gereizt worden sei. Der Assisenhof erkannte auf eine Zuchthausstrafe von zehn Jahren. Brinkhoff nahm das Urtheil mit großer Ruhe auf. Einige Tage darauf erkundigte er sich, wann die Abfahrt der Schiffe von Rotterdam nach Amerika stattfinde, und als man ihn auf seine Ketten und die starken Wände seines Gefängnisses aufmerksam machte, antwortete er „die würden ihn nicht belästigen, wenn er nur Reisegeld hätte.“

Er wurde wiederum nach Werden abgeführt, ließ sich dort seine durchschossene Hand gründlich curiren und – eines Tages war er wieder verschwunden. Seine glückliche Ankunft in Amerika hat er den Beamten, denen er so viele Sorge gemacht, schriftlich angezeigt. Seitdem hat man keine bestimmte Kunde mehr von ihm. Ob er dort in geordneten Verhältnissen an der Seite seines treuen Weibchens noch lebt oder ob auch ihn der große amerikanische Krieg verschlungen – Niemand weiß es. Kommt ihm die heutige Nummer der in Amerika in so vielen Tausenden von Exemplaren verbreiteten „Gartenlaube“ zu Gesicht, so liest er wohl mit Interesse die Geschichte von seiner deutschen Vergangenheit.




Der Kirchheimer ABC-Buch-Krieg.
Von Eduard Geib.


Oft genug hat zwar in Deutschland wie anderwärts die Einführung neuer Religionsbücher, weil in das Volksleben tief eingreifend, Aufregung und selbst schwere Unruhen hervorgerufen; wir brauchen z. B. nur an die Schicksale des Heidelberger Katechismus, sowie an den jüngsten, das ganze Speierer Consistorium aus dem Sattel hebenden Gesangbuchsstreit der Protestanten zu erinnern. Daß aber ein harmloses ABC-Buch einen Volksaufstand hervorgerufen, der mit Waffengewalt unterdrückt werden mußte, dürfte [57] schwerlich noch anderswo vorgekommen sein. Wir glauben daher auf die Nachsicht der Leser Anspruch zu haben und zugleich einen Beitrag zur Geschichte des deutschen Schulwesens zu liefern, wenn wir auf Grund officieller Actenstücke die Veranlassung und den Verlauf jenes Aufruhrs, der in der Gegend selbst unter dem Namen des „Kirchheimer-ABC-Buch-Krieges“ bekannt ist, darzustellen versuchen.

Unter den zahlreichen Territorien, in welche vor Ausbruch der französischen Revolution die heutige Rheinpfalz zersplittert war, befanden sich auch die dem Fürsten von Nassau-Weilburg gehörigen fruchtbaren Herrschaften Kirchheim und Stauf am Fuße des Donnersberges, deren Bewohner vor vieler anderer Herren Unterthanen das Glück einer wohlwollenden und erleuchteten Regierung genossen. Namentlich seit Fürst Karl Christian (1753–1788), der Urgroßvater des im verflossen Sommer von Preußen entsetzten Herzogs Adolph von Nassau, seine gewöhnliche Residenz in dem Städtchen Kirchheimbolanden aufgeschlagen, wurde das Emporkommen des Landes nach allen Richtungen gefördert, so daß sich noch heute die betreffenden Gemeinden schon im Aeußeren vortheilhaft auszeichnen. Natürlich blieben dabei auch die geistigen Interessen der Bewohner nicht unberücksichtigt. Als daher in den siebenziger Jahren des vorigen Jahrhunderts der Philanthropinismus die Aufmerksamkeit der Regierungen wie der Regierten auf die Gebrechen und Mängel lenkte, unter denen das damalige Schulwesen allenthalben darniederlag, blieb man in der Herrschaft Kirchheim mit Reformen um so weniger zurück, als in nächster Nähe, in dem leiningischen Schlößchen Heidesheim, einer der Hauptvertreter jener pädagogischen Richtung, der übel berüchtigte Karl Friedrich Bahrdt, seine übrigens verunglückten Erziehungsversuche anstellte.

Um solche Reformen zunächst in den Volksschulen des Residenzstädtchens herbeizuführen, traten im Spätsommer des Jahres 1776 die dortigen beiden lutherischen Pfarrer Hahn und Lieberich mit dem reformirten Pfarrer Des Côtes in einen Verein zusammen. Ihr Unternehmen, dessen Plan sie dem Fürsten vorlegten, fand nicht nur die volle Billigung desselben, sondern ward durch Decret vom 12. Sept. unter dem Namen einer „gemeinschaftlichen Erziehungsanstalt“ mit officiellem Charakter auf die sämmtlichen weilburgischen Gebiete des linken Rheinufers, die Aemter Kirchheim und Alsenz, ausgedehnt und der Regierung wie dem Consistorium deren eifrige Förderung anbefohlen. Unter dem Vorsitze des fürstlichen geheimen Raths Freiherrn von Botzheim eröffnete die Anstalt alsbald ihre reformatorische Thätigkeit, bei der sie sowohl die Methode und den Umfang des Unterrichts als die Disciplin in’s Auge faßte. Vor Allem bezweckte sie eine Aenderung der bisherigen Weise des Religionsunterrichtes, dessen Mangelhaftigkeit sie es hauptsächlich zuschrieb, wenn noch so rohe Unwissenheit, schwarzer Aberglaube und mit ihnen verbunden menschenfeindliche Gesinnung verbreitet seien. Wie dieser Unterricht aber beschaffen war, das schildert ein damaliger officieller Bericht drastisch mit den Worten: „Der Schulmeister, dem derselbe anvertraut ist, lehrt den Jungen die eine Hälfte des Katechismus buchstabiren und lesen, die andere Hälfte muß er (sic!) auswendig lernen, von beiden Hälften werden ihm die bloßen Worte analytisch beigebracht. Dann ist der Unterricht vollendet und der Bürger und Christ sind fertig.“ Von nun an sollte der religiöse Lehrstoff nicht nur von dem übrigen getrennt, sondern auch, gereinigt von einem todten Formalismus und mit größerer Berücksichtigung des praktischen Christenthums, in vernünftiger und faßlicher Weise der Jugend beigebracht werden, doch so, daß „die symbolischen Katechismen, diese so ehrwürdigen Denkmäler von dem Eifer unserer Reformatoren, in den Schulen, wie vorher, in ihrem Werth und Gebrauch blieben.“

Das Institut ging demnach von Principien aus, welche den modernen Schulplänen zu Grunde liegen. Allein wie noch heute, so trat diesen Grundsätzen auch damals der hyperorthodoxe Theil der Geistlichkeit entgegen und der Widerstand gewann in der Herrschaft Kirchheim durch die confessionelle Engherzigkeit und Gehässigkeit der lutherischen Mehrheit gegen ihre reformirten Mitbürger noch eine besondere Intensität. Hier war nämlich schon die freie Religionsübung und politische Gleichstellung, welche Fürst Karl August im Jahre 1738 seinen reformirten Unterthanen gewährt hatte, den lutherischen Geistlichen ein Stein des Anstoßes gewesen, der sie nicht müde werden ließ, bei ihren Parteigenossen die Toleranz des Landesherrn zu verdächtigen. Als dann später (1760) der Sohn und Nachfolger jenes Fürsten, Karl Christian, bei seiner Vermählung mit der Prinzessin Karoline von Nassau-Oranien sich verpflichtete, die Kinder dieser Ehe im reformirten Glauben zu erziehen, wurde laut die Befürchtung verbreitet, die lutherische Lehre im Lande solle durch den Calvinismus verdrängt werden.

Es ist daher begreiflich, daß auch die Thätigkeit der Erziehungsanstalt, zumal schon deren Zusammensetzung aus Geistlichen beider Confessionen Bedenken erregte, von der Bevölkerung mit argwöhnischen Blicken betrachtet wurde. Allein die Anstalt, darum unbekümmert, verfolgte mit Eifer das vorgesteckte Ziel. Um den Unterricht stufenweise zu heben, verfaßte sie zunächst ein neues ABC-Buch, das einzig zum Lesenlernen und keineswegs zum Religionsunterrichte dienen sollte. Dasselbe unterschied sich von den bis dahin benützten Brönnerischen lutherischen und reformirten ABC-Büchern hauptsächlich dadurch, daß die in letztern befindlichen Religionsabschnitte, insbesondere der Dekalog und das apostolische Symbolum, die ohnehin in den Katechismen vorkommen, weggelassen und an Stelle der geschmacklosen Gebete und Gesangbuchsverse sinnige Sprüche und Kinderlieder aufgenommen waren. Außer aus den schon erwähnten pädagogischen Gründen war die Aenderung auch deshalb erfolgt, um das Buch für die in vielen Schulen vereinigten Kinder beider Confessionen gleichmäßig brauchbar zu machen. Ganz ähnliche ABC-Bücher, so das Nürnberger, das Leipziger von Weiße, das Berliner von 1766, waren kurz vorher in anderen lutherischen Ländern ohne allen Anstand eingeführt worden.

Trotz dieser Harmlosigkeit des neuen ABC-Buchs concentrirte sich gegen dasselbe der Widerstand der lutherischen Geistlichen und Gemeinden des Kirchheimer Gebietes. Während die bedächtigeren und ruhigeren Seelenhirten es mindestens für bedenklich hielten, daß die Kinder in Zukunft das ABC und Buchstabiren nicht mehr an den Psalmen David’s und frommen Gesangbuchsliedern erlernen sollten, glaubten die geistlichen Heißsporne aus dem „glaubenslosen“ ABC-Buch deutlich die Absicht der Regierung zu erkennen, die confessionellen Lehrunterschiede zu verwischen und eine Bereinigung der Glaubensparteien zu Gunsten der Reformirten herbeizuführen. Die ohnehin mißtrauisch gemachten Bauern aber, durch solche Befürchtungen ihrer Seelsorger noch mehr geängstigt, betrachteten schließlich ihr altes ABC-Buch als den letzten Hort ihres alten lutherischen Glaubens und die Einführung des neuen Buches als dessen Untergang. Rechnet man hierzu die überall und allezeit hervortretende bäuerliche Abneigung gegen Anschaffung neuer Schulbücher überhaupt, so wird man den hartnäckigen Widerstand der Kirchheimer Unterthanen gegen das ABC-Buch, wie er in der Folge hervortrat, eher begreiflich finden.

Kaum war nämlich in den ersten Wochen des Jahres 1777 das Büchlein vom Fürsten genehmigt und zu seiner sofortigen Vertheilung und Einführung den Lehrern zugesandt, als der Regierung von allen Seiten Nachrichten über Unzufriedenheit der Unterthanen zugingen. Anfangs ließen die Behörden die Anzeigen unbeachtet, in der Hoffnung, daß die Bauern sich bald an die Neuerung gewöhnen würden. Allein die einmal erregten Wogen, anstatt sich allmählich zu beruhigen, gingen täglich höher, bis sie zuletzt fast das ganze Ländchen überflutheten.

Der Hauptwiderstand zeigte sich zu Albisheim, wo man wenige Jahre zuvor auch dem – freilich etwas zu weit gehenden – Verbot von Leichensteinen und Grabkreuzen, „die Bürger und Bauern nur unnöthige Ausgaben verursachten“, offen getrotzt hatte. Auf Veranlassung von Nickel Morgenstern und Konrad Mann verpflichteten sich die dortigen Familienväter durch Unterschrift, die neuen ABC- oder (nach pfälzischem Provincialismus) „Namenbücher“ nicht anzunehmen. Dieses Beispiel wirkte ermuthigend auf die übrigen Gemeinden. Sie traten mittels Boten unter einander in Verbindung und beschlossen die Absendung einer Deputation an den Fürsten, um die Beseitigung des gefährlichen Buches zu verlangen. Als in Folge dessen wirklich sechs Unterthanen als Deputirte in Kirchheimbolanden erschienen und dem Fürsten eine mit vielen Unterschriften bedeckte Bittschrift überreichten, hörte dieser sie huldvollst an und suchte sie sowohl über die heilsamen Absichten der Erziehungsanstalt als über die Zweckmäßigkeit und Ungefährlichkeit des neuen ABC-Buchs zu belehren. Dasselbe geschah von Seite des Landesministers Freiherrn von [58] Botzheim, der zugleich zur Ruhe und zum Gehorsam ermahnte damit nicht ernstere Maßregeln nothwendig würden.

Allein alles Zureden blieb fruchtlos und die Bauern beschlossen, der angedrohten Execution ungeachtet, auf ihrem Widerstand zu beharren. In diesem Entschluß wurden sie durch einige fanatische lutherische Geistliche der benachbarten Gebiete, worunter Pfarrer P. Ch. Nacke[2] in dem leiningen-westerburgischen (heute rheinhessischen) Wachenheim a. d. Pfr. einer der rührigsten war, unablässig bestärkt, nachdem sich die einheimische Geistlichkeit, durch den Ernst der Regierung eingeschüchtert, von aller Agitation gegen das ABC-Buch zurückgezogen hatte.

Obgleich daher die Regierung den Pfarrern und Lehrern auf ausschließlicher Benutzung des neuen ABC-Buchs in den Schulen zu bestehen befahl und die Schultheißen anwies, jene hiebei in aller Weise zu unterstützen, so war doch die Einführung des Buches fast nirgends durchzusetzen. In Sippersfeld kamen die Bauern, an ihrer Spitze Theobald Scholl, in die Schule und untersagten dem Lehrer im Namen der Gemeinde den Gebrauch der neuen Namenbücher, die sie sämmtlich dem Pfarrer zurückgebracht hatten; ihren Kindern gaben sie die alten Bücher mit, aus denen aber der Lehrer nicht unterrichten wollte. Gleicher Widerstand zeigte sich in Marnheim, von wo der Schultheiß Gassenberger am Schlusse eines Berichtes vom 16. Februar an das Amt meldete: „Summa, es ist nichts als Utz und Spötterei; wenn man einen kommen lassen will, so wird es eine Stund, und gehen erst im Dorff herum und befragen sich, was sie thun sollen.“ In ähnlicher Weise berichtete der Schultheiß Engel Ermarth von Albisheim unterm 17. Februar: „Wie man denen Leuthen mehr zured, sie sollten die neuen Namenbücher nehmen, desto weniger thun sie es.“

Um diesen Widerstand zu brechen, glaubte die Regierung zunächst gegen die Rädelsführer einschreiten zu sollen. Sie ließ daher dieselben aus den einzelnen Gemeinden vor das Amt nach Kirchheim citiren, wo diejenigen, welche sich am ungebührlichsten benommen hatten, zu kurzem Arreste verurtheilt wurden. Ebenso wurden jene festgehalten, welche sich auch vor dem Amte weigerten, das ABC-Buch für ihre Kinder anzunehmen. Die meisten der Eingethürmten legten nach wenigen Tagen das Versprechen des Gehorsams ab und erhielten ihre Freiheit wieder. Allein drei derselben, Adam und Philipp Decker von Marnheim, sowie der erwähnte Nickel Morgenstern von Albisheim, die trotzig auf ihrer Weigerung beharrten, beschloß die Regierung in das Zuchthaus nach Weilburg abführen zu lassen, um dort ein peinliches Verfahren gegen sie einzuleiten.

Als aber deren Verwandte und Freunde hievon Nachricht erhielten, trafen sie sofort Anstalt, um die Transportirung zu verhindern und die Gefangenen mit Gewalt zu befreien. Die Bewohner von Marnheim, Albisheim, Bischheim und Rittersheim versprachen hierzu ihre Beihülfe. Den beiden Decker ward heimlich im Gefängniß ein Brief zugesteckt, der sie zur Standhaftigkeit aufmunterte. Als nun am 18. Februar ein Commando von vier Grenadieren mit den Arrestanten von Kirchheim nach Alzei aufbrach, fand es schon vor Morschheim zahlreich versammelte Einwohner aus dieser Gemeinde, sowie aus dem benachbarten Orbis, welche Miene machten, ihm die Gefangenen abzunehmen. Doch trugen die Bauern vermuthlich Scheu, im nassauischen Gebiete selbst der bewaffneten Macht offen entgegengetreten. Anders aber gestaltete sich die Sache, als die Grenadiere mit ihrem Transport in die Gemarkung der zur österreichischen Grafschaft Falkenstein gehörigen Gemeinde Ilbisheim kamen, indem hier plötzlich ein großer, mit Flinten, Pistolen, Dreschflegeln u. s. w. bewaffneter Haufe von Bauern aus allen umliegenden Dörfern gegen das Commando heranrückte, es überwältigte und die Gefangenen in Freiheit setzte.

Nachdem somit das Signal zur Empörung gegeben war, kehrten die Bauern mit ihren befreiten Genossen triumphirend nach Haus zurück. Schon in Ilbisheim ließ aber Nickel Morgenstern durch den Maurer Freyhöfer einen „Verschwörungsbrief“ aufsetzen und ihn noch in derselben Nacht in die obern, an der verübten Gewaltthat nicht betheiligten Gemeinden des Amtes (Damenfels, Sippersfeld, Stauf, Ramsen, Eisenberg, Kerzenheim, Göllheim, Rüssingen und Bolanden) tragen, um auch deren Bewohner auf den andern Tag nach Kirchheim zu entbieten. Das interessante Actenstück, welches übrigens beweist, wie wenig seinen Verfassern ein besserer Schulunterricht geschadet hätte, lautet wörtlich: „Im Namen des ganzen Landes wird hiermit bekannt gemacht und auch jedermann wissen sein, daß wir von unserm rechten Glauben sollen abwendig gemacht werden, und daß sie diejenige protestantische Leyd die es nicht haben wollen einwilligen, in das Zuchthaus nacher Weilburg sollen transportirt werden, so haben wir uns, noch Hilf angeruffen zu Ilbesh. in der Gemarkung, die Arrestanten hinweggenommen, so haben wir uns verbunden, euch alle zuwissen zu thun, wer ein Christ ist der muß des Morgens früh, um fünf Uhr zu Kirchheim erscheinen, im ganzen Land zu erscheinen und keiner auszubleiben, damit unser Protestantie-Krieg ein Ende nimmt. Geschehen Ilbesh. den 18. Februar 1777. Wie schen leicht der Morgenstern von Knat und Worheit von dem Herrn N. M**.“ Neben diesem eigenhändigen Sinnspruch des Nickel Morgenstern folgten noch andere Unterschriften und am Schlusse war das Ersuchen beigefügt: „So ist verbuten Ort vor Ort diesem Boten auch ein Bot mit zu geben, denn es ist ja für uns alle und ohne Aufenthalt damit kein Verzug gibt und niemand ausbleibt um Seligkeit willen.“

Da sich in Albisheim noch während des Tages das Gerücht verbreitet hatte, auch die vier andern Unterthanen, die wegen des ABC-Buchs noch zu Kirchheimbolanden im Gefängniß saßen und worunter drei Angehörige der genannten Gemeinde waren, sollten nach Weilburg gebracht werden, so wurde mitten in der Nacht die Sturmglocke geläutet und die Bauern zogen in Masse gegen die Stadt, bis sie in deren Nähe, zu Bischheim, den Ungrund ihrer Befürchtung erfuhren.

Inzwischen strömten am nächsten Morgen, den 19. Februar in Folge der ausgegebenen Losung von allen Seiten Haufen von Landleuten nach Kirchheimbolanden, wo sie sich in der Vorstadt sammelten. Von hier zogen sie, mehrere hundert Mann stark, lärmend und drohend vor das Amthaus. Auf ihr Rufen erschien der Geh. Rath Frhr. von Botzheim in ihrer Mitte und suchte sie durch freundliche Vorstellungen und Ermahnungen zu beruhigen. Allein dieses Mittel blieb eben so fruchtlos wie sein schließlicher ernster Befehl zum Auseinandergehen. Trotzig und mit Ungestüm verlangten die Aufrührer die Entlassung der übrigen Gefangenen und die Abschaffung des ABC-Buchs. Als dies verweigert wurde, rückten sie gegen das fürstliche Schloß, wo Frhr. von Botzheim sich nochmals unter sie begab, um seine Versuche zur Herstellung der Ruhe zu wiederholen. Allein dieselben hatten so wenig Erfolg als vorher, vielmehr drohten die wüthenden Bauern mit „großem Unglücke, das es absetzen solle“, falls man ihre Forderungen nicht erfülle.

Da die Aufregung einen immer bedenklicheren und gefährlicheren Charakter annahm, Militärmacht aber nicht zu Gebote stand, so war die Regierung endlich genöthigt, die Gefangenen in Freiheit zu setzen. Ein Theil der Bauern war hierdurch befriedigt und verließ die Stadt. Die übrigen aber blieben bis in die Nacht und bestanden nur noch ungestümer auch auf der Abschaffung des ABC-Buchs. Erst als die Bürger, die für ihre und ihrer Habe Sicherheit fürchteten, ankündigten, daß sie auf Verlangen der Herrschaft der Gewalt Gewalt entgegensetzen würden, zog auch der andere Haufen von dannen.

Gleich beim Beginn des Aufstandes hatte der Fürst einen Eilboten mit der Bitte um militärischen Beistand an den Kurfürsten Karl Theodor nach Mannheim abgeschickt. Da dem Boten rasch das Gerücht nachfolgte, daß die aufrührerischen Bauern in Kirchheim schon Häuser zerstörten, so ward die nachgesuchte Hülfe schleunigst gewährt, und bereits am folgenden Tage, 20. Februar, rückte aus Alzei ein Bataillon Pfälzer von achthundert Mann in das Amt Kirchheim ein. Das Erscheinen dieser Truppen, sowie die Thätigkeit der sofort niedergesetzten Untersuchungscommission, welche die Hauptruhestörer gefänglich einzog, wirkte ungemein rasch auf die Einsicht der Unterthanen. Noch am nämlichen Tage erschienen vor dem Amte zu Kirchheim Deputirte von Morschheim, am 21. Februar solche von Bischheim und Göllheim, am 22. von Rittersheim, Orbis und Marnheim, am [59] 23. von Sippersfeld, um zu erklären, daß sie ihre bisherige Renitenz bereuten, das ABC-Buch annehmen wollten und wegen ihres Aufstandes um Gnade bäten. Andere Gemeinden ließen Aehnliches durch ihre Schultheißen melden. Schon nach wenigen Tagen war das Ländchen wieder so beruhigt, daß die Pfälzer Truppen in ihre Garnison zurückkehren konnten.

Mit der Bestrafung der Theilnahme am Aufstande, an dem übrigens etwa die Hälfte der Gemeinden keinen Antheil genommen, hätte nun die ganze Angelegenheit ihre Erledigung gefunden, wenn nicht einige Rädelsführer, darunter der mit andern geflüchtete Morgenstern, sie klagend vor das Kreiskammergericht nach Wetzlar gebracht und dadurch die volle Herstellung der Ruhe im Lande noch längere Zeit verhindert hätten. In ihrer schon am 27. Februar eingereichten Beschwerdeschrift gegen den Fürsten traten die Kläger im Namen der „Bürger und Unterthanen der Stadt und des Amtes Kirchheim“ auf. Allein die Bewohner dieser fürstlichen Residenz protestirten feierlich gegen eine solche Verdächtigung ihrer Loyalität, weshalb der Proceß später im Namen der „lutherischen Unterthanen der Herrschaft“ fortgeführt ward. Als vorzüglichsten Beschwerdepunkt brachten sie vor, daß dem Lande ein ABC-Buch „ohne alle Religionsbegriffe, welches von lutherischem Glauben nichts enthalte“, aufgedrungen werde, während die lutherische Confession als die herrschende im Besitz gewesen sei, die Kinder nach ihren Grundsätzen und im alten ABC-Buch zu unterrichten. Hieran reihten sich dann noch andere Religionsbeschwerden und baten um richterlichen Schutz gegen diese den Friedensschlüssen zuwiderlaufenden Störungen.

Da die Regierung, welcher die Klage vor dem Reichsgerichte, wie begreiflich, im höchsten Grade ärgerlich war, den Veranlassern und Begünstigern derselben in aller Weise entgegentrat, indem sie u. A. zahlreiche Unterthanen gefänglich einzog, den übrigen bei Strafe der Einthürmung die Reise nach Wetzlar verbot und den zur Abfassung der Klagschrift benützten Advocaten auf vier Wochen suspendirte: so gab dies zu neuen Beschwerden Veranlassung und der Proceß würde bei der bekannten Schwerfälligkeit der Reichsjustiz wohl Jahrzehnte gewährt haben, wenn nicht die nassauische Regierung, von Wetzlar aus selbst dazu aufgemuntert, die Sache schließlich in der Güte beigelegt hätte.

So endigte der berühmte Kirchheimer ABC-Buch-Krieg, der durch ganz Deutschland Aufsehen erregt und namentlich die Freunde der neupädagogischen Richtung unangenehm berührt hatte. Confessionelle Aufhetzung war im Stande gewesen, eine sonst intelligente Bevölkerung wegen eines simpeln Kinderbuches gegen ihren wahrhaft väterlich gesinnten Fürsten in Aufstand zu bringen; sie hatte das Ländchen viele Monate lang in Unruhe versetzt, zahlreiche Unterthanen an ihrer Freiheit und noch mehrere an ihrem Vermögen geschädigt. Auch der spätere Hauptschürer des Aufstandes, Pfarrer Nacke in Wachenheim, war von seiner Regierung zur Verantwortung gezogen und durch eine von der Universität Göttingen bestätigte Sentenz zu einem Verweise, zur Suspension von seinem Amte und Einkommen auf vier Wochen, sowie zur Abbitte vor dem Fürsten von Nassau-Weilburg verurtheilt worden.

Das confessionelle Verhältniß im Nassau-Weilburg’schen gewann übrigens später eine freundlichere Gestalt. Schon im Herbst des Jahres 1786 nahmen die Reformirten in Kirchheimbolanden das einige Jahre zuvor in der lutherischen Gemeinde eingeführte Gesangbuch ohne allen Widerspruch auch für ihren kirchlichen Gebrauch an, bei welcher Gelegenheit Fürst Karl Christian jeder Familie zwei Exemplare desselben zum Geschenke machte. Von den Bewohnern jener Gegend, die zu den gebildetsten und freisinnigsten der schönen Pfalz gehört, wissen aber heute die wenigsten mehr, ob ihre Groß- und Urgroßeltern lutherisch oder reformirt – lesen gelernt haben.




In der Central-Telegraphenstation zu Berlin.
Von George Hiltl.

Sömmering, der berühmte Arzt und Naturforscher, war es, der vor nunmehr fast sechszig Jahren die erste Idee zu den elektrischen Telegraphenleitungen gab. Vierundzwanzig Jahre später erfand Morse seinen noch heute fast unübertroffenen Apparat und bald zogen nun England, Amerika, Frankreich, Holland, Belgien, in Deutschland Preußen, dann Oesterreich die elektrischen Drähte durch ihre Gefilde. Am längsten blieb Spanien zurück, aber heute ist die Verbindung aller Länder durch den wahrhaft göttlichen Funken hergestellt.

Eine der größten und bedeutendsten dieser elektrischen Werkstätten ist die Central-Telegraphenstation zu Berlin in dem großen, aus rothen Backsteinen erbauten Hause, welches die Ecke der Französischen und Wallstraße bildet. Mitten im Verkehre und Gebrause der Stadt und des Geschäftslebens arbeiten hier die Apparate und deren Leiter nach allen Weltgegenden hin, und unter dem Pflaster der von Carossen, Reitern, Müßiggängern, Gaffern und Arbeitsamen durcheilten Straße fahren an ihren Drähten die Wortblitze hin. Die Central-Telegraphenstation zu Berlin vereinigt die Drähte von sechsundneunzig Leitungen in ihrem Apparatsaale und hier concentrirt sich die Verbindung mit all’ diesen Punkten und von ihnen aus also mit der ganzen civilisirten Welt.

Wir betreten das hohe Erdgeschoß des Gebäudes und befinden uns in dem Annahmebureau für die Depeschen. Ein großer, saalartiger Raum ist zur Hälfte von Pulten eingenommen, hinter denen die fungirenden Beamten ihren Platz haben. Sobald der Beamte den Wortlaut der Depesche schriftlich in den Händen hat, wird die Depesche in eine lederne Hülse gesteckt und diese Hülse in eine mit verschließbarem Ausläufer versehene Röhre gethan, auf welche von unten her das Mundstück eines großen Blasebalges trifft. Hat der Verschluß die Depesche aufgenommen, so giebt der Beamte ein Klingelzeichen, hierauf erfolgt eine Antwort ebenfalls durch die Klingel, daß man sein Zeichen vernommen habe, alsdann tritt der Beamte den Blasebalg und durch den ausströmenden Luftdruck wird die in der ledernen Hülse befindliche Depesche fünfzig Fuß hoch in den im dritten Stock des Hauses gelegenen Apparatsaal getrieben und von hier aus nach ihrem Bestimmungsorte befördert. Die im Stations- oder Apparatsaal für Berlin ankommenden Depeschen werden ebenfalls durch eine Röhre in die tiefer liegende Expedition befördert und von hier aus durch den bereitstehenden Boten an die Adressen gesendet.

Die Central-Station correspondirt auf vier verschiedenen Linien. Die erste oder internationale Linie wird nicht eigentlich in eine Station geführt, sondern zur Beförderung der Depeschen auf dieser Linie eine besondere Kraft eingeschaltet, von welcher weiter unten gesprochen werden soll. Auf den internationalen Linien gehen die Depeschen Tag und Nacht ohne Unterbrechung, denn im großen Weltverkehr giebt es keinen Tag und keine Nacht. Die internationalen Linien verbinden außerdem nur direct die Hauptstädte und sie betragen ein Viertel des gesammten telegraphischen Verkehrs, der also ganz der Central-Station zufällt. Die zweite Linie verbindet die größeren Städte des preußischen Telegraphennetzes, z. B. Berlin, Köln, Königsberg, Frankfurt etc. Auf diesen Linien wird z. B. mit Königsberg und Frankfurt direct verhandelt und gesprochen. Diese Leitungen gehören zu den vorzüglichsten, denn ohne Einschaltung besonderer Kraft arbeiten die Apparate und Drähte und wirken unmittelbar in die bedeutendsten Entfernungen mit großer Präcision. Die dritte Art wird die große Omnibus-Linie genannt. Sie verbindet die mittleren Städte des Netzes. Die vierte Abtheilung oder die kleine Omnibuslinie vermittelt den Verkehr zwischen Punkten, die nur zwei bis vier Meilen auseinander liegen. Sie schließen sich an größere Linien an, um auf solche Weise in den allgemeinen, großen Verkehr aufgenommen zu werden.

Gegenwärtig haben die preußischen Linien und Leitungen des Telegraphennetzes die Länge von zehntausendneunhundert und zwei Meilen Draht erreicht. Die Linie für den norddeutschen Bund zieht sich im Süden zwischen Myslowitz und Trier resp. Saarbrücken hin; im Norden läuft sie hinauf bis in die äußerste Spitze Holsteins und von da bis zur russischen Grenze – Alles ein verbindender Blitz – eine belebende Kraft, welche diese Spannungen, diese Winkel und Biegungen unter und über der Erde durcheilt, ohne Zeit oder Raum zu achten.

[60] Nach diesen Vorbemerkungen begeben wir uns in den Apparatsaal der Centralstation, die eigentliche Werkstätte und zugleich den Sammelpunkt jener dienstbar gemachten ungeheuern Kraft, welche wir gemeinhin die elektrische oder galvanische nennen. Eine jede Station, größere oder kleinere, setzt sich zusammen aus 1) den Batterien, 2) den Schlüsseln, 3) dem Schreibeapparat, 4) den Hülfsapparaten. Letztere zerfallen in die sogenannten Relais, die Galvanoskope, die Blitzableiter und die Umschalter.

Wie schon angeführt, vereinigen sich in der Centralstation zu Berlin die Drähte von sechsundneunzig Leitungen für den internationalen Verkehr. Fünfzehn Drähte sind für den Transitverkehr von Osten und Westen bestimmt. Diesen Drähten entsprechend sind die Stationen eingerichtet, welche der unserem Artikel beigegebene Holzschnitt deutlich zeigt; jede einzelne Abtheilung bildet eine besondere Station mit dem dazu gehörigen Apparate. Rechts vom Eingange in den Stationssaal gewahrt der Beschauer einen großen, scheibenförmigen Apparat. Schrauben, Knöpfchen, Zahlen, Drähte, Zeiger und Metallstreifen bedecken

Der Apparatsaal in der Central-Telegraphenstation zu Berlin.

die Scheibe fast ganz und gar. Es ist der Blitzableiter zum Schutz der Apparate, dessen Einrichtung eine spätere Nummer der Gartenlaube ausführlicher beschreiben wird.

Von diesem Sicherheitsapparate wenden wir uns zu einem zweiten höchst sinnreich construirten Gegenstande, dem Umschalter. Auf einem kathederförmig erbauten, sauberen, aus Eichenholz gefertigten Pulte ruhen eine Anzahl horizontal gelegter Messingschienen auf einer Unterlage, welche sie vollständig isolirt, d. h. ihnen die Möglichkeit benimmt, den elektrischen Strom in die Erde oder auf andere Leiter als die bestimmten zu übertragen. Ueber diese horizontalen Schienen sind verticale gelegt und zwar so, daß keine derselben weder mit der neben ihr vertical, noch mit den unter ihr liegenden horizontalen Schienen in Berührung kommt. Zwischen allen diesen Metallstreifen ist Luft, welche nicht leitet.

Man denke sich also diese Schienen etwa wie ein Schachbret übereinander liegend, ohne daß sie sich berühren; an den Stellen, wo sich diese Streifen kreuzen, sind sie durchbohrt. Will man nun die Verbindung der freiliegenden Schienen herstellen, so bedient man sich hierzu eines Federbolzens aus Metall, der in eines der Löcher jener Schienen gesteckt wird, welche miteinander verbunden werden sollen. Die horizontalen Schienen sind mit den Apparaten des Stationssaales durch Drähte, die verticalen mit den Leitungsdrähten verbunden; wenn also durch den Metallbolzen die beiden Schienenlagen vereinigt werden, so ist es leicht begreiflich, daß dadurch der elektrische Strom, von den Leitungsdrähten in die Schienen gehend, auch den Metallbolzen durchläuft, von dort aus durch die verbundenen Streifen in die zu den Apparaten führenden Drähte läuft – daß also, wie der technische Ausdruck besagt, der Contact hergestellt ist. Der Zweck des „Umschaltens“ ist, die verschiedenen Leitungen unter sich sowohl, als auch mit den Verbindungen der Apparate beliebig verbinden zu können.

In den Umschalter der Central-Telegraphenstation münden nun wieder die Drähte aller sechsundneunzig Stationen. Wenn eine der Linien mit einer andern zu combiniren ist, wenn dieselbe etwa gar auf einen andern Apparat gebracht werden müßte, so könnte dies ohne den Umschalter nur durch Abnehmen und Wechseln der Drähte geschehen. Durch die angegebene Umstöpselung kann nun jede Depesche auf eine beliebige Leitung geführt werden, denn da alle Drähte durch den Umschalter gehen, braucht man nur durch den Metallpfropfen die beiden Schienenlagen mit einander zu verbinden, durch welche die Drähte aus der Leitung in den Apparat laufen, um dem Strome jede Richtung zu geben und dadurch die Depesche in die Station zu befördern. Geht die Depesche direct, so läuft sie durch den Umschalter in den Stationsapparat; soll sie aber etwa zur Controle oder behufs einer Abrechnung in Berlin erst gelesen werden, so wird die Umstöpselung bewirkt und der Strom aus dem Umschalter geleitet und hiernach auf den Stationsapparat zur Weiterbeförderung gebracht. Man hat auch Apparate in der Centralstation, welche, an den Schreibapparaten angebracht, diese Uebertragungen selbst ausführen und die man Translatoren oder Uebertrager nennt. Die Telegraphen-Centralstation hat übrigens noch verschiedene Arten von Umschaltern in Gebrauch. So z. B. einen, der dem elektrischen Strome in der Drahtleitung eine beliebige Richtung geben kann. Dieser Apparat wird Stromwender oder Gyrotrop genannt. Das Verfahren besteht in aller Kürze darin, daß die Leitung und der Erddraht in der Diagonale gegenüber angelegt werden und der Apparat, ein sogenanntes Relais, angesetzt wird. Mittels einer Vorrichtung, „Wippe“ genannt, welche hin- und herbewegt werden kann, und je nach dieser Bewegung ändert der elektrische Strom seine Richtung nach rechts oder links. Das von Wheatstone erfundene Relais findet sich in verschiedenster Gestaltung. [61] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.


Es dient dazu, eine Verstärkung des elektrischen Stromes bei den Schreibapparaten zu bewirken. Das in der Centralstation gebräuchliche Relais besteht aus zwei Elektromagneten, von denen jeder eine Umhüllung von siebentausend sechshundert Windungen eines doppelt mit Seide übersponnenen Kupferdrahtes hat.

Vor dem arbeitenden Telegraphenbeamten sieht man kleine Gehäuse aus Holz und Glas zusammengesetzt. In denselben befinden sich auf einen Rahmen gewickelt Kupferdrähte mit Seide übersponnen. Die Enden dieser Drähte stehen mit den Leitungen in Verbindung. In dem Raume, den die Windungen der Drähte umgeben, kann nun eine in einem Messinggestelle sich bewegende, mit einem Zeiger versehene Magnetnadel aufgehängt werden. Hinter dem Zeiger befindet sich eine Kreiseintheilung. Der Zweck dieses Apparates, welcher das Galvanoskop genannt wird, ist folgender. Die elektrischen Strömungen in den Leitungen können durch atmosphärische Einflüsse ganz unterbrochen oder doch sehr geschwächt werden; es kann durch Zufall oder Vernachlässigung eine Verstellung der Apparate stattfinden, welche trotz des galvanischen Stromes ihre Thätigkeit ganz und gar hemmt. Wenn nun in einem solchen Falle die Beamten arbeiten sollten, so würden sie vollständig ohne Hülfe sein, vermöchten nicht zu erfahren, ob überhaupt elektrische Strömungen in den betreffenden Leitungen vorhanden sind oder nicht. Diese wichtige Nachricht theilt ihnen der kleine Apparat, das Galvanoskop, mit. Es zeigt an, ob Strömung vorhanden ist, denn sobald dieselbe durch die Leitungen eilt, setzt sie die Magnetnadel in Bewegung, welche, aus ihrer senkrechten Lage gebracht, Bewegungen wie ein Pendel macht, wobei der vor der Kreiseintheilung befindliche Zeiger zugleich die Stärke der Strömung angiebt.

Eine jede Station besitzt zur Erzeugung der nothwendigen Kraft zweierlei Batterien: die Linien- und die Localbatterien. Erstere dienen zum Telegraphiren, die anderen zum Bewegen der Schreibapparate. Diese Batterien enthalten die sogenannten Elemente, jene Zusammensetzungen von Säuren und Metallen, welche die wunderbare Kraft erzeugen, deren Wirkung die Menschheit näher zusammengerückt hat, als die größten Eroberungszüge es vermochten.

Die Centralstation zu Berlin enthält zwei große Linienbatterien mit einhundertzweiundneunzig Elementen, welche in einer Doppelreihe aufgestellt sind. Zwei kleine Linienbatterien zählen achtundvierzig Elemente. Die Localbatterien, ebenfalls zwei an der Zahl, enthalten jede sechsundneunzig Elemente. Außerdem hat man noch zehn Batterien von einhundertundfünfzig Zink-Kohlen-Elementen mit chromsaurem Kali eingerichtet, welche für besonders große Linien, auf denen keine Uebertragung stattfindet, arbeiten. Jede Woche wird ein Fünftel der Elemente erneuert, welche in Gläsern und Thoncylindern aufbewahrt werden. Die Aufstellung dieser Elemente nimmt einen großen Raum in Anspruch. In der Centralstation zu Berlin stehen dieselben auf starken Repositorien von Eichenholz. Von diesen Repositorien, deren im Batteriezimmer der Centralstation siebenundzwanzig aufgestellt sind, kann jeder achtundvierzig Elemente aufnehmen.

Die auf den einzelnen Stationen des Apparatsaales befindlichen Schreibapparate zerfallen in drei verschiedene Systeme: das Morse’sche, den Typenapparat von Siemens und Halske und den Hughes’schen Apparat. Der Morse’sche Apparat besteht aus dem Elektromagneten und der Schreibevorrichtung, sodann aus dem Uhrwerk zur Bewegung des Papierstreifens. Man unterscheidet den Reliefschreiber und den Blauschreiber. Für den Ersteren ist eine große galvanische Kraft erforderlich, denn die Zeichen werden bei ihm durch Metallstifte in den sich vom Uhrwerke abwickelnden Streifen gedrückt, auch erfordert sein Betrieb meist die Anwendung der oben erwähnten Relais, um die Kraft zu verstärken. Die Blauschreiber dagegen werden durch eine geringe Gewalt in Bewegung gesetzt. Der aus der Linie kommende Strom wird direct auf den Apparat gerichtet, ohne daß er nöthig hätte durch die Elektromagnete eines Relais zu laufen. Die Farbe befindet sich in einem Kästchen, aus welchem sie tropfenweis auf eine Filzwalze gelassen werden kann, hier läuft fortwährend, durch das Uhrwerk in Bewegung gesetzt, ein Pinsel auf und nieder, welcher die Farbemasse gleichmäßig auf der Walze vertheilt, während die Walze wiederum mit ihrer Farbe das Schreiberädchen speist, über dessen mit Zeichen versehenen Rand der Papierstreifen läuft, den ein Schreibhebel gegen das Rad drückt, worauf dann die Zeichen erscheinen.

Dieses Verfahren hat nach den Gutachten aller Sachverständigen bedeutende Vorzüge voraus. Die Reliefschreibung erfordert zum Lesen eine sehr bestimmte und scharfe Beleuchtung, während die Blauschrift leicht zu erkennen ist. Eine von Siemens und Halske angebrachte, höchst sinnreiche Vorrichtung hat auch die Befeuchtung der Walze mit Farbe unnütz gemacht, indem sich das Schreibrad jetzt selbst in das Farbenkästchen taucht.

[62] Aeußerst interessant ist die Wahrnehmung, in wie hohem Grade die Sinne der Beamten in der Ausführung ihres Berufes geschärft werden. Da bei dem Arbeiten der Apparate die Angabe der Zeichen durch den Apparat stets in einem gewissen Rhythmus erfolgt, so vermögen einige der geübtesten Telegraphisten eine ankommende Depesche nach dem Gehör zu lesen, noch ehe die Zeichen auf das Papier gedrückt ihnen zukommen. Allerdings ist dies nur in der dem Beamten geläufigen Sprache möglich; fremde Sprachen telegraphirt der Nichtkenner mechanisch nach, indem er die ihm zukommenden Zeichen nachdruckt und wiedergiebt. Aus diesem Grunde geschieht oder geschah es häufig, daß die Depeschen ungenau reproducirt wurden. Es besteht nämlich die telegraphische Zeichenschrift aus Strichen und Punkten. Je nachdem die Striche weiter von einander entfernt oder näher gerückt, mit Punkten versetzt oder ohne solche sind, bilden sie die Buchstaben oder die dafür geltenden Zeichen. Da nun eine vollständige Genauigkeit, namentlich bei einer nicht festen Kenntniß der Sprache, unmöglich zu erreichen war, mußten Irrungen entstehen, indem die Striche oft näher zusammengeschoben, oft mehr von einander entfernt wurden und der Sinn der Depesche nicht klar vorlag. Es galt also eine Vorrichtung zu construiren, welche die Striche, Punkte und deren Entfernungen von einander mit mathematischer Genauigkeit auf dem Papierstreifen wiedergab.

Diese Aufgabe hat der von Siemens und Halske geschaffene Typenapparat gelöst. Die Morse’schen Zeichen werden hier wie beim Drucker gesetzt. In einen Metallstreifen geklemmt, der durch den Apparat läuft, pressen sie sich, mit blauer Farbe übertüncht, welche ihnen ebenfalls durch das Werk zugeführt wird, auf dem Streifen mit größter Schärfe und Genauigkeit ab. Um jedes zu frühe Durchgleiten oder jeden, den allerkleinsten nicht hingehörenden Zwischenraum zu vermeiden, ist über dem Metallstreifen ein Hebel angebracht, welcher in unsichtbaren Bewegungen – die Schnelligkeit läßt sie nicht bemerken – die Typencolonne aufhält und sie demnach nicht eher weiter läßt, als bis sie gehörig abgedruckt ist und durch diesen unsichtbaren Halt ihre Zwischenräume genau inne hält.

Am auffälligsten für den Laien und, wenn der Ausdruck erlaubt ist, am „blendendsten“ ist die Arbeit, welche der Apparat von Hughes liefert. Dieser Apparat ist im letzten großen Gemache, getrennt von dem Hauptstationssaal, aufgestellt. Der Apparat druckt nämlich vollständig Wort für Wort die Depesche ab, so wie sie aufgegeben wurde. Das hat allerdings für den Zuschauer etwas Ungeheuerliches, fast Uebernatürliches. Die Zeichen, welche dem Laien nicht verständlich sind, machen eben deshalb nicht den mächtigen Eindruck, aber das, was Jeder von dem Papierstreifen, der sich aus der mystischen Maschine hervorarbeitet, ablesen kann, was schwarz auf weiß von hundert Meilen her zu uns herüberkommt, das regt die Sinne mächtig an.

Was wirkt, was bewegt, was strömt in jenen Drähten zusammen! Welch’ ungeheure Resultate sind bis heute erreicht worden auf dem Gebiete der Telegraphie! Und doch steht man erst am Anfange: diese Kräfte haben erst begonnen, ihre Dienste zu leihen; wohin wird es in zehn – zwanzig Jahren gekommen sein!

Denn schon jetzt stellte sich, je weiter die Telegraphie ihre Netze spinnt, das Bedürfniß nach einer allgemeinen Schriftsprache heraus – sie ist bereits vorhanden. Man vermag heute durch die sechszig Elementarzeichen der Telegraphenschrift den Gedankenaustausch in vielen Sprachen zu bewerkstelligen. Der Telegraphist übermittelt die Depeschen, ohne Kenntniß der Sprache selbst zu besitzen. Wenn der deutsche Telegraphist ein in seiner Muttersprache geschriebenes Telegramm befördert und ein deutsches „A“ angiebt, dann giebt der fremde Beamte das empfangene Zeichen so wieder, wie es in seiner Sprache geschrieben wird, ohne daran zu denken, daß das autographische Zeichen ganz anders aussieht.

Neben diesen allgemeinen Schlüsseln für die Alphabete, Interpunctionen etc. läuft die universelle Chiffernschrift. Sie ist allerdings noch nicht allgemein verbreitet; man befördert z. B. in Preußen keine Chifferntelegramme, doch wird diese Vereinfachung nicht allzu lange auf sich warten lassen. Einzelne kaufmännische Chifferntelegramme sind schon jetzt gebräuchlich. So z. B. das Wort fob, welches als Bezeichnung für die Weisung free on board (frei an Bord) gilt.

Sicher wird man durch die Telegraphie auch dahin gelangen, eine allgemein geltende Zeitrechnung einzuführen und einen Punkt der Erde als Ausgang für die Zeiten aller Orte zu bestimmen, die Zeit einer Drehung der Erde um ihre Achse statt in zwei Mal zwölf Stunden in vierundzwanzig Stunden eintheilen und es jedem einzelnen Orte überlassen, sich seine Tageszeiten, in Uebereinstimmung mit seiner geographischen Lage, aus den vierundzwanzig Stunden herauszunehmen. Gewiß wird eine Verständigung möglich sein, denn im Kleinen ist der Anfang schon gemacht. In der Centralstation zu Berlin befindet sich unter einer Glocke eine sehr interessante und wichtige Vorrichtung. Durch einen Druck auf den Knopf des Apparates wird ein Zeichen nach sämmtlichen Stationen hingegeben, welche mit der Berliner Central-Telegraphenstation verbunden sind.

Dieses Zeichen wird im Sommer fünf Minuten vor sieben, im Winter fünf Minuten vor acht Uhr gegeben. Die Central-Telegraphenstation, welche mit der Berliner Sternwarte telegraphisch verbunden ist, erhält von dieser die Nachricht und die genaue Bestimmung der Zeit. Nach Empfang derselben wird fünf Minuten vor sieben oder acht Uhr nach allen Stationen hin das Zeichen gegeben, um die Uhren darnach zu regeln. Sind die fünf Minuten verflossen, so giebt die Centralstation das zweite Zeichen: „Voll sieben oder acht Uhr“ durch den Druck auf ihren Apparat, und nun fangen sämmtliche Telegraphen an zu arbeiten, die Galvanoskope klappern, die Schlüssel der Apparate bewegen sich und die geheimnißvolle Kraft beginnt unsichtbar ihr Tagewerk zu vollführen.

Allgemeine Schriftsprache – Uebereinstimmung der Zeit! Das ist der Beginn zur Verschmelzung aller Völker, und wenn erst in die fernen Steppen Asiens, nach China und Japan hinein die metallnen Arme laufen, welche den Nationen sich entgegen strecken, dann hat allerdings die Civilisation Riesenschritte gethan und der Begriff der Allgegenwart ist ziemlich verwirklicht. Es laufen jetzt bereits sechszigtausend Meilen Draht der Telegraphie über und unter der Erde hin und das Wort eilt an ihnen mit der Schnelligkeit des Gedankens entlang, ja – schon sind durch den pneumatischen Apparat die Keime zur blitzschnellen Beförderung der Pakete, Sendungen und Personen gelegt. Die Centralstation zu Berlin hat den pneumatischen Apparat, der sie mit der Berliner Börse verbindet, in ihrem Erdgeschosse angebracht. Die Wirkung desselben ist genau übereinstimmend mit jenen pneumatischen Paketbeförderungsapparaten in London, von denen die Gartenlaube schon früher (Jahrg. 1864, Nr. 13)[WS 1] erzählt hat.

Für den sinnigen Besucher unserer Telegraphen-Etablissements giebt es hier reichen Stoff zum Nachdenken. Besonders wichtig ist die Beobachtung und Wahrnehmung, wie aus den anscheinend unbedeutendsten, vielleicht von uns Allen gering geschätzten Stoffen sich die Kraft entwickelt, welche dazu bestimmt scheint, auf der Erde eine Neugestaltung der Verhältnisse zu bewirken. Die harmlosesten Dinge wirken in ihrer Verbindung Ungeheures und das Unscheinbarste wird ein wichtiger Factor. So sieht man z. B. an dem wunderbaren Apparate von Hughes ein fortwährend sich drehendes, in rasender Eile um seine Achse sausendes Gewicht, welches die synchronistische Bewegung des Schreibrades in dem Apparate regelt. Es ist nämlich das Geheimniß des Apparates, daß die Schreibräder, welche also beispielsweise in Paris und Berlin gleichzeitig wirken, auch genau dieselbe Umdrehung an beiden Punkten ohne die geringste Abweichung ausführen, daß sie auf’s Haar gleichgestellt sind – diese Gleichmäßigkeit regeln die Gewichte. Da aber die Schwungkraft, welche den kleinen Körper umhertreibt, eine ungeheure ist, so war kein Metall, selbst der stärkste Stahl nicht, haltbar genug, es zersprang oder nutzte sich bald ab. Endlich hat eine neuere Zusammensetzung den Anforderungen entsprochen. Das Gewicht hält die Schwingungen aus und die Masse, aus welcher es besteht, ist dieselbe, die wir zu Armbändern, Broschen, Schreibfederhaltern, Ringen etc. benützen: das Aluminium.

Die fortwährende Arbeit im Stationssaale; die Stille, welche nur durch das Ticken der in Thätigkeit gesetzten Maschinen unterbrochen wird; das Bewußtsein, inmitten eines Ortes sich zu befinden, von welchem aus die wundersamsten, geheimnißvollsten Kräfte der Natur ihre Gewalten nach allen Gegenden der Erde mit unfaßlicher Schnelligkeit senden, während eben so viele Gewalt wieder an diesem Orte aus weiter Ferne her zusammenströmt; die durch unsichtbare Finger in Bewegung gesetzten Zeiger, Nadeln [63] und Signalscheiben; zuweilen ein Glockenton, den verborgene, unseren Sinnen nicht erreichbare Strömungen erzeugen – das Alles umgiebt für den Laien die Arbeit im Apparatsaale mit einem Schleier des Uebernatürlichen, der erst bei genauerer Besichtigung verschwindet, um dem ewig bleibenden Interesse Platz zu machen, welches jeder Denkende für die Triumphe menschlichen Verstandes und Scharfsinnes hegen muß. –

Die Anstalt steht unter der Direction des um die Telegraphie hochverdienten Oberstlieutenants von Chauvin, der sich mit wahrem Feuereifer seinem großem Berufe hingiebt und für die Ausbreitung der gewaltigen Verbindung der Länder unseres Erdballs durch den Telegraphendraht unermüdlich mitwirkt. Der Director hat vielfache Verbesserungen für die Leitung der Telegraphen, namentlich in Bezug auf Isolirungsvorrichtungen, ersonnen und construirt. Die Central-Telegraphenstation mit ihrer Einwirkung auf den Weltverkehr ist das Ideal des trefflichen Mannes, die Verwirklichung des großen Gedankens, eine allgemeine Verbindung durch die Telegraphie auszuführen, der Hauptzweck seines Lebens geworden.

Der Director wird durch treffliche Beamte in der Führung und Verwaltung der Centralstation unterstützt. Unter ihnen gebührt dem Oberinspector Rother einer der ersten Plätze. Er ist nicht nur außerordentlich thätig im geschäftlichen Verkehre, sondern hat sich auch als Lehrer an der Telegraphenschule vielfache Anerkennung erworben. Die Technik der Telegraphie verdankt ihm ein treffliches Handbuch über Bau und Anlage der Telegraphen.

Die Berliner Central-Telegraphenstation ist ein Stück Welt für sich, eine fast zauberische Welt, deren Eindrücke auch dann nicht weichen, wenn wir aus dem Hauptthore des großen Gebäudes schreitend in den Lärm der Straßen gelangen und zurückblicken auf jene Stätte, wo

„Himmelskräfte auf und nieder steigen
Und sich die goldnen Eimer reichen.“




Ein russischer Oelprinz.


Ihre Gartenlaube brachte vor einiger Zeit einen sehr interessanten Aufsatz unter dem Titel: „Die nordamerikanischen Oelprinzen“.

Im Jahre 1862, als die Speculation mit amerikanischem Photogen und amerikanischen Photogenlampen eine fabelhafte Höhe erreicht hatte und der Ruf der ungeheuren Petroleum-Aufschlüsse in Nordamerika die ganze industrielle Welt in Alarm setzte, erinnerte sich in Petersburg ein Gardeoberst, Ardalion v. Nowosilzoff, daß er bei den Feldzügen im Kaukasus, welche er vor mehr als zwanzig Jahren als junger Officier mitgemacht hatte, häufig daselbst Oelbrunnen bemerkt habe. Er theilte diesen Umstand einem amerikanischen Kaufmann mit, der schon seit mehreren Jahren in Petersburg eine Photogenlampenfabrik besitzt und in dem Petroleumfache Erfahrung hatte. Derselbe faßte die Nachricht begierig auf und beredete den Obersten, mit ihm in Compagnie an die Ausbeutung der kaukasischen Petroleumquellen zu gehen.

Noch ein dritter Herr trat dem Unternehmen bei, und unverzüglich machten sich die Drei nun an das Werk. Herr v. Nowosilzoff und der amerikanische Lampenfabrikant reisten sofort nach dem Kaukasus und dem Ersteren gelang es auch wirklich, unter sehr günstigen Zahlungsverhältnissen von der Verwaltung des kubanschen Heeres auf sechs Jahre das ausschließliche Privilegium zu erhalten, Petroleum aufzusuchen und auszubeuten, mit Ausschluß der Taman’schen Halbinsel, wo bereits ein ähnliches Privilegium an einen Privatmann, in Kertsch wohnhaft, gegeben worden war. Da aber dem Oberst v. Nowosilzoff vor Allem daran gelegen war, ein möglichst großes Terrain für sein Unternehmen zu besitzen und keine nachbarliche Concurrenz zu haben, so trat er alsbald mit diesem benachbarten Privilegiumsbesitzer, welcher bereits seit länger als einem Jahre im Kleinen, ungefähr fünfzig bis hundert Eimer täglich, auf seinem Terrain Oel gewann, in Unterhandlung wegen Abtretung des Privilegiums. Er kam auch zum Ziele. Für eine Abstandssumme von dreitausend Rubel überließ ihm der erwähnte Privatmann sein Privilegium mit der Bedingung, daß sein Schwiegersohn, ein intelligenter junger Mann, welcher das Oelgewinnungsgeschäft seines Schwiegervaters geleitet hatte, mit einem ziemlich bedeutenden Jahresgehalt in die Dienste des Obersten trete und auch ferner die Leitung der Arbeiten des Geschäfts überhaupt erhalte. Diese Clausel konnte dem Obersten nur Nutzen bringen, denn sein auf diese Weise erworbener Geschäftsführer, Peters (ein deutscher Mechaniker), brachte eine große Localkenntniß und einige Geschäftserfahrung mit.

Man engagirte jetzt in Amerika zwölf geübte Bohrarbeiter nebst einem Ingenieur, beschaffte die nöthigen Bohrapparate und Röhren und schritt unverzüglich, gleichzeitig auf mehreren Punkten, an das Stoßen von Bohrlöchern. Obgleich diese Arbeiten ungeheure Summen verschlangen, namentlich wegen der sehr hohen Gehalte und Löhne der Amerikaner (der Ingenieur erhielt sechstausend S.-Rubel und die Arbeiter pro Mann über tausend Rubel jährlich), so blieben doch die Aufsuchungsarbeiten der Amerikaner ohne allen Erfolg, weil man nicht die rechten Leute gewählt hatte. So verlor man trotz der günstigsten Terrainverhältnisse zwei kostbare Jahre des sechsjährigen Privilegiums und verbohrte ungefähr zweimalhunderttausend Thaler nutzlos.

Die Amerikaner wurden darauf entlassen und zweien Mitgliedern der Compagnie, darunter auch dem lampenfabricirenden, sank der Muth. Es wären wohl auch manche Andere durch solche schlechte Erfolge und so große Geldverluste entmuthigt worden, nicht aber so das dritte Mitglied, der Oberst von Nowosilzoff. Dieser Mann, ein äußerst energischer und intelligenter Charakter, machte den letzten Rest seines Vermögens, einige Güter, zu Geld, fest entschlossen, das Unternehmen bis auf den letzten Rubel zu forciren und entweder Bettler oder Millionär zu werden, und solchen Personen ist ja bekanntlich das Glück hold.

Er reiste also mit dem Rest seines Vermögens nach Paris und contrahirte dort mit dem vielbekannten Bohr-Ingenieur Kind bezüglich Ausführung seiner Bohrarbeiten und Lieferung der nöthigen Bohrapparate (da dieser Herr nur Arbeiten mit seinen eigenen Apparaten unternimmt). Bereits im Jahre 1865 langte ein Hilfsingenieur des Herrn Kind auf Ort und Stelle an und die Bohrapparate folgten bald nach. Der Beginn der Arbeiten nach der Kind’schen Methode wurde jedoch bis zur Ankunft des Obersten verschoben, welcher sich um diese Zeit in Petersburg aufhielt, um seine letzten pecuniären Truppen, zu sammeln und in’s Feld zu führen. Derselbe hatte nämlich nach Entlassung des amerikanischen Ingenieurs die Oberleitung der Arbeiten selbst übernommen. Unterdessen betrieb der früher erwähnte Geschäftsführer Peters, welcher sich immer noch im Dienste der Compagnie befand, Versuchsarbeiten im kleinen Maßstabe mit den zurückgebliebenen amerikanischen Bohrapparaten, erzielte auch einige kleine Erfolge, aber die Hauptsache, einen freispringenden Oelstrahl, konnte man nicht erhalten.

So war auch ziemlich das dritte Jahr der Privilegiumszeit verflossen. Da erklärten die zwei anderen Mitglieder der Compagnie dem Obersten ihren Austritt, ohne wegen ihrer in diesem Unternehmen verausgabten Capitalien Entschädigungs-Ansprüche geltend zu machen. Nowosilzoff rüstete sich zur Abreise nach dem Kaukasus. Um diese Zeit, und zwar zu Anfang Januar 1866, bot ich dem Obersten meine Dienste als Geologe an, indem es schon längst mein sehnlichster Wunsch gewesen, den Kaukasus, der für Bergleute und Geologen noch ganz jungfräuliches Terrain und deshalb eben sehr interessant ist, wissenschaftlich zu bereisen. Herr v. Nowosilzoff nahm meine Dienste hinsichtlich einer genauen Besichtigung und Begutachtung seines Oelterrains bereitwillig an; über mein Honorar waren wir, da ich sehr bescheidene Ansprüche machte und der Oberst eine noble Persönlichkeit ist, bald einig, und so reiste ich bereits zwei Tage später, und zwar am 14. Januar 1866, mit Herrn von Nowosilzoff nach dem Oelterritorium ab.

Ueber die ziemlich weite und wegen schlechter Wege, sowie vieler Bekanntschaften des Obersten auch lange Reise erwähne ich nur so viel, daß sie mir durch die ausgezeichnete Liebenswürdigkeit und gediegene wissenschaftliche und gesellschaftliche Bildung meines Chefs und Reisebegleiters zu der angenehmsten meines Lebens wurde. Einen ganzen Monat nach unserer Abreise von Petersburg, also Mitte Februar, trafen wir in Ekaterinodar ein. Dort erwartete den Obersten eine äußerst freudige Nachricht, welche ihm bereits telegraphisch nach Petersburg mitgetheilt war, jedoch ihn wegen unserer bereits erfolgten Abreise verfehlt hatte.

Einige seiner genauern Freunde stürzten alsbald nach unserer Ankunft in unser Zimmer und theilten dem Obersten, seine bereits sehr kritisch gewordene finanzielle Lage kennend, mit Freudenthränen in den treuen Augen mit, daß durch Peters am 4. Februar ein zwanzig Fuß hoch springender Naphthastrahl erbohrt worden sei, der täglich eintausendfünfhundert bis zweitausend Eimer Oel liefere, so daß man nicht genug Gefäße liefern könne.

So waren denn die kühnsten Hoffnungen des Obersten v. Nowosilzoff theilweise erfüllt. Es war ein unterirdisches Petroleumbassin erbohrt worden, welches jedenfalls eine gewaltige Ausdehnung haben mußte, wenn die angesammelten Gase desselben im Stande waren, einen Oelstrahl mit solcher Kraft aus einer Tiefe von beinahe zweihundert Fuß empor zu schleudern. Der Oberst nahm die Nachricht seines Glückes mit großer Seelenruhe entgegen und traf sofort Dispositionen, Gefäße herbei zu schaffen. In höchster Erwartung reisten wir nach dem Orte des Naphthastromes ab. Derselbe befindet sich in einer Entfernung von etwa einhundertundvierzig Werst von Ekaterinodar, gegen sechszig Werst von Temrük und einhundertundvierzig Werst von Anapa. Der nächste Küstenpunkt ist also Anapa. Ferner liegt diese Petroleumquelle zwischen den Kosaken-Stanitzen Nowo-Rossisky und Warinikowsky am Flusse Chudakow, in den nordwestlichen Ausläufern des Kaukasusgebirges auf Grund und Boden des Kuban’schen Heeres. Ausgetretene Flüsse verhinderten uns direct nach der Naphthaquelle reisen zu können; wir mußten vier Tage in Temrük liegen bleiben. Am fünften Tage brachen wir auf; die Ungeduld ließ den Obersten alle Gefahren außer Acht setzen.

Endlich waren die Flußarme passirt, über den eigentlichen Strom brachte uns die Fähre, am jenseitigen Ufer standen Reitpferde und Wagen bereit, welche uns rasch nach der nur zwei Werst entfernten Kosakenstanitza Warinikovsky trugen, unserm Reiseziele für diesen Tag. Den andern Tag, gegen zehn Uhr Morgens, langten wir auf dem Petroleum-Etablissement an, eilten zum Petroleumstrom und fanden dort allerdings für den Augenblick unsere Erwartungen etwas getäuscht; es war in dem unteren Theile der Bohrröhre durch die Gewalt der aufwärts getriebenen Gase eine theilweise Verstopfung eingetreten und deshalb floß das Oel nur stoßweise und nicht die ganze Röhre ausfüllend. Immerhin aber waren zehn Menschen beschäftigt, das der Bohrröhre entströmendes Oel in leere Fässer und Bottiche zu füllen, und obgleich sich der Oelstrom erst seit einigen Tagen [64] ergossen hatte, so waren doch bereits eine beträchtliche Menge gefüllter Fässer aufgestapelt; ich schätzte den Inhalt derselben auf ungefähr dreißigtausend Eimer.

Den Oelstrahl fand ich folgender Maßen situirt. Auf einer kleinen Halbinsel des Flusses Chudakow war das glückliche Bohrloch placirt, man hatte von Anfang dasselbe mit sechs Zoll Durchmesser niedergestoßen und verröhrt, aber bei einer Tiefe von circa einhundertundfünfzig Fuß verstauchte sich der untere Theil, der sogenannte Schuh der nachgetriebenen Bohrröhre, und man hatte deshalb, was in einem solchen Falle unvermeidlich ist, die sechszöllige Dimension aufgegeben und in die sechszöllige Röhre eine zweite von zwei und einem halben Zoll eingetrieben und nun mit dieser letzteren Dimension weiter gebohrt. Am 4. Februar, um die Mittagsstunde, erfolgte der Ausbruch des Oelstromes. Was mir die angestellten Beamten über dieses interessante Phänomen mittheilten, fand ich ganz glaubwürdig, da ich Gelegenheit hatte, dieselben Erscheinungen in Nordamerika bei geöffneten Oelströmen zu beobachten.

Am Morgen des 4. Februar – so erzählten die Leute – war man, nachdem man von oben verschiedene Schichten von Thon, Lehm, Sand, Kalkstein etc. durchstoßen hatte, mit dem Bohrmeißel auf eine sehr feste Steinlage gestoßen, in welcher man rüstig vorwärts bohrte; die angestellte Messung des Bohrloches (welche bei jedem Wechsel der Erd- oder Steinmassen vorgenommen wird) ergab eine Tiefe von einhundertachtzig Fuß. Da, gegen Mittag, als man die neue, sehr feste Gesteinslage ungefähr acht Zoll durchbohrt hatte, erscholl plötzlich aus der Tiefe des Bohrloches ein furchtbares, donnerartiges Getöse, so daß die Arbeiter entsetzt zurücksprangen und einige die Flucht ergriffen; gleichzeitig wurde durch die Kraft der Gase und des aufsteigenden Oeles der Bohrmeißel sammt dem Stangenschafte herausgehoben, ja fast herausgeschleudert, und an der oberen Mündung des Bohrloches erschien ein dicker, brauner Oelstrom. Derselbe floß ungefähr zwanzig Minuten. Plötzlich abermals im Innern der Erde donnerartiges Getöse, das ausströmende Oel sinkt zurück – eine kleine Pause – und jählings erscheint ein Strahl von Seewasser, vermischt mit Gesteins- und Lehmstücken, welche hoch in die Luft geschleudert werden.

Plötzlich hört das Meerwasser nach ungefähr zwölf Minuten auf zu fließen, das unterirdische Geräusch wiederholt sich zum dritten Male, und zwar mit solcher Heftigkeit, als ob in einer Gebirgsschlucht hundert Achtundvierzigpfünder abgefeuert würden; drei fühlbare Erdstöße – endlich eine feierliche Stille – da erhebt sich aus der Röhre ein klarer, heller, noch über das zwanzig Fuß hohe Bohrgerüst aufsteigender Oel-, respective Petroleumstrahl, der, abgesehen von einigen momentanen Störungen, seit jener Zeit ununterbrochen fließt und hoffentlich zum Lohne des Obersten für seine energische Ausdauer und zum Segen der russischen Industrie noch lange, lange strömen wird. Wie schon bemerkt, war der Strahl bei unserer Ankunft schwächer, weil eine theilweise Verstopfung der Röhre vorlag. Dieselbe wurde gehoben, auch durch eine mechanische Vorrichtung für fernerhin unmöglich gemacht, und wieder floß das Oel in reichen Strömen wie zuvor, gegen zwei- bis dreitausend Eimer täglich spendend. Nach allgemeiner Conferenz wurde der Beschluß gefaßt, das Bohrloch noch mehr zu vertiefen, da man annehmen konnte, daß die untere Mündung des Rohres noch nicht in das Centrum des unterirdischen Oelbassins eingedrungen sei. Diese wegen des Oelstromes sehr schwierige Arbeit wurde ausgeführt, die Tiefe wurde um vierzig Fuß vermehrt und die Gesammttiefe sonach auf zweihundertundzwanzig Fuß gebracht. Weiteres Vordringen war wegen zu starken Oelflusses nicht möglich und auch nicht nöthig; der Oelstrom erfolgte nunmehr in der Stärke der ganzen Röhrendimension und lieferte täglich bis zwölftausend Eimer. Bei einem Localwerthe dieses Oeles von zwei Rubel pro Eimer im rohen Zustande, wofür sich Käufer genug finden, repräsentirt diese eine Quelle für den Obersten ein tägliches Einkommen von vierundzwanzigtausend und jährlich von acht Millionen siebenhundertundsechszigtausend Rubeln. Ziehen wir die siebenhundertundsechszigtausend Rubel für Fasttage und Betrieb ab, so ergiebt sich bei mittleren Preisen die jährliche Kleinigkeit von acht Millionen Rubeln!

Gewiß ein königliches Einkommen, welches sich in kürzester Zeit durch Erschließung anderer Quellen noch verdreifachen kann. Jedenfalls ist Unternehmen und Einkommen der amerikanischen Oelprinzen unbedeutend gegen dasjenige des russischen Oelprinzen, denn in Amerika gehören zu jedem Oelstrome und zu zehnmal kleineren Oelterrains Dutzende von Theilhabern, während der russische Oelprinz ganz alleiniger Inhaber und Nutznießer dieser beschriebenen Oelquelle und eines riesigen Terrains ist. – Ich gehe nun zur geologischen Begutachtung der Oelquellen und Oelterrains am Kaukasus im Allgemeinen über, mit besonderer Berücksichtigung des Nowosilzoff’schen Oelterrains.

Die Gebirgsformationen, in denen sich die bereits aufgeschlossenen Petroleumquellen finden, sowie das übrige Terrain des Obersten für Oelgewinnung, gehören vorherrschend und fast ausschließlich dem Kreidesystem und älteren sowie neueren tertiären Bildungen an. Das constante Ueberallzutagetreten des Petroleums und die regelmäßige Ablagerung der Schichten berechtigt mich zu der Meinung, daß sich auf dem erwähnten Territorium große und ausgedehnte Petroleumbassins häufig vorfinden. Bezüglich seiner Qualität kann das Oel der vorerwähnten Quellen den besten bekannten Steinölen zur Seite gestellt werden. Jedoch ist ganz entschieden diese aufgeschlossene Quelle nur der Vorläufer derjenigen, welche auf dem ausgedehnten erwähnten Terrain in der allernächsten Zeit zum Aufschluß kommen werden. Fast noch günstigere Auspicien als die, auf welche hin die Quelle am Chudakowflusse aufgeschlossen wurde, fand ich an der Küste des schwarzen Meeres, namentlich in der Nähe der Niederlassung Bugas.

Auf diesem Punkte ist das Zutagetreten der Kohlen, Wasserstoffgase und des Steinöls selbst so zahlreich und constant wiederkehrend, auf einem Flächenraum von vier Quadratwerst, daß es zu der sichern Hoffnung, berechtigt, daselbst sei ein mächtiges, ausgedehntes, natürliches Steinölreservoir vorhanden, dessen Aufschließung bei der wahrscheinlichen Tiefe von zwei- bis dreihundert Fuß durchaus keine Schwierigkeit bietet. Ganz dasselbe läßt sich von dem Terrain bei dem sogenannten Berge Pjokla am schwarzen Meere; zehn Werst von Taman und von der nächsten Umgegend bei der Poststation Sennaja sagen.

Man kann mit vollem Recht behaupten, daß die Erd- und Gebirgsmassen auf der ganzen Taman’schen Halbinsel wie ein von Steinöl getränkter Schwamm seien, und es werden wahrscheinlich die in Kurzem auf diesem Terrain aufgeschlossenen Steinölquellen an Reichthum und Anzahl den Oelquellen der nordamerikanischen Staaten Virginien, Pennsylvanien und Ohio nicht nachstehen, um so weniger, als der Pächter derselben auf eine energische und rationelle Weise bei der Aufsuchung und Aufschließung der Oelquellen zu Werke geht.

Was das General-Einfallen und Streichen der Schichten auf diesem Terrain anbelangt, so habe ich durch genaue Untersuchungen und Besichtigungen das erstere fast stets von Ost nach West und das letztere von Süd nach Nord gefunden. Das Vorfinden dieses Steinölreservoirs in neueren Bildungen, bei denen ja der Zersetzungs- und Bildungsproceß noch gegenwärtig fortdauert, berechtigt zu der gegründeten Hoffnung, daß die in Rede stehenden Steinölquellen nicht sobald erschöpft sein, sondern lange Zeit ihre reichen Oelvorräthe spenden werden. – Was ich hier über das Terrain des Herrn von Nowosilzoff gesagt habe, behaupte ich ganz ebenso von ausgedehnten Strecken der Halbinsel Krim, welche ich gleichfalls genau in Augenschein genommen.

Große und günstige Terrains erwarten noch in der Krim einen tüchtigen Unternehmer wie Herrn von Nowosilzoff und liegen unbenutzt. Die Disponenten, meistens kleine Landbesitzer, lassen theils aus alten flachen Brunnen täglich einige Eimer schöpfen für Wagenschmiere, theils bleiben andere Terrains ganz unbeachtet, obgleich sie Millionen in ihrem Schooße bergen. Hoffen wir im Interesse der Industrie, daß es außer dem Obersten von Nowosilzoff noch mehr Männer in Rußland giebt, die für einen so lohnenden und segensreichen Industriezweig ihr Vermögen oder doch einen Theil davon in die Schanze schlagen und so die Zahl der russischen Oelprinzen vermehren.

Hugo Hoffmann.




Blätter und Blüthen.


Zu „Treu bis in den Tod“ (Gartenlaube 1866, Nr. 52), den Begleitworten für jene Illustration, welche einen gefallenen, von seinem Hündchen bewachten sächsischen Officier darstellt, ist uns eine nähere, aber leider nicht, wie wir dort wünschten, erfreuliche Kunde geworden. Der Officier gehört zu den Todten. Der junge Held ist höchst wahrscheinlich der Lieutenant Benno Herrmann vom königlich sächsischen zweiten Infanteriebataillon, der trotz seiner Jugend in Folge seiner Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit zum Fahnenofficier ernannt worden war. Nachforschungen der Mutter und der Schwestern, der einzigen ihm nachtrauernden nächsten Familienglieder, haben die lange vergeblich ersehnte Spur zu seinem Grabe entdecken lassen. Nach den Erzählungen der Cameraden des tapferen Jünglings beglückte gerade bei den letzten Märschen ihn und durch ihn seine Umgebung ein herrlicher Humor und nicht wenig zu seiner Heiterkeit trug ein Hündchen bei, nach der Beschreibung ein kleiner Affenpinscher, den er kurz zuvor gekauft hatte und der ihm sehr anhing. Später erfuhr man, daß Lieutenant Herrmann mit dem Hauptmann Fickelscherer in ein Grab gelegt worden sei, und der Familie des Hauptmanns schrieb ein hoher Officier, daß er ihr das Grab angeben könne, denn bei einem der sächsischen Gräber weiche ein Hündchen nicht von der Stelle. So hat der treue Hund wenigstens das bewirkt, daß zwei Familien ihre geliebten Todten wieder gefunden haben und ihnen in der Heimath ihre letzte Ruhestätte bereiten können.

Erklärung. Herr Fr. Gerhard, Buchhändler in New-York, welcher seit längeren Jahren eine amerikanische Imitation der Gartenlaube herausgiebt und darin uns deutsche Schriftsteller auf das unbarmherzigste plündert, hat die kindliche Unbefangenheit, in seinem letzten Circular folgenden Satz zu bringen:

„Auch mag das wohl ein klein wenig Gewicht für mich in die Wage legen, daß ich seit Jahren redlich bestrebt gewesen bin, hier deutsche Literatur zu verbreiten und deutschen Sinn und deutsche Sitte zu fördern.“

Ich weiß nicht, ob Herr Gerhard damit der deutschen Literatur wie deutschen Sitte förderlich ist, daß er deutsche Autoren bestiehlt. Soviel aber bleibt gewiß, daß mein neuer Roman „Eine Mutter“, den Herr Gerhard für seinen neuen Jahrgang anzeigt, wider meinen Willen und natürlich auch nicht honorirt die Spalten seiner Zeitung füllen wird, und da wir deutschen Schriftsteller recht- und schutzlos den transatlantischen Verlegern preisgegeben sind, so bleibt uns nichts weiter übrig, als ein solches Verfahren öffentlich zu rügen und dorthin zu stellen, wohin es gehört – an den Pranger.

Dresden, den 2. Januar 1867.

Fr. Gerstäcker.




Inhalt: Die Brautschau. Ein Bild aus den oberbairischen Bergen. Von Herman Schmid. (Fortsetzung.) – Die letzte Ehre. Von Friedrich Hofmann. Mit Illustration von A. Nikutowski. – Vogelfrei! Nach den Untersuchungsacten erzählt. – Der Kirchheimer ABC-Buch-Krieg. Von Eduard Geib. – In der Central-Telegraphenstation zu Berlin. Von George Hiltl. Mit Abbildung. – Ein russischer Oelprinz. Von Hugo Hoffmann. – Blätter und Blüthen: Zu „Treu bis in den Tod“. – Erklärung.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Solche Strafe wird gewöhnlich Denjenigen dictirt, welche aus dem Zuchthause entflohen sind und wieder eingebracht werden. Zuchthaussträflinge sind der bürgerlichen Ehrenrechte verlustig erklärt und können nach den Disciplinargesetzen körperlich gezüchtigt werden.
  2. Derselbe ist wahrscheinlich auch der Verfasser eines aus siebenzehn Strophen schlechter Knittelverse bestehenden, gegen das ABC-Buch und die indifferent gewordenen Geistlichen gerichteten Kreuzzugsliedes, betitelt: „Glaubensposaune, welche die eingeschläferten, vom wahren Glauben entwichenen und ihre Heerde verlassenden evangelischen Pastores in dem Nassau-Weilburgischen Amt Kirchheim ihres Mayn-Eids erinnert und ihre Schafe zur Beständigkeit aufmuntert, angeblasen von einem treuaufrichtigen benachbarten evangelisch-lutherischen Prediger.“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Nr. 3