Die Gartenlaube (1867)/Heft 39
Sixt wandte sich rasch und unwillig ab, Franzi stand einen Augenblick, die Hand an’s Herz gelegt, und ihre Lippen öffneten sich, wie zu einem Worte, das ihn begütigen und zurückrufen sollte, aber das Wort blieb ungesprochen, nicht einmal ein Seufzer entrang sich der beklemmten Brust; mit einer Geberde des Entschlusses wandte sie sich wieder dem Geschäfte zu und schritt bedienend zwischen den Gästen hin und her.
Der Aichbauer wurde indessen vom Lehrer mit treuherzigem Handschlag, von dem Metzger mit vertraulichem Nicken, von Bruder Waldhauser mit einem Schwall freundlicher Worte begrüßt, die er ziemlich unwirsch und kurz angebunden erwiderte. „Das ist schön von Euch, Aichbauer,“ sagte Staudinger, als er am Tische Platz nahm, „daß Ihr Euch um die Dirn’ so angenommen habt … sie bleibt doch immer Eure Ziehschwester, wenn sie’s auch nicht verdient, daß Ihr ihr geholfen habt, denn im Grund’ ist sie doch selber schuld.“
„Selber schuld? Wie wär’ das?“ fragte Sixt finster und der Meister ließ sich die willkommene Gelegenheit nicht entgehen, das Vorgefallene mit den entsprechenden Bemerkungen und Zuthaten zu erzählen.
„Ist das wahr, Franzi, was der Herr Staudinger erzählt?“ rief Sixt, nachdem er Alles gehört. „Hast Du das gethan? Und Du weißt, daß bei dem Nußbichler Haberfeld getrieben worden ist?“
Das Mädchen blieb hart am Tische vor ihm stehen und antwortete ein klares, festes Ja; aus Miene und Blick war jede Erregung entschwunden, die Augen Beider waren ruhig und entschlossen aufeinander gerichtet, es war, als ob ein paar von ihren Standplätzen losgerissene Felsstücke von Wildwassern gegen einander geführt würden, um im engen Rinnsale, wo kein Ausweichen möglich ist, zusammentreffend sich zu zerschmettern oder, durch den Gegendruck festgehalten, mitten im Wassergetose liegen zu bleiben und ein Inselchen zu bilden, auf dem allmählich Moos sich ansetzt und Erde sich ansammelt, bis daraus Gras und Blumen und lustige Erlenbüsche aufsprossen können, die Spuren des Kampfes und der Zerstörung mit friedlichem Grün überdeckend und mit neuem Leben.
„Und Du weißt auch,“ fuhr er fort, „was das sagen will, wenn bei Einem Haberfeld getrieben wird? Daß er ein veracht’ter und verlorner Mensch ist, der nirgends mehr eine Heimath hat, als wenn ihm, wie in der alten Zeit, ein Brandmal eingebrannt worden wär’ auf der Stirn? Weißt, was er gethan hat, der Nußbichler? Er hat abgewirthschaftet gehabt und hat Geld haben wollen von seine Befreund’ten, und weil ihm Niemand eins gegeben, hat er seinem eignen leiblichen Bruder das Haus über’m Kopf angezündet, daß es nieder’brennt ist bis auf die Grundmauern und ist alles Vieh mit verbrannt und hat an ein’ Haar gehangen, so wären auch die alten Austragsleut’ verloren gewesen, die droben unterm Dach g’schlafen haben …“
„Wie sollt’ ich das nit wissen?“ erwiderte Franzi. „Ist lang genug herum’zogen worden in der Untersuchung und in der Gefängniß, bis sein Gütel schier ganz drauf’gangen ist und bis sein Weib mit den paar Kinderln in’s Hüthaus hat einziehen müssen, aber ich weiß auch, daß ihn das Gericht freigesprochen hat als unschuldig, aber freilich, da war’s zu spät, wie er heraus’kommen ist aus der Frohnvest, da war das Gütl verkauft und Weib und Kind hat die Noth umgebracht gehabt und das Elend …“
„Unschuldig?“ rief Staudinger dazwischen. „Das wär’ mir die saubere Unschuld! Hinaus gelogen hat er sich, weil er’s so fein angestellt gehabt hat, daß ihm kein rechter Beweis hat gemacht werden können – da haben sie ihn freilich freisprechen müssen, die Herrn vom Gericht, aber deswegen weiß und glaubt doch kein Mensch anders, als daß er’s gethan hat …“
„Ja,“ sagte der Holzhändler, „das war die allgemeine Meinung, und eben deswegen ist ihm Recht geschehen, denn dafür ist das Haberfeldtreiben da, daß die heimlichen Sünder, denen man offen nichts anhaben kann, sich nicht in die Faust lachen und leer ausgehen. Ich hab’ es immer sagen hören, was das Volk sagt, das ist eine Stimme von Gott.“
„Und ich sag’,“ rief Franzi mit leuchtenden Augen, „wenn das Gericht, das eingesetzt ist über Leben und Tod, Einen freigesprochen hat, der in bösem Argwohn gestanden ist, das ist auch eine Stimm’ von Gott, das ist ein Zeichen vom Himmel, daß unser Herrgott es sich vorbehalten will, mit ihm einmal selber abzurechnen in der Ewigkeit, und wenn ich ein Mannenleut wär’, ich möcht’ ihm nit in den aufg’hobnen Arm fallen! Ich thät’s für eine Schand’ halten, an einer solchen Sünd’ und einem solchen Frevel Theil zu haben, wie das Haberfeldtreiben ist …“
„Das Haberfeld,“ sagte der Aichbauer, der Franzi’s Eifer mit Verwunderung betrachtete, „ist kein Frevel und keine Sünd’; wir Bauern da herinnen in den Bergen, wir haben das Recht, daß wir selber auf diese Weis’ Gericht halten, und das Recht ist so alt wie unsere Berg’.“
„Wenn’s ein so gutes Recht ist,“ fragte Franzi, „warum übt [610] Ihr’s dann nit aus frei vor aller Welt, in offenem Sonnenschein? Warum kommen die Richter heimlich in der Nacht und ’trauen sich nit, ihre Gesichter zu zeigen? Es sollt’ kein Frevel sein und keine Sünd’, wenn Eins zu Grund gericht’ wird, auf sein ganzes Leben – und vielleicht doch unschuldiger Weis’? Wer ’traut sich’s zu verantworten, wenn das Gered’ unter den Leuten doch nit wahr wär’, wenn die Volksstimm’ sich irren thät…“
„Das ist unmöglich,“ entgegnete der Holzhändler, „man weiß, daß die Haberer Keinem was zu Leid thun, bevor nicht ein unbescholtener, hausgesessener Mann mit Leib und Leben, mit Ehr’ und Wehr dafür eing’standen ist, daß das wahr ist, was dem Beschuldigten vorgeworfen wird.“
„Das ist aber doch merkwürdig,“ rief höhnisch der Metzger, „wie sich die Jungfer gegen das Haberfeld einlegt und wie sie besorgt ist, daß ja einem schlechten Kerl ein Bissel zu weh’ geschehen könnt’!“
„Ja wohl,“ rief Waldhauser wieder, „ich mein’, es braucht sich kein Mensch vor dem Haberfeld zu fürchten, der ein gutes Gewissen hat.“
Franzi sah ihn durchdringend an, daß er davor die Augen niederschlagen mußte. „Das ist wahr,“ sagte sie, beinahe feierlich, „ein gut’s Gewissen ist das beste Kissen, auf dem sich’s am ruhigsten schlaft! Damit es aber lind bleibt und sich nit abliegt mit der Zeit, ist es gut, wenn man manchmal in sein Herz hineingreift und sich das Kissen aufrüttelt, und wer das richtig thut und dabei find’t, daß er mit sich selber nichts auszumachen hat … der kann sich bücken und den Stein auf ein’ Andern werfen!“
Sie ging; die Zurückbleibenden sahen einander an und schüttelten die Köpfe. Sixt war bei den letzten Worten aufgestanden und seitwärts getreten; ihm war wie Einem, dem in dunkler Gewitternacht ein Blitz auf einmal eine unbekannte, in Finsterniß begrabene Gegend enthüllt; Franzis Entfernung vom Aichhof, das Verlassen des Bauerndienstes, ihre Weigerung, die Gründe dafür anzugeben, ihr ganzes geheimnißvolles Wesen – Alles war ihm mit dem einen Feuerstrahl klar geworden, sie war sich einer geheimen Schuld bewußt, vor deren Entdeckung sie bangte; eine befleckte, vielleicht verbrecherische Vergangenheit lag hinter ihr. „Was es nur sein mag, was sie druckt,“ murmelte er in sich hinein, „es ist doch schad’ um das Madel, so bitterlich schad’, daß es mir fast leid thun könnt’! Aber sie hat sich von uns los gemacht, sie selber … was kümmr’ ich mich denn noch um sie? Sie ist mir eine wildfremde Person, die mich nichts mehr angeht, mein Leben lang … und wenn sie neben mir auf dem Weg liegen thät’ und ich sollt’ ihr helfen, nicht einen Finger thät ich rühren wegen ihr!“
Ein scharfer Pfiff gellte vom Walde her über den Plan; Alles fuhr auf und blickte nach der Richtung, von welcher das Zeichen kam; an der Waldesecke unter einigen weiter vorgeschobenen Wettertannen stand ein Mann, der, die eine Hand an den Mund haltend, auf den Fingern pfiff, mit der andern sein Hütlein winkend schwenkte, wie zum Zeichen, daß man zu ihm kommen solle.
„Das ist ja der Holzknecht, der Taxen-Veitl,“ sagte, unter der emporgehaltenen Hand scharf hinüberblickend, der Weißbart. „Was will denn der Lapp? Er thut, als wenn wir Alle zu ihm hinüberkommen sollten… Es ist ihm aber nicht zu trauen, es wär’ nicht das erste Mal, daß er Einen in April geschickt hat!“
„Er hat zu uns her keinen weitern Weg, als wir zu ihm,“ sagte der Aichbauer und kehrte an seinen Platz zurück. „Hat er uns wirklich was zu sagen, so wird er wohl herüber kommen, wenn er sieht, daß wir uns um sein Pfeifen und Winken nicht kümmern!“ Ton und Geberde des jungen Mannes hatten etwas so Ruhiges und Entschiedenes, daß seine Worte auch gleich einer Entscheidung wirkten und Alle lachend sich wieder setzten. Lachend sahen sie hinüber, wie der Mann an der Waldspitze sich noch eine Weile abmühte, dann aber, von der Nutzlosigkeit seines Treibens überzeugt, sich gegen das Kreuzwirthshaus in Bewegung setzte.
„Er muß doch eine Botschaft auszurichten haben, und eine wichtige dazu,“ rief der Metzger, „er fangt ja gar zu laufen an. Vielleicht bringt er etwas wegen der Waldbegehung, von der ich etwas gehört habe.“
„Da könntet Ihr wirklich Recht haben,“ rief der Aichbauer, „ich wundere mich schon lange, daß sich der Herr Amtmann noch nicht sehen läßt und daß auch von unserm Widerpart, von den Westerbrunnern, sich noch kein Einziger eingefunden hat. Sollte ein Hinderniß eingetreten sein?“
„Es ist wirklich kein anderer Mensch, als der Taxen-Veitl,“ sagte der Weißbart, als der Laufende schon nahe genug herangekommen war, um genau erkannt werden zu können. „Und wie er ausschaut! Was giebt’s, Veitl, daß Du so auf der Schneckenpost daherkommst? Was bringst mit?“
„Fragt nit lang,“ erwiderte keuchend der Holzknecht, indem er ohne Bedenken nach dem nächststehenden Kruge griff, sich die ausgetrocknete Kehle anzufeuchten. „Reißt nit lang die Augen auf,“ fuhr er dann fort, „und nehmt den Weg unter d’ Füß’! Ich komm’ wie ein Wiesel daher gerennt vom untern Seekahr. Der Herr Amtmann ist dort und wart’ auf Euch, schon ein anderthalb Stunden lang, von wegen der Waldbegehung.“
„Das muß ein Irrthum sein,“ sagte der Aichbauer und zog ein Papier aus der Tasche. „Hier ist einer von den Verschaffzetteln, wie sie das Amt ausgeschickt hat, da steht es deutlich, Schwarz auf Weiß … daß heut’ die Waldbegehung stattfinden soll, daß die Osterbrunner und Westerbrunner zu Mittag im Wirthshaus an der Kreuzstraßen sein müssen und daß dann der Amtmann auch daher kommt und mit uns die ganze strittige Waldgrenze abgehen soll.“
„Was kümmert mich der Wisch!“ entgegnete der Holzknecht. „Derentwegen ist es doch so, wie ich sag’, und wird nit anders! Der Herr Amtmann hat sich halt anders besonnen … der Revierförster hat ihm sagen lassen, daß er einen schönen Bock wüßt’, der immer herüber wechseln thät, am untern Seekahr … da ist der Herr Amtmann halt ein Bissel auf den Anstand gegangen.“
„So?“ sagte der Alte und zog den weißen Schnauzbart in die Höhe. „Und uns bestellt man daher und laßt uns warten? Der Herr Amtmann geht auf die Jagd und unsere Angelegenheit, die das Wohl und Weh von zwei ganzen Gemeinden ausmacht, die wird auf die Seit’ geschoben und nur so nebenher abgemacht, so bei der Gelegenheit und unter der Hand?“
„Immerhin, Nachbar,“ sagte dazwischen tretend der Aichbauer, der indessen mit einigen Andern und mit dem Lehrer gesprochen, „aber wir verlieren die Zeit mit dem Geplauder, wir haben eine tüchtige Stunde, bis wir an den Seekahr kommen. … Wie wird es aber mit unsren Gegnern, mit den Westerbrunnern sein?“
„O die wissen Alles,“ sagte Veitl, „die sind schon lang an Ort und Stell’ – wie der Herr Amtmann in der Früh auf die Jagd gefahren ist, hat er ja bei Westerbrunn vorbei gemußt, es liegt ja kaum einen Büchsenschuß abseits von der Straß’ – da hat er hinein geschickt und hat ihnen die Bestellung ausrichten lassen!“
Der Schnauzbart des Alten kam in immer größere Gefahr, so grimmig wurde daran gezerrt. „So?“ knurrte der Mann. „Es kommt ja alleweil schöner! Also ist unser Widerpart schon an Ort und Stell’ mit dem Amtmann und plauscht ihm die Ohren voll? Gehört sich das? Alle beide Parteien müssen dabei sein, damit keine was vor der andern voraus hat – so gehört sich’s vor Gott und vor der Welt!“
„Freilich, so gehört sich’s,“ riefen Andere, „aber wir haben’s schon gehört, daß der neue Herr Amtmann ein gar eigener Heiliger ist.“
„Nun, nun, Nachbarn,“ sagte Sixt, „es ist eben auch ein neuer Besen – die kehren alle scharf! Besser wär’s ja, wir wären Alle beieinander gewesen und den Wald zusammen abgegangen – es wär’ vielleicht viel unnützer Rederei und Streiterei vorgebaut – aber das Unglück ist zu ertragen; wir werden auch das Maul aufmachen und wenn die Westerbrunner einen noch so großen Vorsprung haben, die Bäum’ und Felsen, die die Grenz’ machen, plauschen sie doch nit weg.“
„Aber wir sind derweil’ zum Narren gehalten,“ rief der Alte, der sich nicht beschwichtigen lassen wollte, „wir müssen da her sitzen und versäumen die Zeit.“
„Sei nit gar so harb und widerhaarig, Grubhofer,“ lachte Sixt, „so genau muß man’s nit nehmen! Mußt dem gestrengen Herrn das Bissel Jagdvergnügen nit so hoch anrechnen! Und Du wenigstens hast die Zeit nit versäumt; man sieht’s Deiner [611] rothen Nasen an, daß Du fleißig Stein gehoben hast … es kann Dir nit schaden, wenn Du ein Bissel marschiren und ausdampfen kannst.“
Mit kräftigem Schwung hob er das schwere langstielige Holzbeil, das sein Begleiter war, über die Schulter, warf die Joppe darüber und schritt dem Walde zu; wie auf Befehl folgten die Andern, der Weißbart mit, obwohl er es nicht lassen konnte, vor sich hin zu brummen und zu gesticuliren. Bald war es an der Kreuzstraße so einsam, als es vorher belebt gewesen; nur Metzger Staudinger und der fromme Holzhändler blieben bei der Mahlzeit zurück, welche der Wirth eben aufzutischen begann, während er den Fortgehenden nachrief, auf dem Rückwege doch wieder einzukehren und noch eine „Unterleg“ zu machen, und dabei auf Franzi die säumige Kellnerin schmähte, die nirgends zu sehen war und ihm Bedienung und Arbeit allein überließ.
Auch der Nußbichler hatte sich aus dem Winkel, in den er sich verkrochen, aufgerafft und wankte in bescheidner Entfernung den Bauern nach, dem Walde zu.
Bald hatten die rüstig ausschreitenden Männer den neu bezeichneten Treffungspunkt erreicht.
Es war ein schmales, von üppigem Alpen-Graswuchs bedecktes Waldthälchen, an beiden Seiten von schroffen schwarzgrauen Felswänden eingefaßt, über welche ein abschüssiger Steig herunterführte, nicht breiter, als daß Mann für Mann hinter einander niederklettern konnte. In der Mitte, nur von ein paar roh behauenen Baumstämmen überbrückt, vertiefte sich ein neuer Einschnitt in das Gestein: das Rinnsal eines Wildbachs, der in der Urzeit die Schlucht ausgewühlt, nun aber sich ein zweites noch tieferes Bett gegraben hatte, in welchem er dumpf aufrauschend und mit weißschäumenden Sturzwellen dahin schoß. In einer leichten Ausbiegung des Thals war das Steingeschröfe nach unten zu wie ausgehöhlt, nach der Höhe hin wie überhangend; vor einigen Jahrzehnten war ein Theil der gelockerten Felsen herabgestürzt und lag nun in reizender Unordnung durcheinander gestreut. Die kleinern Trümmer waren unter Riedgras und rankendem Brombeergesträuch zierlich versteckt, die größern hatten sich mit dichten grünschwellenden Moosdecken überzogen, daß sie wie ebenso viele Ruhesitze aussahen. Dazwischen hob hier und da eine jung angeflogene Tanne den dunklen Zackenwipfel empor, und in der Nähe der Wand hatte ein vielleicht von einem nistenden Vogel vertragenes Samenkorn einer Buche den anmuthig kühlen Standort gefunden, so daß über das größte Felsstück das grüne Laubdach sich wie ein künstlich gespanntes Zelt ausbreitete, während der graue flechtenbewachsene Stamm des Baumes sich als bequeme Rücklehne darbot. Gegenüber, nach der Seite zu, öffnete sich dem Blicke die verengerte Felsschlucht, in deren Hintergrunde, wie in einer Klamm zusammengepreßt, der Wildbach von Steinstufe zu Steinstufe heruntergesprungen kam. Sträucher und grüne Baumwipfel neigten sich wie der Erfrischung begehrend in den kühlen Spalt herab und herein; drüber aber stieg ein gewaltiges Berghaupt mit eisbedecktem Scheitel empor, wie das vom Ernste des Lebens gefurchte und versteinte, doch mit dem Silberkranze ruhiger Weisheit gekrönte Angesicht eines treuen fürsichtigen Greises, der hütend und wachend hereinblickt in die wunderbare weltflüchtige Einsamkeit.
Das anmuthige Landschaftsbild war von einer nicht minder hübschen Staffage belebt. Auf dem moosigen Hauptfelsstück unter der Buche war ein blüthenweißes Tuch wie über einen Tisch ausgebreitet; Tassen, Kannen und Teller standen darauf und zeigten, daß eine feine gewandte Hand es wohl verstanden, bei Bereitung des Nachmittagkaffees das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden. An der einen Seite des Felsens saß eine junge Dame in modisch-feinem Anzuge, der wohl besser in einen Gesellschaftssaal als in die Waldwildniß gepaßt hätte, so sehr auch der Feldblumenstrauß auf dem kleinen Hütchen und die Schürzung des Kleides zeigten, daß die Trägerin es darauf abgesehen hatte, der städtischen Toilette einen ländlichen Anhauch zu geben. Sie hatte eine breite Mappe auf dem Schooße aufgeschlagen und war eben beschäftigt, mit kunstgeübten Strichen das hübsche Waldbild vor ihr nachzuzeichnen. Gegenüber saß ein Mann in ausgesuchter grüner Jägertracht, vornehm nachlässig an den Buchenstamm gelehnt und den Ringelwölkchen einer Havannacigarre nachblickend, welche in der regungslosen Luft langsam emporstiegen und nur zögernd verflatterten. Er schien aufmerksam der Rede eines ehrerbietig neben ihm stehenden Bauers zuzuhören; nur manchmal fuhr er mit der feinen reich beringten Hand über die kahle, den Lebemann verrathende Stirn oder strich sich die breiten röthlichen Flügel des sorgsam gepflegten Bartes in die Höhe.
„Da haben wir den Teufel schon,“ sagte der Grubhofer, als er mit seinen Gefährten zuvörderst auf der Höhe des Felsensteiges angekommen war. „Da steht der Finkenzeller, der alte Feinspinner, richtig schon neben dem Amtmann und red’t und disputirt in ihn hinein, als wenn er sich davon nähren müßt’! … Aber das muß man sagen, verstehen thut’s der gestrenge Herr, wie man sich’s commod’ macht, daß Ein’ das Warten nit verdrießt.“
Unter solchen und ähnlichen Gesprächen kamen sie im Thale an und stellten sich mit ehrerbietig entblößten Köpfen in der Nähe des Amtmanns auf; der Finkenzeller trat zu den übrigen Westerbrunnern, die in einiger Entfernung im Grase gelagert gewesen waren. „So, da wären wir halt jetzt,“ sagte der Grubhofer, der vorangeschoben worden, „wir machen unser Befehl (Empfehlung), g’streng’ Herr!“
„Wer ist man?“ fragte der Beamte mit flüchtigem Seitenblick leicht die Cigarre absetzend.
„Wir sind die Vollmächtigen von der Osterbrunner Gemeind’ und wir wären halt da von wegen unsres Handels mit den Westerbrunnern und wegen …“
„Seid Ihr der Vorsteher?“ unterbrach ihn der Amtmann.
„Nein. Der Vorsteher ist gestorben und der neue ist noch nit gewählt, und der Pfleger hat sich einen Eggenspitz in’ Fuß eingetreten und kann nit von der Liegerstatt … da sind wir halt miteinander her, wir Vollmächtigen und haben ’denkt, wir werden’s wohl auch ohne Vorsteher und Pfleger ausmachen können…“
„Ihr seid lang ausgeblieben,“ rief der Amtmann, „ich bin es nicht gewohnt, daß man mich warten läßt; an Euch, an den Unterthanen ist es, auf das Amt zu warten.“
„Aber wir haben ja …“ wollte der Alte erwidern, konnte aber seinen Satz nicht zu Ende bringen, da ihm der Amtmann unwillig dazwischen fuhr.
„Schweigt,“ rief er, „ich will keine Ausflüchte hören! Ich habe schon in Erfahrung gebracht, daß bei Euch Osterbrunnern die Ordnung fehlt in der Gemeinde und die Zucht – ich werde aber sorgen, daß das anders wird: ich werde sogleich die Nachwahl anordnen und sorgen, daß Ihr einen Vorsteher bekommt, der widerspenstige Köpfe nieder zu halten versteht.“
Die Osterbrunner standen betroffen da, sahen sich mit verlegenen Mienen an und ließen die Hüte in den Händen tanzen. Der Grubhofer schien sich den Schnauzbart ausreißen zu wollen; dem Aichbauer war die Röthe über’s Gesicht geflogen, er wollte eben erwidernd vortreten, als ihm der Grubhofer noch zuvor kam.
„Das hat Ihnen kein aufrichtiger Freund gesagt, gestrenger Herr!“ rief er. „In der Osterbrunner Gemein’ ist es alleweil ordentlich hergegangen und richtig, wir lassen uns finden darum, wo bei uns eine Unordnung sein soll! G’streng’ Herr müssen nit Jedem glauben, der Ihnen das Maul macht, und keinem Westerbrunner schon gar nit! Wir haben’s schon geseh’n, wie der Finkenzeller in Sie hinein discurirt hat, aber wenn er so was gesagt hat, hat er’s gelogen… Die Westerbrunner sind uns spinnefeind, das weiß ich schon von meinem Vater her…“
„Weil Ihr Osterbrunner es uns immer darnach gemacht habt!“ rief der Finkenzeller entgegen, der eilig mit seinen Gemeindegenossen herzu trat und sich mit ihnen gegenüber stellte. „Wir haben Euch nie was zu Leid gethan, das weiß ich auch von meinem Vater her – wir haben uns immer nur gewehrt gegen Euch!“
„Gelogen, wer das sagt!“ schrie der Grubhofer entgegen. „Die Westerbrunner sind’s gewesen, welche die ganze Feindschaft angefangen und uns Alles zum Tort gethan haben, was sie nur haben ausstudiren können. So ist’s gewesen, seit ich denk’ … aber Ihr sollt nit aufkommen über uns. Wir wehren uns auch, und es müßt’ keine Gerechtigkeit mehr geben im Land, wenn wir nit Recht behalten thäten.“
Der Amtmann hatte die Tasse ergriffen und behaglich einen Zug des kühl gewordenen Mokka geschlürft. „Was sagen Sie dazu, ma mie?“ rief er seiner Frau zu, indem er die Cigarrenasche abstreifte. „Welfen und Ghibellinen in der Joppe – wie finden Sie das?“
[612] Die Dame erwiderte nichts; sie zuckte nur mit den etwas stark entblößten Schultern, verzog den hübschen Mund zu einem unsäglich geringschätzigen Lächeln und fuhr in ihrer Zeichnung fort. Der Amtmann zog aus der Westentasche das an einer Schnur hängende Lorgnon von Schildpatt hervor, zwängte es in’s Auge und musterte die Bauern, die drohend und wie kampfbereit einander gegenüber standen. „Ich verbitte mir das Geschrei und diese Rohheiten,“ sagte er streng, „ich sehe schon, wo der Fehler sitzt – es mangelt der gehörige Respect, das macht Euch vergessen, vor wem Ihr steht und mit wem Ihr sprecht. … Ich bürge Euch dafür, in einem Jahre soll’s anders sein! … Und wer sind Sie?“ fuhr er fort, gegen den Lehrer gewendet, der in bescheidener Entfernung seitwärts stand, „gehören Sie auch zu den Osterbrunnern?“
„Ich bin der Schullehrer des Orts,“ erwiderte der Angeredete, „zugleich Gemeindeschreiber und als solcher verpflichtet, bei heutiger Verhandlung das Protokoll zu führen.“
„Dann bedaure ich, daß Sie einen vergeblichen Spaziergang gemacht haben,“ entgegnete der Amtmann; „das Amt, das die Verhandlung führt, hat auch für das Protokoll zu sorgen – ich habe meinen Actuarius mitgebracht…“
„Entschuldigen Sie, Herr Amtmann,“ sagte Sixt vortretend, während der Lehrer verschüchtert zurücktrat und die Bauern einander wieder wie vorher rathlos betrachteten, „es war nicht so gemeint, als wollten wir in die Befugnisse des Amts eingreifen – es geschah in gutem Glauben, denn noch ist es nicht eine eigentliche Amtsverhandlung, weßwegen wir da sind, sondern eine Vermittlung zwischen zwei benachbarten Gemeinden, bei der das Amt anwesend ist … wir wollten auch dem Gemeindesäckel die Kosten ersparen, und dann – die Hauptsache, es ist immer so der Brauch gewesen und kein Mensch weiß und denkt es anders, als daß bei Gemeindesachen der Gemeindeschreiber auch das Protokoll führt…“
Der Amtmann schien bei Beginn dieser Rede nicht übel Lust zu haben, aufzuspringen und unwillig zu antworten, aber die ruhige Haltung, der sichere Ton des Aichbauers hatten etwas in sich, was dem aufwallenden Unmuth einen Dämpfer aufsetzte. Er hielt an sich, maß die stattliche Gestalt des jungen Bauers vom Wirbel bis zur Sohle und fragte kühl und abstoßend: „Wer ist es, der sich da zum Sprecher und Wortführer aufwirft?“
„Ich bin der Aicher von Aich,“ entgegnete Sixt, „der Herr Amtmann kennen mich schon, wenn auch nicht von Person – Sie haben mir einen Befehl zugeschickt, wie ich den Fruchtwechsel einrichten soll auf meinem Gute…“
„Ah, das seid … das sind Sie?“ rief der Beamte während der Rede seinen Satz verbessernd. „Ihr … Sie haben sich geweigert, dem Rathschlage zu folgen – denn nur ein solcher war es, was ich Ihnen zuschickte – Sie scheinen ein widerspenstiger Kopf zu sein.“
„Ich hab’ mir die Freiheit genommen, ja, Herr Amtmann,“ erwiderte Sixt, „aber widerspenstig bin ich darum nicht! Ich meine nur, Sie würden sich von mir nichts einreden lassen, wenn ich in Ihre Kanzlei kommen und sagen wollte, wie Sie Ihre Protokolle machen und Ihre Acten einrichten sollen – d’rum will ich mir auch in meinem Gut, auf meinen Feldern nichts drein reden lassen… Es mag Manches gut und gescheidt sein draußen in der Eben, auf einem andern Grund und Boden, aber bei uns hierinnen, auf unsern Bergen, da ist das ein ganz andres Ding … da hilft das Nachmachen nichts, da muß man selber die Augen aufthun…“
„Auch bei der Differenz wegen der Waldgrenze stehen Sie an der Spitze…“
„Das gerad’ nicht – aber Einer muß sich doch um die Sach’ annehmen, damit den Andern die Arbeit erspart wird; also hab’ ich mich darüber gemacht, habe den Flurplan hergenommen und Alles hineingezeichnet, was nöthig ist…“ Dabei zog er ein großes vielfach zusammengelegtes Blatt aus der Tasche und schlug es, das Kaffeegeschirr unbedenklich bei Seite schiebend auf dem moosigen Felsblock auseinander. Es war das betreffende Blatt aus der allgemeinen Landvermessungskarte, aber der Wald, um den es sich handelte, war mit seinen Grenzen, Höhen und Senkungen, Felspartien und Baumarten so genau und mit solch’ zierlicher Sauberkeit eingezeichnet, daß das Ganze einen ungemein freundlichen und gefälligen Eindruck hervorbrachte.
„Sieh da, ein förmlicher Plan!“ rief der Amtmann gedehnt. „Man versteht also auch zu zeichnen? Was sagen Sie dazu, ma mie? Die zweite Ueberraschung in einer halben Stunde … ein Quintin Messis unter Bauern!“
Die Dame hatte schon beim Erscheinen des Aichbauern ihre Arbeit unterbrochen und nach ihm hinüber gesehen; jetzt warf sie einen flüchtigen Blick auf die Zeichnung, einen etwas aufmerksameren auf den Zeichner. „Nicht übel,“ sagte sie dann und kehrte wieder zu ihrer Beschäftigung zurück, ohne daß sich sagen ließ, welchem von Beiden die Bemerkung gegolten.
„Ich hab’ geglaubt,“ begann der Aichbauer wieder, „ein solcher Plan könnt’ bei der Waldbegehung sehr diensam sein – man könnte gleich Alles an Ort und Stelle vergleichen, jeden Einspruch vormerken und so für alle Zeit einen Anhalt bekommen, der gar nit mehr streitig sein könnt’…“
Der Beamte hatte sich von seiner Ueberraschung erholt und den alten Ton wieder gefunden. „Es ist nur zu bedauern,“ sagte er, „daß so viel Mühe, Fleiß und Zeit so unnöthig aufgewendet wurde. Bei den Anordnungen über den Fruchtwechsel wäre sie besser am Platze gewesen, denn daß man bei seinem Leisten bleiben soll, ist ein Spruch, der nicht ausschließlich vom Schuster gilt. … Ich bedarf keines Planes mehr, die Grenze ist bereits begangen…“
„Aber ohne uns, Herr Amtmann,“ sagte Sixt mit Nachdruck, „wir sind eigens dazu geladen und unsere Schuld ist es nicht, wenn man Knall und Fall einen andern Treffungsort bestimmt hat…“
„Gleichviel, sie ist nicht mehr nöthig jetzt … das Amt ist bereits vollständig informirt…“
„Das ist nicht Ihr Ernst, Herr Amtmann,“ entgegnete Sixt, dessen Stirn sich immer krauser faltete. „Es sind einmal zwei Parteien da, die sich über die Grenze streiten – die Begehung hat den Zweck, an Ort und Stelle zu hören, was jede einzuwenden hat! Sie haben die Erinnerungen von der einen gehört, Sie müssen auch –“
In einer kleinen Stadt am Rhein
Kehrt’ ich einmal ermüdet ein.
Es war schon Nacht, der Wächter rief
Die zwölfte Stund’. Rings Alles schlief,
Kein Lämpchen irgend, noch Latern’!
Die dunklen Straßen kreuz und quer
Ging ich, verschmachtend fast, umher,
Und endlich kam ich vor ein Haus –
Ein breites Schild auf breitem Thor,
Ich stand unschlüssig nun davor,
Doch – was kann’s schaden? dacht’ ich dann
Und klopft’ am Fensterladen an.
Zwei Augen seh’ ich blitzen grell
Und eine Nase, riesengroß.
Ein Männlein fragt: „was ist denn los?
Was willst Du, kleiner Knirps, denn hier?“
Das Männlein lacht hellauf und spricht:
„Hast vor Gespenstern Angst Du nicht,
So komm’ herein! im Kämmerlein
Wird Platz genug noch für Dich sein!“
Sah ich ein Männlein grau und fahl;
Doch schien’s nicht bös, wie ich gedacht;
Hat Speis’ und Trank mir gleich gebracht,
Mich viel gefragt, woher ich wär’,
Dann führt’ es mich in’s Kämmerlein,
Sprach: „Willst Du ruhig nicken ein,
So zähm’ die Neugier mit Gewalt,
Guck’ nicht durch jener Thüre Spalt,
Gut’ Nacht, mein Söhnchen, schlaf gesund!“
Ich streckt’ mich auf die Diele hin,
Doch kam kein Schlaf mir in den Sinn.
Stockstill und finster mein Gemach,
Ein Lärmen, Toben und Getos,
Als wären hundert Böcke los.
Bald scharrt es hier, bald schnarrt es dort,
Bald kommt es nah’, bald läuft es fort,
Gestalten huschen auf und ab.
Jetzt pickt mich was am großen Zeh,
Jetzt zwickt es mich am Ohr, o weh!
Es zupft mich hier, es rupft mich da,
Doch zog es zu der Thüre Spalt
Mich heimlich weiter mit Gewalt.
Was sah ich nun? Vom Mondesschimmer
Erhellt ein weites, weites Zimmer,
Und Flaschen und Schachteln, Krausen und Pfannen,
Und Alles inwendig
Urplötzlich lebendig!
Aus jedem Schübchen
Aus jedem Töpfchen
Ein muntres Köpfchen,
Aus jedem Schälchen
Ein heitres Seelchen,
Ein pfiffiges Näschen.
Es rollten
Die Kleinen
Auf lustigen Beinen
Und trollten
Sich munter,
Bis eine Stimme im Feldherrnton
Rief: „Stillgestanden vor Oberon!“
Und der König begann mit festem Wort:
„Ich grüß’ Euch, Liebe und Getreue,
Die Ihr versammelt um mich auf’s Neue,
Euch Alle, die sich aus fernen Landen
Erdgeister, Ihr vom Flammenstrome –
(Da neigte sich tief das Heer der Gnome),
Ihr Blumengeister, sonnenklar –
(Da neigte sich der Elfen Schaar),
(Da neigte sich dankend Nix und Fee),
Ich habe so eben in dieser Nacht
Die Runde durch die Stadt gemacht.
Dort liegt ein Kindlein
„Schnell mischt ihm ein Tränkchen
Aus Euren Schränkchen!
Dort liegt ein Krieger, ein todeswunder
Auf, braut jetzunder
Und träufelt,
Daß er gesunde,
Ihm Balsam in die brennende Wunde!
Dort, bei der kranken Mutter droht
Auf, helfet dort
Und jaget fort
Den bleichen Gesellen!
Laßt Leben quellen
Aus Euren Bronnen!
Dort klagt ein Greis – mischt Eure Kräutchen!
Ein Jüngling dort und dort ein Bräutchen,
Dort giebt’s zu trösten und dort zu helfen,
Da kamen die Kleinen – Eins, Zwei, Drei! Herbei,
Und schleppten Zucker heran und Manna,
Und aus der Havanna
Die Nicotiana.
Sein Opium,
Nachtschatten, Schierling und Bilsenkraut
Brachten herbei, was sie gebraut.
Stechapfel, Schöllkraut und Kellerhals
Der Finger-, Eisen- und Pfaffenhut,
Sie brachten Säfte, frisch und gut,
Auch Bella Donna bot sich an:
„Ich helfe, wo ich helfen kann!“
Der Nieswurzmann, Herr Helleborus.
Da niesten Kobold, Nix und Elf
Und Oberon sprach sein: „Gotthelf!“
Es stellten zum Dienst sich freudig alle
Es eilte her auf flüchtigem Fuß
Des Weines Geist, Herr Spiritus,
Benamst der große Alkohol,
Und sprach: „o Herr, zu der Menschheit Wohl
Frei über Deinen Knecht verfügen!“
Drauf sprangen sie in buntem Gemisch
An die Arbeit frisch,
Sie pochten und kochten,
Zerrieben und hieben,
Sie rührten und schürten,
Schmierten und schnürten,
Sie hoben mit festen
Und preßten
So Blüthen, als Kapseln und Stengel
Und zogen Essenzen –
Ihr könnt mir’s glauben –
Aus Dolden und Trauben,
Aus Körnern und Dörnern,
Aus Bast und Borke
Und stopften und klopften
Sie wägten und wippten,
Kippten und nippten,
Es füllten die Gase
Aus Helm und Blase
Die Zauberküche.
Herr Oberon, der lief dazwischen,
Sah zu, daß die Kleinen richtig mischen,
Und rief zu Kobold, Elf und Fee
Die Händchen ruhten
Nicht zehn Minuten,
Und eh’ ich’s gedacht,
War Alles vollbracht –
Die Näpfe gebunden mit festen Schnuren,
Die Salben fertig und fertig die Dütchen,
Auf jeder Flasche ein blaues Hütchen,
Ein langer Zettel auch dran gebunden,
Herr Oberon schaute fröhlich drein:
„Mög’s allen Armen zum Segen sein!“
Da schlug es Eins – und mit einem Ruck
Verschwunden war der Geisterspuk.
Gewacht und still bei mir gedacht:
„Dank Ihm, der auch durch Giftes Kraft
Noch Wunder thut und Leben schafft,
Dank sei dem Herrn, der Solches thut,
Was meint Ihr wohl, wo ich gewesen?
Ich hab’s am nächsten Morgen gelesen,
Es war gemalt an des Hauses Schild
Gar lieblich eines Knaben Bild
Und an der Wand
Darunter stand:
„Die Apotheke zum goldnen Engel.“
Luther’s letztes Wort auf dem Wormser Reichstage „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir; Amen!“ hatte jeden ferneren Versuch, ihn in Worms zum Widerruf zu bewegen, vereitelt. Dafür sollte er zum Schweigen gebracht werden, vor Allem wo möglich nicht wieder nach Wittenberg gelangen. Bei solchen Anschlägen von Seiten seiner Feinde mußten seine Freunde um so mehr darauf bedacht sein, ihn bei Zeiten der Gefahr zu entrücken, aber die Macht und Entschlossenheit dazu besaß allein sein hoher Beschützer, der weise Kurfürst Friedrich von Sachsen, doch war dieser viel zu gewissenhaft, sich der Verlegenheit auszusetzen, dem Kaiser gegenüber den Ort zu kennen, wo er Luther etwa geborgen habe. Er besprach daher den Plan mit seinem Hofprediger und Geheimschreiber Spalatin und überließ diesem die weitern Maßnahmen. Jedenfalls hatte Spalatin als solches Asyl die kurfürstliche Wartburg fern von Wittenberg im Auge, überließ aber die weitere Ausführung des kühnen Planes lieber der Uebung eines starken Haudegens in Abenteuern, als den er wohl den Schloßhauptmann der Burg, Hans v. Berlepsch, kannte, denn noch blühte das goldene Zeitalter, in welchem feindlicher Angriff mit gespannter Armbrust oder eingelegter Lanze dem Reisenden häufig die Straße verlegte. Den vertrauten Boten Spalatin’s an den Hauptmann verschweigt uns die Geschichte; ihn selbst, als den Geheimsecretair des Kurfürsten, hielten noch wichtige Geschäfte in weltlichen Angelegenheiten am Reichstag zu Worms zurück. Luther selbst erfuhr nur im Allgemeinen, daß man damit umgehe, ihn der Macht seiner Feinde zu entrücken; wie seine Sicherung bewerkstelligt werden sollte, war ihm dagegen nicht bekannt. Daß Berlepsch von Spalatin’s Idee, Luther auf der Rückreise einen Ausflug zu seinen Verwandten in Möhra machen zu lassen und auf diesem Abstecher in Sicherheit zu bringen, unterrichtet wurde, ist natürlich, vielleicht rieth er selbst dazu, da es ihm wohl bedenklich erschien, Luther schon von Eisenach aus zu entführen. Allein auch der Umweg über Möhra und Altenstein war durchaus nicht ohne Gefahr, wenn ein Fanatiker zu einem Ueberfall einen Umstand benutzte, ohne welchen die Gefangennahme auch in friedlicher Absicht unmöglich war, nämlich die gelegentliche Entfernung des kaiserlichen Heroldes, denn der Weg zog sich zum Theil durch das Gebiet der streng katholischen Grafen Wilhelm und Heinrich v. Henneberg, ehe er in das des sächsischen Ritters Burkhard Hund v. Wenkheim zum Altenstein überführte. Da nun schon in Worms durch Spalatin Anstalt getroffen worden war, den Geleitsmann zur rechten Zeit zu Gunsten des Wartburg-Hauptmanns zu beseitigen, so blieb dem Ritter noch die Aufgabe, auch den Nachbar des hennebergischen Gebietes, Burkhard Hund auf Altenstein, in das Geheimniß zu ziehen, damit dieser jenes so lange als nöthig überwachte. Der Ritter war zur Unterstützung um so leichter zu gewinnen, als er sein Besitzthum dem Kurfürsten zu danken hatte. Sein älterer Bruder, Hans Hund von Wenkheim bei Lauringen in Baiern, war aus einem jetzt unbekannten Grunde in Friedrich’s des Weisen Dienste getreten und später mit Schloß und Herrschaft Altenstein belehnt worden, weil er mit anderen Rittern den Fürsten 1493 auf seiner Pilgerfahrt zum heiligen Grabe begleitet, dabei aber einen großen Theil seines Vermögens eingebüßt hatte. Ueberdies war Burkhard Hund auch eher im Stande, den geeignetsten Platz zur Aufhebung in der dortigen Gegend ausfindig zu machen, als der Hauptmann der fernen Wartburg selbst.
Man erkor daher zu diesem Platze den zwischen waldigen Höhen versteckten Hohlweg, jene Strecke der Straße von Franken nach Thüringen, die sich unterhalb einer verfallenen Capelle, zum Glisbach genannt, in etwas gebogener Richtung hinzog und in die [615] der Weg von Möhra über Altenstein einmündete. Wir wissen nicht, wie weit alle diese Anstalten schon gediehen waren, als Luther am Vormittag des 26. April mit seinen früheren Begleitern von Worms wieder abreiste, um über Oppenheim zurückzukehren, wo ihn erst nach zwei Stunden der kaiserliche Herold, Caspar Sturm, einholte und über Frankfurt bis Friedberg in der Wetterau geleitete. Von hier aus wurde der Herold, um ihn für den verabredeten Handstreich unschädlich zu machen, wieder zurück nach Worms mit Briefen an den Kaiser und an Spalatin geschickt, nachdem ein Ritter des jungen Landgrafen Philipp v. Hessen, der bereits für die neue Lehre sich begeisterte, das Geleit übernommen hatte.
Der starke Glaubensheld, der unerschrocken vor Kaiser und Papst stand und lieber mit dem Leben sein Wort besiegelt hätte, überließ sich jetzt ruhig der liebenden Sorgfalt seines Beschützers. Schon bei seiner Einkehr in Frankfurt schrieb er dem berühmten Maler Lucas Cranach nach Wittenberg, um ihn über sein Schicksal zu beruhigen: „Lieber Gevatter Lucas, ich segne und befehle Euch Gott; ich lasse mich einthun und verbergen, weiß selbst nicht wo, wie wohl ich lieber den Tod erlitten, muß aber doch guter Freunde Rath nicht verachten bis zu seiner Zeit. Es muß eine kleine Weile geschwiegen und gelitten sein. Ein Wenig sehet Ihr mich nicht und aber über ein Wenig sehet Ihr mich, spricht Christus. Ich hoffe, es soll jetzt auch so gehen.“
Noch war die Acht gegen Luther nicht öffentlich verkündet, aber der Ruf war ihm bereits von Worms aus wie ein geflügelter Bote mit der frohen Kunde von seinem mannhaften Auftreten auf dem Reichstage vorausgeeilt. Seine Rückkehr glich einem Triumphzug, denn die, welche ihm bei seiner Hinreise als einem gewissen Opfer des Priesterhasses nachgeschaut hatten, frohlockten jetzt ihm und seinen Freunden entgegen, ja sogar von mancher Seite, von welcher es im höchsten Grade unvorsichtig erschien. Vor Hersfeld nämlich begrüßte ihn der Abt mit einem Ehrengeleite von Rittern und Mitgliedern des Stadtraths, nachdem für eine treffliche Bewirthung im Kloster gesorgt war, denn von Grünberg aus, wo Luther übernachtet hatte, war die Kunde von seinem Eintreffen vorhergegangen, und trotz des kaiserlichen Verbots, nirgends zu predigen, sah sich doch Luther auf dringendes Bitten des Abtes dazu genöthigt. Bei seinem Weggang gab ihm dieser das Geleit, nachdem er seinem Kanzler abermals geboten hatte, den gefeierten Gast durch eine feine Mahlzeit in Berka an der Werra zu bewirthen. Vor Eisenach holte ihn ein ähnlicher Ehrenzug von Bürgern ein, und während er hier in seiner „lieben Stadt“ ruhig schlief, erhob sich in derselben Nacht zu Erfurt ein tobender Haufen seiner jugendlichen Verehrer, größtentheils Studenten, weil der Dechant des Severistiftes einen Anhänger der neuen Lehre, den Docenten der Universität Dr. Joh. Drach, bei einer gottesdienstlichen Handlung von den Stufen des Hochaltars gestoßen hatte. So drückte sich allenthalben die öffentliche Stimmung über den großen Mann in der verschiedensten Weise aus.
Den folgenden Tag (2. Mai) verweilte er in Eisenach, predigte daselbst noch in Gegenwart seiner Reisegefährten, die ihn nun bis auf den Professor der Theologie Nicolaus von Amsdorf verließen, um über Gotha nach Wittenberg zurückzukehren, während er, wie erwähnt, seitwärts nach Möhra[2] bei Salzungen zum Besuch seiner Verwandten fuhr, denn noch lebte hier seine alte Großmutter bei seinem Oheim Heinz Luther, einem schlichten Bauer, bei dem er selbst zu dem kurzen Aufenthalt einkehrte. Seine Großmutter sollte er zum letzten Male in seine Arme schließen; sie starb schon nach einem halben Jahr am 21. September. Auch seinen Bruder Jacob traf er da, doch läßt sich nicht angeben, in welcher Absicht derselbe von Mansfeld, wo er Bergmann war, dahin kam. Des anderen Tages (am 4. Mai) reiste er, nachdem er, der Sage nach, unter einer Linde vor den Bewohnern des Dorfes gepredigt hatte, unter Begleitung einer großen Anzahl derselben sowie seines Bruders Jacob, der über Waltershausen in seiner Gesellschaft nach Hause zurückkehren wollte, ab. Nach einer Lesart war auch der bekannte Myconius, Pfarrer zu Gotha, dabei. Das Fuhrwerk, einen schlichten Stuhlwagen, hatte der Stadtrath zu Wittenberg zur Reise nach Worms mitgegeben und jetzt ein Verwandter zu Möhra zwei frische Pferde vorgelegt. So ging die Reise durch das kleine Dorf Waldfisch, dann das größere Schweina, das man zwischen vier und fünf Uhr Nachmittags durchzog. Der steile Berg nach Altenstein, wo er seine Möhraer Verwandten zurückzukehren bat, erheischte, langsam zu fahren, deshalb war es schon etwas spät am Tage geworden, als man den Hohlweg unterhalb der Capelle erreichte. Hier sollte ihm plötzlich das Geheimniß, in das er noch nicht ganz eingeweiht war, gelöst werden, denn auf einmal sprengte aus dem Walde ein Reiter mit herabgelassenem Visir an der Spitze einer Schaar von vier Reisigen zu einem Angriff heran. Das Eintreffen des Wagens unterhalb der Capelle war also das verabredete Zeichen zu diesem Ueberfall gewesen. Ob ihn Berlepsch oder Burkhard Hund leitete, ist nicht bekannt, die Uebrigen waren nur reisige Knechte, Alle zusammen jedoch durch die Visire unkenntlich. Bruder Jacob sprang beim Anblick der Männer sofort vom Wagen und entlief. Der eine der Angreifer fällt darauf den Pferden in die Zügel, während er den Fuhrmann barsch anläßt, was er für Leute da führe; indem er ihm gebietet, stille zu halten, schlägt er ihn mit der Armbrust so, daß er unter ein Pferd herab rollt. Währenddem drängen sich die beiden Ritter an den Wagen mit der Frage, wer von den Reisenden der Luther sei, und als sich dieser zu erkennen giebt, hält ihm der eine die gespannte Armbrust mit dem Verlangen entgegen, sich zu ergeben. Seine Begleiter Amsdorf und Myconius bitten um Schonung, aber Luther, das Ereigniß sogleich würdigend, raunte dem Ersteren zur Beruhigung die Worte zu: „Confide, amici nostri sunt“ (sei gutes Muthes, es sind unsere Freunde). Darauf wird Luther vom Wagen gezogen, sein Priestergewand mit einem Gepner (Reitermantel) vertauscht und er in den Wald geführt und auf ein Pferd gesetzt.
Während die Angst um den theuren Bruder Jacob’s Schritte beflügelte, damit er so schnell als möglich die Trauerbotschaft von dem Ueberfall nach Waltershausen bringe, und Amsdorf und Myconius beruhigt über die Dörfer Schmerbach und Langenheim dem Städtchen zufuhren, zogen die Ritter Luthern tiefer in den Wald hinein und banden einen Mann auf ein zweites Pferd, als hätten sie auf einem Streifzug einen Verbrecher gefangen. Nun galt es überdies, da es noch nicht dunkel geworden war, sich den Anschein zu geben, als sei ihr Ziel nicht die Wartburg, denn sonst hätten sie die Richtung nach Ruhla oder Etterwinden einschlagen müssen, sondern sie nahmen die Direction nach dem Inselsberg zu, um den Wanderer oder Waldarbeiter, der ihnen aufstoßen könnte, über ihre Absicht zu täuschen; deshalb zogen sie über den sogen. Reiterstieg den Weg seitwärts nach Brotterode zu und kamen im Dunkel der Nacht durch Wald und Berg gegen elf Uhr auf die Wartburg.
Es waren vier bis fünf Stunden Weges, die sie seit der Aufhebung zurückgelegt hatten, so daß Luther, der schon seit den Tagen in Worms sich unwohl fühlte, müde und marode, wie er später Amsdorf selbst schrieb, vom Pferde stieg. Die Ritter schlossen darauf den gefangenen Doctor „auf’s Härteste mit Ungestüm“ in ein Gemach, daß der Thorwart nicht anders glaubte, als daß sie einen Verbrecher auf der Straße ergriffen und zur Haft gebracht hätten.
Von der glücklichen Ausführung des Anschlages rühmt Myconius selbst: „Es ist nie erhöret worden, daß ein Sach so heimlich hätte können gehalten werden, als diese, wer doch den Luther gefangen und hinweggeführt hätte. Es wurde von viel Leuten, auch am Reichstag, geglaubt, es wäre ein ernst Gefängniß gewesen, so recht heimlich wurde es verhalten.“ Indessen war die Gefangennahme, wenn auch nicht der Einzug in die Wartburg, doch verrathen und in Möhra bekannt geworden, denn Luther’s Oheim meldet dem Canonicus Georg König in Eisenach die Entführung seines Vetters mit dem Bemerken, die Reiter hätten ihren Hufschlag nach Brotterode genommen. Auch später kam die Erzählung davon vielleicht durch einen der Reitersknechte unter das Volk, in dessen Munde sie fortlebte, bis sie nach etwa einhundert Jahren von dem Pfarrer Hattenbach zu Schweina in das Kirchenbuch daselbst aufgezeichnet wurde, so wie wir sie, der Hauptsache nach, berichteten. Es war in der Nacht vom Sonnabend auf den Sonntag, als der Glaubensheld in der Geisterstunde sein Zimmer auf der Wartburg betrat, nach dem Erlebniß vielleicht mit einigem Schauer, denn er war ja von dem Aberglauben seiner Zeit nicht ganz frei und wappnete sich durch Gebet, so oft er sich durch Anfechtungen von unsichtbaren Feinden bedroht glaubte. Mit stiller Resignation sah er wohl am andern Morgen, als ringsum die Glocken den Tag des Herrn verkündeten, den Priester der Burg [616] zur Capelle schreiten, ohne ihm zu folgen, denn er vermuthete, wie er später an Spalatin schrieb, jener stecke noch tief in der alten Finsterniß; er hielt sich also lieber fern von der geweihten Stätte, um sich durch den Drang seines Herzens nicht zu verrathen, und als er demselben später folgte, so waren seine Predigten durchaus keine öffentlichen, wie man fälschlich annimmt, sondern er sprach an Sonn- und Festtagen nur vor dem Hauptmann und eingeweihten Freunden, wie ein Zeitgenosse und Schüler von ihm (Matthesius) ganz einfach erzählt.
Das Verhältniß zu seinem Wirth, dem Burghauptmann, gestaltete sich trotz der durchaus verschiedenen Standesverhältnisse der beiden Männer auf’s Beste. Luther hätte durch seine literarische Thätigkeit sowie durch seine Collegia an der Universität ein reichliches Einkommen haben können, allein er kümmerte sich so wenig um irdischen Gewinn und war dabei so freigebig gegen Arme, daß er, damals achtunddreißig Jahre alt, in solcher Dürftigkeit lebte, daß er Scheuerlin offen gestand: „Noch kenne ich Keinen, der ärmer wäre, als ich selbst.“
Was für ein ganz anderer Herr war dagegen sein Wirth, reich an Ahnen, Gut und Würden, der höchste Beamte des weiten Bezirks, Hauptmann von Eisenach und Quedlinburg, Herr zu Seebach und des Schlosses Heldrungen, vermögend genug, den Bruder des Kurfürsten, den Herzog Johann von Sachsen, aus Geldverlegenheit zu reißen! Die meisten Amtleute waren damals hochfahrende Ritter, aber unwiderstehlich beugte sich des Hauptmanns adliger Sinn vor dem lichten Geiste des gefeierten Mannes, dessen Falkenauge, wie es Erasmus von Rotterdam nannte, seinem ahnenstolzen Blick begegnete, dessen bezaubernde Rede mit klangvoller Stimme sein Herz gewann, dessen scharfes Urtheil und schlagender Witz die Unterhaltung würzten. Dagegen bemühte sich Luther, der ausgesuchten Gastfreundlichkeit, die dem Hausverwalter sogar auffiel, mit den bescheidensten Ansprüchen, an die er überdies gewöhnt war, zu begegnen, aus Besorgniß, der Familie lästig zu werden. Von seiner äußeren Erscheinung aus jener Altersperiode macht man sich überhaupt ein sehr falsches Bild, wenn man sich dasselbe so vorstellt, wie es in späterer Zeit von Lucas Cranach gemalt wurde, als er ziemlich wohlbeleibt geworden war; bedenkt man aber, daß er nach einer getreuen Schilderung, die ihn auf dem Colloquium zu Leipzig mit Dr. Eck (1519) darstellt, bei mittler Statur „wegen vielen Studirens so mager war, daß man an ihm fast alle Knochen zählen konnte“, und daß er in den zwei Jahren unter gleicher Arbeit und Mühe leben mußte, so wird die Gestalt eine ganz andere. Bekanntlich nannte ihn der Hauptmann den übrigen Bewohnern gegenüber Junker Görg und gab ihm zur alleinigen Bedienung zwei Edelknaben. Außer diesen und der Familie des Hauptmanns bildeten das Personal der Burg: zwei reisige Knechte, ein Gerichtsschreiber, der Caplan, der nach damaliger Sitte jedenfalls auch als Schreiber im Amt mit beschäftigt war, ein Koch, Kellner, d. h. Hausverwalter, ein Thorwärter, zwei Wächter und ein Eselstreiber, endlich der Schulmeister am Frauenberg als Vicarius an einem Altar der Capelle. Der neue Junker ließ sich, um die Täuschung zu vollenden, Bart und Haupthaar länger wachsen, trug ein rothes Barett, einen Wappenrock, zuweilen ein Reiterschwert und wohl auch seinen Gepner gegen Wind und Wetter. Nach längerer Zeit war er wirklich so unkenntlich geworden, daß er Spalatin schreiben konnte, er würde ihn schwerlich wieder erkennen, da er sich – setzte er scherzhaft hinzu – selbst nicht mehr kenne.
Luther’s plötzliches Verschwinden erregte allgemeines Staunen, sowohl unter seinen Anhängern als unter den Päpstlern, ja diese zogen, da alle Nachforschungen vergeblich waren, sogar Wahrsager und Zauberer zu Rathe. In Eisenach ging das Gerücht, Freunde aus Franken hätten ihn in Sicherheit gebracht; ein anderes verbreitete sich, einer der beiden Grafen von Henneberg hätte ihn eingefangen, allein der Beschuldigte wies den Vorwurf entrüstet von sich. Voller Angst sendete noch von Worms aus der Straßburger Jurist Gerbell dem Freunde durch Spalatin einen Brief, in dem derselbe um die Nachricht fleht, ob er noch lebe, da die verschiedensten Gerüchte über sein Geschick sich kreuzten. Nur Amsdorf und Spalatin kannten den Aufenthalt, jener erst durch Luther, als der vorsichtige Hauptmann diesem nach ein paar Wochen gestattet hatte, zu schreiben, denn er hatte ihn sogar genöthigt, einige Briefe an Wittenberger Freunde wieder zu zerreißen, da es ihm noch zu früh dünkte, dieselben zu befördern; und wie glücklich war Melanchthon, als er dem gemeinschaftlichen Freunde Wenzel Linke in Nürnberg die frohe Kunde senden konnte: „unser allerliebster Vater lebt!“
In seinen Briefen bezeichnete Luther die Wartburg allegorisch, um dieselben nicht zu Verräthern werden zu lassen, am liebsten nannte er sie sein Patmos, jene Insel, auf welche der Evangelist Johannes verbannt worden war. Bei seinem so lebhaften Temperament gewöhnte er sich nur allmählich an die Vereinsamung, aber das machte nach mehreren Monaten seiner Gewissenhaftigkeit Sorge, auf wessen Kosten er eigentlich hier lebe, bis ihn der Hauptmann versicherte, daß sie der Kurfürst bestreite. Die Eintheilung der Zeit verursachte ihm ebenfalls viel Sorge, da dieselbe auf die verschiedenste Weise in Anspruch genommen wurde. Die erste Periode erfüllte die Beantwortung einer Menge Briefe an Freunde, Widerlegungen von Streitschriften verschiedener Feinde und Bekämpfung von Mißbräuchen der Kirche, um auch hier bei dem Arbeitsdrang seines Riesengeistes für seine Lehre rastlos zu wirken, denn ringsum bestürmten Widersacher das begonnene Werk. Bei aller Schärfe seiner Feder leuchtet aber überall sein Edelmuth hervor, mit dem er gern zu vergelten sucht. Schon 1520 hatte ihn nämlich der kriegerische Franz von Sickingen am Rhein auf seine feste Ebernburg eingeladen, um ihm gleich anderen Lichtfreunden Schutz zu gewähren, Luther jedoch den Antrag abgelehnt. Jetzt suchte er seine Dankbarkeit gegen den Ritter dadurch an den Tag zu legen, daß er ihm eine der ersten Schriften seiner Muse hier oben am 1. Juni dedicirte: das Büchlein von der Beichte, in welchem er das Verwerfliche der Ohrenbeichte und des Abendmahlzwanges geißelte. Schon am 26. Mai hatte er an Melanchthon die Auslegung des achtundsechszigsten Psalms geschickt, denn lange vorher lag ihm die Erklärung der Psalmen in der alten prophetischen Sprache, in der sie ursprünglich gedichtet sind, am Herzen.
Nach und nach schienen trotz aller Vorsicht seiner Freunde seine Feinde jedoch auf die Spur seines Verstecks gekommen zu sein. Als ihm dies der Hauptmann voll Sorge mittheilte, erklärte Luther seine Bereitwilligkeit, sein Asyl mit einem anderen zu vertauschen, und meldete dies auch Spalatin. Endlich schloß er diesem einen Brief von irgend einem Ort her datirt bei, damit das Schreiben, als sei es verloren, in Feindes Hände gespielt werde. Dieses Mittel scheint gute Wirkung gethan zu haben; er blieb ruhig hier, wenn auch ferner nicht unangetastet, doch gerieth das ganze Wesen des stürmischen Mannes theils von der ungewohnten guten Kost, theils durch die Vereinsamung in Unordnung; durch die Schleier seines Unmuthes erblickte er in dem bösen Feind den Störer seiner Ruhe und suchte sich der Sage nach durch den Wurf mit dem Tintenfaß seiner zu entledigen. Er meldete endlich über den gestörten Gesundheitszustand seinem Berather Spalatin, daß er in Erfurt ärztliche Hülfe suchen wolle, doch verbot ihm dieser die Reise, um nicht erkannt zu werden, und sie unterblieb schon darum, weil unterdeß dort die Pest ausgebrochen war. Berlepsch rieth ihm daher in freier Luft seinen Körper durch Bewegung zu stärken, auszureiten und mit auf die Jagd zu gehen. Allein diese behagte ihm bald so wenig, daß er sie in einem Brief an Spalatin eine saure Ergötzung großer Herren und ein treffliches Geschäft für müßige Leute nannte. Für seine Ausflüge zu Pferde gab ihm sein Wirth einen treuen Knappen mit, der ihn eines Tages nach einem Ritt in’s Kloster Reinhardtsbrunn, wo ihn über den Büchern ein Mönch erkannte, großer Gefahr dadurch entriß, daß er ihn rasch mit sich fortzog.
Um auch seinem lieben Vater einen Beweis seiner Thätigkeit zu geben, dedicirte er ihm in einem Brief vom 21. November die Schrift über die Verderblichkeit der Klostergelübde. Am meisten aber erfüllte sein Herz jetzt die Sehnsucht nach Wittenberg, so daß er, nicht länger widerstehend, zu Ende des Monats sich auf ein paar Tage heimlich dorthin in Amsdorf’s Haus begab, um mit den Freunden zu verkehren.
Als er nach seiner Rückkehr endlich an die Uebersetzung der Bibel ging, sah er erst die Schwierigkeit ein und beschränkte sich nur auf die Uebertragung des Neuen Testamentes, weil er – wie er am 14. Januar 1522 an Amsdorf schrieb – ohne dessen Hülfe das Alte nicht angreifen könne. Welche Epoche aber sein Bibelwerk überhaupt machte, geht aus den Worten eines Zeitgenossen, Erasmus Alber, hervor: „Dr. Martinus ist ein rechter deutscher Cicero, er hat uns nicht allein die wahre Religion gezeigt, sondern [617] auch die deutsche Sprache reformirt und ist kein Schreiber auf Erden, der es ihm gleich thun kann.“ Unser eigenes Staunen wächst aber noch mehr, wenn wir bedenken, daß er das neue Testament in kaum zwei Monaten übersetzte, da man von Wittenberg seine Vermittlung in den durch Carlstadt’s Vorwitz, mit einem Male durch den Bildersturm den Gottesdienst reinigen zu wollen, hervorgerufenen Vorgängen häufig in Anspruch nahm, bis er, um persönlich dem Unwesen zu steuern, aller Einreden des Kurfürsten ungeachtet, am 3. März in seiner ritterlichen Verkleidung die Burg verließ.
Als ich mich an einem Märzmorgen 1865 in einem Hutladen der Passage de l’Opéra befand, um mir eine neue Kopfbedeckung auszusuchen, machte mich der gesprächige Hutfabrikant auf einen stattlichen Greis aufmerksam, der in einer Ecke des Ladens ein Zeitungsblatt las.
„Dieser Mann,“ sagte der Boutiquier, „hat gestern seinen neunundneunzigsten Geburtstag gefeiert und ist bereits heute Morgen vom Montmartre zu Fuße hergekommen.“
Ich knüpfte ein Gespräch mit dem Greise an und erfuhr von ihm, daß er sich Friedrich von Waldeck nenne. Der Graf von Waldeck lebt noch, und da er am 16. März 1766 geboren ist, so befindet er sich jetzt im hundertundzweiten Lebensjahre. Er wohnt in der Chaussée des Martyrs und zwar im fünften Stocke. Vor einigen Wochen stattete ich ihm einen Besuch ab, und ich bin fest überzeugt, daß ich meinen Lesern einen Dienst erweise, wenn ich ihnen einige Episoden aus dem vielbewegten Leben dieses merkwürdigen Mannes mittheile.
Der Graf Friedrich von Waldeck ist in Prag geboren; im Jahre 1776 siedelten aber seine Eltern nach Paris über. Sie empfingen in ihrem Hause viele ausgezeichnete Schriftsteller, unter denen mehrere der hervorragendsten Encyclopädisten, wie Diderot und d’Alembert, sich befanden. Die Unterhaltung solcher Männer konnte nicht ohne Einfluß auf den lebhaften Geist des kleinen Friedrich bleiben. Sie erweckten in ihm einen unwiderstehlichen Wissensdrang, den sein Vater nach allen Kräften zu befriedigen suchte. Dieser gab ihm später einen Erzieher in der Person des Abbé D–s. Die Wahl hätte nicht unglücklicher sein können. Der Abbé war zwar ein sehr gelehrter und geistvoller, aber auch ein höchst leichtsinniger und unsittlicher Mann, der seinem Zögling als ersten Lebensgrundsatz die Befriedigung der sinnlichen Begierden empfahl. „Amuse-toi! Fais comme moi!“ rief er ihm beständig zu. Er führte ihn sehr häufig in ein Ursulinerkloster, wo es eben nicht sonderlich streng herging. Die Priorin, die in der Schreckenszeit auf dem Schaffot endete, war blind und daher nicht geeignet, eine strengere Zucht einzuführen. Die lockere Disciplin dieses Klosters hielt den jungen Waldeck natürlich nicht ab, dasselbe in Begleitung seines cynischen Lehrers zu besuchen. Diese Besuche hatten schlimme Folgen und der Vater Waldeck bestand darauf, daß sein Sohn sofort Frankreich verlassen und auf längern Reisen seine Kenntnisse erweitern, seinen Geist ausbilden und sich an Entbehrungen und Mühseligkeiten aller Art gewöhnen sollte.
Waldeck hatte kaum das neunzehnte Jahr erreicht, als er sich in Marseille auf der Brigg Sophie, Capitain Durand, nach dem Cap der guten Hoffnung einschiffte. Er hatte bei dem Maler Vien Unterricht genommen und es zu einer großen Fertigkeit im Zeichnen und Malen gebracht. Dies Talent kam ihm auf der Reise, wo sich ihm so viele Gelegenheiten zu ethnographischen Studien darboten, sehr zu statten. In der Capstadt machte er die Bekanntschaft des einst viel gelesenen und viel verleumdeten Reisenden Le Vaillant, dem er die Zeichnungen zu seinem Werke corrigirt und ihn dadurch zu Dank verpflichtet. Le Vaillant erzählte ihm so viel von seinen afrikanischen Reisen, daß Waldeck eine unbesiegbare Lust verspürte, dieselbe Reise zu unternehmen. Mit der ihm von Le Vaillant vorgezeichneten Marschroute versehen, tritt Waldeck ohne irgend einen Begleiter die gefährliche Reise an. Nach vielen Irrfahrten, die seine Skizzen und Tagebücher bereicherten, kehrt er wieder nach der Capstadt zurück. Am Vorabend der Revolution trifft er in Paris ein. Er lernt bald die berühmtesten Männer der Umwälzung kennen, tritt zu einigen derselben in nähere Beziehung und wird ein vertrauter Freund Danton’s. Er hört den Redner, der einen furchtbarern Donner als Perikles auf der Zunge trägt – er hört Mirabeau reden. Er besucht alle Clubs; er ist Augenzeuge aller Schrecken. Als ihn an einem Septembertage eine dringende Angelegenheit durch den Garten des Palais-Royal führt, wird er bald von einer ungeheuern Menschenmenge umschwärmt. Ein Pfeifer und ein Tambour bilden die Führer dieses heulenden, tobenden, brausenden Menschenstroms. Sie tragen das Haupt der Prinzessin Lamballe auf einer Pike und stürmen nach dem Temple, um der gefangenen Marie Antoinette die gräßliche Trophäe zu zeigen. Einige Tropfen Blutes fallen von dem Haupte auf die Schultern Waldeck’s, der vom wüthenden Strudel fortgedrängt wird. Er sieht Ludwig den Sechzehnten, er sieht Marie Antoinette das Schaffot besteigen. Sein Freund Danton kommt auch an die Reihe.
Zwei Tage vor seiner Verhaftung giebt ihm Danton sein von Vincent gemaltes Portrait. Dasselbe befindet sich als kostbares Andenken in Waldeck’s Arbeitszimmer. Waldeck sagte mir, es sei von sprechender Aehnlichkeit. Die Züge sind nicht nur schön, sondern auch sehr sanft. Das dunkelbraune Auge blickt still und ruhig darein, und der fein geformte Mund verräth nichts weniger als den furchtbaren Volkstribun. Danton wußte übrigens, daß er einen schönen Kopf hatte. „Tu montreras ma tête au peuple: elle en vaut la peine,“ (Du wirst meinen Kopf dem Volke zeigen; es lohnt sich der Mühe) sagte er zum Scharfrichter, als er sein Haupt unter das Fallbeil legte. Waldeck versichert, daß Danton, wenn er nicht auf der Rednerbühne stand, der sanfteste Mann von der Welt war. Seine Stimme war gewaltig und er ließ sie auch, nicht ohne gewisse Eitelkeit, gern mit ungedämpfter Kraft ertönen, wie ein Virtuos, der gern sein Instrument vollkräftig ertönen läßt; aber diese gewaltige Stimme drückte oft die weichsten, die zartesten Empfindungen aus. Waldeck spricht mit dem Ausdruck tiefster Wehmuth von dem Freunde, den ihm die Guillotine vor mehr als siebzig Jahren entrissen.
Nach dem neunten Thermidor hört Waldeck, daß sein alter Freund Le Vaillant, der unter der Schreckensherrschaft als verdächtig in’s Gefängniß geworfen worden, noch immer auf die Freiheit harre. Er begiebt sich zu Madame Tallien, die er kannte, und bewegt dieselbe, dem Gefangenen sogleich die Kerkerthür öffnen zu lassen. Le Vaillant dankt ihm mit Thränen in den Augen. Das war das letzte Mal, daß Waldeck den Reisenden sah. Le Vaillant zog sich bald auf sein kleines Landgut in La Noue zurück, wo er 1824 starb.
Der abenteuerliche Zug in Waldeck’s Charakter ließ ihn nicht lange auf einem und demselben Orte. Er glich der Schwalbe, die nur im Fluge lebt. Blos auf Reisen war es ihm wohl zu Muthe; er fühlte sich nur heimlich, wo er nicht heimisch war. Paris fing an, ihn zu langweilen, und er war froh, als Napoleon die Expedition nach Aegypten unternahm. Er kaufte ein Schiff, das er mit Waaren aller Art befrachtete, und schloß sich der Expedition an in der Hoffnung, sich zu bereichern und viele Erfahrungen zu machen. Er machte indessen bald die Erfahrung, daß man viel schneller ein Vermögen verliert als erwirbt. Sein Schiff wurde nämlich von den Engländern zerstört. Waldeck ließ sich jedoch durch diesen Unfall nicht niederschmettern. Er folgte der französischen Armee überall in Aegypten, schloß sich den Gelehrten und Künstlern der Expedition so innig wie möglich an, zeichnete die großartigen Ruinen des Landes und vergaß dabei nicht sein Tagebuch, dem er nach seiner Gewohnheit alle Erlebnisse anvertraute.
Man kennt den Ausgang jener ägyptischen Expedition. Die französische Armee kehrte nach Frankreich zurück, Waldeck aber zog es vor, seine Reise in Afrika fortzusetzen. Er hatte den südlichen Theil Afrikas gesehen, er wollte jetzt den Südosten dieses Welttheils besuchen. Fünf junge, kühne Männer schlossen sich ihm an. Die Fahrt beginnt und bietet mit jedem Tage mehr Hindernisse, mehr Entbehrungen, so daß Waldeck nach und nach vier seiner [618] Reisegefährten durch den Tod verliert. Bald erkrankt auch der fünfte, und Waldeck ist genöthigt, ihn zu führen, ja, auf der Schulter zu tragen, bis auch dieser letzte seiner Gefährten für immer das Auge schließt.
Waldeck war nun allein und legte, nachdem er Nubien und Abyssinien durchwandert, unter unsäglichen Mühen und Nöthen den Weg bis nach Mozambique zurück. Hier schiffte er sich nach Madagaskar ein, und nach einem kurzen Aufenthalt daselbst reiste er zum zweiten Male nach der Capstadt. Aber auch hier übermannte ihn gleich wieder die Lust zu Irrfahrten und er entschloß sich nach Isle de France zu segeln, wo ihn unverhoffte Abenteuer erwarteten. Er trifft dort nämlich mit dem berühmten französischen Corsaren Surcouf zusammen. Surcouf war in St. Malo geboren. Die Seeleute von St. Malo sind kühn und unternehmend, und der Haß gegen die Engländer, von denen sie früher oft mißhandelt wurden, ist ihnen angeboren. Surcouf theilte diesen Haß und hat als Caperer den Engländern gar manchen empfindlichen Schaden zugefügt. Welch’ ein kecker, verwegener Mann dieser Surcouf war, möge folgende Thatsache zeigen. Der Nationalconvent hatte den Handel mit Negersclaven verboten, derselbe konnte jetzt nur im Geheimen und unter großen Gefahren betrieben werden. Für Surcouf hatte aber jede Gefahr etwas Verlockendes. Er übernahm daher den Befehl über eine Brigg und machte mehrere Reisen nach Madagaskar und der afrikanischen Küste, wo er die Schwarzen aufnahm. Die französische Regierung erfuhr dies, und eines Morgens stellten sich drei Beamte der Colonialcommission an Bord seiner Brigg ein, die noch deutlich die Spuren der in der vorhergehenden Nacht ausgeschifften Negersclaven zeigte. Surcouf verlor indessen die Besinnung nicht. Er ladet die drei Beamten zum Frühstück ein, und während dieselben sich an der Tafel gütlich thun, giebt er den Befehl, in die See zu stechen. Sobald die Brigg in offener See ist, droht er den drei Gästen, sie an der afrikanischen Küste auszusetzen und dort der Wuth der Neger preiszugeben, wenn sie nicht sogleich ein Protokoll aufsetzen und in demselben erklären, daß sie an Bord seines Schiffes nichts gefunden, woraus man irgendwie auf den Sclavenhandel schließen könnte, und daß die Brigg durch einen heftigen Sturm vom Ankergrund in’s Meer fortgerissen worden. Die drei Commissäre willigten ein, worauf sie Surcouf an’s Land setzte.
Waldeck wurde nun Corsar. Schon auf seiner ersten Reise nach dem Cap hatte er sich, von dem Capitän Durand unterstützt, manche nautische Kenntnisse angeeignet, die er seitdem zu erweitern gesucht. Unter Surcouf’s Befehl geräth er jeden Augenblick in blutige Händel mit den Engländern. Er wird von Säbelhieben zerfetzt, von Musketenkugeln verwundet, aber wenn auch nicht mit heiler Haut, so kommt er doch immer mit unerschütterter Gesundheit davon, die er durch eine stoische Mäßigkeit zu erhalten sucht.
Nachdem er längere Zeit das Corsarenhandwerk mit wechselndem Glücke getrieben, sieht er sich eines Tages veranlaßt, demselben aus dem einfachsten Grunde von der Welt zu entsagen. Er wird nämlich von den Engländern gefangen. In England angekommen, erhält er durch Vermittelung des Herzogs von York die Freiheit. Während seines Aufenthaltes in England macht er die interessantesten Bekanntschaften. Durch Lord Buchan lernt er Walter Scott und Lord Byron kennen und macht mit Letzterem sehr häufig Ausflüge in die Gebirge Schottlands. „Lord Byron,“ erzählt Waldeck, „war nicht immer liebenswürdig. Er wurde gar häufig von den blue devils, vom Spleen, geplagt, aber wenn er liebenswürdig war, so war er es auch recht. Er war dann unwiderstehlich. Walter Scott war immer heiter, immer freundlich, immer wohlwollend. Er liebte einen guten Spaß und ließ sich gern das Zwerchfell erschüttern.“
Eines Tages sagte er zu Waldeck: „Sie sind ein Deutscher, Sie haben eine lebhafte Einbildungskraft, ein vortreffliches Gedächtniß, gewiß besitzen Sie einen Schatz von Sagen im Kopfe. Wollen Sie mir nicht eine derselben mittheilen?“
Waldeck ließ sich nicht lange bitten und erzählte ihm eine Sage aus seiner eigenen Familie. Walter Scott hörte aufmerksam zu, und Waldeck hatte später das Vergnügen, diese von ihm erzählte Sage unter dem Titel „Martin Waldeck“ im „Alterthümler“ des großen Unbekannten zu finden. Ja, gerade durch diese Erzählung erfuhr er, daß Walter Scott der große Unbekannte war.
Unser Landsmann kommt auch mit Georg dem Vierten in Berührung, für den er eine Reihe von Aquarellen verfertigt, mit Brummel, dem elegantesten Wüstling seiner Zeit, und mit dem witzsprudelnden Sheridan, von dem er Manches, nur nicht das viele Trinken lernt. Er wird auch bei Lord Cochrane eingeführt, der sich von der unverwüstlichen Energie Waldeck’s angezogen fühlt und ihn einladet, mit ihm eine Reise nach Chili zu unternehmen. Waldeck nahm diese Einladung auf’s Bereitwilligste an, trennte sich aber in Amerika von dem Lord, der keinen umgänglichen Charakter besaß und Waldeck’s Unabhängigkeitsgefühl oft verletzte. Waldeck kehrte bald nach Europa zurück, um – rasch wieder nach Amerika zu segeln und diesen Welttheil von der Magellansstraße bis zur Baffinsbai zu bereisen. Südamerika zog ihn besonders lebhaft an, und er durchwandert Chili, Yucatan und Mexico nach allen Richtungen. Die erste ausführliche Karte von Yucatan hat man Waldeck zu verdanken. Er besuchte Salamanca, Itzalane, Tulha, San Domingo de Palenque, Panuco, die einstige Hauptstadt der Azteken. Er zeichnete alle Reste altindischer Denkmäler mit dem größten Fleiße und unter Entbehrungen aller Art.
So hielt er sich längere Zeit in Wichelake unter den Azteken auf, um ihre Sprache zu lernen, und hatte oft zu seiner Nahrung nichts als Klapperschlangen, deren Fleisch übrigens, wie er versichert, gar nicht unschmackhaft und dem der Boa bei Weitem vorzuziehen ist. Wenn er aber mit großem Appetit in’s Fleisch der Klapperschlangen beißt, so beißen die Klapperschlangen gar oft in sein eigenes Fleisch. Seine Beine tragen noch die Spuren von den Stichen dieser furchtbaren Reptilien. Die Stichwunden sind zwar vernarbt, einige derselben brechen jedoch von Zeit zu Zeit wieder auf und verursachen ihm große Unannehmlichkeiten. Waldeck, der mir diese Narben zeigte, bemerkte dabei, daß die Klapperschlange durchaus nicht so gefährlich sei, wie die Nawoyaka. Der Biß dieses Reptils führt innerhalb fünf Minuten den Tod herbei, während der Biß der Klapperschlange nicht immer tödtlich ist. Wie dem aber sei, die Giftschlangen verhinderten ihn nicht, täglich Denkmäler aufzusuchen, sie auf’s Genaueste zu zeichnen und in seinem Tagebuche zu beschreiben. Indessen würde er, wenn er auf seine eigenen Mittel beschränkt gewesen wäre, seine Studien nicht haben fortsetzen können. Er hatte sich aber die Freundschaft des Lords Kingsborough gewonnen, der ihm zu wiederholten Malen sehr bedeutende Geldsummen schickte. Nur durch diese großmüthige Unterstützung wurde es ihm möglich, zweitausend Zeichnungen nach der Natur zu entwerfen.
Nach einem vieljährigen Aufenthalt in der neuen Welt kehrte er nach Europa zurück und veröffentlichte sein Werk über Yucatan, welches er dem Andenken seines inzwischen heimgegangenen Freundes Kingsborough widmete. Seitdem hat Waldeck keine größere Reise mehr unternommen.
Graf Waldeck ist ein sehr stattlich gewachsener Mann. Das hohe Alter hat seinen Rücken nicht gebeugt. Er geht straff und stramm daher, wie ein Mann in den besten Jahren. Er verwendet viel Sorgfalt auf seinen Anzug und seine Wäsche ist von der holländischsten Reinlichkeit. Waldeck hat noch vorigen Sommer, also nach zurückgelegtem hundertsten Lebensjahre, eine Reise nach London unternommen. Er geht täglich aus, er besucht fleißig die Weltausstellung und kehrt dann unermüdet nach Hause, wo er fünf Treppen zu steigen hat, um in seine Wohnung zu gelangen. Jeden Morgen steht er um fünf Uhr auf und setzt sich sogleich an die Arbeit, die er erst um fünf Uhr Abends verläßt. Der heurige Pariser Salon brachte von ihm zwei Oelgemälde, und er malt in diesem Augenblick an einem neuen Bilde, mit dem er im Salon des nächsten Jahres auftreten will. Außerdem bereitet er die Ausgabe eines Werkes vor, das unter dem Titel: „Encyclopédie d’Archéologie Américaine“ die Beschreibung aller altindischen Denkmäler Südamerikas und zweitausend Illustrationen nach seinen Originalzeichnungen enthalten soll.
Seine Zeichnungen sind fest und sicher, ebenso seine Handschrift, die noch außerdem durch eine seltene Zierlichkeit und Deutlichkeit auffällt. Er ist etwas harthörig, das ist aber auch das einzige körperliche Gebrechen, an dem er leidet. Er selbst ist mit seinem Gesundheitszustande sehr zufrieden und versichert, daß er nie mit besserem Appetit gegessen, nie fester geschlafen als jetzt. Sein einziger Sohn, ein sehr schöner Knabe mit sanften Zügen, hat eben erst das sechszehnte Jahr erreicht und ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, und seine Gattin, eine geborene Engländerin, [619] hat kaum das Schwabenalter zurückgelegt. Waldeck, der sich im vierundachtzigsten Jahre zum zweiten Mal verheirathete, bereut durchaus diesen Schritt nicht, den schon mancher viel jüngere Sterbliche bitter beklagt hat.
Waldeck ist von außerordentlicher geistiger Frische und Regsamkeit. Seine Züge beleben sich, wenn er von der Kunst spricht, und mit sichtbarer Freude zeigt er seine Sammlung von Kupferstichen, unter denen sich die prachtvollsten Marc Antons befinden. Dabei erzählt er, wo, wann und auf welche Weise er in den Besitz jedes dieser Werke gelangt ist. Sein Gedächtniß kann nicht zuverlässiger sein; die Namen der Persönlichkeiten, mit welchen ihn sein vielbewegtes Leben während mehr als drei Menschenaltern in Berührung brachte, kommen ihm ohne Zögern auf die Zunge. Er spricht Französisch und Englisch sehr geläufig, minder geläufig jedoch seine Muttersprache, da er seit seiner zweiundneunzigjährigen Abwesenheit von Deutschland nur sehr wenig mit seinen Landsleuten verkehrte.
Waldeck weiß Vielerlei, aber er bedauert es lebhaft, in seiner frühesten Jugend die Humaniora vernachlässigt zu haben. Nicht minder beklagt er es, das Französische nicht correct schreiben zu können; er hätte sonst längst seine Denkwürdigkeiten herausgegeben, zu denen er die Materialien in seinen Tagebüchern besitzt, die fünfunddreißig enggeschriebene Octavbände umfassen. Einer seiner Freunde, der Graf von St. Priest, überredete ihn, sein Leben von Alexander Dumas schreiben zu lassen. Zu diesem Zwecke ließ Waldeck dem Verfasser des Monte Christo mehrere Manuscripte einhändigen, die leider verloren gegangen. Vielleicht, daß sich diese Papiere nach dem Tode Waldeck’s wieder vorfinden! Der alte Herr, der so oft dem Tode in’s Auge geschaut, denkt übrigens gar nicht daran, das Zeitliche zu segnen. Er fürchtet den Tod nicht, aber er liebt das Leben und ist fest überzeugt, daß er das elfte Jahrzehent, welches er so frisch und rüstig begonnen, ebenso rüstig und frisch zurücklegen wird.
Es mag in unseren Tagen schwerlich ein deutsches Herz von Bildung und Gefühl für Schönheit in Natur und Kunst, sowie von Liebe für große vaterländische Erinnerungen und specifisch deutsches Wesen geben, das sich der eigenthümlichen Geistesanregung und Gemüthserhebung zu entziehen vermöchte, welche, vielfach einem Zauber verglichen, schon vom Worte „Wartburg“ ausgehen.
Was ist der Grund dieser außerordentlichen Gemüths-, dieser ganz besonderen Wartburgstimmung, wie man dieselbe mit Recht genannt hat? Man wird sie sicherlich nicht den landschaftlichen Reizen der Bergveste und ihrer Umgebung allein zuschreiben, denn in dieser Hinsicht stehen in Thüringen noch andere wohl erhaltene und bewohnte Bergschlösser, wie z. B. die Schwarzburg und auch die Veste Koburg, ihr nicht nach; und sollten vorzüglich geschichtliche Erinnerungen mit dem Arabeskenschmuck der Sagen solche hohe Seelenstimmung in uns wach rufen, so dürfte für die Süddeutschen die Burg Nürnberg, für die Norddeutschen die Marienburg in Preußen leicht der Wartburg in dieser Beziehung den Rang streitig machen. Was endlich die specifischen Wartburgsagen betrifft, z. B. die von der heiligen Elisabeth, so tragen dieselben durchgehends einen so kindlich naiven Charakter oder sind so mit unmöglichen Wundern und Zeichen überladen, daß sie schlechterdings nicht ein maßgebendes Moment für die „Wartburgstimmung“ geben können. Viele werden dieses nun in dem Asyle Luther’s und seiner reformatorischen Thätigkeit auf Wartburg suchen, aber darauf läßt sich erwidern, daß Luther sich während des großen Augsburger Reichstags auch auf der Veste Koburg aufhielt und hier den weltberühmten Kampfgesang der Protestanten, sein Lied dichtete: „Eine feste Burg ist unser Gott etc.“, und trotzdem hat diese Burg noch lange keine so große welthistorische Bedeutung und ruft in ihrem Beschauer keine so hochpoetische Stimmung hervor wie die Wartburg.
Der Grund der hervorgehobenen auffallenden Erscheinung ist, daß die Wartburg bewußt oder unbewußt von allen Deutschen heutigen Tages als das einzige Nationalheiligthum unseres Volkes betrachtet und verehrt wird, als eine Lichtburg des deutschen Geistes, als geheiligte Cultstätte der deutschen Geistesfreiheit, als Kampf- und Siegesfestplatz der nie ermattenden Geistesarbeit des deutschen Genius. Was den Deutschen zum Deutschen prägt, was ihn zum Forscher und Vorkämpfer der Civilisation macht, das klare Wissen und der Muth dasselbe öffentlich zu bekennen, dieses charakteristische Abzeichen des Deutschthums finden wir in der Wartburg nicht nur symbolisch angedeutet, sondern auch verständlich ausgesprochen, sowohl in ihrer Geschichte, als auch in ihren von der patriotischen Liebe und Begeisterung eines hochsinnigen Fürsten erneuten Localitäten. Ja, in der Geschichte des Ringens und Kämpfens des deutschen Geistes gegen den bewältigenden und erstarrenden Orientalismus, wie es in den Hauptmomenten der Wartburgchronik so gewaltig und überzeugend bis auf unsere Tage hervortritt, in den Lichtspuren, welche dieser Kampf auf der Wartburg zurückgelassen hat, um sie zum deutschen Nationalheiligthum zu stempeln, ist der Grund der allgemeinen Begeisterung, Liebe und Verehrung des deutschen Volkes für seine Wartburg zu suchen.
Die Wartburg war keineswegs zur deutschen Geistesburg oder zum deutschen Nationalheiligthume erbaut, wie etwa die Akropolis in Athen zum Nationalheiligthum der Hellenen, oder der Tempel auf Morija zum Nationalheiligthum der Juden; die Wartburg ist das im Laufe der Zeit erst geworden; sie ist aus dem Geiste des deutschen Volks erst allmählich als Nationalheiligthum herausgewachsen, ja die Idee desselben hat sich erst seit 1817 langsam, aber schön herausgebildet und steht nun nach fünfzig drangvollen Jahren in ihrer vollen schönen Blüthe fest und unantastbar da, so daß wir heuer ihr herrliches Doppelfest feiern, das achthundertjährige Jubiläum ihrer Erbauung und das fünfzigjährige ihrer geistigen Wiedergeburt als Geistes- und Lichtburg Deutschlands, als Schmiedeesse und Werkstatt „des Wortes“, das „sie sollen lassen stahn und keinen Dank dazu haben“.
Von diesem hohen Standpunkte aus, den wir seit dem glücklichen Wendepunkte der deutschen Geschichte in den Befreiungskriegen gewonnen haben, dürfen wir die Geschichte der Wartburg und ihre Bedeutung für die Zukunft mit anderen Augen betrachten, als unseren Vorfahren vergönnt war. Und da drängt sich uns denn gleich die Bemerkung auf, wie thöricht und befangen es doch ist, immer wieder den deutschen Idealismus als unpraktischen Lebensverderber zu schelten, während er sich doch zuletzt stets als siegreicher Lebensveredler bewährt. Die Wartburg ist im Laufe von achthundert Jahren aus der Burg eines Grafen, dessen Vater, von bösen Schicksalen aus seinem Heimathlande Lothringen vertrieben, ein Stück rauhen Berglandes im nordwestlichen Thüringerwalde erworben und sich dort eine Burg Schauenburg bei Friedrichrode erbaut hatte, zur Lichtträgerin des deutschen Geistes geworden, die für die Zukunft unseres Volkes noch von großer Bedeutung zu werden verspricht. Das ist naturwüchsiger Idealismus. Keine Fürstenhand hat sie dazu gemacht, wie etwa die verunglückte Walhalla bei Regensburg, das Kind des gemachten und darum nicht lebensfähigen Idealismus, und nun erst, als sie im Geiste des Volks als Tempel des Deutschthums fertig ausgebaut war, hat ein Fürst voll hoher Pietät und Begeisterung für die Idee der Wartburg ihr auch wieder den würdigen königlichen Schmuck verliehen und dem geistigen (idealen) Ausbau den angemessenen künstlerischen hinzugefügt.
Wir finden, daß sie in ihrem neuen alterthümlichen Fürstengewande in einen auffallenden charakteristischen Gegensatz zu einer anderen thüringischen Burg getreten ist, die ihr im Geiste des Volks an poetischer Bedeutsamkeit schier gleichgestellt wird, dem
[620][621] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [622] Kyffhäuser. Gleicht dieser mit seinem einsamen, alten, vom Zahn der Zeit stark angenagten Thurme einer alten verwitterten und zerschlagenen Kaiserstatue, deren Greisenkopf, mit der zerbrochenen Mauerkrone geziert, in die untergegangene Herrlichkeit des deutschen Reichs zurückschaut, so erscheint dagegen die Wartburg wie die Statue eines Götterjünglings in reichstem Schmuck alterthümlicher Gewandung, eichenlaubbekränzt, mit dem Schwerte seiner Mutter Germania geziert, die schwarzrothgoldene Fahne schwingend, mit gehobenem Fuße vorwärts schreitend und mit klarem Selbstbewußtsein in die hohe Herrlichkeit einer großen Zukunft schauend, die da kommen wird und muß, weil sie eine historische Nothwendigkeit ist. Kein Kaiser sitzt schlafend und träumend im Berge der Wartburg und fragt alle hundert Jahre nach den Raben, die den Thurm umkreisen; auf den Zinnen ihres neuen Thurmes, des Bergfrieds, sitzt der jugendliche Genius des deutschen Volks und richtet das spähende Auge nach Osten, nach der aufgehenden Sonne einer neuen Zeit, die nichts mehr zu schaffen haben wird mit der abgestorbenen Kaiserromantik, und horcht mit scharfem Ohre auf den Lerchen- und Nachtigallenschlag des Weltfrühlings, der in ihrem Haine seine wehenden Fahnen aufgestellt hat.
Die Gartenlaube kann natürlich keine Geschichte von Thüringen, keine Geschichte der Wartburg und ihrer fürstlichen Insassen, keine Erzählung ihrer zahlreichen Sagen und keine ausführliche Beschreibung ihrer restaurirten und noch zu restaurirenden Localitäten bringen. Wir müssen uns um so eher mit bloßen Andeutungen, mit Hervorhebung der Glanzpunkte begnügen, als die Wartburg bereits eine ziemlich umfangreiche Literatur hat und der treffliche „Führer auf der Wartburg“ von v. Ritgen Dem, welcher sich über die berühmte Bergveste unterrichten will, keinerlei angenehme Belehrung schuldig bleibt.
Den ersten Glanzpunkt der Wartburg in Geschichte und Sage bildet die Zeit des Landgrafen Hermann des Ersten und seines Sohnes Ludwig des Heiligen und dessen Gemahlin, der heiligen Elisabeth (1190–1240). Hier liegen alle Zauber mittelalterlicher Fürstenpracht, Hospitalität, poetischer Verherrlichung, Ritterlichkeit, Frauenwürde, Milde, christlicher Barmherzigkeit und aufopfernder Selbstverleugnung unmittelbar neben einander, um uns ein so köstliches Bild zu zeigen, wie in so engem Rahmen die Geschichte kaum ein zweites bieten dürfte.
Daß der Hof des Landgrafen Hermann auf Wartburg einer der glänzendsten, üppigsten und liederreichsten jener Zeit war, berichten übereinstimmend die Chroniken und die Lieder der vorzüglichsten Minnesinger, welche gastfreundliche Aufnahme auf der berühmten Fürstenburg fanden und vom Landgrafen und dessen Gemahlin hoch in Ehren gehalten wurden. Am meisten beweist es das höchst merkwürdige episch-lyrische Gedicht „der Singerkrieg auf Wartburg“ aus jener Zeit, dessen Verfasser nicht bekannt ist, sich aber nach der Angabe des Liedes unter den Singern auf Wartburg befand. Dieses Gedicht giebt an und ihm nach erzählen die Chronisten, daß im Jahre 1206 bis 1207 sechs der ausgezeichnetsten Minnesinger Deutschlands an Hermann’s Hofe verweilten und einen Wettgesang abhielten, wie sie damals in Gebrauch waren. Diese Singer waren Walter von der Vogelweide, Reimar (Reinhard) von Zweter, Wolfram von Eschenbach, Heinrich von Ofterdingen, Heinrich der Schreiber (Kanzler des Landgrafen) und Biterolf. Am ersten Kampftage erhebt sich Ofterdingen und preist den Herzog von Oesterreich als den tugendhaftesten aller Fürsten. Dagegen erhebt sich Walter von der Vogelweide und stellt den König von Frankreich entgegen; darauf die übrigen den Landgrafen von Thüringen. Der Kampf wird so bitter und ernst, daß die Singer ausmachen, der Unterliegende solle dem Scharfrichter Stempfel ausgeliefert werden. Nun wehrt sich Ofterdingen ritterlich, flüchtet aber zuletzt, um sein Leben vor der Uebermacht der übrigen Fünf zu retten, in den Schutz der Landgräfin Sophie. Wenn die Chronisten erzählen, Ofterdingen sei zuletzt durch Spiel mit falschen Würfeln seinen Gegnern unterlegen, so beruht diese Angabe auf falschem Verständniß einer Stelle des Gedichts, in welcher Ofterdingen sich beklagt: man spiele hier mit falschen Würfeln gegen ihn, bildlicher Ausdruck für: man verfahre nicht ehrlich und redlich mit ihm. Durch Vermittelung des Fürstenpaars wird nun ausgemacht und festgestellt, daß Ofterdingen den berühmten Meister Klingsor, der am ungarischen Königshof lebt, herbei holen und sich binnen Jahresfrist stellen soll, damit Klingsor den Streit entscheide. Damit endet der erste Theil des Gedichts. Der zweite ist nun durch Inhalt, Versmaß und mythische Beimischung so verschieden vom ersteren, daß er wahrscheinlich Bruchstück eines andern Gedichtes von einem andern Verfasser ist. Klingsor und Ofterdingen gelangen durch eine nächtliche Zauberfahrt im Schlafe in einer Nacht von Ungarn nach Eisenach und erscheinen bei Hofe. Von einer Entscheidung des alten Streites ist nicht mehr die Rede; es beginnt vielmehr zwischen Klingsor und Wolfram von Eschenbach ein zweiter Singerkampf philosophisch-theosophischer Natur, in welchem der große Zauberer von seinem Diener, einem höllischen Geiste Nasian, unterstützt wird. Nichtsdestoweniger bleibt der Kampf unentschieden und Alle vereinigen sich zuletzt in Güte. Unverkennbar ist Klingsor der Prototyp des spätern Faust.
Dieser zweite Theil des Gedichts ist selbstverständlich der bei Weitem wichtigere und hat für uns hohes Interesse. Denn an und in der Wartburg ist uns eben Alles symbolisch. Wie sie selbst uns das Symbol der Lichtburg des deutschen d. h. des menschheitlichen, Geistes ist, so ist ihr Sängerkrieg uns das Symbol des Kampfes zwischen Realismus und Idealismus, Autorität und Forschung, zwingender Satzung und sittlicher Freiheit, Glauben und Wissen. Nur so kommen wir zum Verständniß des Ganzen, wenn wir auch nicht im Stande sind, das auf einzelnen Theilen dieses merkwürdigen Gedichtes liegende Dunkel aufzuklären. Der kirchengläubige Wolfram von Eschenbach steht dem hohen Meister der Wissenschaft Klingsor und dessen Freunde, dem als besten Sänger gepriesenen Ofterdingen, gegenüber. Ein fast gleichzeitiger Chronist führt den Meister aus Ungarn also auf: „ein behender Philosoph und ein wohl gelehrter Mann in weltlichen Künsten, sonderlich wohl erfahren in Astronomie und schwarzer Kunst.“ Und Ofterdingen, in welchem man den Dichter unseres herrlichen Nationalepos, des Nibelungenliedes, vermuthet, gilt uns als Vertreter der deutschen Dichtkunst an sich. Wolfram von Eschenbach tritt aber als Vertheidiger der heiligen Messe und des ganzen christlich-kirchlichen Mythus auf. Auf der einen Seite stehen also die Vertreter der Wissenschaft und Kunst (Poesie), auf der andern die der Satzung. Der Streit bleibt unentschieden und wird vertagt. Die Sänger vertragen sich, so gut es gehen will. Aber der Wartburgkrieg ist außerhalb der Wartburg fortgesetzt worden in Deutschland und überall, wo Geist und Gemüth, wenn sie zur Reife gediehen, gegen die apodiktischen Aussprüche der Kirchengewalt Front zu machen sich gedrungen fühlten. Der Streit hat sich in größeren Dimensionen fortgepflanzt und wird noch heute mit der alten Erbitterung geführt.
Nächst diesem Sängerkriege ist es vorzüglich noch eine Gestalt, an welche sich die Romantik der Wartburg knüpft – die Gestalt der heiligen Elisabeth, der Gemahlin des Landgrafen Ludwig. Die innige Liebe und die unerschütterliche Treue, welche die beiden jungen Gatten verbanden, die Frömmigkeit der Fürstin, ihre stillen Tugenden der Mildthätigkeit; wie sie für die Armen spann und sie kleidete; wie sie die Hungernden speiste, als Mißwachs im Lande Tausende zu Bettlern gemacht hatte; wie sie sich die härtesten Entbehrungen auferlegte, ja sich geißelte, um, nach der Auffassung der damaligen Zeit, Gott wohlgefällig zu sein; wie sie nach dem auf der Fahrt zum gelobten Lande in Italien erfolgten frühen Tode ihres Gemahls von ihrem Schwager, dem unedlen, eigensüchtigen Heinrich Raspe, von der Wartburg vertrieben wurde und mitten im Winter schutzlos im Lande umherzog; wie sie endlich in Marburg in Hessen ein Asyl fand und hier fromm starb, so wie sie gelebt hatte, um schon wenige Jahre nach ihrem Heimgange heilig gesprochen zu werden – das Alles ist dem deutschen Volke in vielen Geschichten, in gereimten und ungereimten, erzählt worden und hat jetzt bei der Wiederherstellung der Burg auch durch Künstlerhand mannigfache Verherrlichung gefunden.
Mit Elisabeth verblaßt die eigentliche Poesie der Wartburg; erst Friedrich der Gebissene oder der Freudige übergießt das alte Landgrafenschloß noch einmal, wenn auch nicht mit dichterischem Hauche, so doch mit dem Glanze ritterlicher Thatkraft.
Als der fünfundzwanzigjährige Markgraf Albrecht in der von seinem Vater Heinrich dem Erlauchten gemachten Ländertheilung Thüringen überkam und die Wartburg als Landgraf bezog (1265), war er bereits seit neun Jahren mit einer Tochter des Kaisers Friedrich des Zweiten vermählt und Vater von vier Kindern, unter welchen die Söhne Friedrich und Diezmann (Dietrich) [623] zu nennen sind. In unkeuscher Liebe zu einer Hofdame seiner Gemahlin, Kunigunde von Eisenberg, entbrannt, beschloß er in Gemeinschaft mit dieser, welche ihm einen Sohn Apitz geboren, die Landgräfin Margaretha durch einen Eselstreiber, der das frische Wasser auf die Wartburg zu holen hatte, um’s Leben bringen zu lassen. Doch der gedungene Mörder entdeckte der unglücklichen jungen Fürstin den Plan und floh mit ihr aus der Burg. Ehe sie in einem Korbe an der westlichen Mauer Nachts hinabgelassen wurde, biß sie beim verzweiflungsvoll zärtlichen Abschied von ihren Kindern den ältesten Sohn Friedrich in die Wange, wovon er nachher den Beinamen erhielt. Schon nach zwei Monaten beschloß die edle Kaiserstochter ihr kummervolles Leben als Nonne des Katharinenklosters zu Frankfurt am Main (1270), und der verbrecherische Landgraf heirathete seine Buhle und suchte deren Sohn Apitz das Erbe seiner Söhne erster Ehe zuzuwenden, welche bei ihrem Oheim Dietrich dem Weisen, Markgrafen von Meißen, erzogen wurden. Im Streit zwischen ihnen und dem unartigen Vater gerieth der junge Prinz Friedrich in schwere Gefangenschaft auf der Wartburg (1281), aus welcher er erst nach Jahr und Tag durch List entkam. Kaum war nun nach dem frühen Tode der Landgräfin Kunigunde ein Vergleich zwischen dem Vater und den Söhnen zu Stande gekommen, in welchem Friedrich die Pfalzgrafschaft Sachsen, Diezmann das Pleißner Land, das mütterliche Erbe, erhalten sollte, als durch das Bestreben des Landgrafen, seinem Sohne Apitz verschiedene Güter und Schlösser als Eigenthum zu übergeben, der Streit von Neuem ausbrach, in welchem die Söhne glücklicher waren, als früher. Denn Albrecht gerieth in die Gefangenschaft seines Sohnes Friedrich (1289), aus welcher ihn nur die Zustimmung zu der Bedingung, ferner nichts ohne den Willen seiner Söhne zu unternehmen, befreien konnte.
Nun verheirathete er sich mit Elisabeth, der Wittwe Otto’s von Arnshaug, geborenen Reußin von Plauen, in deren gleichnamige Tochter sich Friedrich später verliebte und sie von Arnshaug entführte, um sich mit ihr zu vermählen (1299). Der Tod des Markgrafen Dietrich des Weisen, Albrecht’s Bruders (1283), und der seines einzigen Sohnes Friedrich des Stammlers (1291) erledigte das Meißnerland, welches Friedrich und Diezmann in Besitz nahmen. Aber ihr Vater machte Ansprüche darauf, und so entstand ein neuer Streit, welchen Albrecht dadurch zu beseitigen hoffte, daß er Thüringen und wahrscheinlich auch Meißen an den deutschen König Adolph von Nassau zu verkaufen suchte, der verheerend in Thüringen einfiel und, von Friedrich und Diezmann mit wechselndem Glücke bekämpft, nach zwei Jahren ohne sichern Erfolg das Land wieder verlassen mußte (1297), so daß im folgenden Jahre, wo Adolf Krone und Leben verlor, Thüringen bis auf einige Städte (darunter Eisenach) wieder in der Gewalt der beiden Landgrafensöhne war.
Friedrich’s Stief- und Schwiegermutter brachte eine neue Aussöhnung zwischen dem Vater und den Söhnen zu Stande und Friedrich verweilte mit seiner jungen Gemahlin längere Zeit auf der Wartburg.
Der alte Groll zwischen dem landgräflichen Hause und der Stadt Eisenach, die immer noch am Enkel der heiligen Elisabeth hing, kam 1306 wieder zum offenen Ausbruch. Die Bürger, in der Hoffnung, reichsunmittelbar zu werden, wandten sich an den neuen König Albrecht mit der Bitte um Hülfe gegen die Landgrafensöhne, und der König, der seines Vorgängers Adolph Rechte auf Thüringen auf sich übergegangen erklärte, sprach über Friedrich und Diezmann, die seiner Einladung zu einem Reichstag in Fulda nicht nachgekommen waren, die Acht aus, zog gegen sie zu Felde und warf Kriegsvolk nach Eisenach. Landgraf Albrecht auf Wartburg stand auf Seite des Königs Albrecht und wider seine Söhne. Da führte Friedrich einen glücklichen kühnen Handstreich auf die Wartburg aus. Aus dem Versteck einer tiefen Felsenschlucht, die von dieser Begebenheit den Namen der Landgrafenschlucht erhalten hat, nahte er sich mit seinen Reisigen in der Nacht heimlich der Wartburg, erstieg sie, mit seiner Stief- und Schwiegermutter im Einverständniß, auf der Südseite und nahm seinen Vater ohne Widerstand der Besatzung abermals gefangen, der dann, von seiner Gemahlin bestimmt, am andern Tage die Wartburg räumte und seinen Wohnsitz in Erfurt nahm, wo er nach acht Jahren (1314) in ziemlich ärmlichen Umständen starb. Die Bürger sammt der königlichen Besatzung von Eisenach, über diesen unerwarteten Schlag auf’s Höchste erbittert, beschlossen, Alles aufzubieten, um den tapfern Fürsten aus der Bergveste zu vertreiben. Aber obgleich der König die vorzüglichern thüringischen Städte aufbot und die Belagerung der Burg sehr ernstlich betrieb, so vermochte er sie doch nicht einzunehmen.
In dieser Zeit des Drangsals genas Friedrich’s Gemahlin eines Töchterleins, und der fromme Vater beschloß, da kein Kleriker auf Wartburg war, das Kind auf Schloß Tenneberg vom Abt von Reinhardsbrunn taufen zu lassen. Mit zehn Helmen, die Amme mit dem Kinde in der Mitte, ritt er in der Nacht von Wartburg über den Goulanger durch den Sengelsbach, wo die Feinde seiner ansichtig wurden und ihn verfolgten. Während des scharfen Rittes schreit das Kind nach Nahrung und läßt sich nicht beschwichtigen. Da hält der Fürst sein Roß an mit dem Ausrufe: „Halt, Kumpane, das Kind muß trinken und sollte es das Thüringer Land kosten!“ Die drohende Stellung des reisigen Häufleins hielt den nahenden Feind zurück und das gesättigte Mägdlein wurde glücklich zur Taufe nach Tenneberg gebracht. Dies ist gewiß einer der schönsten Züge in einem bewegten Heldenleben.
Es gelang Friedrich, Hülfe an Mannschaft und Lebensmitteln aufzutreiben, und die Besatzung der Burg also ver- und gestärkt machte nun siegreiche Ausfälle, und als am 31. Mai 1307 der König bei Lucka von den Prinzen vollständig geschlagen wurde, bekam die Besatzung der Wartburg Luft. Friedrich’s Länderbesitz vergrößerte sich gleich darauf durch das Erbe seines Bruders Diezmann, welcher in der Christnacht vor dem Altar der Thomaskirche in Leipzig knieend ermordet worden war, worauf die thüringischen Großen, bis auf wenige Städte und Herren, dem Markgrafen Friedrich als ihrem rechtmäßigen Fürsten und Landgrafen huldigten. Diesem Beispiel folgte auch Eisenach, als König Albrecht am 1. Mai 1308 von seinem Neffen Johann von Oesterreich ermordet worden war. Landgraf Friedrich sagte den Eisenachern volle Verzeihung zu, und der neue König Heinrich der Siebente entsagte allen Ansprüchen auf Thüringen und belehnte den Landgrafen Friedrich mit der Landgrafschaft Thüringen und der Markgrafschaft Meißen. Und er war ein weiser, tapferer und gerechter Landesfürst, noch oft in kriegerische Händel verstrickt, aus welchen er jedoch stets mit Ehren hervorging. Im Jahre 1317 äscherte ein Blitzstrahl einige Hauptgebäude der Wartburg ein, die der Landgraf, wenn auch nicht so prächtig wie erst, wieder herstellen ließ.
Gegen sein Lebensende verfiel dieser ausgezeichnete Fürst in Tiefsinn und schweres Gebreste, veranlaßt durch ein geistliches Schauspiel, welches die Mönche des Predigerklosters (Dominikaner) mit ihren Schülern in der sogenannten Rolle, einem öffentlichen Gebäude in Eisenach, am Abende vor dem Sonntag Misericordias (großem Ablaßfeste) 1322 aufführten. Es war das Spiel von den zehn Jungfrauen nach dem Evangelium des zehnten Trinitatis-Sonntags, Matthäus 25, 1–13., in welchem die fünf Thörichten trotz der Fürbitte der heiligen Jungfrau Maria von Teufeln in den Höllenrachen geschleudert werden. Der Landgraf wurde über diesen Schluß zornig, von Zweifel erfüllt, erlitt einen Schlagfluß und brachte zwei und ein halbes Jahr auf dem Krankenlager in Trübsinn zu, bis er am 16. November 1324 seinen Leiden erlag. – Im Jahre 1440 fielen die Thüringer Länder an die beiden Söhne des ersten Kurfürsten aus dem Hause Wettin, Friedrich des Streitbaren, an Kurfürst Friedrich den Sanftmüthigen und Herzog Wilhelm den Dritten, den Tapfern. Der Letztere wurde Herr von Thüringen und residirte in Weimar.
Die Wartburg stand verlassen und ihr fürstlicher Glanz erlosch. Sie trug von nun an den Wittwenschleier.
Mit Luther’s Aufenthalt auf der Wartburg beginnt dieselbe ihre zweite Glanzperiode. Diese sowohl, wie ihre spätere Geschichte, ihre prachtvolle Wiedergeburt durch den Großherzog Karl Alexander von Weimar und ihre nationale Bedeutung auch für die Zukunft wird ein zweiter Artikel darlegen.
Vater und Kind. Wie ein Vaterherz gemartert werden kann, hat Menschenerfahrung und Menschendichtung in tausendfältiger Weise bis jetzt gezeigt. Sollte aber wohl je grausamer das Schicksal Herz und Seele eines Vaters zerdrückt haben, als wie es vor Kurzem bei folgendem Schiffsunglück auf der Elbe geschehen ist? Ein Jollenführer aus einer hannöverschen Elbmarsch nimmt auf seine Fahrt von einer Elbstation zu einer einige Meilen entfernten andern seinen siebenjährigen Knaben, an dem er seine Freude hat, mit sich auf’s Schiff. „Nu will ik em wegbringen,“ sagt er scherzend zu einigen ihm auf dem Wege von seinem Hause zum Ufer der Elbe Begegnenden. Das Kind muß indeß, da widriger Wind weht und lavirt werden muß, auf der Fahrt meistens in der kleinen Cajüte der Jolle sitzen. Ein solch’ kleines Flußschiff hat in der niedrigen Diminutivcajüte nach der Hinterseite allerdings zwei Fenster, jedes ist aber kaum einen Quadratfuß groß. Dem Kinde dauert die Zeit in diesem engen Raume lang, doch ist bald die Fahrt vollendet. „Eenmol leggt wi noch üm,“ sagt der Schiffer zum Söhnchen in die Cajüte hinein, „dann kummst Du mit an’t Land.“ Dieses „Umlegen“ beim Laviren besteht darin, daß plötzlich eine fast entgegengesetzte Richtung beim Quersegeln angenommen wird. Die größte Genauigkeit im Handhaben des Segels und des Steuerruders ist dabei erforderlich. Also noch einmal „umlegen“, aber ein Windstoß oder sonst ein Zufall wirft die Jolle um, so daß sie Wasser faßt, und der Schiffer nebst seinem Knechte in die Elbe geschleudert wird. Ersterer sinkt unter das Schiff, kommt aber nach einiger Zeit wieder hervor; der Knecht hat indeß glücklicher Weise das kleine mitgeführte Boot erhascht und bestiegen und nimmt seinen Herrn auf. Die Jolle liegt zur Seite und füllt sich immer mehr mit Wasser. Und das Kind? – Es ist in der Cajüte dem Tode verfallen; denn die niedrig im Schiffe liegende Cajütenthür ist wie der daran stoßende Schiffsraum schon mit Wasser gefüllt. Von dieser Seite aus also keine Rettung.
Jetzt beginnt nun der schaudererregende, erschütternde letzte Act. Das Kind hält seinen Kopf und Oberkörper, irgendwie in der schiefliegenden Cajüte noch sich fest klammernd, über Wasser. „Vatter, help’ mi!“ hört der Unselige in seinem Boote sein Kind rufen. Er legt sich mit dem Boote hinter das Schiff unmittelbar vor die kleinen Cajütenfenster. Das Wasser steigt, er sieht ein Kind, er streckt durch ein Fenster den Arm zu ihm hinein – vergebens, das Fenster ist viel zu eng schon für den Kopf des Kindes. Die Oeffnung erweitert, und das Kind wäre gerettet. Eine Axt, eine Axt! oder ein Hammer noch so schwer! Die Angst hätte Kraft zur Zertrümmerung des festen Holzes beim Fenster gegeben. Aber nichts ist da als die unbewehrte Faust. Der Vater schlägt sich die Fäuste blutig, er fühlt es nicht, aber es hilft auch nicht – immer wieder ruft das Kind, ohnmächtig fallen von außen die Fauststreiche gegen die eichenen Schiffsbohlen. Keine Hülfe vom Ufer oder von einem andern Schiffe! Dem letzten Angstschrei des sterbenden Kindes folgt die geistige und körperliche Erschöpfung des unglücklichen Vaters.
Ja, er hat das Kind nun weggebracht auf Nimmerwiederkehr! Das Bild aber des Todes seines Kindes vor seinen Augen, seiner Ohnmacht zu helfen steht ihm für immer fest im Sinn. Der würdige Geistliche, dem diese Mittheilung verdankt wird, erzählte, er sei hingegangen nach dem Hause des Schmerzes, um zu trösten. Eine schwere Aufgabe! Die Mutter hatte nicht einmal die schreckliche Weise des Todes ihres Kindes erfahren, aber sie weinte, weinte viel Thränen – der Vater saß thränenlos, meistens stumm vor sich hinbrütend, nur dann und wann preßte es sich aus seiner Brust in den weichen Lauten der hiesigen plattdeutschen Mundart: „Ik kunn di jo nich helpen, mien lütt Hannes, ik kunn jo nich!“
Aufopfernde Freundschaft eines Hundes. Das Michigan Journal enthält folgende ansprechende Mittheilung: In der vorigen Woche ereignete sich in der Nähe von Fort Wayne ein Vorfall, der seiner Seltenheit wegen wohl verdient, veröffentlicht zu werden. An der River Road, dem Fort gegenüber, wohnt der Musicus John Müller, ein ehemaliges Mitglied der Bande des vierten Infanterie-Regiments. Derselbe besitzt eine kleine Pinscher-Hündin, die er im Hintertheile des Hauses angebunden hatte. Das Thierchen riß sich los, sprang mit seinem Strick durch’s Fenster und lief davon. Da jedoch das Hündchen des Abends nicht zurückkam, so dachte Müller, es sei aufgefangen und getödtet worden. Zwei Häuser von Müller entfernt wohnt ein Schmied, Namens Wilhelm Bohne; dieser besitzt ebenfalls einen Hund von derselben Race. Man bemerkte mehrere Tage, daß dieser Hund Alles, was er von Eßwaaren bekam, statt es zu verzehren, nach dem Walde trug. Der Hund lief sogar in ein Nachbarhaus und gab durch übertriebenes Wedeln zu verstehen, daß er etwas wünschte. Die Bewohnerin des Hauses sagte zu dem Hunde: „Jack, ich habe nichts für dich wie trockenes Brod,“ und indem sie es dem Hunde hinreichte, fuhr dieser in der größten Hast darnach, lief aus dem Hause und dem Walde zu. Dies sonderbare Benehmen erregte Aufmerksamkeit, und man besprach sich, das nächste Mal dem Hund zu folgen. Am nächsten Tage, als der Hund seine Ration bekam, lief er wieder dem Walde zu, und Frau Bohne, sowie Müller’s Knaben folgten ihm, und zwar eine große Strecke. Da sie in den Wald kamen, fanden sie Müller’s kleine Hündin mit dem Strick im Gebüsch dermaßen verwickelt, daß sie nicht loskommen konnte, und der treue Jack hatte sie vier Tage lang mit Aufopferung seiner eigenen Rationen gefüttert, denn als Müller’s Hündchen gefunden wurde, war es dick und fett, der arme Jack jedoch war so abgemagert, daß man die Rippen sehen konnte.
Zwei Erfinder. Es ist eine ziemlich gewöhnliche Erscheinung, daß schon die Väter großer Männer sich in ihren Kreisen durch eine hervorragende Thatkraft und Geistesklarheit auszeichneten. Der Vater des berühmten Erfinders der Monitoren und calorischen Maschinen, Ericson, war ein gewöhnlicher Grubenarbeiter in den vermländischen Eisenbergwerken. Seine Mitarbeiter schätzten ihn nicht nur als einen biedern Collegen, sondern er behauptete auch, vermöge seines gesunden Menschenverstandes, eine gewisse Suprematie unter ihnen. In der Grube, worin er beschäftigt war, hatten sich im Laufe der Zeit derartige Eismassen angehäuft, daß die weitere Förderung von Erzen ernstlich in Frage gestellt wurde. Lange hatten schon die Bergbeamten über die Hebung dieser Calamität gesonnen und stets vergeblich experimentirt. Angemachte Feuer, deren Unterhaltung wegen der engen Tagesöffnungen schwierig war, vermochten nichts gegen die fortschreitende Vereisung. Eines Tages (es war in der heißesten Sommerzeit) meldet sich unser Ericson auf dem Comptoir und macht sich anheischig, gegen Ueberlassung eines Haufens todter Erze die Grube in wenigen Wochen vom Eise zu reinigen. Zwar schüttelte man zu diesem Anerbieten ungläubig den Kopf; indessen die Bedingung betraf ein anscheinend so werthloses Object, daß man ihm keine weiteren Hindernisse in den Weg legen mochte. Ericson construirte jetzt mehrere Blasebälge, setzte sie durch Pferdekraft in Bewegung und ließ unaufhörlich von der warmen Tagesluft in die Grube strömen. In Zeit von wenigen Wochen war dieselbe eisfrei. Das Ei des Columbus lag vor den beschämten Beamten und jeder betrachtete die Sache so naheliegend, daß man dem einfachen Arbeiter nicht nur die gebührende Anerkennung versagte, sondern ihm sogar den Preis seiner Mühewaltungen streitig machte. Es hatte sich nämlich herausgestellt, daß die anscheinend werthlosen Steinmassen noch einen bedeutenden Procentgehalt an Metallen enthielten. Da Ericson nichts schriftlich abgemacht hatte, negirte man, auf echt schwedische Weise, einfach das gegebene Versprechen, und das Verdienst ging, wie so oft, auch hier leer aus.
Mit dieser Nummer schließt das dritte Quartal. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Wir halten es für überflüssig, abermals die Namen unserer Mitarbeiter aufzuführen; es sind nach wie vor die bewährten und unsern Lesern liebgewordenen, viele der ersten Schriftsteller und Schriftstellerinnen Deutschlands. Auch aus der reichen Zahl von Beiträgen, die uns wiederum eingingen, seien nur einige genannt, welche im Laufe der nächsten Monate zur Veröffentlichung gelangen werden:
Ein Wort. Novelle von Levin Schücking. – Das Mädchen von Liebenstein. Eine wahre Geschichte von Friedrich Bodenstedt. – In sengender Gluth. Erzählung von F. L. Reimar. – Das Glockengrab im Kaiserdom. Mit Illustration. – Ein Besuch bei Justus Liebig. Von Erwin Forster. – Damenpromenade in Kairo. Mit Illustration von W. Gentz. – In den Spandauer Geschützwerkstätten. Von einem preußischen Officier. – Pius der Neunte auf der Spazierfahrt. Mit Illustration. – Neue Enthüllungen über die eiserne Maske. – Das Londoner Unterrocksgäßchen. Mit Abbildung. – Ein Naturforscher des deutschen Rumpfparlaments. Mit Portrait. – Die Wunder der Coulissenwelt. – Eine Locke des Königs von Rom. Von George Hiltl. – Die Erziehung des Hundes. Von Karl und Adolph Müller. – Ein Schutzengel der Damen. – Erinnerungen an Heinrich Heine. Von Arnold Ruge. – Europa’s natürliche Heizung. Von Professor Dr. H. E. Richter. – Erinnerungen aus dem letzten deutschen Kriege: Vier Stunden in Reserve bei Königgrätz. – Zur Physiognomik der Nase. Mit vielen Abbildungen. – Die Enthüllung des Davenport’schen Wunderschrankes. Mit Illustration. – Außerdem werden die Schlußartikel von „Bei dem Locomotivenkönig“ und „Die Wartburg“ von Ludwig Storch, beide mit großen Abbildungen, erfolgen.
Leipzig, im September 1867.
Inhalt: Der Habermeister. Ein Volksbild aus den bairischen Bergen. Von Herman Schmid. (Fortsetzung,) – Elfenwirthschaft. Von Rudolph Löwenstein, illustrirt von Theodor Hosemann. – Luther auf der Wartburg. Nach ungedruckten Aufzeichnungen über Luther’s Gefangennehmung. Von Dr. Pollack in Waltershausen. – Ein gräflicher Methusalem. Von Ludwig Kalisch. – Die Wartburg. Ein Beglückwünschungsblatt zu ihrer achten Säcularfeier. Von Ludwig Storch. I. – Blätter und Blüthen: Vater und Kind. – Aufopfernde Freundschaft eines Hundes. – Zwei Erfinder.