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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[129] No. 9.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Goldelse.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Ueber die Stirn der Baronin flammte es abermals dunkelroth. Aber sie bezwang sich. „Mein Gott!“ rief sie, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, „da habe ich über der dummen Geschichte ganz und gar vergessen, zu sagen, daß Emil von Odenberg herübergekommen ist. Er war zu Pferd, ist sehr naß geworden und wechselt gegenwärtig seinen Anzug… Darf er seine Auswartung machen?“

Eine hohe Gluth flog über Helenens Wangen, und aus ihren Augen brach ein leuchtender Strahl des Glückes. Allein sie sagte kein Wort, sondern senkte das Gesicht tief herab, um die Zeichen ihrer inneren Erregung zu verbergen.

„Gewiß,“ erwiderte Herr von Walde. „Beabsichtigt er, länger hier zu bleiben?“

„Einige Tage, wenn Du es erlaubst.“

„Ganz recht… Nun, wir werden ihn ja bei Dir sehen, wenn wir zum Kaffee kommen.“

„Er wird sehr glücklich sein… Wenn es übrigens gefällig ist, so kann die Uebersiedelung sogleich vor sich gehen; denn meine Kammerfrau meldete mir, als ich aus dem Wagen stieg, daß Alles zum Empfang meiner lieben Gäste bereit sei.“

Hier erhob sich Elisabeth und rüstete sich zum Fortgehen. Herr von Walde, der dies bemerkte, richtete einen fragenden Blick auf die Baronin. Ohne Zweifel erwartete er, daß sie das junge Mädchen auffordern würde, mitzukommen; die Dame fand jedoch in diesem Augenblick, daß der Gärtner den Blumentisch im Fenster diesmal doch zu reizend arrangirt habe, und vertiefte sich förmlich im Anschauen einer Gruppe Azaleen, wobei sie dem jungen Mädchen den Rücken zukehrte.

Elisabeth verabschiedete sich mit einer tiefen Verbeugung, nachdem Helene ihr mit unsicherer Stimme, aber in herzlicher Weise gedankt hatte. Draußen im Corridor kam ihr Herr von Hollfeld entgegen. Bei ihrem Anblick verdoppelte er seine Schritte; zugleich fuhr sein Blick wie ein Blitz nach allen Seiten hin, als wolle er sich versichern, daß kein Lauscher in der Nähe sei. Ehe sie sich dessen versah, hatte er Elisabeth’s Hand erfaßt, drückte einen glühenden Kuß auf dieselbe und flüsterte: „Wie glücklich bin ich, Sie wiederzusehen!“

Elisabeth’s Betroffenheit war so groß, daß sie im ersten Augenblick keine Worte finden konnte. Sie zog aber schnell, als sei sie gestochen worden, ihre Hand zurück, und er schien sehr damit einverstanden zu sein; denn Helenens Zimmer wurde in dem Augenblick geöffnet, und Herr von Walde trat heraus. Hollfeld nahm, als sähe er erst in diesem Augenblick Elisabeth, den Hut leicht vor ihr ab, wobei seine Züge wieder einen völlig fremden Ausdruck hatten, und ging seinem Verwandten entgegen.

Elisabeth war außer sich über diese Komödie. Zuerst die empörende Vertraulichkeit, die ihr das Blut wallen machte vor Entrüstung, und dann die Verleugnung derselben vor dritten Personen. Ihr Mädchenstolz war tief verwundet. Sie schalt sich, ihn nicht auf der Stelle hart angelassen und seine Dreistigkeit gerügt zu haben. Eine helle Röthe stieg ihr in das Gesicht aus Scham darüber, daß ein Mann in der Weise sie berührt hatte … es war ihr, als brenne die Stelle noch, auf der die heißen Lippen geruht; sie ließ eilends den Strahl einer Fontaine im Park über ihre Hand sprühen, um den vermeintlichen Flecken wegzuspülen.

In großer Aufregung kam sie nach Hause und klagte der Mutter unter Thränen des Unwillens die ihr widerfahrene Beleidigung. Frau Ferber war sehr verständig und besaß einen ruhigen, klaren Blick. Sie erkannte sofort aus Elisabeth’s Entrüstung, daß hier nicht die mindeste Gefahr für das Herz ihres Kindes zu befürchten sei, und war beruhigt. Aeußere Anfechtung ließ sich abwehren, nicht aber der Jammer, den eine unglückliche Neigung heraufbeschwört.


9.

Am andern Nachmittag war Elisabeth eben im Begriff mit dem Nähkorb in den Garten zu gehen, als am Mauerpförtchen geläutet wurde.

Im Hinblick auf die gestrige Scene war ihre Verwunderung wohl sehr begründet, als sie beim Oeffnen der Thür Bella vor sich sah. Hinter der Kleinen standen Miß Mertens und der Herr, mit dem sie neulich Abends die Begegnung gehabt hatte. Bella reichte ihr beim Eintritt sogleich die Hand, machte aber ein scheues, verlegenes Gesicht und sagte kein Wort. Elisabeth errieth jetzt, sehr erstaunt, den Grund ihres Kommens und suchte ihr über das Peinliche der Situation hinwegzuhelfen, indem sie ihre Freude aussprach, die Kleine in ihrem Heim begrüßen zu können, und sie aufforderte, mit in den Garten zu kommen. Allein Miß Mertens trat vor.

„Machen Sie es Bella nicht so leicht, Fräulein Ferber,“ sagte sie. „Es ist ihr ausdrücklich anbefohlen worden, Ihnen der gestrigen Unart wegen Abbitte zu thun … ich muß darauf bestehen, daß sie spricht.“

Diese mit großer Bestimmtheit gesprochenen Worte, mehr [130] aber vielleicht noch das schützende Dunkel der Halle, in welche sie an Elisabeth’s Hand eingetreten war, lösten endlich Bella’s Zunge. Sie bat leise um Verzeihung und versicherte, nie wieder so unartig sein zu wollen.

„Na, das wäre ja glücklich überstanden!“ rief der Herr, indem er sich an Miß Mertens’ Seite stellte und Elisabeth nun schelmisch lächelnd eine tiefe Verbeugung machte.

„Es mag Ihnen vielleicht sehr ungewöhnlich erscheinen,“ begann er, „daß ich, als nicht dazu gehörig, mich dieser Deputation in Sühne- und Ausgleichungssachen anschließe; allein ich bin der Ansicht, bei einem Act der Versöhnung sei man meist geneigt, ein Auge zuzudrücken und dies scheint mir ganz der geeignete Moment für einen Fremdling, sich einzuschmuggeln… Ich heiße Ernst Reinhard, bin Reisebegleiter und Secretär des Herrn von Walde und kenne seit acht Tagen kein sehnlicheres Verlangen als die interessante Familie im Schloß Gnadeck kennen zu lernen.“

Elisabeth reichte ihm freundlich die Hand. „Die alten Mauern haben bereits die Unthaten des Raubritterthums mit angesehen,“ entgegnete sie, „wir haben deshalb ganz und gar keine Ursache, die Schmuggelei zu verurtheilen… Sie werden meinen Eltern gewiß herzlich willkommen sein.“

Sie schritt voran und stieß die hohe Eichenthür auf, die nach dem Garten führte. Herr Reinhard und Miß Mertens blieben einen Augenblick überrascht stehen.

„Ist das ein reizendes, sonniges Fleckchen Abgeschiedenheit!“ rief Ersterer. „Wer sucht wohl, wenn er draußen vor den unheimlichen Mauern steht, dies junge, frische Herz hinter der alten, verwitterten Physiognomie!“

Die Eltern und der Onkel, die mit dem kleinen Ernst unter den Linden saßen, hatten sich beim Erblicken der Eintretenden erhoben und gingen ihnen entgegen. Elisabeth stellte gegenseitig vor und verschwand dann wieder im Haus, um auf den Wink der Mutter einige Erfrischungen für die Gäste zu besorgen. Als sie zurückkam, hatte Bella bereits Mantille und Sonnenschirm abgelegt. Sie saß mit strahlendem Gesicht auf einer Schaukel, die der Vater zwischen zwei Bäumen aufgehangen hatte. Ernst schaukelte sie und schien nicht wenig stolz auf seine neue Spielgefährtin zu sein.

„Wahrhaftig,“ sagte Reinhard, indem er auf Bella zeigte, die eben jubelnd hoch durch die Luft flog, „wer die Kleine heute Morgen gesehen hat, mit welch unkindlicher Haltung sie in Herrn von Walde’s Zimmer trat, ihn um Verzeihung zu bitten wegen der gestrigen Ungezogenheit, und wie sie zornig und trotzig zu ihm aufsah, als er ihr erklärte, daß er sie nicht eher wiedersehen wolle, als bis sie Fräulein Ferber persönlich um Verzeihung gebeten habe“ – hier wurde Elisabeth purpurroth, und beschäftigte sich eilends und angelegentlichst mit zwei großen Honigbroden, die sie für Bella und Ernst strich – „der erkennt sie schwerlich wieder dort in dem kleinen Ding, das die ganze harmlose Kinderfröhlichkeit im Gesicht trägt.“

Es war eine genußreiche Stunde, die nun folgte. Miß Mertens zeigte sich als sehr unterrichtet und gebildet, und Reinhard erzählte in höchst anziehender Weise von seinen Reisen und Forschungen.

„An die Heimkehr wäre wahrscheinlicherweise noch sehr lange nicht gedacht worden,“ schloß er eine interessante Reihenfolge von Mittheilungen über Spanien, „allein verschiedene sehr ungünstige Nachrichten aus Thüringen, die nacheinander einliefen, bewogen Herrn von Walde, einen Riß durch einen kaum entworfenen neuen Reiseplan zu machen … Dem Herrschsüchtigen passirt es eben manchmal, daß ihn die Begier blind macht … der unvorsichtig ausgesprochene Wunsch aus zarter, weiblicher Feder: Herr von Walde möge doch den guten, aber nun altersschwachen Ortsgeistlichen in Lindhof pensioniren, weil er stumpf und nicht mehr fähig sei, die Gemüther zu erbauen, setzte jenen unliebsamen Nachrichten die Krone auf und war die Veranlassung, daß sofort die Rückreise angetreten wurde. … Als wir spät Abends, in der Nähe von Lindhof Wagen und Chaussee verlassend, das letzte Stückchen Weg durch den Wald zu Fuße zurücklegten, stießen wir noch auf ein allerliebstes Abenteuer … ‚Merkwürdig, sehen Sie doch, Reinhard, für was halten Sie den Schimmer da droben auf dem alten Gnadeck?‘ fragte Herr von Walde. ‚Für ein Licht‘, war meine Antwort. ‚Das müssen wir näher untersuchen,‘ meinte er, und stieg aufwärts. Der Punkt wurde immer größer und ergab sich zuletzt zu unserem Erstaunen als zwei hohe hellerleuchtete Fenster. … Da trippelt es hinter uns leicht den Berg herauf, es flattert weiß durch die Büsche, und plötzlich schwebt ein Etwas auf die mondbeglänzte Lichtung, das ich für ein höheres Wesen halte … Ich bin der Beherztere, trete näher, immer fürchtend, die Lichtgestalt werde vor dem Hauch meines Mundes zerfließen – wehe, da öffnen sich die Lippen und erzählen von zwei gutgearteten Ziegen und einem allerliebsten Kanarienvogel.“

Ein allgemeines Gelächter folgte dieser Schilderung.

„Als wir den Berg wieder hinabstiegen,“ fuhr Reinhard fort, „sprach mein Herr keine Sylbe; allein gewisse Anzeichen lassen mich fürchten, daß ich damals nicht von Ihnen allein ausgelacht worden bin … Es wäre wahrlich nicht vom Uebel gewesen, wenn Sie uns als gute Fee begleitet hätten; aber aller Mondesglanz, alle Lieblichkeit blieben droben auf dem Bergrücken, während wir hinunter in den dunklen Thalschooß wandern mußten, wo eine dumpfe Schwüle brütete und wo uns Niemand, nicht einmal ein erwachendes Lüftchen, ein Willkommen in der Heimath entgegentrug … In Schloß Lindhof flogen zahllose Lichter eilig wie Irrwische an den Fenstern vorüber. Der Wagen mit dem Gepäck war vor uns eingetroffen und mußte mit seinem Rädergeroll eine ähnliche Wirkung hervorgebracht haben, wie man dem Donner beim jüngsten Gericht dereinst zuschreibt, denn es herrschte eine solche Aufregung in dem Hause, als wir eintraten, daß ich am liebsten meine Schritte wieder hinweggelenkt und mein müdes Haupt unter den ersten, besten, stilldunklen Busch gebettet hätte.“

„Na, es ist gut, daß wenigstens bei uns endlich Einer kam, der Kraft und Manneswillen genug hatte, zu gebieten: Bis hierher und nicht weiter! … Tausend noch einmal, das kam dahergebraust wie eine Sündfluth!“ sagte der Oberförster.

„Herr von Walde besitzt aber auch eine Energie, eine moralische Kraft wie selten ein Mensch,“ erwiderte Muß Mertens lebhaft. „Er hat einen verschlossenen Mund, doch, einen offenen Blick, und vor diesem Blick erschrickt die Angeberei, und Bosheit und Heuchelei verlieren Muth und Larve.“

Mittlerweile hatte Reinhard das Gemäuer des alten verfallenen Schloßflügels aufmerksam betrachtet, der nach Süden hin den Garten begrenzte. Es war ein höchst unregelmäßiger Bau. Drei ungeheure Spitzbogenfenster von tadelloser Form erhoben sich ungefähr sechs Fuß über dem Boden und stiegen durch zwei Stockwerke in die Höhe. Dicht neben ihnen trat eine Art Erker weit in den Garten herein und bildete eine tiefe Ecke; eine mächtige Steineiche erhob sich zwischen den zwei Mauern und streckte einzelne Aeste durch die zwei nächsten, scheibenlosen Fenster in den kühlen, luftigen Raum hinein, der einst die Schloßcapelle vorgestellt hatte und den man auf eine bedeutende Zuhörerschaft berechnet haben mußte, denn er nahm die ganze Tiefe des Flügels in Anspruch. Den genannten Fenstern lagen drei ganz gleiche gegenüber; sie waren Sturm und Wetter weniger preisgegeben und hatten oben in den feingemeißelten Steinrosetten einige bunte Glasstückchen bewahrt. Hinter ihnen erschien der düstere Hof mit seinen zusammensinkenden, gespenstigen Mauern, wie ein in Grau gemaltes Bild. Die Gartenseite des Flügels sah buntscheckig genug aus. Die schrankenloseste Willkür hatte Fenster und Zierrathen von allen Sorten zusammengewürfelt; diesem Aeußeren nach mußte das große Gebäude ein wahres Labyrinth von Gemächern, Gängen und Treppen in sich schließen. Der Erker war es zumeist, der den Bau gefahrdrohend erscheinen ließ. Er neigte sich bedenklich seitwärts und schien auf den Moment zu lauern, wo er das blühende Leben der Eiche unter seinen Steinmassen begraben würde. Er hatte sich übrigens kokett einen lebensfrischen Mantel über seine gebrechlichen Glieder gebreitet, ein undurchdringliches Epheugespinnst umwob ihn vom Boden bis zu dem zerklüfteten Dachstuhl und ließ weder Fenster noch Risse und Sprünge in dem Mauerwerk sehen. Einzelne Ranken waren hinter der Eiche vorüber geschlüpft, sie kletterten an den gelockerten Mauersteinen der Hauptfronte in die Höhe und umarmten keck die allerorten angebrachten Steinwappen, die grämlich genug unter dem aufgedrungenen Schmuck hervorsahen.

„Ich habe,“ sagte Ferber, „bald nach meiner Hierherkunft gerade diesen Flügel, so weit es möglich, zu durchforschen gesucht, denn er interessirt mich seiner eigenthümlichen Bauart wegen; allein ich kam nicht weiter, als in die Capelle, und auch hier erschien mir das Verweilen gefährlich. Sie sehen, das ganze obere Stockwerk [131] ist eingestürzt; die Wucht der Trümmer hat den Plafond der kleinen Kirche tief niedergesenkt, so daß man meint, er müsse bei der leisesten Luftschwingung herniederstürzen. Der Erker ist erst in den letzten Wochen so hinfällig geworden, und zwar in Folge mehrerer Gewitterstürme. Er muß entfernt werden, weil uns sonst ein Theil des Gartens unzugänglich bleibt. Hätte ich Arbeiter bekommen können, so wäre er schon abgetragen.“

Nach dieser Schilderung verspürte Reinhard, wie er sich ausdrückte, weiter keinen Appetit, in den Ruinen umherzuwandeln. Desto mehr interessirte ihn aber der Zwischenbau, und auf diese Aeußerung hin erhob sich Ferber, um seinen Gästen die Wohnung zu zeigen. Zuerst aber wurde der hinter ihnen liegende Damm bestiegen. Ferber war sehr geschickt und thätig, er benutzte jede freie Stunde zur Verschönerung seines neuen Besitzthums. Die Stufen, die auf die Höhe des Dammes führten, hatte er eigenhändig ausgebessert, sie hoben sich jetzt weiß und glatt von der geschorenen Rasendecke ab, welche duftig grün die Schrägseite des Erdaufwurfes bedeckte. Droben das ziemlich breite Plateau war mit frischem Kies bestreut, und in der Mitte desselben, dicht vor dem Gezweig der Linden, die sich unten über dem Bassin wölbten, stand eine Gruppe selbstgezimmerter weißer Gartenmöbel.

Man ging in das Haus. Oben an der Treppe kam Bella auf Miß Mertens zugelaufen; sie hatte in der einen Hand verschiedene Bilderbücher und mit der anderen zog sie ihre Gouvernante in Elisabeth’s Zimmer.

„Denken Sie sich, Miß Mertens, hier oben sieht man doch unser Schloß!“ rief sie. Der Begriff vom Eigenthumsrecht in dieser Richtung hin saß fest in ihrem Köpfchen; kein Wunder, die Art und Weise, wie die Mama das Scepter bisher geführt hatte, ließen ja selbst die Erwachsenen nicht im Zweifel, daß sie sich als die unumschränkte Herrin in Lindhof ansehe. „Sehen Sie dort unten den Weg?“ fuhr Bella lebhaft fort, „da ist eben Onkel Rudolph vorübergeritten. Er hat mich erkannt und mir mit der Hand zugewinkt, die Mama wird froh sein, daß er wieder gut mit mir ist.“

Miß Mertens ermahnte sie, nun aber auch hübsch artig zu bleiben, jetzt aber Hut und Mantel zu holen, denn es sei Zeit aufzubrechen.

Elisabeth und Ernst begleiteten sie bis in den Park.

„Wir haben uns zu lange aufgehalten,“ bemerkte Miß Mertens mit besorgtem Gesicht, als sie am Mauerpförtchen von Ferbers Abschied genommen hatte und heraus auf die Waldblöße trat. „Ich mache mich für heute noch auf Sturm und böses Wetter gefaßt.“

„Sie meinen, die Baronin werde ungehalten sein über Ihr langes Ausbleiben?“

„Ohne Zweifel.“

„Nun, lassen Sie sich dies trotz alledem nicht reuen .… Wir haben jedenfalls einen reizenden Nachmittag verlebt,“ meinte Reinhard heiter.

Die Kinder waren Hand in Hand vorausgegangen und verschwanden hie und da seitwärts im Gebüsch, um Blumen zu suchen. Hector, der seinem Herrn untreu geworden war und sich der Gesellschaft angeschlossen hatte, sprang lustig mit ihnen hin und her, wobei er jedoch nicht unterließ, dann und wann zu Elisabeth – der Dame seines Herzens, wie der Onkel immer sagte – zurückzukehren, um sich den Kopf streicheln zu lassen.

Plötzlich stutzte er und blieb mitten im Wege stehen. Man war bereits in der Nähe des Parkes; durch das Gebüsch schimmerte das leuchtende Grün der Rasenflächen herauf und das Plätschern der nächsten Fontaine wurde hörbar. Hector hatte etwas entdeckt und das war eine weibliche Gestalt, die mit hastigen Schritten den Hinabwandelnden entgegenkam. Elisabeth erkannte sie sogleich als die stumme Bertha, obgleich ihr die ganze Erscheinung merkwürdig verändert erschien.

Das junge Mädchen mußte keine Ahnung von der Nähe Anderer haben, denn sie gesticulirte im Weiterschreiten heftig mit den Armen; eine dunkle Röthe bedeckte ihre Wangen, die Augenbrauen waren wie im tiefsten Seelenschmerz zusammengezogen, und die Lippen bewegten sich im leisen Selbstgespräch. Das weiße, blumengeschmückte Hütchen war von den Flechten herabgesunken und hing mittels der Bänder am Halse, infolge der heftigen Bewegungen jedoch lösten sich auch diese und es fiel auf den Boden, ohne daß die Eigenthümerin es bemerkte.

Sie lief vorwärts, und erst in dem Augenblick, als sie dicht vor Elisabeth stand, schlug sie die Augen auf. Entsetzt, als habe sie auf eine Natter getreten, fuhr sie zurück. In dem Moment aber auch verwandelte sich ihr schmerzlicher Gesichtsausdruck in den der tiefsten Erbitterung. Ihre Augen sprühten Haß, die Hände ballten sich krampfhaft, während ein zischender Laut über ihre Lippen glitt, es sah aus, als wolle sie sich wüthend auf das junge Mädchen stürzen … Reinhard stand sofort neben Elisabeth und zog sie einen Schritt zurück. Als Bertha ihn erblickte, stieß sie einen leisen Schrei aus und rannte blindlings in das Gebüsch, durch welches sie sich gewaltsam Bahn brach, obgleich ihre Kleider an den Dornen hängen blieben und niederhängende Aeste gegen ihre Stirne schlugen … in wenig Augenblicken war sie im Dickicht verschwunden.

„Das war ja die Bertha aus dem Forsthause!?“ rief Miß Mertens erstaunt. „Was muß ihr geschehen sein?“

„Ja, was mag vorgefallen sein?“ wiederholte Reinhard. „Die junge Person war in einer furchtbaren Aufregung, schien aber erst in die höchste Wuth zu gerathen bei Ihrem Anblick,“ wandte er sich an Elisabeth. „Sie ist Ihnen verwandt?“

„Eigentlich nicht,“ entgegnete das junge Mädchen, „denn sie steht nicht einmal meinem Onkel in dieser Beziehung sehr nahe. Ebensowenig ist sie mir bekannt. Sie hat meine Nähe vom Anfang an consequent gemieden, obgleich ich einen freundschaftlichen Verkehr mit ihr eine Zeit lang sehr gewünscht habe … Es ist klar, daß sie mich haßt, aber ich weiß nicht, weshalb; das müßte mich eigentlich betrüben, allein ihr Charakter gefällt mir zu wenig, als daß ich einen besonderen Werth auf ihre Gesinnung gegen mich legen möchte.“

„Zum Henker auch, Kindchen, da ist nicht allein mehr von Gesinnung die Rede! … Die kleine Furie hätte Sie am liebsten mit den Zähnen zerrissen.“

„Ich fürchte mich nicht vor ihr,“ erwiderte Elisabeth lächelnd.

„Nun, ich möchte Ihnen doch zur Vorsicht rathen,“ meinte Miß Mertens. „Die kleine Person hat etwas Dämonisches in ihrer Erscheinung … wo mochte sie nur herkommen?“

„Allem Anschein nach aus dem Schlosse,“ bemerkte Elisabeth, indem sie Bertha’s Hut aufhob und einige dürre Blätter und Moose von den Klatschrosen abstreifte.

„Das glaube ich nicht,“ entgegnete Miß Mertens. „Seit sie stumm ist, hat sie merkwürdiger Weise auch ihre Besuche in Lindhof eingestellt … Sie war früher täglich im Schlosse, wohnte den Bibelstunden bei und hatte bei der Baronin einen großen Stein im Bret. … Das Alles hat plötzlich ein Ende genommen, ohne daß irgend Jemand sagen kann, weshalb. Nur dann und wann habe ich sie auf meinen einsamen Spaziergängen durch den Park schlüpfen sehen, flink wie eine Schlange, und für mich ebenso unheimlich wie alle Reptilien.“

Die Sprechenden hatten bereits den ersten mit Kies bestreuten Parkpfad betreten, es war Zeit zum Abschied, der von Besuchern und Besuchten auf das Herzlichste genommen wurde.

„Höre, Else,“ sagte Ernst, als die andern Drei hinter dem nächsten Bosquet verschwunden waren, „wir wollen doch einmal sehen, wer von uns Beiden zuerst dort an der Ecke sein wird.“ Diese Ecke war die Mündung eines schmalen Waldweges, der sich an dem Fuß des Berges hinzog.

„Gut, mein Junge!“ lachte Elisabeth und begann zu laufen. Anfangs hielt sie Schritt mit den Beinchen, die tapfer nebenher trippelten und sich mühten, ihr den Vorsprung abzugewinnen; in der Nähe des Zieles jedoch flog sie, um den Kleinen zu necken, wie eine Feder vorwärts und stand mit einem Schritt mitten im Waldweg, zu ihrem Schrecken aber auch dicht vor einem Pferdekopf, der sie heftig anschnaubte. Hector, welcher nebenher gelaufen war, erhob ein lautes Gebell … Das Pferd machte einen furchtbaren Satz nach rückwärts und stand in einem Nu fast kerzengerade auf den Hinterbeinen.

„Zurück!“ rief eine gewaltige Stimme. Elisabeth umfaßte den Knaben, der inzwischen herangekommen war, und sprang seitwärts mit ihm; fast in demselben Moment stürzte das Pferd aus dem Walde hervor und brauste, mit seinen Hufen kaum die Erde berührend, querfeldein … Herr von Walde ritt das scheu gewordene Thier, das die gewaltigsten Anstrengungen machte, seinen Reiter abzuwerfen; aber er saß fest wie eine Mauer, nur einmal bog er sich herab und hieb mit der Gerte nach Hector, der in tollen [132] Sprüngen auf- und abjagte und das Pferd durch sein Gebell immer wilder machte. Eine Weile zerstampfte der Renner den großen Rasenplatz, dann wendete er sich plötzlich seitwärts und verschwand jenseits im Walde.

Elisabeth fühlte, wie ihr die Zähne zusammenschlugen in namenloser Angst, denn nun zweifelte sie keinen Augenblick mehr, daß ein Unglück geschehen müsse. Sie nahm Ernst bei der Hand und wollte nach dem Schlosse laufen, um Hülfe zu holen, allein schon nach wenigen Schritten sah sie den Reiter zurückkehren. Das Thier war ruhiger, der Schaum floß vom Gebiß und Elisabeth sah, wie die Beine des Pferdes zitterten. Herr von Walde klopfte es liebkosend auf den Hals, sprang herab und band es an einen Baum, dann schritt er auf Elisabeth zu.

„Verzeihen Sie!“ sagte das junge Mädchen mit bebender Stimme, als er vor ihr stand.

„Was denn, mein Kind?“. entgegnete er mild. „Sie haben ja nichts verbrochen … Kommen Sie, setzen Sie sich ein wenig hier auf die Bank … Sie haben sich erschreckt und sind todtenblaß geworden.“

Er machte eine Bewegung, als wolle er ihre Hand ergreifen und sie führen, aber sein Arm sank sogleich wieder herab. Elisabeth folgte mechanisch seinem Geheiß, er setzte sich ohne Weiteres neben sie. Der kleine Ernst lehnte sich an seine Schwester und sah Herrn von Walde mit seinen großen, schönen Augen unverwandt in’s Gesicht. Der Kleine war nur einen Moment erschrocken gewesen, als das Pferd unvermuthet aus dem Walde hervorkam; das Umherjagen auf der Wiese aber hatte ihn amüsirt, denn er hatte keine Ahnung von der Gefahr.

„Was hatten Sie vor, als Sie vorhin so stürmisch in den Wald einzudringen versuchten?“ fragte Herr von Walde Elisabeth nach einem kurzen Schweigen.

Ein schelmisches Lächeln schwebte um die noch immer blassen Lippen des jungen Mädchens. „Ich wurde verfolgt,“ antwortete sie.

„Von wem?“

„Von diesem hier,“ sie zeigte auf Ernst; „wir sind um die Wette gelaufen.“

„Ist der Kleine Ihr Bruder?“

„Ja.“ Sie sah dem Knaben zärtlich in’s Gesicht und strich mit der Hand über seinen dunkeln Lockenkopf.

„Und sie ist meine einzige Schwester,“ bemerkte der Kleine mit großem Nachdruck.

„So – nun, wie es scheint, verträgst Du Dich sehr gut mit dieser einzigen Schwester?“ sagte Herr von Walde.

„O ja, ich habe sie sehr lieb .… sie spielt mit mir, gerade wie ein Junge.“

„Wirklich?“ frug Herr von Walde.

„Wenn ich exerciren will, dann setzt sie einen ebensolchen Papierhut auf, wie sie mir einen macht, und trommelt durch den Garten, so lange ich will. Vorm Schlafengehen erzählt sie mir Geschichten und streicht mir auch die Butterbrode viel dicker als Mama.“

Ein heiteres Lächeln glitt über Herrn von Walde’s Gesicht. Elisabeth sah es zum ersten Male und fand, daß es seine Züge, deren tiefen Ernst sie für unverwischbar gehalten hatte, unbeschreiblich anziehend machte … es kam ihr vor, wie der klare Sonnenglanz, der unerwartet über einen wolkendüsteren Himmel hinfliegt.

„Du hast Recht, mein Junge,“ sagte er und zog den Kleinen zu sich hinüber, „das sind ohne Zweifel anerkennenswerthe Eigenschaften; aber wird sie nie böse?“ fragte er weiter, indem er auf Elisabeth zeigte, die wie ein Kind lachte, denn Ernst’s Mittheilungen erschienen ihr urkomisch.

„Nein, böse niemals,“ antwortete der Knabe, „nur ernsthaft manchmal, und da spielt sie immer Clavier.“

„Aber, Ernst …“

„O ja, Else,“ fiel ihr der Kleine eifrig in’s Wort, „weißt Du noch, in B., wo wir so arm waren?“

„Nun, da magst Du freilich Recht haben,“ erwiderte das junge Mädchen unbefangen, „aber das war doch nur in der Zeit, wo Papa und Mama allein sich abmühen und für das tägliche Brod arbeiten mußten, später wurde es ja besser.“

„Aber Sie spielen noch Clavier?“

„Ja,“ entgegnete Elisabeth lachend, „jedoch nicht mehr in dem Sinn, wie Ernst es meint, die Meinen sind ja versorgt.“

„Und Sie?“ forschte Herr von Walde weiter.

„Nun, ich? Ich habe den Muth, es mit dem Leben aufzunehmen und ihm das abzuringen, was zu meiner Selbstständigkeit nöthig ist.“

„Wie wollen Sie das anfangen?“

„Ich werde im nächsten Jahr eine Stelle als Erzieherin annehmen.

„Schreckt Sie Miß Mertens’ Beispiel nicht zurück?“

„Ganz und gar nicht… Ich bin nicht so schwach, ein müheloses Brod zu wünschen, wo ich Tausende in meinen Verhältnissen muthig die Last der Dienstbarkeit auf sich nehmen sehe.“

„Hier handelt es sich aber nicht allein um die Arbeit, sondern auch um das Ertragen und Dulden… Sie sind stolz; nicht allein Ihr Gesicht in diesem Augenblick, sondern auch Ihre gestern ausgesprochenen Ansichten beweisen es.“

„Nun ja, es mag Stolz sein, daß ich die Menschenwürde höher stelle, als jene Aeußerlichkeiten, die der Egoismus erfunden hat und aufrecht erhält – aber eben deshalb glaube ich auch, daß ein Mensch den anderen nur insofern demüthigen kann, als er moralisch und geistig hochstehend ihm unerreichbar erscheint – niemals aber durch erniedrigende Behandlung.“

„Und Sie glauben sich durch diese Ansicht gestählt gegen alle jene großen und kleinen Leiden, die eine launenhafte, herzlose Herrin über Sie verhängen kann?“

„O nein, aber ich werde mit ihr den Kopf oben behalten.“

Es entstand eine kleine Pause, während welcher Ernst sich dem Pferd näherte und dasselbe mit großer Aufmerksamkeit betrachtete.

„Aus Ihren gestrigen Reden schloß ich, daß Sie Ihre jetzige Heimath lieben,“ begann Herr von Walde wieder.

„Ja, unbeschreiblich.“

„Nun, ich begreife das; denn wir haben hier das schönste Stück Thüringens… Wie ist es Ihnen dann aber möglich, den Gedanken so leicht zu nehmen, daß Sie wieder gehen müssen?“

„Leicht wird er mir auch durchaus nicht, im Gegentheil, aber mein Vater hat mich gelehrt, daß man stets das Nothwendige über die Annehmlichkeit stellen müsse, und das begreife ich vollkommen … weniger klar dagegen ist es mir, wie man die Annehmlichkeit verlassen kann, ohne daß es die Nothwendigkeit gebietet.“

„Ah, das gilt mir! … Sie fassen es nicht, daß ein Mensch freiwillig in den dumpfen Pyramiden steckt, während er im kühlen, sonnigen Thüringen athmen könnte.“

Elisabeth fühlte, wie ihr eine brennende Röthe in das Gesicht stieg. Herr von Walde berührte hier mit leichtem Humor jenes scherzhafte Gespräch zwischen ihr und dein Onkel, dessen unfreiwilliger Zuhörer er gewesen war.

„Wenn ich Ihnen das auch begreiflich machen wollte, Sie würden mich doch nicht verstehen; denn wie mir scheint, vermissen Sie ja noch nichts im Kreise der Ihrigen?“ fragte er nach kurzem Schweigen. Er hatte sich vorwärts geneigt und strich mechanisch mit der Spitze der Reitgerte über den Kies zu seinen Füßen… Er sprach in jenen tiefen Tönen, die stets etwas Ergreifendes für Elisabeth hatten. „Aber es kommt eine Zeit,“ fuhr er fort, „da flieht man hinaus in die Welt, um draußen zu vergessen, daß daheim das Glück fehlt… Eine schmerzlich empfundene Lücke in seinem Dasein kann der Mann, wenn auch nicht ausfüllen, so doch am besten in den Hintergrund drängen, wenn er sich in die Wissenschaft versenkt.“

Also hier stand sie vor der wunden Stelle in seinem Herzen. … Er fühlte tief, daß ihn daheim die Liebe nicht empfing, die er lebhaft wünschte und die er auch mit vollstem Recht beanspruchen konnte, da er seiner Schwester die reinste, aufopferndste Zärtlichkeit unausgesetzt bewies. Diesen Schmerz hatte ja Elisabeth schon begriffen, noch bevor sie Herrn von Walde kannte. In dem Augenblick aber, als er ihn so unumwunden aussprach, wallte ihr das Herz auf in dem lebhaften Verlangen, ihn zu trösten. Die Worte des Mitgefühls drängten sich ihr fast auf die Lippen; aber zugleich empfand sie eine unerklärliche Scheu, das auszusprechen, was sie bewegte, und als ihr Blick seitwärts streifte über die festen Linien seines Profils, über die Stirn, die gebieterisch und stolz blieb, während die Stimme weich und trauervoll klang, da kam ihr plötzlich die beängstigende Vermuthung, er habe einen Moment vergessen, wer neben ihm sitze, sein aristokratisches Gefühl werde

[133]

Buonaventura Genelli.




ihn später den Mißgriff bitter bereuen lassen, infolge dessen ein unbedeutendes Mädchen in sein streng verschlossenes Innere einen Blick werfen durfte… Dieser Gedanke trieb ihr das Blut in die Wangen, sie erhob sich schnell und rief Ernst zu sich. Herr von Walde wandte überrascht den Kopf nach ihr, und sein Auge ruhte einen Augenblick forschend auf ihrem Gesicht; dann verließ er gleichfalls die Bank und stand, als wolle er ihre Annahme bestätigen, plötzlich in seiner ganzen, stolzen Ruhe und Gelassenheit vor dem jungen Mädchen; aber jener düstere, schwermüthige Zug zwischen den Augenbrauen, den der Vater schon beobachtet hatte, fiel ihr zum ersten Male auf und machte ihr denselben Eindruck wie vorher seine Stimme.

„Sie sind gewöhnlich sehr flink im Denken,“ sagte er, sichtbar bemüht, einen leichteren Ton anzuschlagen, und langsam neben Elisabeth herschreitend – sie ging, um Ernst zu holen, der ihren Ruf nicht gehört hatte – „noch ehe man einen Satz völlig geendet hat, sieht man an Ihrem Auge, daß Sie die Antwort bereits auf den Lippen haben. Ihr Schweigen in diesem Augenblick sagt mir also, daß ich vorhin Recht hatte, als ich annahm, Sie würden mich nicht verstehen, weil Sie noch nichts vermissen.“

„Der Begriff von Glück ist so sehr verschieden, daß ich in der That nicht wissen kann –“

„Den Begriff haben wir Alle gemein,“ unterbrach er sie. „In Ihnen schlummert er nur noch.“

„O nein!“ rief sie, ihre Zurückhaltung vergessend, lebhaft und erstaunt, „ich liebe die Meinen von ganzem Herzen und habe das beseligende Bewußtsein, daß ich wieder geliebt werde!“

„Ah, also haben Sie mich doch nicht ganz falsch verstanden! … Nun, und die Ihrigen … das ist wohl ein sehr großer Personenkreis, den Sie da in Ihr Herz schließen müssen?“

„Nein,“ rief sie lachend, „die sind schnell zusammengezählt! Meine Eltern, der Onkel und dieses kleine Menschenkind hier,“ sie nahm den herbeilaufenden Ernst bei der Hand, „das sich sehr breit macht und mit jedem Jahr mehr Terrain erobert… Jetzt müssen wir aber fort, mein Junge,“ sagte sie zu dem Kleinen, „sonst ängstigt sich die Mama.“

Sie verbeugte sich leicht vor Herrn von Walde, es kam ihr vor, als sei der Schatten auf seiner Stirn plötzlich wieder verschwunden. Er zog höflich den Hut vor ihr und reichte Ernst die Hand; dann schritt er langsam hinüber zu dem Pferd, das ungeduldig stampfte, faßte den Zügel und führte es fort.

(Fortsetzung folgt.)



[134]
Dante und Buonaventura Genelli.
(Mit Portrait.)


Von jungem Datum ist in Deutschland die lebhafte Theilnahme des Volkes an der bildenden Kunst. Bis in die dreißiger Jahre unsers Jahrhunderts hinein reicht die fast ausschließliche Herrschaft der Poesie, und während in deutsch-römischen Künstlerkreisen die große historische Malerei wiedergeboren wurde, während König Ludwig der neuen Schöpfung in München eine glänzende und würdige Stätte bereitete, verfolgte das große Publicum noch immer mit dem gespanntesten Interesse das Erscheinen der neuen Taschenbücher und theilte seine Aufmerksamkeit zwischen der Abendzeitung und der Zeitung für die elegante Welt, den letzten kümmerlichen Vertretern einer vor Jahren großartigen und gewaltigen literarisch-poetischen Strömung. Die Bildung zahlreicher Kunstakademien und Kunstvereine, die Einrichtung ständiger und wandernder Kunstausstellungen zeugte dafür, daß die bildende Kunst aus ihrer bisherigen Vernachlässigung herauszutreten begann und eine mehr als vorübergehende Beachtung gewann.

Das Wesen der bildenden Kunst ist die Schönheit. Was also der bildende Künstler auch darstellt, wie er auch immer seiner Naturanlage in der Wahl seiner Stoffe und seiner Verkörperung nachgehen mag, immer und überall wird und muß jene ursprüngliche Wesenheit seiner Kunst hindurchleuchten. Ueber allen seinen Gebilden muß der Zauber der Schönheit ruhen, und wie nach dem tiefsinnigen alttestamentlichen Schöpfungsmythus Gott die Menschen nach seinem Bilde schuf, so muß der Künstler, in dem sich die göttliche Schöpferkraft spiegelt, sich seiner göttlichen Vorbilder mit Ernst und Liebe bewußt bleiben. Je höher diese Aufgabe des Künstlers erscheint, je entschiedener sie eine ungewöhnliche Begabung, sittliche Energie in der Ausbildung derselben und eine fast ausschließlich darauf gerichtete Persönlichkeit verlangt, desto seltner werden wir Künstlern begegnen, welche ihr ganz und völlig gerecht werden, zumal in unseren Tagen, die so gebieterisch volle Hingabe an die großen Interessen des Völkerlebens, an die Förderung der politischen und religiösen Ziele fordern. Um so mehr wird unser Interesse durch einen der bedeutendsten Vertreter dieser Richtung erregt werden, um so mehr müssen wir unsern Leserkreis auf den Künstler aufmerksam machen, für dessen wohlgelungenes Bildniß unsere Worte als bescheidenes Geleite dienen.

Buonaventura Genelli, 1798 in Berlin geboren, wandte sich von seiner frühesten Jugend an mit Feuereifer der Kunst zu. Von 1822 bis 1832 lebte er in der Heimath der neueren Kunst in Italien. In seiner Absicht lag es damals, für immer in Rom zu bleiben; wir dürfen uns freuen, daß das Schicksal diesen seinen Plan zu Gunsten der deutschen Heimath vereitelte. Darauf kam er nach Deutschland zurück und nahm nach vierjährigem Aufenthalte in Leipzig seinen dauernden Wohnsitz in München. Von dort wendete er sich nach Weimar, dessen kunstsinniger Fürst Carl Alexander dem genialen Künstler, der manchen harten Kampf mit den Sorgen des Lebens zu bestehen gehabt hat, eine freundliche Stätte bereitete. Hier fand er einen seiner ältesten Freunde den Landschaftsmaler Friedrich Preller, dessen Portrait bereits einen früheren Jahrgang dieser Blätter geschmückt hat. Dies sind die wenigen äußerlichen Züge einer Künstlerlaufbahn, deren Haupterlebnisse sich niedergelegt finden in den Werken des Meisters. Nur Wenigen ist es vergönnt gewesen, für die Kenntniß von Genelli’s Lebenslauf noch eine andere Quelle zu benützen wie sie kaum origineller und anziehender gedacht werden kann. Wir meinen sein künstlerisches Tagebuch, in welchem er bedeutsame Momente seines Lebens von den Erinnerungen frühester Kindheit an bis in sein reifes Mannesalter auf einzelnen Blättern mit ergreifender Schönheit bildlich dargestellt hat. Dieses in seiner Art ganz einzig dastehende Werk giebt deutlicher als irgend ein anderes Kunde von der Künstlernatur Genelli’s, welche jedes Erlebniß, jede in ihren Kreis tretende Erfahrung anzuschauen und zur Erscheinung zu bringen sucht, in welcher Alles zum Bilde, zum Kunstwerk sich gestaltet, und so vernehmen wir mit Freude, daß eine baldige Veröffentlichung dieser Blätter in Aussicht steht. Wunderbar und anziehend waltet in ihnen des Künstlers Phantasie. Bald schaut er sich als Jüngling auf einem Hügel liegend und den Worten des Knaben Phantasus lauschend, bald macht der junge Künstler Nachts bei Kerzenlicht an der Leiche eines Selbstmörders anatomische Studien, während der Geist des Todten trauernd über dem Leichnam schwebt. Dann erscheinen heitere und übermüthige Scenen des Malerlebens in Italien, auf einem Eselein zieht der Maler über Land, oder sieht sich in lustigster Zechgesellschaft, unter ihnen die Maler J. A. Koch, J. Chr. Reinhart und den jüngst verstorbenen Rahl. Auch in die ernstesten Erlebnisse seines Gemüthes reichen diese Blätter, er stellt sich dar einem Traume lauschend, den ihm seine Braut erzählt, und in der Perle der ganzen Sammlung zeichnet er sich, seine Gattin mit dem Sohne und den beiden Töchtern, eines der schönsten Familienbilder, welche die Malerei geschaffen.

So reich und fruchtbar Genelli’s Thätigkeit Denjenigen erscheint, welche sie zu verfolgen Gelegenheit hatten, so wenige seiner Werke sind bisher dem größeren Publicum bekannt geworden. Bis jetzt ist es ihm beschieden gewesen, für einen verhältnißmäßig kleinen Kreis von Kunstfreunden zu schaffen, welche die ganze wunderbare Kraft und Fülle seiner Eigenart zu würdigen und zu genießen verstanden. Seine Welt der schönen Erscheinung findet er zumeist in der antiken Mythologie und Dichtung, im Homer und in biblischen Stoffen. Diesem Gebiete gehören seine bei Cotta erschienenen Zeichnungen zum Homer an, sowie eine große Anzahl von Aquarellen und die herrlichen Oelbilder, die sich in der Schack’schen Sammlung in München und im anderweiten Privatbesitz befinden und welche, zumeist erst in neuerer Zeit entstanden, Genelli nun auch als Meister in der Farbe zeigen. Eigenthümlich ist ihm auch die Neigung in größeren cyklischen Compositionen zu schaffen, wie er dies gethan in den Zeichnungen, das Leben einer Hexe darstellend, und in dem demnächst erscheinenden Werke von achtzehn Blättern: Scenen aus dem Leben eines Wüstlings. Hier hat er mit genialer Erfindungsgabe die Sage vom Don Juan dargestellt und somit gewissermaßen ein malerisches Gegenbild zu Mozart’s unsterblicher Oper geschaffen.

Mit ganz besonderer Freude aber haben wir die neuerdings erfolgte zweite Ausgabe seiner Umrisse zu Dante’s göttlicher Komödie (sechsunddreißig Blätter, gestochen von H. Schütz, mit erläuterndem deutschen, italienischen und französischen Texte, herausgegeben von Dr. Max Jordan, Leipzig, Alphons Dürr 1865) begrüßt. Durch das jüngst gefeierte Dantefest hat man sich mit dem großen Dichter lebhafter als je beschäftigt, und wir erfreuen uns doppelt an dem günstigen Zusammentreffen, welches für den italienischen Dichter wie für den deutschen Maler eingehendere Beachtung und ausgebreitetere Schätzung in Aussicht stellt. Denn hier gerade darf man auf gegenseitige Unterstützung beider künstlerischer Schöpfungen, man darf vor Allem darauf hoffen, daß die in erhabenster und lebensvollster Schönheit prangenden Gestalten Genelli’s, eng geknüpft an das gewaltige Gewebe der Dichtung und durch die angemessen ausgewählten Stellen Dante’s im Original und in der Uebersetzung erläutert, bevorwortet endlich durch die lebendige und anregende Einleitung des Herausgebers, ihre begeisternde und erhebende Wirkung auch auf weitere Kreise ausüben werden.

Es darf keineswegs als zufällig erscheinen, daß gerade Genelli das große Werk Dante’s zum Vorwurfe seiner Schöpfungen gewählt hat. Beider Schicksal hat etwas Verwandtes, von Beiden läßt sich behaupten, daß die ernste Größe und die erhabene Schönheit ihrer Kunst anfangs etwas Unnahbares, ja fast Zurückschreckendes haben, wie dies bei der wahren Größe so oft der Fall ist. Ihre Werke wollen mit ernster und sorgfältiger Liebe immer und immer wieder betrachtet sein, dann wird als der Lohn der Arbeit der Genuß nicht fehlen und auf’s Neue wird sich der Spruch Goethe’s bewahrheiten: „Wenn es eine Freude ist, das Gute zu genießen, so ist es eine größere, das Bessere zu empfinden, und in der Kunst ist das Beste gut genug.“

So möge das Unternehmen freundliche Aufnahme finden im Haus und in der Familie, und wenn die Betrachtenden dankbaren Herzens des schaffenden Künstlers gedenken, so werden seine Umrisse zu Dante für Viele die Hand bieten zu weiterem Vertrautwerden mit den übrigen Werken eines Künstlers, den wir mit Stolz den unsrigen nennen.



[135]
Das Thurmzimmer.
Von Levin Schücking.
(Schluß.)


Graf Wilhelm traf Herder an demselben Ort, wie früher, und sandte ihn in’s Zimmer der Prinzessin. Dann eilte er die nöthigen Befehle zu ertheilen; die Hornfanfaren der Jäger weckten gleich darauf das Echo der alten Burgmauern, um das Signal zum Ausziehen zu geben, und bald darauf war der ganze Schwarm da unten im Hofe versammelt; zehn Minuten später war das kleine Schloß verlassen und menschenleer.

Der Tag war schön, die Jagdbeute war reich; aber Graf Wilhelm war an der Spitze seines fröhlichen Jagdgefolges heute eigenthümlich schweigsam und verschlossen. Niemand erinnerte sich, ihn je so völlig in sich versunken und theilnahmlos für Alles, was ihn umgab, gesehen zu haben. Auch zeigte er sich als einen der schlechtesten Schützen heute; nur ein einziges Häslein erlag seinem Geschoß. Und am frühen Nachmittage wurde die Jagd schon eingestellt, als die eifrigsten der Theilnehmer der Ansicht waren, daß die eigentliche Lust erst beginnen müsse.

Herder war sofort, als er des Grafen Erlaubniß endlich erhalten, in das Zimmer der Prinzessin geeilt. Der zornige Ausruf: „Caroline!“ der auf seinen Lippen lag, erstarb, als er in ein ihm ganz fremdes Antlitz blickte. Diese stolze Schönheit vor ihm hatte in Gestalt und Zügen Aehnlichkeit mit Caroline Flachsland, eine große Aehnlichkeit, aber sie selbst war es nicht; sie war schöner, höher, blendender als diese.

Ueberrascht stand er vor ihr.

„Herr Hofprediger,“ begann sie, nachdem sie mit einem huldvollen Wink ihn eingeladen, auf einem Stuhl in der tiefen Fensternische Platz zu nehmen, wo sie sich ihm gegenübersetzte, „wir sind Ihnen eine Erklärung schuldig, und ich bin bereit, sie Ihnen zu geben. Zuerst lassen Sie mich Ihnen sagen, daß an der Mystification, welche man sich mit Ihnen erlaubte und die an Ihrem unerhörten und völlig unmoralischen Mangel auch am leisesten Gespensterglauben scheiterte, Ihre Braut nicht den allermindesten Antheil hat. Mein Wort darauf, sie ahnt nicht das Geringste davon!“

Herder athmete sichtlich erleichtert auf.

„Ich danke Ihnen von Herzen für diese Versicherung,“ sagte er, „der ich unbedingt Glauben beimesse, wenn ich auch nicht weiß –“

„Wer sie Ihnen giebt? Sie haben Recht! Ich bin eine Freundin, eine Vertraute des edlen Mädchens, von dem wir reden, deren Werth Sie nie, niemals hoch genug anschlagen können, ich bin die Prinzessin Sidonie von Birkenfeld …“

Herder fuhr in die Höhe.

„Durchlaucht – Sie – Sie sind es? Caroline hat mir mit so begeisterten Worten von Ihnen geschrieben … o lassen Sie mich Ihnen alle Huldigungen darbringen, welche ein unter allen Frauen der Zeit so hervorleuchtendes Wesen verdient …“

„Bitte, bleiben Sie ruhig sitzen, Huldigungen verlange ich nicht, nur daß Sie mich ganz geduldig und sanft anhören und mein Verlangen erfüllen.“

„O reden Sie, Durchlaucht!“

„So hören Sie. Ich stand zu dem Grafen Wilhelm in einem ähnlichen Verhältniß, wie Sie zu dem Mädchen, das ich mit Stolz meine Freundin nenne. Ich spielte in der vergangenen Nacht eine Rolle, die Sie gegen Caroline empört hat, die Sie ihrer unwürdig fanden. Nun wohl, Sie sehen, Sie thaten ihr Unrecht. Ich spielte die Rolle. Und was gegen Sie gemünzt schien, das sollte allerdings auch Ihnen eine Mahnung sein, denn Sie haben Unrecht, Sie betragen sich gegen Ihre Braut gewissenlos. Aber gerichtet war das Ganze ebenso sehr wider den Grafen; mir lag der Gedanke, daß der Graf bei der Operation, die Ihnen den Splitter aus dem Auge ziehen sollte, an den Balken in seinem eigenen denken würde, zunächst. Darum handelte ich, thöricht, kindisch vielleicht … ich überlasse Ihnen es zu nennen, wie Sie wollen, aber ich verlange von Ihnen, daß Sie dem Grafen, der die Sache als einen harmlosen Scherz nahm, verzeihen!“

Herder hatte ihr äußerst überrascht zugehört.

„Ich verstehe, Durchlaucht,“ sagte er jetzt, „am französischen und spanischen Hofe wurden ehemals junge Edelleute neben den Prinzen erzogen, welche die Prügel erhielten, die sich die kleinen königlichen Hoheiten verdient hatten. Ich habe Euerer Durchlaucht als Prügelknabe gedient!“

Die Prinzessin lächelte.

„Sie dürfen es allerdings am Ende so nennen. Doch litten Sie auch für eigene Schuld. Wollen Sie das einsehen, mir bekennen und mir versprechen, dem Grafen zu verzeihen? ihm keinerlei Groll nachzutragen?“

Wer hätte dem huldvollen, bezaubernden Lächeln der hohen Dame widerstehen können? Herder hatte seinen Groll längst dahinschmelzen gefühlt.

„Wälzen Sie alle Schuld auf mich,“ fuhr sie fort. „Und nun, da ich Ihr Versprechen habe … nicht wahr, ich habe es? nun führen Sie mich augenblicklich aus diesem Schlosse fort, so daß Niemand uns sieht. Begleiten Sie mich, da Sie doch einmal von der Jagd sich ausgeschlossen haben, nach meiner Wohnung in Eilsen zurück. Wollen Sie? Es ist vielleicht viel verlangt, aber ich kann dem Wunsch nicht widerstehen, länger in der Gesellschaft eines Mannes wie Herder zu sein.“

„Gebieten Sie über mich, Durchlaucht,“ fiel Herder entzückt ein, die Huld der Prinzessin hatte den letzten Rest von Unmuth in ihm geschmolzen.

„Gehen Sie, sich fertig zu machen,“ antwortete sie, „mein Mädchen packt eben meine Sachen drinnen zusammen, in zehn Minuten erwarte ich Sie.“

„Wollen Sie auch dies zu Ihren Sachen legen lassen?“ fragte Herder lächelnd, einen Papierstreifen aus der Brieftasche hervorziehend.

„Was ist das? Ach, ein Stück eines Billets von Caroline, ein Lesezeichen, das mir entfiel; nein, das dürfen Sie als Andenken behalten!“


5.

Als Herder für den Ausflug nach Eilsen fertig und gerüstet in das Vorzimmer der Prinzessin trat, fand er sie beschäftigt, einen Brief zu siegeln und zu adressiren, den sie eben geschrieben hatte. Er lautete:

„Prinzessin Sidonie ist gegangen und Sie werden sie hier nicht wiedersehen, erlauchter Graf, weder hier, noch in Eilsen. Sie hat vollführt, was sie gewollt; weshalb sollte sie noch länger weilen? Sie hat zwei Männer an die Wahrheit gemahnt, einen Schriftsteller, dem man die Wahrheit selten, und einen Fürsten, dem man sie nie sagt. Und nur das wollte sie. Wollen Sie Sidonie wiedersehen, so suchen Sie dieselbe auf in ihrer Heimath, in ihrer Angehörigen Mitte, in ihren eigenen Räumen daheim, wo Sie längst erwartet wurden. Vielleicht tritt Ihnen Prinzessin Sidonie dort jedoch in einer anderen Gestalt entgegen, und Sie sagen sich, diese Sidonie sei nicht die, welche Sie heute sahen. Möglich … eine persische Mythe sagt, über jedem Menschen schwebe das reine Gedankenleben desselben als seine zweite Gestalt, als sein Urbild. Sagen Sie sich also, es sei heute diese zweite Gestalt Sidoniens vor Sie hingetreten, nur ihr reines Gedankenleben, der ganze Inhalt dessen, was sie glaubt und fühlt und wie sie urtheilt, sei Ihnen erschienen, um sich vor Ihnen auszusprechen. Nur das, ohne daß die irdische Gestalt der Prinzessin irgend etwas davon geahnt, davon gewußt, was ihre seelische Doppelgängerin gethan. Vielleicht auch – Sie wissen, daß die Menschen, welche so sensitive Naturen sind, wie Prinzessin Sidonie, in einen magnetischen Schlummer verfallen können, während dessen ihre Seelen sie verlassen und sich weit, weit fort über Länder und Gebirge versetzen, um da zu erscheinen, wohin Sehnsucht und Liebe sie ziehen. Denken Sie, so sei’s gewesen, wenn Prinzessin Sidonie Ihnen ableugnen sollte, heute in dieser stillen Waldburg gewesen zu sein, Sie gesehen, mit Ihnen geredet zu haben … denken Sie, die magnetisch entrückte Seelengestalt Ihrer Freundin sei Ihnen erschienen. Sie haben begonnen, Geister zu citiren, sie zum Scherze in Ihr Haus locken wollen, nun dürfen Sie sich nicht beklagen, daß sie gekommen [136] sind und Sie umsponnen haben mit ihren Räthseln und Geheimnissen.

Herder ist vollständig besänftigt, beruhigt und versöhnt.“

Nachdem die Dame diesen Brief an den Grafen Wilhelm zu Schaumburg adressirt und auf den Tisch gelegt, ließ sie sich von ihrem Mädchen Shawl, Hut und Fächer reichen und sich von Herder aus dem Schlosse führen. Es war leicht, dies ungesehen zu verlassen; die wenigen Diener, welche darin zurückgeblieben, waren im Innern, in den einzelnen Zimmern mit ihren Arbeiten beschäftigt.

Die lebhafte und anziehende Unterhaltung, welche die Prinzessin mit ihm führte, ließ Herdern den Weg nach dem Badeorte nur zu kurz erscheinen. Als man im Angesichte desselben angekommen war, beurlaubte sie ihn. Auf seine Bitte, ihr am andern Tage aufwarten zu dürfen, entgegnete sie, sie werde noch am heutigen Nachmittage abreisen.

„Werden Sie mich dabei zur Ueberbringerin eines Briefes an Ihre Braut machen?“ fragte sie zugleich, ihn ernst ansehend.

„Ich werde noch heute durch die Post an sie schreiben,“ versetzte er leicht erröthend.

Mit freundlichem Lächeln reichte sie ihm die Hand und wandte sich ab, um jetzt, von ihrem Mädchen allein geleitet, ihre Wohnung aufzusuchen.

Herder schlug den Weg nach seinem Wohnort ein. Er war dabei bald in sehr ernste Gedanken versunken.

Er war freilich überzeugt, daß seine Braut völlig unschuldig an dem sei, was ihn so furchtbar empört hatte, so lange er an ihre Mitwirkung dabei geglaubt. Er war auch dem Grafen versöhnt; alle Schuld trug ja diese bezaubernde Prinzessin, von der als einem Engel von Güte Caroline ihm oft geschrieben und deren persönlicher Liebenswürdigkeit sein Zorn nicht hatte widerstehen können. Aber das Ergebniß des ganzen Abenteuers war für ihn die Erfahrung, daß sein Verhältniß zu seiner Braut Gegenstand längerer Erörterung und Besprechung zwischen diesen Frauen und dem Grafen Wilhelm gewesen sein mußte, vielleicht der Besprechung bei vielen Personen noch außer diesen, und bei diesem Gerede, diesen Erörterungen, so viel war ebenfalls klar, ward auf ihn nicht das vortheilhaftere Licht geworfen. Wie viel Kränkendes, wie viel Verleumdendes mochte da schon von vorschnell und giftig urtheilenden Zungen gesprochen sein! Es war hohe Zeit, dem Allen ein Ende zu machen!

Als Herder heimgekommen, setzte er sich sofort nieder, um an Caroline Flachsland zu schreiben. Er sagte ihr, daß sie ihn in der kürzesten Zeit erwarten könne, daß er kommen werde, um die Schritte zu thun, welche nöthig, ihr Schicksal auf immer mit dem seinen zu vereinigen.

Im Frühjahre 1773 führte er seine Braut in seine stille Pfarrwohnung in Bückeburg heim.

Am Nachmittage jenes Tages aber trat der Rittmeister Baron Fauriel sehr bewegt, in hohem Grade aufgeregt in das kleine Wohnzimmer, welches Fräulein Antonie Sponheim sich während der Dauer ihrer Badecur in einem der einsamst gelegenen Häuser des Bades Eilsen gemiethet hatte. Er fand sie ruhig lesend am Fenster sitzen.

„Antonie,“ rief er eifrig aus, als er kaum die Schwelle überschritten, „welche Begebenheiten sind das! wie ist Ihnen das möglich geworden! der Graf hat mir heute auf der Jagd gesagt: ‚Ich willige in Ihren Wunsch, gehen Sie noch heute zu Ihrer Braut, es ihr anzukündigen‘, und als ich ihm danken wollte für diese rasche Sinnesänderung, hat er mich abgewiesen mit den Worten: ‚Ach, danken Sie mir nicht, aber fragen Sie nicht, gehen Sie.‘ .… Wie haben Sie das zu Stande gebracht!?“

„Ganz einfach,“ antwortete sie lächelnd, „wie ich es Ihnen sagte, durch meine Kunst, als Schauspielerin; ich habe ein paar Rollen gespielt! Es ist nur schade, daß Sie mich nicht darin sehen konnten, in diesen Rollen, aber ich denke, der Erfolg meines Spiels reicht hin, Sie zu überzeugen, daß ich’s gut gemacht habe und daß ich weiter nichts bin, als wofür ich mich gebe – eine Schauspielerin. Willst Du mich nun auch noch als solche, mein Freund?“

Der Officier zog sie an seine Brust und drückte sie freudig an sein Herz, dann aber fuhr er fort:

„Das ist jedoch noch nicht Alles! Als wir von der Jagd zurückgekommen, war der Graf kaum einige Minuten in die Arnsburg getreten, als ein Diener herbeigestürzt kam, der mich augenblicklich zu ihm beschied. Der Diener führte mich in ein kleines Entresolzimmer, eines der Fremdenzimmer; dort stand der Graf, einen Brief in der Hand, offenbar in hohem Grade betroffen, zornig, erregt. Er rief mir entgegen: ‚Lassen Sie sich ein Pferd satteln, Baron, und sprengen Sie augenblicklich nach Eilsen. Gehen Sie zu Ihrer Braut, fragen Sie dieselbe nach der Prinzessin Sidonie von Birkenfeld … ich will wissen, wo sie ist, augenblicklich, Ihre Braut muß Kunde davon haben, eilen Sie!‘“

„Sagen Sie dem Grafen,“ versetzte Antonie, „die Prinzessin, meine hohe Gönnerin, weile, so viel ich wisse, an ihrem gewöhnlichen Aufenthaltsorte Darmstadt …“

„Aber weshalb setzt denn der Graf voraus, daß sie hier ist, daß Sie darum wissen, Antonie, Sie haben doch nicht am Ende …“

„Die Prinzessin gespielt? Ja, mein Freund, ich war so kühn! In Ihrem Mitleid mit dem leidenden Herzen der Freundin hatte die Prinzessin einen Plan ersonnen, den die Freundin auszuführen sich weigerte; ich übernahm ihn und in meinem Mitleid mit dem leidenden Herzen der Prinzessin setzte ich dem kleinen moralischen Lustspiel einen zweiten Act zu, worin noch Herder und Caroline, Graf Wilhelm von Schaumburg und Prinzessin Sidonie auftraten …“

„Um Gotteswillen,“ rief der Rittmeister erschrocken aus, „wenn das der Graf erfährt …“

„So muß er sich sagen, daß er selbst Regisseur des Stückes war, und darf nicht klagen, daß der Vorhang nicht eher fiel, oder besser, die Darstellerin der Hauptrolle nicht eher hinter den Coulissen verschwand, als bis das Stück zu Ende war. Und zu Ende ist es, kehren Sie zu Ihrem Gebieter zurück und sagen Sie ihm, von Prinzessin Sidonie wisse ich nichts, aber ich sei sehr glücklich durch seine Huld und sehe mit freudiger Spannung der Stunde entgegen, wo Seine Erlaucht sich die Gemahlin hochihres Rittmeisters Baron Fauriel werde vorstellen lassen. Er wird dann ein schüchternes, unter Theaterschminke verblühtes, überall gegen die Hofsitte verstoßendes Wesen an mir finden, das ihn nicht im Geringsten an Prinzessin Sidonie erinnern soll!“

Antonie lachte hell und fröhlich auf bei diesem Gedanken, während sie in das ein wenig verdutzte Mienenspiel ihres Geliebten blickte.

„Ich sehe,“ sagte sie, ihren Arm um seinen Nacken schlingend, „die Angst erfaßt Sie vor einem solchen Chamäleon von Mädchen, vor einem solchen rollenwechselnden Geschöpf; seien Sie ruhig, Geliebter, für Sie werde ich immer nur die eine Rolle des treuesten Weibes spielen.“

„Auch als Rolle?“ fragte der Rittmeister neckend.

„Nein, nein, keine auswendig gelernte Rolle, sondern mehr als Heldin der italienischen Komödie, die nur spricht, was Kopf und Herz im Augenblicke eingeben.“

„Also doch immer Komödie!“ rief der Rittmeister lächelnd aus.

„Ja, Freund, eine Komödie ist nun einmal das Leben. Seien Sie zufrieden, wenn es für Sie nie zum Trauerspiel wird! Und nun eilen Sie zu Sr. Erlaucht zurück, der ungeduldig Ihrer harren wird!“

Das that die Erlaucht in der That, und ihre Ungeduld steigerte sich zu zornigem Verdruß, als sie den Bericht des Rittmeisters vernommen, daß Demoiselle Sponheim nichts von der Prinzessin wisse, daß diese nicht in Eilsen sein könne. Er kam jetzt auf den Gedanken, daß Demoiselle Flachsland es gewesen, welche ihn mystificirt habe, und um es zu ergründen, um sich zu überzeugen, ob er Prinzessin Sidonie gesehen oder eine Andere, ließ er sofort Postpferde bestellen und reiste am andern Morgen nach Darmstadt ab.

Er kam nach acht Tagen zurück, wie er gegangen, unverlobt … er muß die wirkliche Prinzessin Sidonie nicht ganz der Vorstellung entsprechend gefunden haben, welche ihr persisch-mythisches Urbild in ihm erweckt hatte. Der Graf ist als Wittwer gestorben. Man weiß nicht, ob er je den Zusammenhang der Dinge erfahren; vielleicht hat Prinzessin Sidonie diesen Zusammenhang errathen und den Seelenfreund eingeweiht, denn so viel ist gewiß, Seine Erlaucht haben nie geruht, den Rittmeister Baron Fauriel aufzufordern, ihm seine Braut vorzustellen.



[137]
Modernes Räuberthum.


Wie die Frühlingssonne „kein Weißes duldet“, so duldet unsere Zeit mit Ihrem unerbittlichen Zuge nach dem Realen keine Romantik mehr. Auch die Räuberromantik, die ehedem so manche bewegliche Phantasie und manches schwärmerische Gemüth beschäftigt, hat ihr zum Opfer fallen müssen. Jene poetischen Räubergestalten von edlen Impulsen und feiner Bildung, welche nur misleiteter Freiheitsdrang in die Wälder trieb, um das Unrecht zu rächen, mit dem der Starke auf den Schwachen, der Reiche auf den Armen, die bevorzugte Classe auf die Parias der Gesellschaft drückt; jene Cavaliere der Heerstraße, die ihr Gewerbe mit dem vollendeten Anstand des Gentleman betrieben, tapfer im Kampfe, hochherzig im Siege, gelassen im Unglück und ritterlich gegen die Damen; jene Schiller’schen Karl Moore, jene Byron’schen Laras und Scott’schen Rob Roys, selbst jene Kohlhaas und Hiesel sucht man heutzutage vergebens, so weit sie überhaupt nicht blos im Fabellande oder in der verklärenden Ueberlieferung des Volkes gelebt haben. Der moderne Räuber, mit nüchternem Auge gesehen, wie er leibt und lebt, ist ein himmelweit verschiedenes Geschöpf. Er ist ein schäbiger, roher, feiger Gesell, dessen Leben eine ewige Angst, der vor Furcht zittert, wenn die Soldaten ihm in Schußnähe kommen, und seine Heldenthaten nur mit Uebermacht wider wehrlose Reisende ausübt, – ein gemeiner Dieb, welcher seinen Gefangenen Strümpfe und Hemden und selbst den letzten armseligen Bissen Brodes stiehlt; ein Wilder, der sich heute dick und voll ißt, so daß er stumpf und dumm auf seinem Lager faulenzt, und morgen umsinkt vor Hunger; ein unbeschreiblich schmutziger Kerl voller ekelhafter Brutalität gegen die Frauen, welche der Zufall in seine Gewalt gebracht hat, abwechselnd der Tyrann und das Opfer, der Quälgeist und die Beute des Bauern. So wenigstens schildert den heutigen italienischen Räuber ein britischer Reisender, Mr. Moens, der mit einem Freunde auf einem von Neapel aus unternommenen Ausfluge nach den Ruinen von Pästum in die Hände einer Brigantenbande fiel.

Moens mußte geraume Zeit in der Gefangenschaft dieser Strolche bleiben, bis das vereinbarte hohe Lösegeld von dreißigtausend Ducaten bis zum letzten Heller baar bezahlt war. Er hatte mithin, Monate lang in der Bande hausend und mit ihr weit im Lande umherstreifend, Gelegenheit, einen Blick in den Haushalt des Räuberlebens zu werfen, wie dieser, glücklicher Weise, doch nur Wenigen vergönnt ist. Von Heroismus, von Galanterie und Ritterlichkeit fand er keine Spur unter der Gesellschaft, nichts als Elend und Noth, Selbstsucht und ewige Furcht. Auf Schritt und Tritt umlauert den Briganten Gefahr und die Gewohnheit macht ihn nicht mit ihr vertraut, schwächt seine Angst vor ihr nicht ab, im Gegentheil, sie hält diese unablässig in Athem. „Einmal,“ erzählt Moens, „waren die Carabinieri der Bande auf den Fersen. Dem Einen, Pavone mit Namen, klapperten die Zähne vor Schrecken und sein Gesicht war weiß wie ein Blatt Papier; ein Zweiter, Scope geheißen, warf sich halb todt vor Angst auf die Erde, und ein Dritter, Antonio, war in einem solchen Zustande von Aufregung, daß er nicht mehr wußte, was er that, sein Gewehr zwecklos an die Wand der Höhle schlug und durch albernen Lärm sich zu betäuben suchte. Ich saß ruhig auf einem Stein und rief ihnen zu: ‚Courage, Courage! Eßt ein wenig, das wird Euch gut thun!‘ Um ein Beispiel zu geben, zog ich ein Stück Brod aus der Tasche und begann es zu verzehren. Meine Banditen aber meinten: ‚Was für ein Narr Ihr seid, noch zu essen! In zwei Minuten seid Ihr ja doch mausetodt geschossen.‘“

Im Ganzen hatte Moens keinen Grund, sich über die ihm werdende Behandlung zu beklagen. Nur zwei Mitglieder der Gesellschaft, Pepino, der Anführer einer besondern Abtheilung der Bande, und Scope, pflegten an dem Gefangenen ihre üble Laune auszulassen, alle Anderen zeigten sich freundlich und theilten die kümmerliche Nahrung, welche sie selbst hatten, getreulich mit ihm. Freilich blieb die Gefangenschaft immer ein schweres Geschick, zumal die Bande von den verfolgenden Soldaten wie ein wildes Thier von Schlupfwinkel zu Schlupfwinkel gescheucht ward. Natürlich war Moens beständig auf das Schärfste bewacht und mußte, – was meist seine großen Schwierigkeiten und für den Gefangenen selbst in der Regel arge Unbequemlichkeiten hatte – stets versteckt werden, wenn Truppen im Anzuge waren, damit ihn diese nicht etwa entdeckten und befreiten und somit die Bande um das stipulirte Lösegeld brächten.

Die Gesellschaft zählte auch fünf weibliche Mitglieder, fünf Brigantessen. Es waren junge Dirnen mit kurzgeschnittenem Haar und immer in Männerkleidern, so daß sie Moens anfänglich für Knaben hielt. Selbstverständlich gehörten diese Brigantessen nicht zur Elite ihres Geschlechts, waren aber auch nicht jene grausamen Megären, als welche hergebrachter Weise die italienischen Räuberweiber geschildert zu werden pflegen. Stramme derbe Bäuerinnen voller Feuer und Energie konnten sie ein erstaunliches Maß von Strapazen und Entbehrungen ertragen, hatten aber ebenfalls nicht das mindeste Romantische an sich, weder durch Heroismus, Melancholie, noch sonst welche interessante und poetische Eigenschaft bemerkenswerth. Indeß erwiesen sie sich sammt und sonders ein gut Theil beherzter als die Männer und entwickelten oft einen Muth und eine Standhaftigkeit, die man nicht umhin konnte zu bewundern. Einer derselben, Concetta geheißen, war durch zufälliges Entladen eines Gewehrs der Arm zerschmettert worden. Ohne einen einzigen Schmerzenslaut auszustoßen, ja ohne nur zu ächzen oder zu zucken, ließ sie sich die Wunde von einer plumpen, großen Scheere sondiren, dem einzigen Instrument, das man zu solchem Behufe zur Hand hatte. Selbst als der Brand in die Wunde trat und sie genöthigt war, die Höhle zu verlassen und sich der Behörde zu überliefern, damit ihr der Arm amputirt werde, bewahrte sie die gleiche Standhaftigkeit. Hartnäckig lehnte sie die Anwendung von Chloroform ab, mit dem man ihr die Operation erträglich machen wollte, und nur einen Moment, blos als das Messer die Beinhaut von dem Knochen löste, biß sie die Zähne zusammen. „Vergeßt nicht,“ sprach sie zu den Aerzten, „daß ich achtzehn Napoleons bei mir hatte, als ich herkam; ich muß sie zurückhaben, sobald ich wieder gesund bin.“

Zwei der fünf Brigantinnen waren mit Flinten, die andern drei mit Revolvern bewaffnet. Ihr Hauptgeschäft bestand im Zusammenflicken der zerrissenen Kleider ihrer Freunde und Gebieter und ab und zu im Säumen der bunten Halstücher (wenn man solcher habhaft werden konnte), welche den Hauptputz des Banditen ausmachen. Zu jeder sonstigen Weiberarbeit, zum Kochen, Backen, Waschen und dergleichen waren die Damen nicht zu gebrauchen. Die Männer selbst waren zugleich Metzger und Köche, wenn das gute Glück ihnen etwa ein Schaf oder eine Ziege in den Wurf führte – sei es als Beute oder durch Kauf von den Bauern.

Diese letzteren haben an den Räubern ihre beste Kundschaft, denn wahrhaft fabelhaft erscheinen auf den ersten Blick die Preise, welche der Brigant für alle seine nothwendigen Lebensbedürfnisse zahlen muß. „Ein Pezzo, d. h. ein Ducaten“ (etwa ein Thaler vier Neugroschen), sagt unser Gewährsmann, „war der gewöhnliche Preis, den der Bauer für einen Laib Brod von zwei Rotoli, d. i. ungefähr vier Pfund, forderte, welchen jeder Andere in den Städten sich für drei bis vier Neugroschen beim Bäcker verschaffen konnte. Das gröbste baumwollene Hemd kostete den Banditen gegen drei Ducaten, es waschen zu lassen, einen Ducaten; jede Revolverpatrone kam ihm fast ebenso hoch zu stehen, und alle anderen Unentbehrlichkeiten im gleichen Verhältnisse. Nach einer Berechnung, welche ich während meiner Gefangenschaft bei ihnen anstellte, glaube ich nicht, daß eine Bande von fünfundzwanzig bis dreißig Köpfen jährlich weniger als viertausend Pfund Sterling blos für Beschaffung der allernothwendigsten Lebensbedürfnisse braucht.“

So zieht der Bauer der Abruzzen allerdings hohen Nutzen aus seinem Verkehr mit den Räubern. Wenn man aber dagegen die Gefahr in Anschlag bringt, die ihm von diesem Verkehre droht, so wird man sich nicht mehr wundern, daß er sich seine Beziehungen zu den Briganten so theuer wie immer möglich bezahlen läßt. Auf der einen Seite die Behörden, welche jede Verbindung mit den Räubern mit hohen Geldbußen und Gefängniß, ja sogar mit dem Tode bestrafen, andererseits die Banditen, die eine unerbittliche Vendetta ausüben, sobald sie Verrath argwöhnen, und Weigerungen, sie mit Nahrungsmitteln und sonstigen Provisionen zu versorgen, nicht selten an den Ernten, den Dörfern und den einzelnen Individuen heimsuchen, hat der arme Bauer gewiß einen harten Stand und alle Ursache, solchen Gefahren mindestens höchst mögliche äußere Vortheile als Gegengewicht in die Wagschale zu legen.

[138] Von einem politischen Charakter, einer Verbindung der Bande mit Rom und dem Exkönig von Neapel hat Moens nichts entdecken können. Unbedingt floß kein Pfennig seines Lösegeldes, weder nach Rom noch in die Provinz Salerno, denn er sah mit eigenen Augen, wie die Beträge der verschiedenen Lösegeldraten jedesmal unter die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft vertheilt wurden. Wohl, aber erzählte man ihm, daß in Apulien, wo das Räuberthum in höchster Blüthe steht, ein Räubergeneral Namens Crocco hause, der weit über tausend Mann und viele Unteranführer befehlige und in engen Beziehungen zu Franz dem Zweiten stehe. Indessen verhehlten auch Moens’ zeitweilige Herren nicht, daß ihnen Bomba Sohn mehr an’s Herz gewachsen war, als Victor Emanuel. „Denn,“ meinte einmal Manzo, der Hauptmann der Bande, „wenn wir den König Galantuomo fingen, so würden wir uns erst ein Lösegeld von hunderttausend Ducaten von ihm geben lassen und dann – ihn niedermachen. Fiele aber Franz der Zweite in unsere Hände, – ihn regalirten wir mit dem herrlichsten Schmause, den wir anrichten könnten, und ließen ihn dann frei.“

Eine Hand voll Mais war die tägliche schmale Kost der Bande und ein Stück Supersato, eine magere, unschmackhafte Wurst, galt als großer Leckerbissen. Zähes Ziegenfleisch oder ein spärlicher Lammbraten bezeichneten Tage hoher Feste. Es gab Wochen, wo man buchstäblich Hunger litt, wo auch Moens froh war, wenn er sich an rohen Zwiebeln, an Kohlhäuptern, hartem, schimmeligem Brode und sogar an dem ranzigen Fette laben konnte, das sonst zum Wichsen des Schuhwerkes dient.

Der Hauptmann selbst, Manzo, näherte sich schon etwas mehr dem Räuberideal, wie es der jugendlichen Phantasie vorzuschweben pflegt. Er war ein bildhübscher Mann von angenehmen Umgangsformen, entschlossen, pünktlich und in seiner Art großmüthig, gegen den Gefangenen aber stets mild und menschlich, wenn ihn nicht, was hin und wieder vorkam, eine fehlgeschlagene Unternehmung oder das nicht prompte Eingehen einer Lösegeldrate in Zorn versetzte. Dann gab es freilich wilde Scenen, in denen die Drohungen mit Kopf- und Ohrenabschneiden den stehenden Refrain bildeten. Auch hierbei verließ unsern Briten jedoch seine Kaltblütigkeit nicht. „Ganz, wie Ihr wollt,“ antwortete er, und so ging allmählich der Sturm ohne üble Folgen vorüber.

Seiner Bande gegenüber war Manzo absoluter Dictator, der stricten Gehorsam forderte. Eines Tages war einer seiner Leute, ein ehemaliger italienischer Soldat, welchen lediglich die Angst vor einer ihm wegen Insubordination zuerkannten Strafe in die Reihen der Räuber geführt hatte, mit einem Cameraden in Streit gerathen und begann reichlichen Gebrauch von seinen Fäusten zu machen. Manzo gebot ihm Ruhe und da der Bursche nicht auf der Stelle gehorchte, so stürzte er auf ihn los, schlug ihn nieder, trat auf ihn und schleifte sein Gesicht so lange auf den Felsblöcken des Bodens hin und her, bis es zu einer unbestimmten blutigen Masse geworden war und selbst das Zahnfleisch in Fetzen herumhing. In solchen Momenten sah Manzo wie ein leibhaftiger Teufel aus, die Oberlippe aufgeworfen, die weißen Zähne fletschend und mehr brüllend als sprechend. Trotzdem hing die Bande mit wahrer Liebe an ihrem Hauptmann, der sich allezeit durchaus selbstlos zeigte, wenn es an das Vertheilen von Nahrung und Beute ging, und gar manchmal seinen eigenen Antheil den Andern preisgab.

Die schlimmsten Tage hatte Moens zu überstehen, wenn die übrige Gesellschaft auf Raub auszog und er unter der Obhut seiner schon oben genannten Peiniger Pepino und Scope allein zurückbleiben mußte. Namentlich erwies sich Pepino, der gern seine höhere Würde geltend machte, als grausamer Tyrann und quälte ihn auf die kleinlichste und raffinirteste Weise. Tage lang gab er ihm kaum ein Stück Brod zu essen, stahl ihm, was er an kleinen Habseligkeiten noch bei sich hatte, behandelte ihn auf das Brutalste und drohte ihm ohne Unterlaß mit Revolver und Dolch. Eine Hauptergötzlichkeit Pepino’s pflegte zu sein, den Engländer zur Zielscheibe seines Messers zu erwählen. Moens mußte die Arme ausbreiten und nun schleuderte jener sein langes Stilet zwischen Arm und Leib seines Gefangenen hindurch nach der Steinwand der Höhle. „Niemals ließ ich die mindeste Furcht blicken,“ sagt Moens, „vielmehr entgegnete ich gelassen, es sei ja weiter nichts, zu sterben; die Sache gehe rasch vorüber und in der andern Welt erwarten uns viel köstlichere Freuden. Die Kerle hatten die entsetzlichste Angst vor dem Tode, und meine Unerschrockenheit, mein Spott über ihre Feigheit imponirten ihnen schließlich so, daß sie später nur selten noch auf ihre alten Drohungen verfielen. Man mußte ihnen bei jeder Gelegenheit zeigen, daß man sich aus ihren Quälereien nichts machte, und unter Umständen sich selbst thätlich Autorität zu verschaffen suchen. So zogen wir an einem heißen Tage einmal in Reih’ und Glied einen steilen Berg hinan. Plötzlich kam es meinem Hintermann in den Sinn, daß ich nicht geschwind genug marschire, obwohl ich meinem Vordermann hart an den Fersen nachschritt. Wüthend begann der Mensch mich mit dem Kolben seines Gewehrs zu stoßen, manchmal auch mit dem Lauf zu bearbeiten: Eine Weile ließ ich mir das Ding ruhig gefallen, endlich aber drehte ich mich, wie im höchsten Zorn, herum und schwang meinen Stock mit beiden Händen über seinem Kopfe. Verblüfft trat er zurück, hob aber dann mit wildem Fluche seine Flinte an den Backen und wollte auf mich anschlagen. Rechtzeitig packte ich ihn am Arme; da stürmten zwei Andere auf mich los und ihrem Cameraden zu Hülfe. Ohne eine Miene zu verziehen – wenngleich mir nicht eben wohl zu Muthe war – sprach ich: ‚Schießt mich nur immer todt, je eher, je lieber, an einem Leben unter Lumpen, wie Ihr es seid, liegt mir ohnehin nichts!‘ – und auf der Stelle ließen mich die Burschen los und gehen und marschiren, wie ich wollte und konnte. Keiner sagte mehr ein Wort, und von Stunde an konnte ich sehen, welchen Eindruck ihnen meine Todesverachtung gemacht hatte. Als wir an unserm Rastorte anlangten, wurde die Heldenthat des Gefangenen, der den Muth gehabt hatte, einem Banditen zu drohen, augenblicklich den Andern erzählt und den ganzen Abend hindurch blieb ich am Lagerfeuer der Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit und Achtung.“

Diese Lagerfeuer auf den Bergen haben in der That etwas Malerisches, und wenn sich die Bande im Kreise um sie niederstreckte, erschien der einzige Moment ihres Lebens, der etwas wie Romantik aussah. Sonst war auch ihre äußere Erscheinung nichts weniger als romantisch. Ihr Costum, gar nicht übel, so lange es neu und sauber, ist bald nichts mehr als ein Ensemble von Lumpen und Flecken, unvollständig und kläglich; ein Stück ist auf rascher Flucht verloren gegangen, ein anderes einmal einem Bauerlieferanten zu vorläufigem Pfande gegeben, ein drittes den Carabiniers in die Hände gefallen. Der Putz, welchen der Brigant besitzt und liebt, buntseidene Halstücher und Schärpen, Ketten und Ringe, kommt nur bei außerordentlichen Gelegenheiten zum Vorschein und blos dann, wenn die Luft rein und keine Verfolgung zu fürchten ist. Solche glückliche Zeiten treten selten ein; die Sorge um das tägliche Brod läßt dem Räuber frohe Feststimmung und heitern Müßiggang mit Lust und Gelag wenig aufkommen. Abends aber, rund um die Flammen des Wachfeuers, wird der ganze Salvator Rosa wieder lebendig. In allen möglichen Attituden umgeben die braunen Gesellen den lohenden Holzstoß, ihre Büchsen in den Händen, ihre wilden Gesichter von der Gluth erhellt, während die Schildwache, eingehüllt in ihre weite Capuze, im Schatten der grotesken Felsblöcke und zwischen den finsteren Bäumen des Waldes schweigend auf- und abschreitet und auf die pittoreske Scene die Sterne vom tiefblauen italienischen Nachthimmel herniederglänzen. Auf eine kurze Weile und notabene aus der gehörigen Entfernung als Bild geschaut, ist das Ganze packend genug und voller prächtiger Motive für Maler und Dichter, – damit erschöpft sich aber auch das Interesse vollauf.

Manzo’s Bande und die unter Pepino Cerino’s Specialbefehl stehende Abtheilung derselben trugen jede verschiedene Uniform beide – d. h. immer so lange sie neu waren – sahen recht respectabel aus und waren zweckmäßig und einfach, mit minderem Flitterstaat behangen, als man sich Brigantencostüme vorzustellen pflegt. Manzo’s Mannen hatten lange Jacken von starkem, gelbbraunem Tuche, mit einem merkwürdigen Systeme von Taschen ausgerüstet, namentlich mit einer förmlichen Zaubertasche hinten im Schooße. Ein Paar Beinkleider, zwei Hemden, drei bis vier Pfund Brod, ein großes Stück unappetitlichen Specks, einen Käse und noch unterschiedliche andere größere und kleinere Dinge, das Alles sah Moens, gelegentlich einer Haussuchung nach einem vermißten Artikel, eines nach dem andern aus einer einzigen dieser Wundertaschen an’s Tageslicht fördern. Die dunkelblaue Weste war auf der Seite zusammengehäkelt, in der Mitte aber mit einer Reihe funkelnder, vergoldeter Knöpfe geschmückt und gleichfalls mit mehreren praktischen Taschen ausgestattet. Die beiden unteren beherbergten Patronen, Kugeln, Schießpulver, Messer und ähnliche harmlose Räuberunentbehrlichkeiten; zwei obere bargen Uhr und [139] Zündhütchen. Die blautuchenen Hosen wichen in Schnitt und Einrichtung nicht von denen des italienischen Landmanns ab. –

Schon manche Woche war verstrichen und Moens’ Freilassung stand noch immer in weiter Ferne. Die Räuber glaubten nämlich in ihrem Gefangenen eine Persönlichkeit von hoher politischer Bedeutung und zugleich einen nahen Verwandten Lord Palmerston’s erwischt zu haben und bildeten sich ein, das italienische Gouvernement selbst werde jedes beliebige Lösegeld für diesen wichtigen Gefangenen zahlen. Deshalb spannte man Anfangs seine Forderungen sehr hoch. Zuerst verlangte man die runde Summe von hunderttausend Ducaten für ihn und seinen ursprünglichen Mitgefangenen, einen Mr. Ainsley; später ging man auf die Hälfte, auf fünfzigtausend Ducaten, herunter. Und schließlich, nach langen Verhandlungen und vielen Drohungen mit Kopf- und Ohrenabschneiden, begnügte man sich mit dreißigtausend. Die Hauptschwierigkeit war nun, nicht diese Summe aufzubringen, wohl aber sie den Banditen zu übermitteln. Bei strenger Strafe verbietet das Gesetz jedwede Zahlung von Lösegeld an die Räuber und überhaupt allen Verkehr mit ihnen, und da die Ergreifung eines vermeintlichen englischen Lords und Verwandten Palmerston’s in ganz Italien ein ungeheueres Aufsehen gemacht hatte, so war das Land ringsum von Soldaten durchstreift, sehr zur Lebensgefahr für den Gefangenen, der, von ungewöhnlicher Körpergröße, um einen Kopf sämmtliche Mitglieder überragend, alle Mühe hatte, sich gegen die Kugeln der Carabinieri zu decken, die ihn wegen seiner stattlichen Erscheinung für den Räuberhauptmann zu halten pflegten. Einmal stürzte er in dem allgemeinen Durcheinander jäher Flucht vor den nachsetzenden Truppen, verstauchte sich den Arm, wäre in einem Morast beinahe erstickt und erhielt obendrein einen Streifschuß am Schenkel. Doch entkam er zu guter Letzt aus allen diesen Gefahren mit heiler Haut, fühlte sich aber von sehr wenig freundschaftlichen Gesinnungen gegen eine Regierung beseelt, die Italien noch immer nicht von dem alten Schandfleck des Brigantaggio zu reinigen gewußt hat.

„Der entsetzlichste Moment meiner ganzen Haft, ein Moment der heftigsten Erschütterung für mich und meinen Gefährten war der Augenblick, da wir darum loosten, wer von uns Beiden frei abziehen sollte, um das Lösegeld aufzutreiben und Mittel und Wege zu finden, es den Banditen zuzuführen. Ich hielt die beiden Holzpflöckchen in der Hand, welche die Loose vorstellten, und Ainsley zog. Als er das längere Stück, das Glücksloos, erwischte, war mir’s nicht anders zumuthe, als hätte ich um mein Leben gewürfelt und es verspielt. Der Abschied von meinem Reisegefährten wird mir unvergeßlich bleiben!“ schreibt Moens.

Nur ein einziges Mal bot sich ihm eine leidliche Chance zum Entkommen dar; aber da hätte er erst zwei Männer im Schlafe und einen dritten aus der Entfernung niederschießen müssen. Es war in einer tiefen Höhle. Antonio und Pavone hatten sich quer vor den Eingang gestreckt und waren eingeschlafen und Scope hatte sich ein paar Schritte weiter in’s Freie hinaus begeben, um dort in der warmen Sonne sein Hemd von der zahlreichen Besatzung zu befreien, die sich auf demselben tummelte; denn da die Banditen nur selten Kleider und Wäsche wechseln, noch seltener sich waschen, so kann man sich vorstellen, in welch’ grauenhafter Weise gewisse Schmarotzer sich an und auf ihnen entwickelten. Zwei Gewehre, eine einfache und eine Doppelflinte, standen im Bereiche von Moens’ Arm; leicht hätte er sich der einen bemächtigen und die beiden Schlafenden niederstrecken und dann mit der andern Scope über den Haufen schießen können, falls dieser über ihn herfallen wollte. Gewiß, die Versuchung war groß und mehr als einmal zuckte ihm die Hand nach den Waffen. Allein sein Herz empörte sich gegen einen doppelten, vielleicht dreifachen Mord. Sein eigenes Leben war nicht unmittelbar bedroht, er durfte keinen Zweifel hegen, daß auch der letzte Ducaten des Lösegeldes für ihn beschafft werden würde, und – er überwand die Versuchung. Zum Glücke zog bald darauf eine Viehheerde nahe der Höhle vorüber und weckte die Schläfer. Damit war allem etwaigen Schwanken ein Ende gemacht, eine zweite Gelegenheit zur Flucht kam aber nicht wieder.

Jener Pavone hatte schon vor seinem Räuberleben zwei Menschenleben auf seinem Gewissen. Die erste Blutschuld hatte ihm drei Jahr Zuchthaus eingetragen, zum zweiten Male fühlte er keine Lust den Gerichten zu nunmehr härterer Strafe in die Hände zu fallen, und so zog er in den freien Wald zu Manzo’s Bande. Nach der Praxis, welche das italienische Gouvernement gegen die Angehörigen von Briganten befolgt, hatte man sein Weib und seine Kinder in den Kerker geworfen. Gar gern hätte er sich nun selbst den Behörden gestellt, um die Freiheit der Seinigen zu erwirken, allein die Furcht vor Manzo’s Rache hielt ihn von diesem Schritte zurück. Ohne Gnade und Barmherzigkeit hätte der Hauptmann Pavone’s ganze Familie gemordet, wäre dieser von ihm desertirt. Sonst kommt es nicht eben selten vor, daß sich minder gravirte Mitglieder von Brigantenbanden freiwillig der Gerechtigkeit überliefern, sobald sie sich ein Stück Geld zusammengeraubt haben, das ihnen erlaubt, sich im Gefängniß eine gute Verpflegung zu verschaffen. Das nennen die Strolche „sich vom Geschäft zurückziehen“.

Gewaltige Sorge und Noth verursachte es unsern Briganten, wie sie ihren Gefangenen vor den Augen der Landleute verbergen sollten, wenn diese zur Abwickelung ihrer Geschäfte bei der Bande erschienen. In keinem Falle durfte er jener ansichtig werden, damit er sie nicht etwa später wieder erkenne und Zeugniß wider sie ablege, womit ihnen leicht zu einem Dutzend Jahre Kerker verholfen werden konnte. Wenn der glückliche Tag kam, oft nach langem sehnsüchtigen Harren, der Brod und Mehl, Ciceri (eine bekannte italienische Erbsengattung), Milch und Rosolio brachte, gebot es sowohl ein gewisser Point d’Honneur wie die Vorsicht, den Gefangenen nach Möglichkeit unsichtbar zu machen. Die Capuze über den Kopf gezogen, mußte er sich bei derlei Gelegenheiten bald in einen finstern Winkel drücken, bald auf den Rücken niederlegen, bald sich die seltsamsten Vermummungen gefallen lassen.

Endlich lief die letzte Rate des bedungenen Lösegeldes ein, die Stunde der Freiheit hatte dem Gefangenen geschlagen. Es bedarf keiner Versicherung, daß dies ein unvergeßlicher Freudentag für den lange Umhergeschleppten wurde, aber auch für die Bande gestaltete sich der ersehnte Moment zum Feste. Sobald das Geld anlangte, setzte sich die Gesellschaft zum Spiele nieder, das, und zwar sehr hohes Spiel, überhaupt ihre Lieblingserholung ausmachte und mit einer Leidenschaft getrieben wurde, wie sie nur etwa bei den Goldgräbern Californiens Ihresgleichen hat. Im Verlaufe weniger Stunden befand sich die gesammte beträchtliche Summe blos noch in den Händen von Vieren. Ehe Moens feierlich entlassen und geleitet wurde, ließ Manzo seinen Hut umhergehen. Sein Gefangener sollte als Gentleman nach Neapel zurückkehren können, meinte er, und brachte wirklich den Betrag von einigen siebenzig Napoleons für ihn zusammen, außer verschiedenen Ringen und anderen Andenken, mit denen man ihn beschenkte.

„Wohl jubelte ich hell auf, als nach so mancher langen, bangen Woche das Räuberlager mit seinen wilden Gesellen, seinen Schrecken und Entbehrungen hinter mir lag,“ schließt Moens seine Aufzeichnungen, „jetzt aber, wo die Gefahr vorüber ist, wo ich lebendig, mit ganzem Ohr und heilen Gliedern wieder in Sicherheit bin; wo das geopferte Geld schon halb und halb verschmerzt ist – jetzt gehören mir die Momente unter den Banditen zu jenen Erinnerungen, welche man um keinen Preis aus seinem Leben missen möchte, ja manchmal überschleicht es mich wohl wie eine Art von Sehnsucht nach jenem poetischen Intermezzo einer prosaischen Zeit, mit dem mich das Schicksal vor vielen Tausenden civilisirter Menschen bevorzugte.“




Europa’s Allerhöchster.


Durch Saussure, den berühmten Genfer Naturforscher, war im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts der Montblanc für die Wissenschaft neu entdeckt und der Welt bewiesen, daß der Willenskraft, dem Muth und der Ausdauer selbst der „König der europäischen Berge“, dessen Majestät Jahrhunderte lang für unnahbar gegolten hatte, endlich unterthan werden mußte. Aber auch das romantische Interesse war geweckt; die Saussure’sche Besteigung und deren Beschreibung fielen in eine Periode, wo durch die Schriften Rousseau’s und die allgemeine Richtung der Zeit überhaupt mit der Empfindsamkeit auch der Sinn für die schöne [140] Natur auf einmal wie aus langen Fesseln befreit erschien. Chamounix wurde bald ein Wallfahrtsort aller Naturfreunde und auch die Zahl der Montblancbesteigungen mehrte sich von Jahr zu Jahr. Lange Zeit hindurch stellte das reiche Albion das stärkste Contingent, denn eine Montblancbesteigung verlangte immer noch nicht blos Muth und Ausdauer, sondern vor allen Dingen auch eine vollgespickte Börse. Noch 1849 giebt J. G. Kohl die Kosten eines solchen Unternehmens auf eintausend Franken an. Nicht minder wie der romantische Reiz wirkte bei den Engländern auch namentlich der Ruhm, der mit einer Montblancbesteigung verbunden war. Noch bis vor zehn Jahren etwa war ein solcher kühner Reisender bei seiner Rückkehr längere Zeit der Löwe des Tages in den Salons von London, und für solche Ehre wagt ein junger Gentleman schon etwas. Es kam sogar vor, wie Murray 1847 in seinem berühmten Handbuch erzählt, daß ein Engländer bei vollkommen trübem Wetter, wo nach der Erklärung der Führer durchaus nichts zu sehen war, den Gipfel erstieg, nur um sagen zu können, er sei dagewesen. Kleine Motive für große Unternehmungen sind eben bei den Engländern nicht selten: ein nicht geringer Theil der sogenannten britischen Originalität beruht darauf.

Eine entschieden heiterere und anziehendere Erscheinung, als jener im Nebel auf den Montblanc steigende Gentleman, ist ohne Zweifel die geistreiche, muntere Französin, Fräulein d’Angeville, welche häufig als die erste Montblancbesteigerin genannt wird. Dies ist nicht ganz richtig, denn schon früher wurde das Haupt des Bergriesen von einem weiblichen Fuß unter den Pantoffel gebracht, wie wir gleich sehen werden. Der Herr Herausgeber dieser Blätter äußerte mir den ganz ausdrücklichen Wunsch, den Lesern der Gartenlaube etwas Näheres über diese interessante Erscheinung mittheilen zu können. Ich habe das Mögliche gethan, um in der mir gestellten kurzen Frist dieser Aufgabe zu entsprechen. Professor Dr. Galiffe, der ausgezeichnete Genfer Geschichtsforscher, hatte auf meine Bitte die Güte, sich direct an die Dame zu wenden, und diese ihrerseits die Gefälligkeit, umgehend zu antworten. Da liegt nun dieser Brief vor mir, in dem Fräulein d’Angeville nach einigen Eingangsworten schreibt: „Indem ich Ihren Brief artikelweise beantworte, erwidere ich für’s Erste und Zweite, daß niemals ein in’s Einzelne gehender Bericht über meine Montblancbesteigung erschienen ist, wohl aber fand sich und zwar in fast allen Blättern der Schweiz und Frankreichs die Nachricht von dieser Expedition mit Lobeserhebungen über den Muth derjenigen, welche sie unternommen und glücklich vollendet hatte; denn zu jener Zeit, im September 1838, galt das für schwierig für einen Mann und unmöglich für eine Frau! … Die Einzige, welche diesen hohen Gipfel vor mir berührt hat, war eine Bäuerin aus dem Thal, Namens Marie Paradis, dreißig Jahre vor mir (1809); sie lebte noch im Jahre 1838 und erzählte mir selbst, sie habe diese Besteigung nicht mit ihren eigenen Kräften ausführen können. Auf der Hälfte des Weges habe sie sich schon sehr ermüdet gefühlt und nach Zurücklegung des zweiten Dritttheils wurde sie abwechselnd von den Führern bis zum Gipfel getragen. Mich anbelangend, so bin ich, obgleich durch eine betäubende, fast möchte ich sagen, lethargische Schlafsucht belästigt, unausgesetzt auf meinen eigenen Beinen gegangen, ohne daß mir ein einziges Mal der Gedanke beigekommen wäre, auf mein Vorhaben zu verzichten. Auf dem Gipfel angelangt, kam ich sofort wieder zu dem normalen Zustand, blieb eine Stunde oben und schrieb fünf Briefe. Im Schneeschlitten, im Laufschritt oder auch in dem von der Tageshitze erweichten Schnee fortrutschend, bin ich nach Chamounix zurückgekehrt, wo mich ein förmlicher Triumph erwartete. Keine üble Folge für meine Gesundheit hat mich meine Verwegenheit bereuen lassen, ausgenommen, daß ich acht Tage lang schmerzende Augen und das Gesicht verbrannt hatte und eine neue Haut bekam, wie die Boas.“

Das ist es, was die tapfere Dame heute, achtundzwanzig Jahre nach ihrer Heldenthat, uns mitzutheilen die Güte hatte. Murray erzählt noch, daß sie sich oben von den Führern emporheben ließ, um mit vollster Sicherheit behaupten zu können, so hoch, wie noch kein Mensch vor ihr in Europa, gewesen zu sein. Da auch dieser Engländer sich auf directe Mittheilungen von Fräulein d’Angeville stützt und dieser humoristische Zug ihrem ganzen heiteren Wesen zu entsprechen scheint, so wollen wir ihn nicht übergehen. Einen anderen interessanten Beitrag zur Charakteristik der merkwürdigen Frau liefert mir noch eine waadtländische Zeitung vom August 1863. Darin heißt es:

„Eine fünfundsechszigjährige Dame hat, von einem einzigen Führer begleitet, in zehn Stunden das Oldenhorn (9260 Fuß hoch, in den waadtländischen Alpen) vom Hotel des Diablerets aus bestiegen. Auf dem Rückweg brach bereits die Nacht an, als der Führer plötzlich gestand, den rechten Weg verloren zu haben. Die unerschrockene Reisende nahm ihren Muth zusammen und erklärte, an dem Ort, wo man sich gerade befand, den Tag erwarten zu wollen, um sich nicht unnöthiger Weise Gefahren auszusetzen. Allein der Führer entgegnete, er sei zu erhitzt, um in dieser Höhe ohne Obdach übernachten zu können. Man trennt sich also, die Dame bleibt und der Führer steigt, so gut es gehen will, zur nächsten Sennhütte hinab, eine Laterne zu holen. Endlich kehrt er mit dieser zurück und nun findet sich, daß die tapfere Sechszigerin unmittelbar an einem furchtbaren senkrechten Felsenabgrunde zwei Stunden verweilt hat. Der Rückweg wurde darauf ohne weitere Schwierigkeiten vollendet. Das Alles klingt sehr unwahrscheinlich, allein es genügt, den Namen der Dame zu nennen, um alle Zweifel zu zerstreuen: es war Fräulein d’Angeville, die kühne Montblancbesteigerin von ehemals, welche am Anfang der letzten Woche diesen ihren neuesten abenteuerlichen Plan ausgeführt hat. Sie wohnt gegenwärtig in Lausanne.“

Später hat sich die Zahl der Montblancbesteigerinnen gemehrt, und allein aus der letzten Saison 1865 werden deren vier genannt.

Die schwierigsten Aufgaben, die Auffindung einer gangbaren Straße zum Montblancgipfel und seine ersten Besteigungen, waren, wenn auch mit vielen Gefahren und Mühseligkeiten, doch ohne Unglücksfälle gelöst worden. Aber der überwundene Bergriese hat darum doch noch seine Rache genommen und später manches Opfer verlangt. Gar mancher Führer hat seine Kühnheit, oft auch seine Unvorsichtigkeit, mit dem Leben büßen müssen, mancher muthige Alpensohn liegt unter dem Schnee herabgestürzter Lawinen begraben oder seine Gebeine bleichen in unzugänglichen Schluchten. Eine der entsetzlichsten Katastrophen ist diejenige, welche sich 1820 bei einer Besteigung durch den russischen Hofrath Dr. Hamel ereignete. Am 18. August trat dieser, von zwei Engländern, J. Dornford und G. Henderson, und zwölf Führern begleitet, die Reise an. Man übernachtete an den Grands-Mulets unter einem Zelt, wo man auch den folgenden Tag wegen schlechten Wetters zubringen mußte. Der 20. August brachte wieder Sonnenschein, so daß die Reise fortgesetzt werden konnte. Kurz nach sieben Uhr Morgens erreichten die Wanderer jene drei übereinander liegenden Schneefelder, welche gewissermaßen die letzten Stufen unter dem Hauptgipfel bilden. Um acht und ein halb Uhr betraten sie das höchste und die Führer wünschten den Fremden bereits Glück, daß nun alle Gefahren überwunden seien. Es wurde ein kleines Frühstück eingenommen, dann ging es unter Scherzen und Lachen weiter bei herrlichstem Wetter. In einer Reihe hintereinander gehend, schritten die Wanderer, das Schneefeld hinan, Dr. Hamel war der Letzte. Man sprach jetzt nicht mehr, da der Luftmangel sich empfindlich fühlbar machte. Plötzlich fühlt Dr. Hamel den Schnee unter seinen Füßen weichen, der Schnee häuft sich um ihn und reißt ihn unaufhaltsam fort: Hamel glaubt sich allein von einer Schneelawine überschüttet. Es gelingt ihm, den Kopf hervorzuarbeiten, da sieht er, daß der ganze Abhang in Bewegung ist und daß er sich nahe bei einem gähnenden Felsschlund befindet. Mit Anstrengung der letzten Kräfte bringt er es dahin, festen Fuß zu fassen; er sieht auch Henderson, Dornford und drei Führer aus dem Schnee auftauchen. Er glaubt schon Alle gerettet, als auch noch Andere wieder erscheinen, und schon stoßen die Reisenden ein freudiges Hurrah aus. Aber drei Führer sind und bleiben verschwunden: Pierre Balmat, der älteste Sohn jenes P. Balmat, der sich unter Saussure’s Führern befand, Pierre Carrier, der schon elf Mal den Montblanc bestiegen hatte, und Aug. Terraz. Die Reisenden steigen in die Schlucht hinab, sie suchen überall, sie rufen die Namen: das Schweigen des Todes ist die Antwort. Alle späteren Versuche, die die Verunglückten wieder aufzufinden, waren vergebens, erst in den letzten Jahren hat man einige ihrer Ueberreste am Fuße des Bossonsgletschers entdeckt. –

Inzwischen hat auch der Montblanc selbst, der „Urzeuge der Schöpfung“, den Einfluß der fortschreitenden Cultur erfahren. Manche gähnende Abgründe haben heute durch ein festes eisernes

[141]

In der Gletscherwelt des Montblanc.
Nach einer photographischen Aufnahme im Besitz des Herrn Rudolf Bunge in Köthen.

[142] Geländer ihre Schrecken verloren und der Felsen an den Grands-Mulets, unter dessen Abhang man sonst die Nacht verbringen mußte, trägt jetzt eine aus Steinen aufgeführte, mit Bretern gedeckte, sieben Fuß breite, zwanzig Fuß lange Hütte, in der sich zwei Glasfenster und ein eiserner Ofen befinden, wo es sich denn ganz behaglich übernachten läßt. Ein humoristischer Engländer, der hier vor einigen Jahren auch ein kostbar gebundenes Fremdenbuch stiftete, hat dieser Hütte sogar den allerdings etwas allzu stolz-euphemistischen Namen „Hôtel impérial des Grands-Mulets“ gegeben. Die Natur selbst scheint die Ersteigung des Montblanc bedeutend erleichtern zu wollen, denn manche Thalgletscher, wie z. B. die früher so sehr gefürchteten Bossonsgletscher, sind bedeutend geschmolzen und gesunken, so daß ihre einst so drohenden Eisspalten jetzt nur noch eine geringe Gefahr bieten. Andrerseits haben sich die Kosten bedeutend gemindert und Dr. Piachaud aus Genf gebrauchte bei einer Besteigung im Jahre 1864 Summa Summarum zweihundert und fünfzig Franken, ohne sich irgend einen Comfort zu versagen. Seiner Beschreibung, die in vieler Hinsicht als mustergültig anzusehen ist, entnehmen wir den nachfolgenden gedrängten Auszug.

Die beiden Reisenden, Dr. Piachaud und der tüchtige Genfer Landschaftsmaler Loppé, der außer den Führern von allen Sterblichen wohl schon am häufigsten auf dem Montblanc war – „es ist nur ein Spaziergang,“ pflegt er zu sagen – traten am 27. Juli 1864 um acht Uhr Morgens ihre Wanderung von Chamounix aus an. Sie hatten vier Führer, zwei für jede Person, und einen Packträger bei sich, was vollkommen genügt. Für den ersten Tag ist ein gewöhnlicher Reiseanzug der geeignetste; für den zweiten muß man warme Winterkleider haben, welche der Packträger bis zu den Grands-Mulets trägt. Ebenso dürfen starke, nägelbeschlagene Gebirgsschuhe nicht fehlen. Für das Gesicht dient eine Maske aus weißem Leinen zum Schutz gegen die stechenden Sonnenstrahlen; die Augen werden durch eine blaue Brille gegen den blendenden Schnee gewaffnet.

Von Chamounix geht der Weg zunächst durch ein anmuthiges Tannen- und Lärchengehölz, dann über den wildrauschenden Bergbach Dard und hierauf einen steilen Abhang hinan bis zu der Pierre Pointue in etwa zwei und einer halben Stunde. Dort findet sich eine kleine Schenke, welche von der Frau eines Führers gehalten wird und von wo aus man den ganzen Bossonsgletscher von seinem Ursprung an dem großen Plateau bis zu seinem Ende gegen das Chamounixthal übersehen kann. Bis zu der Pierre à l’Echelle, einem breiten Felsen, steigt man dann zwischen Rhododendren und einer noch üppigen Alpenvegetation in ein und einer halben Stunde hinauf. Der Felsen hat seinen Namen von den Leitern, welche man oft bei den Gletscherübergängen nöthig hat und welche hier unter einem Steinvorsprung aufbewahrt werden. Hier verläßt man, wie unser Reisender sich ausdrückt, das feste Land, um von nun an, wie es unsere Abbildung zeigt, nur auf Schnee und Eis weiter zu schreiten. Bei dem Uebergang über den Gletscher bieten die von der benachbarten Aiguille du Midi von Zeit zu Zeit mit der Schnelligkeit einer Kanonenkugel herabrollenden Steine manche Gefahren. Von dem Punkt an, wo der Bossonsgletscher sich mit dem Taconnygletscher vereinigt, mehren sich die Spalten, welche man jetzt jedoch unter der Leitung geschickter Führer meistens zu umgehen weiß. Gegen vier Uhr Nachmittags langten die Reisenden an der oben beschriebenen Hütte an den Grands-Mulets, etwa dreitausend Meter über dem Meer, an, wo sich eine herrliche Aussicht über die nächstgelegenen Alpenspitzen, dieses ganze Chaos hervorragender Hörner, Felsenzacken und Schneefelder, weiter über die niederen Ketten des Chablais bis zum blauen Leman darbietet. Dr. Piachaud kann diese Excursion zu den Grands-Mulets allen Reisenden, welche den vollen Genuß einer Hochalpenwanderung haben wollen, aber eine Besteigung des Montblanc selbst fürchten, nicht genug empfehlen.

Während die Führer das Abendessen im „Hotel Impérial“ bereiteten, zeichnete Loppé, auf einem etwas höher gelegenen Gletscher sitzend, einige Studien in sein Skizzenbuch und Dr. Piachaud sah sich unter der „magern Flora“ dieser Einöde um. Großartig stellte sich endlich der Sonnenuntergang ein. Als die Sonne hinter der bläulichen Jurakette verschwunden war und tief unten das Chamounixthal schon im dunkelsten Schatten lag, zeigten sich alle benachbarten Alpengipfel noch im flammendsten Purpur, bis auch sie endlich, der Montblancgipfel zuletzt, sich in jene bleierne Todtenfarbe hüllten, welche erst mit dem Morgenroth wieder verschwindet. Die Reisenden suchten, nachdem sie sich noch durch eine Tasse Thee erwärmt, ihr selbstbereitetes Lager in dem Karawanserai, wo inzwischen noch eine Schaar Engländer eingetroffen war. Diese brachen mit ihren Führern schon eine halbe Stunde nach Mitternacht auf, während unsere Reisenden erst um zwei ein halb Uhr ihre Wanderung antraten, nachdem sie sich noch durch eine Tasse warmen Weins zu ihrem beschwerlichen Tagewerk gestärkt hatten. Beim Schein einer Laterne wird der Gletscher betreten und nun wird die „cérémonie de la corde“ vorgenommen, d. h. die Verbindung der Wanderer durch ein starkes Seil. Diese Maßregel ist unerläßlich, ihre Vernachlässigung hat schon eine Menge Unglücksfälle herbeigeführt, so noch kurz vor der Reise des Dr. Piachaud den Tod eines jungen Mannes aus Chamounix selbst.

Nach dreistündigem Marsch langten die Wanderer in einer Höhe von zwölftausend Fuß am Anfang des sogenannten Grand-Plateau an, wo ein kleiner Halt gemacht wurde, um eine Erfrischung einzunehmen, obwohl in dieser Höhe schon wenig Appetit vorhanden ist. Um so großartiger ist das Naturschauspiel, welches sich hier darbietet: man befindet sich, wie Piachaud sagt, gewissermaßen in einem ungeheueren Circus, der ringsum von den riesigen Gipfeln Dôme du Goûté, Bosse du Dromédaire, dem eigentlichen Montblancgipfel, Corridor, Mont-Maudit und Montblanc du Tacul umragt wird, welche den Himmel mit ihren majestätischen Spitzen zu tragen scheinen. Hinter dem letztgenannten Berg trat gerade die Sonne hervor, als die Reisenden anlangten.

Von dem bezeichneten Punkt führen drei Wege zum Montblancgipfel. Der erste ist der, welchen Saussure einschlug und auf welchem später die Katastrophe bei der Expedition des Dr. Hamel sich ereignete; dieser Weg wird schon seit langer Zeit wegen der durch Lawinen drohenden Gefahren nicht mehr betreten. Der zweite Weg über den Dôme du Goûté und les Bosses du Dromédaire, obwohl ihn 1861 mehrere Engländer glücklich zurücklegten, ist gleichfalls außerordentlich beschwerlich. Der dritte Weg, den auch unsere Reisenden einschlugen, ist der weiteste, aber bequemste und sicherste. Nach drei Viertelstunden langten die Reisenden am Corridor an, einem breiten Schneeabhange zwischen dem Mont-Maudit und den Rochers-Rouges. Im Profil des Montblanc, wie man es von Genf aus sieht und mit demjenigen Napoleon’s des Ersten verglichen hat, bildet dieser Theil die Lippen, die unteren Rochers-Rouges die Nase, die oberen das Auge, die Calotte das „welthistorische Hütchen“. Große Schwierigkeit bietet die Ersteigung einer steilen einhundertfünfzig Meter hohen Schneemauer, welche den Namen Mur de la Côte erhalten hat; hier müssen Stufen in den harten Schnee gehauen werden, und die Reisenden brauchten drei Viertelstunden, sie zu erklimmen. Dann aber sind auch alle wirklichen Gefahren überstanden; dagegen stellen sich jetzt die Einflüsse des Luftmangels, erschwerter Athem, Schläfrigkeit, Muthlosigkeit in hohem Grade ein. Piachaud fühlte sie dermaßen, daß er nicht weiter gehen zu können glaubte und fast nur mit Gewalt fortgebracht werden konnte. Endlich um neun ein halb Uhr setzten die Reisenden den Fuß auf den höchsten Gipfel, einen von West nach Ost streichenden Grat, den Piachaud der Gestalt nach mit einem Eselsrücken vergleicht. Das erste, was die Reisenden hier fanden, war die „Visitenkarte“ der bereits vor ihnen hinaufgestiegenen jungen Engländer: zwei Champagnerflaschen, welche hier zu leeren eine geheiligte Sitte unter allen britischen Montblancbesteigern ist. Die Aussicht, welche sich den Reisenden darbot, war im Süden durch Nebel beschränkt, um so unermeßlicher gegen Osten, Norden und Westen: alle Alpenketten Savoyens, des Wallis, des Berner Oberlandes, der Jura und die weiten Länderstrecken, welche sich an diese Gebirge reihen, lagen zu ihren Füßen. Das erste moralische Gefühl, welches sich Piachaud’s hier oben bemächtigte, war das der Befriedigung, alle Schwierigkeiten glücklich überwunden zu haben: „ein Beweis,“ meint er, „daß wir sehr zu dieser Art von Stolz geneigt sind, selbst wenn wir auch unmittelbar vorher unsere Schwäche haben kennen lernen.“ Der hervorstechendste physische Eindruck war der der Kälte, sonst war alles Uebelbefinden verschwunden. Wegen dieser durch heftigen Wind vermehrten Kälte drangen die Führer darauf, nach zwanzig Minuten den Rückweg anzutreten. Er wurde glücklich zurückgelegt, obgleich das Hinabsteigen des Mur de la Côte noch größere Schwierigkeiten [143] darbot, als das Hinaufklimmen, und auch noch manche andere Fährlichkeiten zu bestehen waren. Auf dem Grand-Plateau ließ es sich Loppé nicht nehmen, noch einige Gletscher-, Eis- und Schneefelderstudien zu zeichnen, die wir in ihrer Ausführung später auf Genfer Ausstellungen wegen ihrer überwältigenden Naturwahrheit bewundern konnten. In der Hütte an den Grands-Mulets wurde zwei Stunden ausgeruht und ein stärkendes Mahl eingenommen, während sich draußen ein Gewitter entlud, und um sieben ein halb Uhr Abends langten die Reisenden, zwar ermüdet, aber höchst befriedigt von ihren Erlebnissen und den gewonnenen reichen Eindrücken aller Art, in Chamounix wieder an.[1]

Ein von der Direction der Führercompagnie zu Chamounix am Schluß der Saison 1865 aufgestelltes Verzeichniß giebt die Gesammtzahl der Montblancbesteigungen von 1786 bis heute auf zweihundertdreiundneunzig an; einhundertundsiebenundachtzig waren von Engländern, neununddreißig von Franzosen und Savoyarden, einundzwanzig von Amerikanern, neunzehn von Deutschen und neun, von Schweizern ausgeführt worden. Eine der merkwürdigsten und in socialer Hinsicht für unsere Zeit charakteristischesten Besteigungen fand im September 1865 statt, als eine Anzahl in Chamounix in Dienst stehender Kellner und Commis, denen sich mehrere Modistinnen (wahrscheinlich die schon oben erwähnten vier Damen) anschlossen, dieses Wagniß fast ohne Führer unternahm und, wenn auch mit vielen Schwierigkeiten, doch glücklich überstand. Damit wären also jene kühnen Unternehmungen, welche bis zur neuesten Zeit immer noch einen gewissen exclusiven Beigeschmack trugen, vollständig demokratisirt und auch an der Geschichte der Montblancbesteigungen der Culturfortschritt schlagend nachgewiesen worden. Aristokraten unter den Bergsteigern, die immer gern etwas Apartes für sich haben wollen, suchen sich bereits neue, gewagtere Ziele, und der englische, schweizerische und andere Alpenclubs sorgen dafür, daß unsere Nachkommen schwerlich noch jungfräuliche Alpengipfel zu überwinden finden werden.
W. Lampmann.




Blätter und Blüthen.


Ein Aschermittwoch unter Vagabunden. In dunkler, regnerischer Nacht verließ ich eine der stillen, gartenreichen Vorstädte, die London umkränzten, um einer eigenthümlichen Versammlung beizuwohnen. Scheußliche Scenen, die im Lambether Armenhause spielen, waren unlängst in der „Pall-Mall-Gazette“ mit grausiger Treue abconterfeit worden und hatten die Stadt, ja ganz England in Aufregung versetzt. Die größte Theilnahme erregte die Angabe, daß eine Menge obdachloser, auf den Verbrecherpfad getriebener Knaben in den „casual wards“ (Schuppen) jenes Armenhauses allnächtlich mit den abgefeimtesten alten Schurken und Strolchen zusammenlagern, daß sie dort in Nichtswürdigkeiten jeder Art unterrichtet werden und daher die Welt der Diebe, der Garottirer und der Galgenvögel gewissermaßen ihre nächtliche Hochschule in diesen traurigen Schlafhöhlen aufgeschlagen hat.

Ein Versuch sollte nun gemacht werden, die jugendlichen Vagabunden zu einem Meeting zusammenzubringen. Ihre Zahl beläuft sich in London auf etwa zehntausend. Zehntausend obdachlose Knaben treiben sich als verlorene Straßenläufer, wahre Bilder des Elendes, in dem hiesigen Menschen-Ocean herum! In den „Workhouses“ (sog. Arbeitshäusern), wo ein Theil von ihnen gelegentlich des Nachts Schutz sucht, hatten die Oberaufseher, durch die Direction des „Refuge for Homeless and Destitute Children“ (Asyl für obdachlose und mangelleidende Kinder) dazu aufgefordert, eine Mittheilung ergehen lassen, es werde in dem genannten Zufluchtshause am diesjährigen Aschermittwoch, den 14. Februar, eine solche Versammlung stattfinden. Indessen bedurfte es natürlich eines Lockungsmittels. Das Versprechen eines guten Nachtessens wurde gewählt; bei dieser Gelegenheit wollte man den zerlumpten, barfüßigen, ausgehungerten Bettelbuben und frühreifen „Zuchthausbesen“ einen Beweis des Mitleids geben und ihnen den Weg zu besserem Lebenswandel öffnen. Unter den schönsten Tugenden Englands – welches auch sonst seine Fehler sein mögen – ist die Mildthätigkeit zu nennen. Sein Fabrik-Proletariat ist ein schreckliches; in seinen großen Städten haust eine grimme, verthierte Armuth; aber sobald im gegebenen Falle ein Aufruf zur Hülfe erlassen wird, fehlen auch die Gaben nicht. Darin, wie in der Opferwilligkeit für Staats- und Parteizwecke, leuchtet England in Europa, leuchtet aber die amerikanische Republik allen anderen Völkern voran. Zahllose Wohlthätigkeitsanstalten sind aus britischem Boden hervorgegangen. Die zweimalige Gabe jedoch, die ein in London seßhafter amerikanischer Kaufmann, Hr. Peabody, für solche Zwecke in England gespendet hat, übertrifft alles je von Engländern Geleistete. Drei Millionen Gulden (250,000 Pfd. Sterl.) hat er der Verbesserung des Looses der arbeitenden Classen gewidmet; eine Schenkung, die „fürstlich“ zu nennen wohl eine Unterschätzung wäre.

Als ich in dem „Zufluchtshause für obdachlose und arme Kinder“ in Great Queen Street anlangte, fand ich bereits den größeren Theil der herbeigeladenen vagabundirenden Knaben um die schmalen Tische gereiht, das versprochene Nachtessen erwartend. Die Räumlichkeit war ehemals eine Wagenschuppen gewesen; hölzerne Pfosten stützten die niedrige Decke; die Beleuchtung war eine schwache. Am anderen Ende des Saales waren zwei Polizeimänner aufgestellt.

Da saßen sie, die Verlorenen und Verlassenen, die Auswürflinge des unaussprechlichsten Elends, eine Musterkarte von Zerrissenheit und ungewaschener, ungekämmter Verwahrlosung bildend. Sie waren übrigens still und ruhig, fast in peinlicher Weise. Sie harrten dem „Futter“ entgegen. Allmählich trollten noch ein Paar Spätlinge herein, schlotternden Ganges oder mit sonderbar ausgespreizten Beinen. Ein Wald von Haarwuchs bedeckte die Köpfe Aller. Einige trugen Wämmser, die ihnen bis an die Knöchel reichten; die Hosen waren nur noch stückweise zu erkennen. Ein paar hatten kaum das Hemd auf dem Leib, um die Hüften hingen sonderbare Fahnenfetzen; klappernd vor Kälte wackelten sie in den Saal herein und lugten mit thierisch scheuem Blick umher. Einige hatten verkrüppelte Glieder. Die Krücke diente dem Einen oder dem Anderen, um herbeihumpeln zu können; die Mehrzahl schien jedoch kräftigen Gliederbaues zu sein. Man sah blasse, abgehärmte Gesichter, eingefallene Wangen, auch einige Antlitze, auf denen sich, wenn der Schein nicht trog, frühzeitige Verworfenheit malte. Im Ganzen war die Gesichtsfarbe jedoch nicht schlecht; Manche freilich zeigten eine hektische Röthe und geisterhaft glänzende Augen. Es waren ein paar höchst confiscirte Physiognomien, aber auch nicht wenige ausdrucksvolle Köpfe dabei, mit nobel geschnittenen Zügen. Die im Allgemeinen schöne Form des englischen Stammes ließ sich selbst unter diesem Abschaum nicht verkennen. Irländer, däuchte mir, waren kaum da, obwohl diese celtische Nationalität den ärmsten Pöbel Londons bildet. Sie mochten fürchten – und diese Befürchtung, wie sich nachher herausstellte, hatte in der That Viele vom Kommen abgehalten, es sei von der Polizei eine Falle gestellt worden, um bei dieser Gelegenheit einen Fang zu thun oder wenigstens gewissen Geheimnissen der armen Gäuche auf die Spur zu kommen. Der Irländer ist von Herzen gewöhnlich gutmüthiger, als sein englischer Cumpan, aber doch auch wieder eher zum Mißtrauen geneigt.

Gegen zweihundert Knaben, im Alter bis zu sechszehn Jahren, waren an den Tischen versammelt. An einem Ende des Saales saßen achtzig reguläre Bewohner des Zufluchtshauses beisammen, und der Contrast zwischen diesen gewaschenen, gekämmten, anständig gekleideten Jungen, die doch ehemals gerade solche verstruppte Straßenwildlinge gewesen waren, und den zur Speisung geladenen Lazarussen war außerordentlich. Zwanzig Knaben des Zufluchtshauses machten die Aufwärter. Das Abendessen bestand aus einer schönen Portion saftigen Rindfleisches, mit einem Laibchen Weißbrod, einer kleinen Kanne Kaffee und einem Pfund Plumpudding. Ein stämmiger Krieger hatte nicht mehr verzehren können.

Stille, nur durch Hüsteln unterbrochen, hatte bis dahin geherrscht, und noch größere Stille, wo möglich, trat ein, als es an das Leeren der Teiler ging. Man konnte übrigens bemerken, daß derjenige, der an einem Tische das Weiterreichen zu besorgen hatte, dies stets mit Sorgfalt, selbst mit Geschick that und nichts für sich nahm, bis Alle versehen waren, und daß kein Versuch gemacht wurde, dem Aufwärter mehr abzunehmen, als für einen Tisch bestimmt war. Auch mit Gabel und Messer hantirte diese ruppige Gesellschaft ganz manierlich. Was an Unterhaltung vorkam, geschah in dem „Unterton“, der in englischer Privatconversation Sitte ist; man hätte fast glauben mögen, die Caricatur eines „stuck-up dinner“ (eines prätentiösen Gastmahls) sei beabsichtigt. Nur das verdächtige Kratzen am Kopf und an anderen Körpertheilen gehörte nicht zur Rolle. Gabel und Messer wurden zu häufig niedergelegt, um diese unaufschieblichen Geschäfte zu verrichten. Der Geruch, den die Versammlung verbreitete, war zudem, namentlich am oberen Ende der Räumlichkeit, fast überwältigend – „zoologisch“ im gefährlichsten Sinne des Wortes. Er streifte manchmal in’s Zibetkatzenartige über, und gern schöpfte man am Eingange von Zeit zu Zeit Luft.

War es still gewesen während des Fleisch-, Brod- und Kaffeegenusses, so verwandelte sich die Scene plötzlich, als das Nationalgericht, der Plumpudding, unerwartet hereinkam. Da brachen die armen Schwartenhälse, die dergleichen wohl lange nicht genossen haben mochten, in ein lang anhaltendes „Hurrah“ aus, daß der Saal erzitterte und es den Aufsehern alle Mühe kostete, die Ruhe wieder herzustellen. Viele Gesichter zitterten förmlich krampfhaft vor Vergnügen. Die Tollsten renkten sich fast Arme und Beine aus, um ihren Gefühlen Luft zu machen. Es war ein Kappenschwenken und Jauchzen, wie von den glücklichsten der Erdensöhne.

In den Pausen setzte ich mich an den und jenen Tisch, um durch Fragen Auskunft über das Loos der Obdachlosen Londoner „Beduinen“ zu erlangen. Aus der Unterhaltung einiger anderen anwesenden Herren mit diesem jugendlichen Volk der Hadern hörte ich ebenfalls manches Traurige. Vater und Mutter hatten die Meisten verloren oder nie gekannt.

„Wo sind Deine Eltern?“

„Weiß nicht!“

„Wann hast Du sie zum letzten Male gesehen?“

„Kann mich nicht mehr erinnern!“

„Wie heißt Du?“

„Man nennt mich Langkopf; die anderen Kerle haben mir den Spitznamen gegeben.“

„Wo schläfst Du?“

„In einem Loch in den Lambether Töpfereien.“

„Und Du?“

[144] „Unter einem Karren.“

„Und Du?“

„In einem Schuppen von Drury-Lane-Theater.“

„Du?“

„Ich schlafe, wo ich gerade kann; unter den Säulen vor einer Kirche, oder sonstwo.“

„Was treibt ihr am Tage?“

„Ich bettle.“ – „Ich verkaufe Streichhölzer“ – „Ich mag nicht sagen, was ich thue!“ setzte ein Anderer mit listig-blitzenden Augen hinzu. Alle aber gaben ihre Antworten mit der Festigkeit und knappen, treffenden Kürze, welche den Engländer kennzeichnet, namentlich den Londoner. Gleichwohl waren manche dieser Knaben vom Lande hereingekommen; einer gab Schottland, einer Frankreich als sein Geburtsland an. In dem hastigen Straßenleben dieser kolossalen Stadt hatten sie aber Alle ihren uniformen Schliff erhalten.

Nach dem Essen ließ Graf Shaftesbury, das Haupt der frömmelnd protestantischen Richtung, einen Lobgesang anstimmen, und die sämmtliche Gesellschaft begab sich darauf in den oberen Raum, wo die eigentliche Versammlung stattfinden sollte. Es handelte sich darum, eine Anzahl der Knaben zur Meldung beim Zufluchtshause zu veranlassen, um nach Maßgabe der vorhandenen Mittel ihre Aufnahme zu bewerkstelligen, sie zu Handwerken anzuleiten, ihren späteren Eintritt in die Flotte zu erwirken und dergleichen mehr. Das Zufluchtshaus, dessen innere Einrichtung ich besichtigte, hat gegenwärtig etwas mehr als hundert Knaben unter Aufsicht. Sie lernen das Handwerk eines Schuhmachers, Schneiders, Zimmermanns, oder sind mit Holzspleißen beschäftigt. Eiserne Bettstätten, mit rothbraunen Shawldecken, sind in dem geräumigen Schlafsaal aufgereiht; die Bettung schien mir gut, die Decken aber zu dünn. Ein Gasflämmchen brennt die ganze Nacht im Saal. Erwachsene Aufseher sind Nachts nicht da; Unruhe und Unfug entsteht aber, wie man mir sagte, nie. Einige Knaben amtiren als Inspectoren; einer derselben lag gerade wegen geschwollenen Fußes zu Bette und blickte etwas komisch vergnügt unter der Decke vor. Manchmal entläuft ein Knabe dem Hause; er wird dann gesucht und stets wieder gefunden, denn, Thieren ähnlich, schweift auch diese nomadisirende Classe doch nur in gewissem Umkreis. Auf meine Frage nach den Strafen hörte ich mit Bedauern, daß körperliche Züchtigung – mit dem Lederriemen – angewandt werde, doch nur in seltenen Fällen. Im Ganzen sind seit der Gründung des Zufluchtshauses etwa sechshundertundsechszig Knaben und fünfhundert Mädchen aus dem schmutzigen Strudel des Jammers und des Lasters, in dem sie bis dahin umhertrieben, gerettet worden. Die photographischen Bildnisse der hundert ersten Knaben, die zu Gewerben oder zum Matrosendienst aus der Anstalt entlassen worden waren, hingen an einer Wand des Versammlungs-Saales; es waren meist intelligente Gesichter.

Der Vorsitzende wandte sich mit einer kurzen Ansprache an die zerlumpten Rangen, indem er ihnen erklärte: sie bildeten heute das Meeting; sie würden daher gewiß mit voller Wahrheit alle ihnen vorgelegten Fragen beantworten. Elend und jammervoll wie sie aussähen, könnten sie, wenn sie nur wollten, mit Hülfe derer, die ihnen Gutes zu thun beabsichtigten, sich zu besserem Loose aufschwingen; sie möchten daher frei heraus sagen, wie es mit ihnen stünde. Diese Anrede, wie überhaupt die ganze folgende Procedur, wurde von Seiten der Knaben mit aufmerksamer Theilnahme angehört. Aber ein Husten und Hüsteln in allen Tonarten, das doch auf viel Lungenleiden selbst der scheinbar gesund Aussehenden schließen ließ, hörte den Abend über nie auf und wirkte vielfach störend. Nun kamen die besonderen Fragen.

„Wie viele von Euch sind schon im Gefängniß gewesen?“
Etwa dreißig erhoben die Hand.
„Wie viele waren zwei Mal im Gefängniß?“
Etwa zehn erhoben die Hand.
„Wie viele waren drei Mal darin?“
Fünf erhoben die Hand.
„Wie viele von Euch haben gestern Nacht in einem Bette geschlafen?“
Ein paar Hände nur erhoben sich.
Nach einigen anderen Fragen über Beschäftigung etc. wurde gefragt:
„Möchtet Ihr ein anderes Leben führen?“

Ein allgemeiner Ruf erscholl: „O ja, mein Herr!“ – Diesmal in einem Tone fast rührender Einfalt, der gegen den Ausdruck der Stimmen bei anderen Antworten sonderbar abstach.

„Angenommen,“ sagte der Vorsitzende, „es läge ein großes Schiff auf der Themse, groß genug für tausend von Euch; möchtet Ihr dahin gehen, um unterrichtet zu werden, Handwerke zu lernen, Euch für die Kauffahrtei- oder Kriegsflotte vorzubereiten?“

Stürmisches „Ja, ja!“ mit geschwenkten Mützen. Der englische Seemannsgeist schien plötzlich unter viele der Jungen zu fahren.

„Glaubt Ihr, alle Euere Cameraden auf den Straßen würden auch darauf eingehen?“

Vielfaches „Nein!“ mit „Ja!“ schwach untermischt; diese heikle Frage nämlich betraf die große Zahl derer, die schon in Laster und Verbrechen zu tief versunken, die auf dem Wege vom Rinnstein zum Kerker und Galgen sind. Der Vorsitzende glaubte, die Frage sei mißverstanden; allein „Nein, nein!“ schallte ihm wieder entgegen.

Wunderbar waren das rasche Verständniß der Knaben und die geordnete Meetings-Manier, mit welcher sie unter andern die ihnen vorgeschlagenen „Hochs“ – „Hip, hip, Hurrah“ und „drei Mal drei“ – ausbrachten. Der Engländer hat ein angeborenes Geschick dafür. Der oder jener unter den Rangen mag freilich schon auf politischen Meetings „zu ungesetzlichen Zwecken“ sich eingefunden und dort die Gebräuche abgeguckt haben.

Die Versammlung wurde geschlossen, nachdem man sich vorgenommen hatte, Schritte für Rettung solcher verwahrloster Straßenläufer zu thun. Die englische Aristokratie, die vom Marke des Landes lebt, findet sich, klug rechnend, bei solchen Bemühungen gewöhnlich ein, und so war es auch hier!

Vier Pence wurden noch von dem Zufluchtshause an jeden Knaben gezahlt, damit er diese Nacht in einem Logirhause schlafen könne. Unter strömendem Regen begaben sich die Einen nach Hause in die warmen, wohlerleuchteten Wohnzimmer; der zersetzte Betteltrupp aber fluthete wieder hinaus auf das unwirthliche Meer des Elendes. –
Carl Blind.




Die Schweiz und Liechtenstein. Im Hinblick auf die in dem interessanten Artikel „Die kleinste deutsche Residenz“ enthaltene Stelle: „Seitdem in der Schweiz gerynikert ward, habe republikanische Gesinnung der Liechtensteiner einen kleinen Stoß erlitten“ – erlauben Sie einem unmittelbaren Nachbar dieses kleinsten europäischen Staates folgende Berichtigung.

Vorerst ist zu bemerken, daß der berüchtigte und mit Recht verurtheilte Rynikerhandel nicht der Anfang einer neuen, sondern, wenn nicht Alles trügt, das Ende einer alten Einrichtung ist. Man kann also nicht sagen: seitdem, sondern bald: seitdem nicht mehr gerynikert wird. Denn die Prügelstrafe ist jetzt für solche Fälle in Uri aufgehoben, und es wird wohl nicht mehr lange dauern, so wird sie in der Schweiz gar nicht mehr bestehen und gern den Gutsherren Mecklenburgs überlassen werden. Ferner ist es in jeder Beziehung ungerechtfertigt, den Rynikerhandel mit Liechtenstein in Verbindung zu bringen. Denn Liechtenstein würde, falls eine Vereinigung dieses Ländchens mit der Schweiz möglich wäre, doch gewiß nicht an Uri, sondern an St. Gallen oder Graubünden fallen, und in diesen beiden Cantonen wäre ein Rynikerfall geradezu eine Unmöglichkeit. Uebrigens ist die Schweiz nach dieser „Vergrößerung“ um ein paar arme Dörfer nicht gerade lüstern und auch jedenfalls sicher davor, da Oesterreich dieselbe niemals zugeben würde, was sich schon 1848 zeigte, als sich Liechtenstein ernsthaft an Graubünden anschließen wollte und auch einen Graubündner als seinen Vertreter in die Paulskirche sandte.

Endlich ist nicht außer Acht zu lassen, daß gerade das Aufsehen und die Entrüstung, welche die Verurtheilung des Ryniker (der übrigens durch seine Unbesonnenheit und Kopflosigkeit sein Schicksal selbst herbeigeführt) in Deutschland und noch mehr in der Schweiz selbst hervorgerufen hat, der beste Beweis dafür ist, wie selten solche Fälle bei uns sind und wie wenig sie im Lande und unter dem Volke gebilligt werden. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß in der Schweiz ein Preßvergehen zum letzten Male mit einer Strafe gerächt worden ist, die indessen, beiläufig gesagt, ein Kinderspiel ist gegen die entsetzlichen Schicksale, welche in gewissen andern Ländern die Volksmänner von 1848 getroffen haben.




Stolle’s Frühling auf dem Lande. In unserer neueren Literatur wird sich kaum eine zweite Dichtung finden, wo der Frühling in seinen unterschiedlichen Wandlungen, und zwar vom ersten Erwachen bis zur letzten Rose, mit solcher Naturwahrheit, Zartheit, Frische und erquickenden Schönheit geschildert ist, wie dies Stolle in seinem „Frühling auf dem Lande“ meisterhaft gelungen ist. Alles blüht und klingt, sproßt, grünt und duftet, vom gold’nen Sonnenstrahl durchklungen, ein blühend Eden. Und hindurch wieder ziehen sich ein Humor und eine Gemüthlichkeit, die bald das Herz lachen machen, bald das Auge mit Thränen der Rührung füllen. Alle Capitel sind sozusagen unmittelbar aus dem Herzen geschrieben, und muß darum auch Jedem wohl um’s Herz werden, der dieses Büchlein liest. Was die Gemeinnützigkeit anlangt, ähnelt es Zschokke’s trefflichem „Goldmacherdorfe“ und findet der segensreiche Volkslehrerstand darin gleichsam seine Verklärung. Es ist eine Musteridylle und zugleich ein echtes deutsches Volksbuch, worin man immer von Neuem lesen und sich immer von Neuem erquicken wird. Alle bis jetzt darüber laut gewordenen Stimmen der Kritik sprechen sich in diesem Sinne aus. – Dieses Büchlein eignet sich als herzerquickendes literarisches Geschenk für alle Freunde des Frühlings und des Humors.




Kleiner Briefkasten.


L. in F. Da wir dem zweiten Theile des Hofmann’schen Artikels „In Friedrich Rückert’s Haus“ das Portrait des Dichters beifügen wollen, so sahen wir uns genöthigt, die im ersten Artikel verheißene Besprechung einer „Versündigung am Heiligthum dieses Hauses“, um deren Veröffentlichung nicht zu weit hinaus zu schieben und auch um sie nicht mit des Dichters edlem Bilde in so nahe Berührung zu bringen, in der heutigen Nummer der Deutschen Blätter mitzutheilen.

K. in Dr. Bereits in einer der nächsten Nummern können wir Ihrem Wunsche nachkommen. Aus der Feder unseres tüchtigen Mitarbeiters K. Wartenburg wird unter dem Titel: „Durch eigene Kraft – ein deutsches Cultur- und Städtebild“ die gewünschte Schilderung erscheinen.

M. A. W. in Wien. Es thut uns leid, aber wir müssen „Nein“ sagen.

A–t in K…n. Wir haben uns wohl gedacht, daß Sie sich von der neuen Wandlung unsers Beiblattes, die Deutschen Blätter, und namentlich von dem frischen, mannigfaltigen Feuilleton, wie es dieselben jetzt bieten, angemuthet fühlen würden, glauben Ihnen aber nicht zu viel zu versprechen, wenn wir Ihnen für die Folge ein noch interessanteres und reichhaltigeres Feuilleton aus dem Gebiete der Literatur, der Kunst und des öffentlichen und socialen Lebens in Aussicht stellen.

Herrn Alfred Werner in Wien. Wenden Sie sich in der fraglichen Angelegenheit an den Secretär des amerikanischen General-Consulats, Herrn A. Gläser, in Frankfurt a. M.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Sowohl die sehr gelungene Abbildung wie überhaupt die Anregung zu dem obenstehenden Artikel verdanken wir Herrn Rudolf Bunge in Köthen, der vor einigen Jahren unter besonders ungünstigen Umständen bis nahe zur Spitze des Montblancs gelangte und uns über diese seine interessante Bergsteigung ein reichhaltiges Material übergab, dessen Benützung wir uns vorbehalten.
    Die Redaction.