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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[385] No. 25.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


In’s Auge Deinem Kinde!


Lähmt Dir die schwerste aller Ketten,
Die Alltagsnoth, des Geistes Kraft,
Hast Du, die Deinen warm zu betten,
In Sorgen Tag und Nacht geschafft,

5
Und kommt kein Hoffnungshauch, der linde

Das bange Vaterherz durchweht,
Dann schau in’s Auge Deinem Kinde,
Das kräftigt Dich, wie ein Gebet!

Wenn Dich ein falscher Freund verrathen,

10
Dem Du vertraut in Lust und Leid,

Wenn Deines Lebens beste Thaten
Verleumdung Dir entstellt und Neid,
Und wenn die Welt ringsum, die blinde,
Dein treustes Wollen nicht versteht,

15
Dann schau in’s Auge Deinem Kinde,

Das tröstet Dich, wie ein Gebet!

Und denkt Dein Herz in bittrer Reue,
Wie kalt Du fremdes Glück zerstört,
Wie Du das Wort der Lieb’ und Treue

20
In eitlem Wahn oft überhört,

Legt sich der Schmerz wie eine Rinde
Ums Herz Dir, daß es fast vergeht,
Dann schau in’s Auge Deinem Kinde,
Das löst Dein Leid wie ein Gebet!

Ludwig Bauer.




Der Frankfurter Advent.
Historische Novelle von Bernd von Guseck.
(Schluß.)
6.


Custine hatte Frankfurt mit seinem Stabe wieder verlassen und Stamm, der zu seinen Adjutanten gehörte, war ihm, nachdem er noch einen Tag mit Urlaub zurückgeblieben, gefolgt. Er hatte mit Hartinger, den er am Morgen nach seiner Freilassung besuchte, ein kurzes Gespräch gehabt und dann das Haus mit dunkelgeröthetem Gesicht verlassen, so daß es den Leuten, welche eben auf der Zeil vorübergingen, auffiel. Er hatte sogar den Hut, ohne es zu merken, verkehrt auf den Kopf geworfen.

„Der hat genug!“ sagte einer der müßigen Gesellen, welche – es war Sonntag – in einem Rudel an der Ecke der nächsten Gasse standen. „Muß ihm brav eingeschenkt worden sein bei dem Herrn Senator!“

Das war auch der Fall gewesen, wenn schon in einem andern Sinne, als Martin Sperber, der Schlossergesell, meinte. Was aber der Rathsherr mit dem Elsasser gesprochen hatte, erfuhren selbst seine Frau und Tochter nicht. „Er wird Dir’s auf’s Conto schreiben!“ seufzte die erstere. „Ach! Wenn doch nur ein Ende abzusehen wäre!“

Dem schien nicht so. Die Franzosen richteten sich darauf ein, Frankfurt wie Mainz dauernd zu behaupten. Magazine wurden angelegt, die wichtigsten Punkte der Gegend durch Verschanzungen gedeckt. Außer der Contribution forderte Custine von dem Reichs-Oberpostamt noch zweimalhunderttausend Gulden, ebensoviel von der Judengasse. Die Frankfurter Bürgerschaft blieb aber unerschrocken und treu. Sie überreichte Custine eine Schrift, welche alle Zünfte und Gewerke, Mann für Mann, mit wenigen Ausnahmen unterschrieben hatten, als Widerlegung seiner Manifeste, die von Bedrückung gesprochen hatten. In dieser Eingabe ließ sich die ganze Verfassung von Frankfurt, kurz und klar dargestellt, mit einem Blick übersehen. Es war gesagt, daß der Rath aus der Mitte der Bürgerschaft gewählt, sogar zum dritten Theile mit Handwerkern besetzt sei; daß der Verwaltung der öffentlichen Cassen Bürger zur Seite ständen und von Zeit zu Zeit der gesammten [386] Bürgerschaft Rechnung abgelegt würde; daß die Abgaben äußerst gering seien und Frankfurt sich bei dieser Verfassung glücklich und zufrieden fühle. Wenn den reichern Mitbürgern das Geld abgenommen werde, so seien die ärmern und der Mittelstand mit bestraft, weil ihr Handel und Gewerbe und ihr Verdienst abnehme. Diese erwarteten daher bei ihrer bisherigen Verfassung unverrückt belassen zu werden.

Es war ein schönes Denkmal patriotischen Bürgersinnes unter der Hand des Fremden, „eine gerechte Züchtigung für Custine’s jacobinische Heuchelei in Worten“. Er antwortete hierauf damit, daß er die Contribution wieder auf zwei Millionen erhöhte. Truppen zogen ein und aus, General van Helden wurde Commandant der Stadt, welche mit ihm übrigens zufrieden sein konnte. Der ersten Deputation, die nach Paris gesandt war, folgte jetzt eine zweite, bestehend aus dem Schöffen von Günderode, den Herren Zordis und Müller. Unterdessen ließ sich aber Custine herbei, der Stadt Frankfurt einen Schutzbrief zu verleihen, der ihr Sicherheit der Personen und des Eigenthums verhieß und außer der schon auferlegten keine weitere Contribution aufzulegen versprach. Es verbreitete sich sogar das angenehme Gerücht, daß die schon gezahlte Million wieder zurückgegeben werden sollte. Von Außen kamen gemischte Nachrichten. Man hörte, daß das Hauptquartier des „Eroberers“ nach Homburg vor der Höhe verlegt sei und daß er starke Verschanzungen bis Höchst aufwerfen lasse. Die Preußen und Hessen, hieß es, seien in Coblenz eingerückt und näherten sich von dort im Lahnthal. Zündend wirkte dann die Kunde von Gefechten, in welchen die deutschen Waffen endlich einmal siegreich gewesen waren. Bei Weilburg hatten die Hessen einen Erfolg errungen, auch Nauheim war wieder genommen worden. Der König von Preußen führte seine Armee vom Niederrhein her gegen den Taunus.

Da wurde in Frankfurt durch die Zeitungen eine seltsame Aufforderung Custine’s bekannt, diesmal nicht an das Volk, sondern an eins jener vielfach angefeindeten gekrönten Häupter gerichtet, allerdings nur in den Zeitungen. Frau Hartinger empfing ihren Mann, welcher von einem Geschäftsgang heimkehrte, mit hochgehobenem Zeitungsblatt: „Lies hier! Die Preußen haben sich mit den Franzosen alliirt! Nun ist Alles aus! Lies nur, lies, mon cher!“

„Chere mich nicht mehr, nenne mich bei meinem ehrlichen Namen Jacob. Der Zeitungsschreiber ist wohl verrückt geworden?“ Er nahm die Zeitung und las mit hochgezogenen Augenbrauen, dann lachte er laut und rief: „Nicht der Zeitungsschreiber ist verrückt, sondern Custinus, wie er auf der Gasse heißt. Du aber, Trautche, kannst weder lesen, noch capiren! Zu einer Allianz macht Custine dem Könige von Preußen nur den verrückten Vorschlag: er soll den Landgrafen mit seinem ganzen hessischen Corps unter die preußische Armee stecken und dann mit Frankreich alliirt sich auf Oesterreich werfen! Auf eine solche Impertinenz kann der König nur mit seinen Kanonen antworten.“

„Wird es hier in der Nähe losgehen?“ fragte sie furchtsam. „Dorche glaubt es.“

Er zog, wie ein entschlossener Mann, seine Westenschöße herab. „Man muß sich auf Alles gefaßt machen, Belagerung, Sturm!“

„Und Plünderung!“ setzte sie jammernd hinzu.

„Auch darauf!“ erwiderte er gelassen. „Ich habe für diesen Fall schon gesorgt. Bei mir sollen sie lange suchen!“

Ende November war’s, die Ereignisse folgten sich nun rasch. Noch unterm 23. hatte Custine in einem Schutzbrief für die Fuhrleute sich pomphaft als ersten commandirenden General der Armeen der französischen Republik am Ober- und Niederrhein, im Centrum Frankreichs und in Deutschland genannt – fünf Tage später sprengten schon preußische braune Husaren gegen das französische Piket vor dem Neuen Thore Frankfurts an und warfen sie bis in die Gärten zurück. Ein preußisches Corps hatte bei der Friedberger Warte Stellung genommen, seine Cavalerie die Bockenheimer Straße besetzt. In der Stadt entstand eine unbeschreibliche Bewegung bei dieser Nachricht, und als gegen Abend ein preußischer Stabsofficier mit einem Trompeter als Parlamentär einritt, wurde er vom Volke mit einem jubelnden Vivat begrüßt. General von Kalkreuth ließ den Commandanten von Frankfurt zur Uebergabe auffordern; dieser meldete sofort nach Mainz, von wo Custine (spät in der Nacht dem preußischen General höhnend antworten ließ: „am andern Morgen werde er ihm selbst die Schlüssel der Stadt bringen.“ Van Helden erhielt den Befehl, sich bis auf den letzten Mann zu vertheidigen und die strengsten Maßregeln gegen die unruhigen Einwohner zu ergreifen. Die Stadt war aber nur durch einen verfallenen Hauptwall und flachen Graben befestigt und die Besatzung zählte kaum zweitausendachthundert Mann mit zwei Dreipfündern, die nur dreißig Schuß hatten! Was soll man zu Custine sagen, der Alles versäumt hatte, um die Beute, welche ihm gleichsam in den Schooß gefallen war, zu behaupten? Verdiente er nicht sein späteres Schicksal, da er den Kopf, welchen ihm im folgenden Jahre die Guillotine abschnitt, schon jetzt verloren hatte? Er kam noch einmal nach Frankfurt, wo ein Versuch der Franzosen, das Zeughaus im Rannehof zu erbrechen, einen Volkstumult erregt hatte, der nur durch die Ermahnungen mehrerer Magistratspersonen und reichen Bürger gestillt worden war. Bei Custine’s Ankunft, der plötzlich mit einer kleinen Escorte einritt, bei der Hauptwache absaß und mit seinem Gefolge nach dem Römer ging, strömte ebenfalls eine große Volksmenge zusammen. Er blieb nur wenige Minuten oben, dann kam er, begleitet von den beiden Bürgermeistern, Mühl und Dr. v. Schweitzer, wieder heraus und schritt den Hut in der Hand durch die Menschen, als wolle er ihnen eine wolkenfreie Stirn zeigen. Viele meinten aber doch, daß man ihm die Unruhe ansehen könne. Ziemlich laut erklärte er den Stadtvorstehern, daß sie wegen einer Belagerung oder Beschießung unbesorgt sein möchten; er werde dem Feinde im freien Felde eine Bataille liefern und ihn zurückschlagen. Beim Gange nach der Hauptwache machte sich der Adjutant, der bei ihm war, an einen der mitgehenden Rathsherren, mit welchem er vorher nur einen kalten Blick und Gruß gewechselt hatte. „Wollen Sie mir wirklich keine Unterredung mit Ihrer Mademoiselle Tochter gestatten?“ fragte er ihn halblaut.

„Meine Tochter hat einen zu festen Charakter, als daß Sie etwas davon erwarten könnten,“ war die Antwort.

„Fester, als manche Wetterfahne!“ versetzte der Adjutant scharf und wandte sich von Hartinger trotzig ab. Da fiel sein Blick auf ein Gesicht, das ihn mit einem frechen Lächeln anstarrte. „Arrêtez cet espion-là!“ rief er den Chasseurs der Escorte zu. Ehe diese den Bezeichneten jedoch greifen konnten, war dieser in der undurchdringlichen Menschenmasse, welche ihn schützend aufnahm, verschwunden.

An der Hauptwache saß Custine wieder auf und ritt nach Höchst zurück, wo er jetzt sein Hauptquartier hatte. Ihm folgten die Bagage- und Munitionswagen, welche noch in Frankfurt waren, nach und General Helden, welchem er noch seinen frühern Befehl wiederholte, blickte bei der Rückkehr in sein Quartier traurig auf seine beiden kleinen Kanonen, die vor demselben aufgefahren waren. Die Garnison bivouakirte auf dem Walle.

Ein paar Tage vergingen, ohne daß etwas Bedeutendes vorfiel. Es war aber die Stille vor dem Gewitter. Der König von Preußen hatte den Sturm auf Frankfurt beschlossen, um noch vor den Winterquartieren das rechte Rheinufer von den Franzosen zu säubern. Dazu wurden die Truppen erst concentrirt und eingetheilt. Die Hessen sollten die Ehre des Vorkampfs haben, weil es hier die Sicherung ihres eigenen Landes galt. Sie waren der Ehre werth. Ein alter preußischer Officier, der spätere General von Valentin, sagt in seinen Erinnerungen: „Mitten im Verfalle der deutschen Truppen waren die Hessen ein stehen gebliebenes Musterbild.“ Der alte Landgraf Wilhelm, der erst seit sieben Jahren zu seinem Hanau auch Hessen-Cassel geerbt hatte, konnte stolz auf seine Truppen sein. Viele gab es darunter, welche, einst schmachvoll nach Amerika verkauft, von dort zwar keine Lorbeeren, aber den Ruhm glänzender Tapferkeit und unschätzbarer Kriegserfahrung mitgebracht hatten. Sie sollten dieselbe bewähren.

In Frankfurt, Angesichts des Feindes, dessen Cavalerie sich auf der Bornheimer Haide mit den französischen Vorposten neckte, waren die Thore nicht einmal geschlossen! Am Bußtage, der auf den 30. November fiel, zogen viele Menschen, besonders wieder die feiernden Handwerksburschen, über die niedergelassenen Brücken, um die preußischen und hessischen Truppen oberhalb der Friedberger Warte zu besuchen; am nächsten Tage wurden diese Besuche fortgesetzt, ohne daß die Franzosen sie hinderten. Auch Martin Sperber ließ sich diese Gelegenheit nicht entgehen, er hatte diesmal wieder einen Auftrag von der alten Nachbarin, der Hausmutter Weidel, und mit der ihm eigenen Dreistigkeit gelang es ihm auch, durch [387] eine gegen die Frankfurter Weingärten vorgehende Abtheilung leichter hessischer Infanterie zu kommen, welche schon nach der neuen Taktik, die sie in Amerika von den „Rebellen“ gelernt, eine aufgelöste Linie gebildet hatte. Man fragte ihn über die Franzosen aus und wies ihn auf seine Frage nach dem Lieutenant Ortenburg, der jetzt beim Jägercorps stand, zurecht. Im Lager fand er ihn aber nicht, Ortenburg war auf Feldwache und der Gesell mußte noch eine weite Wanderung machen, ehe er zu ihm kam. Der Officier erkannte ihn gleich und fragte dringend, ob er aus Frankfurt komme und etwas von seinen Verwandten wisse. Sperber entledigte sich seines Auftrages von der Frau Weidel, die den jungen Herrn grüßen und fragen ließ, ob er ihren Brief erhalten habe. Da verdüsterte sich Ortenburg’s männliches Gesicht und er schien mit der Antwort nicht gleich fertig zu sein: „Den Brief hab’ ich erhalten,“ sprach er dann, „sag’ ihr das – ob sie mir die Wahrheit geschrieben hat, werde ich morgen vielleicht schon erfahren, wenn ich lebend hineinkomme!“ Seine Handbewegung gegen die ferne Stadt ließ keinen Zweifel, was er meinte.

„Morgen schon?“ fragte Sperber eifrig.

„Morgen oder doch bald!“ erwiderte der Officier. „Geht nun mit Gott, ich werde Euch einen Jäger mitgeben, daß sie Euch vorn durchlassen. Es wird Zeit, wenn Ihr noch vor Thoresschluß kommen wollt.“

„Klopfen Sie nur bald bei uns an, Herr Lieutenant; wenn die Franzosen nicht ‚Herein‘ rufen, thun wir’s!“

Zum andern Morgen – am 2. December – war wirklich der Sturm festgesetzt und sollte nach der Disposition, welche der preußische Oberstlieutenant von Rüchel entworfen hatte, in vier hessischen Colonnen, davon eine auf Mainschiffen, ausgeführt werden. In der Nacht, bei hellem Mondschein, marschirten die Truppen nach ihren Sammelplätzen; gegen Morgen fiel ein dichter Nebel ein, unter dessen Schutz der Angriff zum Ueberfall werden konnte. Rüchel ritt selbst auf das Glacis vor der Stadt, um zu horchen, ob drinnen sich Unruhe hören lasse – Alles war still. Aber die preußische Reservecolonne ließ auf sich warten, der Herzog von Braunschweig, der überhaupt mit dem Sturm nicht einverstanden war, wie er schon bei Valmy im September den entscheidenden Angriff gegen den Wunsch des Königs verhindert, hatte jene Colonne angehalten. Rüchel jagte ihr entgegen und fand sie: „Wer hat Halt befohlen?“ schrie er wüthend.

„Der Herzog!“ antwortete man ihm von der Tête.

„Heilige Schock Donnerwetter!“ fluchte Rüchel. „Wo ist denn der große Herzog?“

„Hier!“ klang es ganz in der Nähe aus dem Nebel, es war des Herzogs Stimme.

Rüchel zog den Hut. „Durchlaucht, mir ist der Angriff übertragen, meine Ehre hängt davon ab. Niemand darf in meine Anordnungen eingreifen!“

„Lassen Sie gut sein,“ sprach aus der kaum erkennbaren Reitergruppe eine andere wohlbekannte Stimme, der König. „Ihre Disposition wird Niemand ändern.“

„Die Wege waren schlecht,“ sagte der Herzog, „die Regimenter kreuzten sich; deshalb wurde angehalten, um Alles zu sammeln.“

„Befehlen Eure Majestät also?“ fragte Rüchel und commandirte dann selbst: „Vorwärts, Marsch!“

Unterdessen war aber der Nebel gefallen, viel kostbare Zeit unbenutzt verstrichen, eine Versäumniß, die mit Blut bezahlt werden mußte. Zwar brachten zwei Fuhrleute, welche eben das Neue Thor passirt hatten, die Nachricht, daß das Thor offen stehe und der Wall unbesetzt sei; die zum Sturm auf dasselbe bestimmte vierte hessische Colonne eilte im Laufschritt vor, wurde aber schon vom Wall und Thurm mit einer Salve empfangen, während die Zugbrücke schnell aufgezogen wurde. Die dritte Colonne fand das Allerheiligen- (Hanauer-) Thor ebenfalls gesperrt und so entspann sich an beiden Punkten ein Feuergefecht, in welchem die gedeckt stehenden Franzosen den Hessen empfindliche Verluste beibrachten. Im Innern der Stadt zeigte sich jedoch unverhohlen der feindselige Geist der Bevölkerung, und General Helden, der nichts gethan, die Werke in vertheidigungsfähigen Stand zu setzen, mußte sehen, wie am Thore, wohin er sich begeben, ein tobender Volkshaufen, mit Aexten, Stangen und Knütteln bewaffnet, die Oeffnung des Thores von ihm verlangte. Viele Nationalgardisten hatten schon beim bloßen Angriff der Sturmcolonnen die Flucht ergriffen, die Wache aber ließ sich nicht beirren; die Menge wurde verjagt und Ordonnanzen sprengten zurück, die Reserve, die auf der Zeil zusammengezogen war, herbeizuholen und an jedes der angegriffenen Thore eins von den beiden Geschützen zu bringen.

„Dulden wir das, Brüder?“ schrie aus dem Volkshaufen bei der Constablerwache eine laute Stimme; es war die Sperber’s. Und mit wildem Geschrei stürzte die Menge auf die Kanonen, welche unter Bedeckung einer Compagnie vorgingen, hieb ihre Räder in Stücke und warf auch die Munitionswagen um. In demselben Augenblicke schlugen die ersten preußischen Bomben von der schweren Batterie, welche der dritten Colonne beigegeben war, auf der Zeil ein und bewirkten ein allgemeines Auseinanderstäuben, nicht blos der Frankfurter, sondern auch der Franzosen, welche mit Ausnahme zweier Liniencompagnien in unaufhaltsamer Flucht dem Bockenheimer Thore zustürzten. Sie rissen die dortige Wache sammt der Wallbesatzung mit sich fort, als der Ruf der Bürger erscholl: „Die Hessen sind in der Stadt! Sie geben keinen Pardon!“ Das war allerdings noch verfrüht. Helden dachte aber unter solchen Umständen an Capitulation, und als er am Thore von seinen eigenen Leuten verhindert wurde, Unterhandlungen anzuknüpfen, ritt er resignirt nach seiner Wohnung zurück und verbot sogar einer Abtheilung Linieninfanterie, die sich mit den Waffen einen Weg zum Thore bahnen wollte, ihr Vorhaben.

Das Feuer an beiden Thoren dauerte fort, für die Hessen ziemlich mörderisch, da gelang es ihren Geschützen, gegen halb zehn Uhr die kleine Zugbrücke für Fußgänger am Neuen oder Friedberger Thore herunterzuschießen.

„D’rauf und d’ran jetzt, Brüder!“ schrie wieder dieselbe Stimme von der Zeil, und Sperber’s Meister, der nun auch dabei war, schrie noch lauter „Hurrah!“ dazu. Die handfesten Gesellen warfen sich auf die französische Thorwache, entwaffneten sie, Andere, mit Schmiedehämmern, sprengten die Kette der großen Zugbrücke, daß diese herniederrasselte. „Victoria!“ brüllte es aus hundert Kehlen, und das erste Bataillon hessischer Gardegrenadiere stürmte in das Thor, auf den Wall, wo die Franzosen noch Widerstand leisteten, während das erste Bataillon Garde unter Oberst Benning mit Trommelschlag und Siegesgeschrei in die Stadt, die Friedberger Gasse zur Zeil hinauf, vordrang, Alles vor sich her zurückwerfend und, was sich zur Wehr setzte, niederstoßend. Andere Bataillone folgten. Ein unermeßlicher Jubel empfing die hessische Colonne; aus allen Fenstern wehten weiße Tücher, Damen eilten in ihrer Exaltation auf die Straße und umarmten den ersten Officier oder Gemeinen, den sie vor sich sahen. „Victoria, Victoria!“ überall, aber auch: „Tod dem Custinus! Der Custinus soll sterben!“ Der war nicht hier, aber einer seiner Adjutanten, dessen Milchgesicht man sich wohl gemerkt hatte, wurde abgefaßt, als er eben aus des Rathsherrn Hartinger Hause stürzte und, siehe da, den alten Herrn, von zwei Chasseurs gepackt, mit sich fortschleppen wollte. Hartinger war im Nu befreit und den Adjutanten hätte das Volk in Stücke zerrissen, wenn ihn nicht Einer, der die Menge geführt, geschützt hätte. „Thut ihm nichts,“ schrie er, den Todtblassen mit seinem Leibe deckend, „er hat mir einmal das Leben gerettet!“ Und als die Nächsten verdutzt abließen, brach sich der Beschützer mit dem Gefangenen Bahn zur nächsten Ecke. „Nun mach’, daß Du fortkommst. Du hast mir’s Leben gerettet, das vergißt ein deutsches Herz nicht! Vergiß Du’s auch nicht!“ Es war der Sperber.

Die Zeil entlang donnerte jetzt die Carriere einer geschlossenen Reitermasse. Es war die hessische Cavalerie, welche zur Verfolgung der Flüchtlinge ging. Vier- bis fünfhundert Mann wurden noch eingeholt; Viele warfen sich beim Herannahen der Reiter auf die Kniee und baten um ihr Leben, hatten aber in der Todesangst die Waffen nicht abgelegt. Um bei der Erbitterung der Hessen ein Blutbad zu verhüten, jagte der Oberst von Staal, Commandeur der Garde du corps, voraus und commandirte den Franzosen statt ihres Officiers: „déposez les armes!“ worauf die Gewehre zu Boden klirrten und Alles gefangen wurde, wie in der Stadt schon General Helden mit etwa achthundert Mann. Ein Versuch des Generals Neuwinger, von Bockenheim aus der Besatzung zu Hülfe zu kommen, wurde abgewiesen. Bald nach dem geglückten Sturme hielt der König von Preußen mit dem Herzoge von Braunschweig und einem glänzenden Gefolge unter einem neuerwachenden Jubel des Volkes seinen Einzug. Die alte Reichsstadt war befreit.

Auch aus Hartinger’s Fenstern hatten weiße Tücher geweht, [388] aber vergebens blickten die Bewohner unter den Siegern nach dem Einen aus, den sie mit Sehnsucht erwarteten. Die Jäger hatten am Bockenheimer Thore gekämpft, wie man später erfuhr. Bei dem Tumult, jetzt der Freude, war keine Nachforschung von Erfolg. Der Abend sank, da klopfte es unten stark an die verschlossene Hausthür. „Hermann!“ sagte Hartinger erschreckend; er war von der erlittenen Gefahr, der er nur durch ein Wunder entronnen war, noch sehr schwach.

Aber nicht Hermann stand vor der alten Amme, als diese die Hausthür öffnete, sondern der Schlossergesell Sperber. „Mutter Weidel, er liegt in einem Hause vorm Thor, schändlich in die Brust geschossen,“ sagte der Bursch. „Sie möchten doch zu ihm kommen.“ Die Alte stand wie erstarrt. „Ich bringe Sie hin,“ setzte Sperber hinzu.

Sie brachte erst die Nachricht herauf, ohne Schonung, wie sie gewohnt war. Der Vater wurde leichenblaß und sagte kein Wort, Frau Hartinger brach in laute Klagen aus, Dorothea fragte tief erschüttert nach der Gefahr der Wunde und ob ärztliche Hülfe zur Hand sei. O, daß sie die alte Frau, der nun noch ein Diener mitgegeben wurde, nicht begleiten durfte!

„Wenn er stirbt, er weiß Alles, ich hab’s ihm geschrieben,“ sagte die Amme zu ihrem Herrn. „Wiederkommen thue ich heut nicht, aber der Mappes soll Bescheid bringen, wie’s steht.“

„Was soll Hermann wissen?“ fragte Frau Hartinger, als die Alte sich entfernt hatte.

„Laßt mich, Kinder,“ bat der Vater schwach, indem er die Augen mit der Hand bedeckte. „Heute geht es Schlag auf Schlag!“ Darin hatte er Recht. Erst der Ueberfall Stamm’s, der, von Custine als Berichterstatter hierher geschickt, sich auf eigene Hand an Hartinger rächen wollte; einer Untersuchung bedurfte das französische Verfahren gegen die Feinde der Republik nicht; wenn Hartinger von Custine’s Adjutant angeklagt wurde, war er schuldig und verloren. Dann der Sturm, das Bombardement und nun …

Frau Hartinger gab ihm wohl Zeit, sich zu fassen, als sie aber allein mit ihm war, mußte er beichten. Er war der Alte nicht mehr, seine ganze Energie gebrochen, sonst würde er ihre dringenden Fragen zurückgewiesen haben. Jetzt war es ihm aber wohl selbst eine Erleichterung, und so gestand er ihr, daß Hermann – sein Sohn sei … vor seiner Verheirathung noch … die schöne Tochter der Amme, welche Goethe zum Theater gebracht … und die nachher vor Gram gestorben war …

Die gekränkte Frau brach in heftiges Weinen aus, ihre bisherige Vorliebe für Hermann schien sich in Abneigung zu verwandeln, aber bald siegte ihr gutes Herz und sie weinte nun auch über ihn, am meisten jedoch über sich selbst. Gegen Dorothea unverbrüchlich zu schweigen, wie der gedemüthigte Mann sie bat, versprach sie willig: warum sollte das Kind erfahren, was sie betrüben mußte? Starb Hermann, so war Alles vorbei, genas er, so verstand er nun seine Neigung zu Dorothea in der rechten Weise.

Als es am andern Morgen kaum hell geworden war, mußte der Diener, welcher am Abend einen sehr unbestimmten Bescheid gebracht, wieder hinaus gehen. Diesmal klang sein Bericht tröstlicher; die Kugel war aus der Wunde entfernt, der Doctor gab die beste Hoffnung. So fand sich denn, nachdem die nächsten Tage in der Stadt einigermaßen die Ruhe wieder hergestellt hatten, auch im Hartinger’schen Hause die Ruhe wieder, denn der letzte, ganz entschiedene Ausspruch des Hausarztes, der zu dem Verwundeten geschickt worden war, stellte dessen, baldige gefahrlose Herschaffung zu besserer Pflege und seiner Zeit seine völlige Genesung außer allem Zweifel.

In Frankfurt gerieth jetzt die Bevölkerung in Harnisch über einen Artikel der Mainzer National-Zeitung, betitelt: „Die Frankfurter Adventsfeier. Ein Seitenstück zur Bartholomäusnacht und der sicilianischen Vesper“. Danach hatten die Frankfurter den 2. December, den ersten Adventssonntag, im Einverständniß mit dem Könige von Preußen und Landgrafen von Hessen, zum Mordtage bestimmt und waren heimtückisch über die Franzosen, welche eine sechsfache Uebermacht der Hessen nicht zu besiegen vermocht, hergefallen, um sie meuchlings zu morden. Der Schluß lautete: „Frankfurter! Diesen Advent werdet ihr, trotz eurer feilen Zeitungen, nicht aus den Jahrbüchern eurer Geschichte auslöschen. Buben auf der Straße werden euch anspeien, der Name Frankfurt wird der Welt ein Abscheu sein, derjenige Franzose ist verachtungswerth, der euch ansehen kann, ohne euch zu würgen. Euch und euren Namen zu vertilgen, sei der Schwur, den jeder freie Mann auf dem Altare des Vaterlandes ablegen wird; ich thue ihn freiwillig und ich werde ihn halten. Daniel Stamm, Adjutant des Generals. Donnerstag, den 6. December 1792, im ersten Jahre der deutschen Freiheit.“

Bravo! Der Zorn der verleumdeten Frankfurter verwandelte sich bald in Gelächter. Deutschland verzichtete auf jene Freiheit und der Krieg nahm seinen Fortgang, der anfangs glorreich war, dann aber, nachdem Preußen für sich Frieden geschlossen hatte, zu einem übeln Ausgang führte. Das linke Rheinufer war verloren, Frankfurt aber blieb deutsch und konnte mit Befriedigung auf seinen Advent des Jahres 1792 zurücksehen.

Ortenburg genas langsam. Als für ihn keine Gefahr mehr war, hatte der Vater eine für Beide tief ergreifende Unterredung mit ihm, worauf er sich lange in sein Zimmer verschloß. Ihr Verhältniß blieb der Welt verborgen; die Amme nahm das Geheimniß bald mit sich in das Grab und Dorothea erfuhr nie etwas davon. Sie bemerkte allmählich, daß Hermann anders gegen sie war, herzlich noch immer, aber doch anders und – ein Stein fiel ihr vom Herzen. Ihr Freund blieb er ja immer. Als er genesen war, ging er zu seinem Corps zurück, kämpfte in Flandern bis zum Basler Frieden, dann unter österreichischen, später britischen Fahnen, immer gegen denselben Feind Deutschlands, dessen Sturz er endlich erlebte. Einen eigenen Heerd sich zu gründen, war ihm nicht beschieden. Dorothea aber heirathete einen braven Mann, wenn auch nicht, wie ihre Eltern gewünscht, aus einem der ersten Geschlechter Frankfurts, doch aus gutem, solidem Hause, so daß der Eidam die Firma einst fortführen konnte. Ob der ehrliche Sperber, der nach dem „Frankfurter Advent“ wieder auf die Wanderschaft gegangen, irgendwo Bürger und Meister geworden ist, wissen wir nicht. Daniel Stamm blieb Frankfurt die geschworene Rache schuldig, auch dem den französischen Ideen abtrünnig gewordenen Hartinger, nicht weil er „ein deutsches Herz“ besaß, sondern weil ihm Macht und Gelegenheit fehlten.

Wir wünschen das aufrichtig allen Feinden deutscher Nation!




Der deutsche Liederfürst.


Wer zählt wohl die Namen der vielen Einheimischen und Fremden, welche seit Beethoven’s und Schubert’s Tod nach dem in der Nähe von Wien gelegenen Währinger Ortsfriedhof gewallt sind, um sich die zwei edelsten Besitzthümer dieses Gottesackers, die Gräber der beiden großen Tondichter, zu besehen und vor denselben in stiller Andacht zu verweilen! Träumerisch durchwandelt man die langgestreckten Gräbergassen; nur selten zieht ein Grabdenkmal, eine Inschrift, ein sorgsam gepflegtes Blumenbeet oder eine Trauerweide den Blick auf sich, nur flüchtig bemerkt man die nahegelegenen Ausläufer des Wiener Waldes, der in den stillen Friedhof hereinsieht, denn immer wieder fliegt der Sinn nach den beiden Gräbern zurück, deren Gedenksteine – nur durch die Ruhestätten der O’Donnell’s und Schlechta-Hardtmuth’s von einander getrennt – sich an die Langmauer des Kirchhofes anlehnen.

Die denkbar stolzeste Grabschrift trägt der Leichenstein Beethoven’s. Sie ist in großen goldenen Buchstaben an den Grabstein geheftet und lautet einfach: Beethoven. Man liest den Namen, der ja Alles besagt. Auf dem Grabmonumente Schubert’s finden sich die Worte Franz Grillparzer’s eingemeißelt: „Der Tod begrub hier einen reichen Besitz, aber noch schönere Hoffnungen“, ein Ausspruch, den der Schubertenthusiast Robert Schumann, als er im Jahre 1838 die beiden Gräber besuchte, dahin zurechtlegte: „Nachzugrübeln, was er noch hätte leisten können, führt zu nichts, wir wollen nur des reichen Besitzes gedenken.“

Und in der That, wenn man die musikalischen Schätze jeder Art überschaut, wie diese – abgesehen von Schubert’s unerreichtem Lied – erst in neuerer und neuester Zeit aus tiefster Verborgenheit in Staunen erregender Fülle an das Tageslicht gefördert wurden, [389] drängt sich einem wohl die Gewißheit auf, daß Franz Schubert auf den verschiedensten Gebieten musikalischer Kunst die Palme der Unsterblichkeit errungen und, wenngleich in seinem zweiunddreißigsten Lebensjahre – so früh, wie keiner der großen Tondichter – dieser Welt entrissen, dennoch seine Mission auf das Herrlichste erfüllt habe. Das bescheidene Grabmonument auf dem erwähnten Friedhofe, dessen enge, gedrückte Verhältnisse, vom künstlerischen Standpunkte aus betrachtet, keinen sonderlich günstigen Eindruck machen, wird in nicht ferner Zeit durch ein von echter Künstlerhand in Erz ausgeführtes, überlebensgroßes Standbild Franz Schubert’s verdunkelt werden, zu dessen Errichtung in dem „Stadtpark“ von Wien vorläufig durch Sammlung von Geldbeiträgen und Einsendung von Modellen seitens mehrerer dazu berufener Künstler die erste Einleitung getroffen ist.

Franz Schubert.

Das einzige bis jetzt existirende plastische Gedenkzeichen an den Liederfürsten findet sich, in Form einer gelungenen Büste, in dem Tabernakel des Grabmonumentes, aus welchem Schubert’s Kopf lebensvoll heraussieht. Alles an diesem athmet Kraft und gesunde Sinnlichkeit: die runde, volle Gesichtsform, der üppige, krause Haarwuchs, die kurze Stirn mit den breiten Schläfen, das unter buschigen Brauen tiefeingesenkte, nicht eben große Auge, die kurze, starke Nase, das energische Vollkinn mit tiefer Grube, die aufgeworfenen Lippen und die in Schlangenwindungen sich verlierenden Mundwinkel. Man denke sich dazu eine untersetzte Statur unter Mittelgröße, einen gewaltigen Nacken, fleischige Arme und Hände und kurze Finger, – die übrigens auf den Claviertasten mit merkwürdiger Leichtigkeit operirten, – und man wird zugeben, daß die Arbeit jenes Künstlers, welchem es beschieden sein wird, den Wiener Barden in ideal-plastischer Form darzustellen, sich zu einer ziemlich heiklen gestalten dürfte. Ohne diese gediegene Grundlage einer gewaltigen Physis voll strotzenden Lebens und sehniger Kraft wäre übrigens das erstaunliche Productionsvermögen Schubert’s kaum erklärlich. Die Saiten seines tiefen Gemüths waren jedenfalls über feste Stege und einen tüchtigen Resonanzboden gespannt; dabei aber war dieser gedrungene, kräftige Bau vom zartesten Nervenleben durchzogen, von einem Gewebe feinster Art, dem die Fühlung und Witterung des modernen Lebens voll innewohnte, und so hat denn auch Schubert neue, musikalische Ideale aus sich geboren.

Als anläßlich der Uebertragung von Beethoven’s und Schubert’s irdischen Resten in neue, metallene Särge (im Jahre 1863) Schubert’s Schädel der Waschung unterzogen wurde, vermochten sich die dabei anwesenden Aerzte ihres Erstaunens über den zart geäderten, fast weiblichen Organismus desselben nicht zu erwehren. Aus Schubert’s Musik spricht das reizvollste Nervenleben mit tausend Stimmen, und auch nur von dieser Seite her ist es dem Tod gelungen, den kräftigen Bau, welcher von der Natur auf ein hohes Alter angelegt zu sein schien, zu untergraben und urplötzlich niederzuwerfen.

Es ist eine auffallende Thatsache, daß – wenn man von einigen ziemlich dürftigen Aufzeichnungen Spaun’s absieht – keiner dieser Zeugen von des Tondichters Erdenwallen den Beruf in sich fühlte, ein möglichst getreues Lebensbild Franz Schubert’s zu entwerfen, welches als biographisches Denkmal der Mit- und Nachwelt zu überliefern gewesen wäre. Der einzig denkbare und von einigen Freunden wirklich auch hervorgehobene Grund davon liegt in der Dürftigkeit von Schubert’s äußerer Existenz. In seinem dem Außenblick wahrnehmbaren Leben gab es nicht Berg, nicht Thal, nur gebahnte Fläche, auf welcher er sich in gleichmäßigem Rhythmus fortbewegte. Sein Gemüthszustand glich einer spiegelglatten Fläche und war durch Vorkommnisse in der Außenwelt nur schwer zu erregen; er befand sich im schönsten Einklang mit dem Grundwesen seines Charakters. Die Tage flossen ihm dahin, wie es dem Armgeborenen und Armgebliebenen in bürgerlicher Sphäre geziemt. Ihm war der köstliche Schatz eines tiefen, reichen Gemüthes zu Theil geworden; sein schlichter, gerader Sinn, frei von falschem Zierrath, seine Treuherzigkeit, sein Wohlwollen für Andere, seine Hochherzigkeit, die nichts von Neid und Mißgunst wußte, sein fast übertrieben bescheidenes Wesen und eine gewisse, mit Genußliebe verbundene Art von Behäbigkeit, welcher sich ein entschiedener Geselligkeitstrieb beigesellte, erwarben ihm viele Freunde und Genossen, die an seiner anspruchslosen Gemüthlichkeit Gefallen fanden, wenn auch nicht Alle von ihnen den Genius erkannten, mit welchem sie so oft zu Tische saßen. Es hat aber noch keinen großen productiven Künstler gegeben, dessen äußere Existenz von alledem, was ihn innerlich bewegte, so gänzlich losgelöst und in keiner Beziehung dazu gestanden hätte, wie dies bei Schubert der Fall gewesen ist, und so einzig und eigenartig seine Tonmuse uns fesselt und anmuthet, so eigenthümlich gestaltet sich Schubert’s äußere Erscheinung in ihrem Verhältnisse zu seinem geistigen Schaffen. In diese Werkstätte aber hineinzublicken, mochte nur Wenigen, und diesen in seltenen, geweihten Stunden, vergönnt gewesen sein.

In dem Leben des Menschen überhaupt und namentlich in jenem großer, bedeutender Naturen spielen Herzensneigungen eine hervorragende Rolle. Wie hätte die Liebe einem musikalischen [390] Poeten fremd sein können, der, wie Franz Schubert, diesem höchsten aller Gefühle in hundert und mehr Gesängen bald seine innigst-zarten, bald seine leidenschaftlich-ergreifendsten Töne geliehen hat! Und dennoch ist auch nach dieser Seite hin aus seinem Leben nur wenig zu berichten. Schubert war allerdings dem schönen Geschlecht gegenüber nichts weniger als unempfindlich. Ueber die Sentimentalität verliebter Freunde machte er sich hie und da – doch immer in gutmüthiger Weise – lustig; er selbst blieb, wie dies wohl bei einem Menschen von so tiefem Gefühl und lebhafter Phantasie sich von selbst versteht, nicht frei von erotischen Regungen. Von einem dauernden Verhältnisse ist nichts bekannt geworden, und an eine Verbindung für das ganze Leben hat er wohl nie gedacht. Uebrigens pflegte er über derlei Beziehungen auch seinen vertrautesten Freunden gegenüber große Zurückhaltung zu beobachten.

Nur von einer Herzensneigung weiß die Lebensgeschichte Schubert’s Näheres zu berichten, und es hat diese Episode in des Tondichters einförmigem Erdenwallen insofern eine anziehende Seite, als sie uns in den Kreis einer hochgestellten Familie führt, dessen Mittelpunkt der schöpferische Genius Schubert’s und der ausübende Künstler Carl von Schönstein bildeten.

Es war im Jahr 1818, als der damals. einundzwanzigjährige, noch wenig bekannte Liedercomponist durch den Wirthschaftsrath Unger (Vater der nachmals berühmten Sängerin Caroline Unger) der Familie des Grafen Johann Esterhazy vorgestellt und als Musiklehrer, oder richtiger als Begleiter des Gesanges am Pianoforte, empfohlen wurde. Die gräfliche Familie war durchweg musikalisch. Graf Johann befand sich im Besitz einer Baßstimme, die damals achtundzwanzigjährige Gräfin Rosine und die jüngere der beiden Töchter, Caroline, sangen Alt, und Comtesse Marie erfreute durch eine hohe, schön klingende Sopranstimme; Freiherr von Schönstein, ein trefflich geschulter Sänger und intimer Freund des Hauses Esterhazy, vervollständigte mit seinem für das Schubert’sche Lied so recht geschaffenen Tenor-Bariton das Gesangsquartett. Caroline, deren Stimme etwas schwach klang, befaßte sich gelegentlich auch mit der Begleitung am Flügel, worin sie excellirte.

Graf Esterhazy pflegte die Sommerzeit auf seinem Gute Zelécz in Ungarn (nahe bei Preßburg gelegen) zuzubringen, und dahin folgte auch Schubert der Familie in den Jahren 1818 und 1824. Schönstein fand sich ebenfalls daselbst ein, und so fehlte es nicht an den wunderbarsten Reizen musikalischer Unterhaltung.

In Zelécz fand Schubert oftmals Gelegenheit, die schwermüthige Weise ungarischer und slavischer Nationalmelodieen zu hören, von denen er so manche sich aneignete, um sie in freier künstlerischer Weise auf das Reizendste zu verarbeiten. Die ungarische (Zigeuner-)Musik, derzeit ein kaum zu entbehrender Factor der modernen, insbesondere der Instrumentalmusik, erscheint in scharf ausgeprägter Weise und mit einer gewissen Vorliebe behandelt in mehreren seiner Clavier- und Orchesterstücke. Von dem Thema des Divertissement hongrois weiß man, daß es aus der Esterhazy’schen Schloßküche stammt, wo es eine Magd sang, als Schubert, von einem Spaziergange mit Schönstein zurückkehrend, eben vorüberging. Während des wiederholten Aufenthaltes in Zelécz entstanden mehrere bedeutende Compositionen, unter diesen auch das Gesangsquartett: „Gebet vor der Schlacht“. Die Entstehung dieses Musikstückes ist einer der glänzendsten Belege von Schubert’s musikalischer Schlagfertigkeit. Eines Morgens – im September 1824 – forderte die gräfliche Hausfrau während des gemeinschaftlichen Frühstückes den kleinen behäbigen Tondichter auf, das eben erwähnte Gedicht von de la Motte Fouqué, welches aufgeschlagen vor ihr lag, mit Tönen zu umkleiden. Schubert steckte das Buch zu sich und zog sich, wie dies seine Art war, wenn er componiren wollte, in die Einsamkeit zurück, um in Tönen zu dichten. Noch am Abend desselben Tages wurde die umfangreiche Composition von dem musikalischen Kreise aus dem Manuscript heraus durchgesungen. Die Freude an dem höchst gelungenen Musikstück steigerte sich in dem Maße, als dasselbe bei wiederholter Vornahme an Klarheit und Schönheit fort und fort gewinnen mußte. Der geniale Meister hatte die ganze Composition in zehn Stunden geschaffen und fehlerfrei niedergeschrieben.

Die schöpferische Kraft Schubert’s wurde selbstverständlich in diesem Kreise hochgeschätzt. Er ward alsbald ein Liebling der Familie und besuchte auch außer den Musikstunden das Haus des Grafen. Für die jüngere Tochter Caroline aber schlug in seinem Herzen eine Flamme empor, die bis an sein Ende im Stillen fortloderte. Die Comtesse achtete und bewunderte den Tondichter und sein Genie auf’s Höchste, erwiderte übrigens seine ohne Zweifel sehr schüchtern sich kundgebende Neigung in keiner Weise und hatte überhaupt von dem Vorhandensein dieser Sympathie, oder wenigstens von dem Grad derselben, kaum eine Ahnung. Eine Aeußerung Schubert’s – vielleicht die einzige, welche er in dieser Richtung zu thun wagte – hätte dem Gegenstand seiner Neigung allerdings eine Andeutung davon geben können; seine Worte wurden aber nicht verstanden. Als nämlich Caroline dem Tondichter im Scherz den Vorwurf machte, daß er eben ihr noch keine seiner Compositionen gewidmet habe, antwortete Schubert: „Wozu denn? Ihnen ist ja Alles von mir gewidmet!“ Ein paar Brief- und Tagebuchsstellen aus dieser Zeit scheinen auf den Herzenskampf hinzuweisen. Von bestimmten Aeußerungen über diese Liebesepisode in Schubert’s Leben findet sich nicht die Spur; es war eben nicht seine Art, derlei Seelenzustände Andern rückhaltlos mitzutheilen.

Franz Schubert schied der Erste für immer aus diesem Kreise. Sechzehn Jahre nach seinem (im November 1828 erfolgten) Tode vermählte sich die von ihm Geliebte mit dem Grafen Folliot von Crenneville, Major in der österreichischen Armee. Sie starb im Jahr 1851, nachdem der Vater und die beiden Geschwister, Marie (mit dem Grafen August Breuner vermählt) und Albert, ihr im Tode bereits vorausgegangen waren. Drei Jahre nach Carolinens Tod schied die Gräfin Rosine aus dem Leben, und so ist derzeit von jenem merkwürdigen Schubertkreise nur noch der einst gefeierte Sänger des Schubert’schen Liedes, Carl von Schönstein, übrig, welcher als siebenzigjähriger, aber immer noch rüstiger Mann den Rest seiner Tage in Wien verlebt. Möge es ihm, der so gern in der Erinnerung an jene längst verschwundenen denkwürdigen Tage schwelgt, und den wenigen noch am Leben befindlichen Freunden des großen deutschen Liederfürsten vergönnt sein, den Tag zu schauen, an welchem von dem Standbilde Franz Schubert’s die Hülle fallen und dieses als ein stolzes Wahrzeichen der Dankbarkeit und Bewunderung emporragen wird, welches seine Vaterstadt einem der größten und berühmtesten ihrer Söhne in ihrer Mitte errichtet hat.[1]




Silhouetten aus der guten alten Zeit.
1. Doctor Eisenbart.


Daß die Erde sich bewegt, ist nachgerade allgemein zugestanden, seit etwa vierzig Jahren sogar von den Gelehrten des heiligen Vaters, der dieser Wahrheit wie mancher andern bis dahin ein beharrliches Non possumus entgegengesetzt hatte. Daß wir uns mit der Erde bewegen, läßt sich nun selbstverständlich auch nicht gut mehr leugnen. Wohl aber wollen gewisse Liebhaber patriarchaler Zustände und ein gewisser Chor von Herren in schwarzen Röcken, weißen Halstüchern und à la Seraph gescheitelten Haaren in Abrede stellen, daß wir uns vorwärts bewegen, und eine Anzahl von braven Leuten seufzt mit ihnen, wenn sie bekümmerten Herzens die schnöde Welt von heutzutage mit der „guten alten Zeit“ vergleichen. Die deutsche Treue und Redlichkeit, die Reinheit, der Sitten, die Gottesfurcht und was Alles noch soll Rückschritte gemacht haben, die Milch der Menschenliebe sauer geworden, Respect vor dem, was Respect verdient, Pietät und Zucht geschwunden sein, und, um das Maß voll zu machen, soll sogar die Gemüthlichkeit der Deutschen nicht recht mehr gedeihen wollen.

Wer sich in der „guten“ alten Zeit umgesehen hat, wird [391] solchen melancholischen Betrachtungen nicht beizupflichten vermögen. Er wird gern zugeben, daß die Gegenwart noch mancherlei zu wünschen übrig läßt, aber noch viel bereitwilliger wird er anerkennen, daß die Menschheit ohne Zopf und Haarbeutel sich schöner, sauberer und stattlicher ausnimmt, als die, welche mit diesen Zierden des Rockkragens einherging, oder, deutlicher ausgedrückt, daß wir Menschen des neunzehnten Jahrhunderts nicht nur ein gutes Theil klüger und reicher, sondern auch erheblich besser sind als die Zeit. da der Urgroßvater die Urgroßmutter nahm. Noch deutlicher läßt sich diese geschichtliche Wahrheit dahin formuliren, daß man sagt: der Glaube an den höheren sittlichen Werth, an die größere Wahrhaftigkeit und Treue, an das gemüthlichere und behaglichere Wesen der Vergangenheit ist nichts mehr und nichts weniger als Aberglaube und zwar – mit Erlaubniß der Patriarchalischen und à la Seraph Gescheitelten – ein recht drolliger Aberglaube.

Dieser Aberglaube ist in den letzten Jahren oft als solcher aufgedeckt worden, wir meinen jedoch, daß darin nicht zu viel gethan werden kann. Um indeß dem Bedürfniß nach Abwechselung gerecht zu werden, führen wir statt Gründe einmal eine Sammlung von Schattenrissen aus der „guten“ alten Zeit gegen ihn zu Felde. Den Vergleich dieser schwarzen Physiognomien der Vergangenheit mit den entsprechenden Typen der Gegenwart möge der verehrte Leser selbst vornehmen. –

Ein seltsamer Anblick für uns Menschen der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, wenn wir uns in das Treiben eines Jahrmarktes in der Zeit zwischen dem dreißigjährigen und dem siebenjährigen Kriege zurückversetzen. Nicht sowohl der ehrliche kleine Kaufmann und der Handwerker, als das fahrende Volk der Gaukler und Gauner spielt hier die Hauptrolle und macht hier die besten Geschäfte. Der lächerlichste Schwindel wird dem guten dummen Bäuerlein und dem nicht viel klügeren Kleinbürger als heilsame Wahrheit geboten, und die Reclame florirt wie heutzutage nirgends, selbst nicht in den Spalten amerikanischer Zeitungen. Die wunderlichste Figur aber unter diesem Volk von Bärenführern und Luftspringern, unter diesen bunten Landstreichern mit abgerichteten Affen, Murmelthieren und Hunden, unter diesen Burschen, die sich das Gesicht ohne Schaden mit geschmolzenem Blei waschen, oder Werg essen und darauf Feuer speien, unter diesen Grimassenschneidern, Possenreißern, Schaufechtern und Komödianten aller Art, ist die, welche das Volkslied noch jetzt unter dem Namen des Doctors Eisenbart feiert, des vagirenden Volksarztes und Volksapothekers der „guten“ alten Zeit, mit ihrer rührenden Unwissenheit, ihrem Ueberfluß an Aberglauben und ihrem Mangel an aller und jeder Wohlfahrtspolizei. Schildern wir den würdigen Herrn einmal, ohne uns lange mit allgemeinen Betrachtungen aufzuhalten, in einigen der Gestalten, in denen er vorzüglich auftrat.

Ein kaiserlicher Soldat im dreißigjährigen Kriege ist nach allerlei Abenteuern nach Frankreich, verschlagen worden und auf dem Rückweg von da an seiner Habe so herabgekommen, daß er sich entschließen muß, entweder zu betteln oder, wie er selbst uns naiv erzählt, ein Arzt zu werden. Er resolvirt sich zu letzterem und ist sofort in der Sache zu Hause. In der Apotheke kauft er sich für das anspruchsvollere Dorfpublicum die Materialien zu einem Theriak, der damals in der Medicin als vortreffliches Mittel gegen allerlei Vergiftung galt, obwohl die Stoffe, aus denen er zusammengesetzt war, theils ganz unwirksam waren, theils einander aufhoben. Für die einfacheren Bauern verschafft sich unser resoluter Aesculap Wachholderlatwerge, die er mit Eichenlaub, Weidenblättern und andern herben Ingredientien zu Pillen dreht. Ferner macht er sich aus Kräutern und Wurzeln verschiedener Art, Butter und Oel eine grüne Wundsalbe zurecht, „mit der man wohl ein gedrucktes Pferd hätte curiren können“. Desgleichen aus Galmei, Kieselsteinen, Krebsaugen, Schmirgel und Trippel ein Pulver, um die Zähne damit weiß zu machen. Ferner ein blaues Wasser aus Lauge, Kupfer, Salmiak und Kampher, für Mundfäule sowie für – Augenweh gut. Diese kostbaren Arzeneien gießt und streicht er in eine Anzahl Blech- und Holzbüchsen und Gläschen, und „damit es ein Ansehen habe“, läßt er sich einen Zettel drucken, auf welchem man sehen kann, wozu das Eine und Andere gut ist. Nach Verlauf von drei Tagen ist er mit seiner Arbeit fertig, und als er sich seine Ausgaben überrechnet, findet er, daß ihm sein ganzer Medicinvorrath nicht mehr als drei Kronthaler kostet.

Er probirt nun sein Glück vor der Kirche eines Dorfes, macht aber, da es ihm mit dem Aufschneiden noch nicht recht gelingt, zunächst schlechte Geschäfte. Zudem hört er von dem Wirth in der Schenke, daß die Bauern hier nur gute Waare kaufen wollen und daß sie mit dem Gelde gewaltig zurückhalten, wenn sie keine gewisse Probe sehen, daß der Theriak vorzüglich ist. Da kommt ihm ein gescheidter Einfall. Er verschafft sich ein halbes Glas voll starken Straßburger Branntwein und fängt sich in einer benachbarten Pfütze eine recht häßliche schwarz und rothgelb gefleckte Unke. Diese setzt er in ein Schoppenglas mit Wasser und stellt sie, als er wieder hinter seinem Stand unter der Dorflinde Platz genommen, neben seine Waare auf den Tisch. Und von jetzt an wollen wir ihn in der Sprache heutiger Zeit selbst weiter erzählen lassen.

Wie sich nun die Leute zu sammeln anfingen und um mich herumstanden, meinten einige, ich würde mit der Zange, die ich aus der Küche der Wirthin entlehnt, Zähne ausbrechen. Ich aber fing an:

„Ihr Herren und guten Freunde, ich bin kein Zahnbrecher, aber ich habe gutes Wasser für die Augen, es treibt alle Flüsse aus den rothen Augen.“

„Ja,“ antwortete Einer, „man sieht’s an Euren Augen, die brennen ja wie zwei Irrwische.“

„Das ist wahr,“ sagte ich, „hätte ich aber das Wasser nicht gehabt, so wäre ich wohl schon blind geworden. Uebrigens verkaufe ich das Wasser nicht, nur den Theriak und das Pulver für die weißen Zähne und die Wundsalbe verkaufe ich, das Wasser schenke ich dann dazu. Ich bin keiner von den Schreiern und Leutebetrügern. Wenn ich meinen Theriak probirt habe und er Dir dann nicht gefällt, so brauchst Du mir ihn nicht abzukaufen.“

Indessen ließ ich einen der Umstehenden eins von meinen Theriakbüchschen auswählen, und daraus nahm ich soviel wie eine Erbse und that es in meinen Straßburger Branntwein, den die Leute für Wasser hielten, zerrieb es darin und zog hierauf mit der Zange die Unke aus dem Wasserglase, indem ich sagte: „Seht, ihr guten Freunde, wenn dieses giftige Gewürm meinen Theriak trinken kann ohne zu sterben, so ist er nichts nütze, dann kauft mir ihn nicht ab.“ Damit steckte ich das arme Ding, welches im Wasser geboren und erzogen war und nie in einer andern Flüssigkeit gelebt hatte, in meinen Branntwein und hielt das Glas mit einem Papier zu, daß es nicht heraus konnte. Da fing es fürchterlich zu wüthen und zu zappeln an und geberdete sich nicht anders, als ob ich es auf glühende Kohlen geworfen hätte, und nachdem es dies eine Weile getrieben, starb es und streckte alle vier Beine von sich. Die Bauern aber sperrten Mund und Beutel auf, als sie diese gewisse Probe mit eignen Augen angesehen hatten. Nun war kein besserer Theriak auf der Welt als der meinige, und ich hatte alle Hände voll zu thun mit Einwickeln des Plunders und Geldeinstreichen. Etliche kauften es wohl fünf- und sechsfach, damit sie für den Nothfall mit so köstlicher Giftlatwerge versehen wären, ja sie kauften auch für Freunde und Verwandte, die an andern Orten wohnten, so daß ich von ihrer Einfalt, obwohl kein Markttag war, diesen Abend zehn Kronthaler löste und doch noch mehr als die Hälfte meiner Waare behielt. –

Unser Doctor Eisenbart zog dann weiter von Dorf zu Dorf, und namentlich so lange er Unken haben konnte, ging sein Geschäft ganz vorzüglich. Wo die Unken fehlten, wußte er als kluger Kopf die Vortrefflichkeit seiner Giftlatwerge auf andere Manier zu beweisen. Ich machte mir, erzählt er weiter, aus Mehl, Safran und Gallus einen gelben Arsenik und aus Mehl und Vitriol einen Quecksilber-Sublimat. Und wenn ich vor den Bauern die Probe thun wollte, so hatte ich zwei gleiche Gläser mit frischem Wasser auf dem Tische, von denen das eine ziemlich stark mit Scheidewasser oder Vitriolöl gemischt war. In diesem zerrührte ich ein wenig von meinem Theriak und schabte alsdann in beide Gläser von meinen beiden Giften so viel, als genug war, hinein. Davon wurde das eine Wasser, welches keinen Theriak und also auch kein Scheidewasser hatte, so schwarz wie Tinte, das andere aber blieb wegen des Scheidewassers so klar, wie es gewesen.

„Ha!“ riefen dann die Bauersleute, „seht an, das ist fürwahr ein köstlicher Theriak um so geringes Geld.“

Mischte ich dann den Inhalt der beiden Gläser untereinander, so wurde Alles wieder klar. Darüber zogen dann die Leute ihre Beutel und kauften mir ab, was nicht blos meinem hungrigen Magen zu Paß kam, sondern mich auch beritten machte und mir die Taschen mit Geld füllte, mit welchem ich glücklich an die deutsche Grenze gelangte.

[392] Hier geht unserem wandernden Volksapotheker sein Theriak aus, und da er sich aus Furcht, als entlaufener Soldat von den kaiserlichen Besatzungen wieder eingefangen zu werden nicht in die Städte getraut, so muß er sich einstweilen anders zu helfen suchen. Er weiß sogleich Rath, kauft sich zwei Maß Branntwein, färbt ihn mit Safran, füllt ihn in halblöthige Gläschen und verhandelt ihn der glaubensstarken Bauernschaft als ein kostbares Goldwasser, welches gut für das Fieber sei, und womit er an seinem Branntwein gegen dreißig Gulden verdient. Als ihm die Gläschen ausgehen, will er sie in einer Glashütte bei Philippsthal ergänzen, hier aber erreicht ihn die Nemesis in Gestalt einer Streifpartie aus der genannten Festung, die ihm Alles, was er den Bauern abgezwackt hat, wieder abnimmt und ihn nöthigt, wieder in die Soldatenjacke zu kriechen und dem Kalbfell zu folgen. Schade um sein Genie, er hätte es damit vermuthlich noch zu der vornehmeren Species der Doctores Eisenbart gebracht, die wir jetzt schildern wollen.

Der Eisenbart höherer Ordnung ist gewöhnlich ein gravitätischer Herr mit großer Lockenperrücke, rothem oder zeisiggrünem Rock, Dreispitz und Galanteriedegen. Aus den Aermeln schauen Spitzenmanschetten hervor, die Finger zieren Ringe mit funkelnden Steinen, die Schuhe silberne Schnallen. Er kündigt sich als Doctor mehrerer Facultäten, als weitgereister, in vielen Wissenschaften erfahrener Mann in Reden an, die zuweilen mit lateinischen und griechischen Floskeln gespickt sind. Geringschätzig steht er auf die niederen Branchen des Geschäfts herab, denn er kann sich einen Bedienten halten und zieht wohl gar in eigenem Fuhrwerk zu Markte. Ein anderer Unterschied freilich besteht zwischen ihm und den weniger anspruchsvoll auftretenden Collegen nicht. Er ist derselbe Gauner, nur schneidet er im höheren Stil auf, und während jene ihre Waare auf einem einfachen Tisch ausbreiten und mit ein paar Taschenspielerstückchen die Menge anlocken, perorirt er von einer prunkend ausstaffirten Bühne zu den Massen, oder führt, um die Augen auf seinen Kram zu lenken, förmliche Komödien auf, in denen sein Bedienter, bisweilen auch seine Frau oder sonst ein Compagnon mit ihm auftritt. Bilder mit Wundercuren seiner Elixire und Pflaster mit ungeheuerlichen Operationen, Zettel mit bombastischen Anpreisungen der Panaceen, die er feil hat, Gläser mit Schlangen, Kröten oder Mißgeburten in Spiritus müssen ihm wirthschaften helfen. Häufig läßt er sich durch Trommelschlag in den Gassen oder durch schmetternde Trompeten von seinem Gerüst herab der Welt als der große, Alles heilende, kaiserlich, königlich, desgleichen päpstlich privilegirte Magus Bombastus Theophrastus ankündigen. Häufig treffen mehrere der Art auf einem Markte zusammen, und lustig ist es dann, zu sehen und zu hören, wie sie sich einander den Rang abzulaufen suchen. Viele dieser Doctoren sind Italiener, die sich besonders gut auf bezeichnende Gesten und große Worte verstehen. Die meisten treiben dabei die Kunst des Zahnausziehens, die natürlich öffentlich, auf der Schaubühne, ausgeübt wird. Manche verkaufen außer ihren angeblichen Arzeneien, unter denen der Theriak immer die erste Stelle einnimmt, auch Liebestränke, Schönheitsmittel, Amulette und Brillen. Der Eine hat Wurmsamen, der Andere Bilsensamen gegen Zahnweh feil, ein Dritter Philosophenöl und die „Quintessenz, womit man bald reich werden kann“, ein Vierter oleum Tassi barbassi wider den Frost. Wieder ein Anderer preist Salbe zur Stärkung des Gedächtnisses, noch ein Anderer eine köstliche Pommade aus Hammelschmalz gegen den Schorf an. Daß bei den Meisten auch Menschenfett, Mückenfett und ähnliche von dem altgläubigen Landvolk noch heute hochgeschätzte und vielgesuchte Artikel zu haben sind, versteht sich von selbst.

Hier, etwas von den Bildern eines solchen Marktes aus dem siebenzehnten Jahrhundert. Gehen wir hinüber zunächst an jene Ecke, wo so ein Fortunatus mit seiner Fributa das Spiel begonnen hat. Er hat eine Stimme wie Stentor und gesticulirt wie eine Windmühle. Jetzt erzählt er eine lustige Anekdote, jetzt eine neue Nachricht von Krieg und andern Staatsactionen. Dann folgt ein Dialog zwischen Beiden mit allerlei groben Späßen und Zweideutigkeiten, dann Gesang, dann ein verstellter Zank mit seinem Bedienten, der mit einer Prügelsuppe endigt. Bald lacht er, daß ihm die Augen überlaufen, bald wird er pathetisch, bis er endlich meint, genug Volk angelockt zu haben, und nun zur Hauptsache, zum Herausstreichen der köstlichen Mittel übergeht, die er zum Heile der geschätzten Umstehenden mitgeführt hat.

Fortunatus ist eben im besten Verkaufen, als an einer andern Ecke Trompetenstöße ertönen und ein College sich ankündigt, der ihm den besten Theil seiner Kunden abspenstig macht. Er hat ein Mädchen in Knabenkleidern bei sich, die wie ein Affe durch einen Reifen springen kann und ähnliche Jongleurstückchen mit Virtuosität ausführt. Während die Kleine sich producirt, erzählt ihr Herr der Menge allerlei Possen und Schwänke, bis auch er auf das eigentliche Capitel kommt, seine Salbenbüchsen und Medicinflaschen offerirt und den Einen und den Andern beredet, davon zu kaufen.

Wieder an einer andern Ecke tritt mit Trommeln und Pfeifen ein großer, bunter Herr auf die Bühne, daß alle Welt zusammenströmt, zuhören, was er zu sagen hat. Er unterhält sich mit seinem Knecht im Stil unserer heutigen Kasperle-Theater. Der Herr erklärt dem Knecht, wie er ihn liebe, dieser aber macht allerlei Grimassen, renommirt, daß er sich für den guten Herrn Doctor todtschlagen lassen will, kriecht aber, als andere Schauspieler, die als Feinde des Doctors auftreten, auf dem Gerüste erscheinen, zitternd unter die Bank und schreit, daß der ganze Markt herbeiläuft, worauf auch für den Herrn Wunderdoctor und Theriakskrämer dieser Ecke die Zeit gekommen ist, merken zu lassen, woran ihm gelegen ist, nämlich mit seiner kostbaren Arzenei allen Beladenen zu dienen und zunächst die, welche an ihrem Gelde zu schwer zu tragen, von solchem Ungemach zu erlösen.

Bisweilen kommt auch ein Herr Magister So und So mit seiner Apotheke für allerlei Gebrest angezogen, von deren wunderbaren Tincturen und Mixturen er eine Weile tapfer lügt, bis die Bauern ihren Säckel ziehen. Will sich das nicht machen – es ist gar zu viel Concurrenz – so bestellt er ein paar gute Freunde, die sich herzudrängen und ihm abkaufen. Sie geben dann in der Regel vor, schon früher seinen unübertrefflichen Theriak oder seine Alles heilende Wundsalbe gebraucht zu haben und ihm weit nachgereist zu sein, um sie sich wieder zu verschaffen. Mit lauter Stimme und vor Freude weinend, den verehrten Wohlthäter der Menschheit endlich wiedergetroffen zu haben, preisen sie die Güte seiner Waaren. Die Umstehenden lassen sich das natürlich gesagt sein. Sie kaufen, was sie vermögen, und der gute alte Herr ist noch so liberal, daß er jedem der Kunden noch ein Dütchen mit Wurmsamen für die Kinderlein zu Hause oder sonst etwas für das Fieber, für Zahnschmerzen, für das Ohrensausen und dergleichen verehrt, „was allein schon das Geld werth ist, und wo gar Mancher viel darum gäbe, daß er es nur sehen möchte“.

Endlich erschien auf Messen und Jahrmärkten noch ein ganz besonderer Stamm der medicinischen Marktschreier, die „Söhne des heiligen Paulus“. Sie zogen, wie in Matthäus Merian’s „Allgemeiner Schauplatz aller Künste, Professionen und Handwerke“ erzählt wird, mit einer großen, fliegenden Fahne auf, deren eine Seite der Stammvater ihres Geschlechts, Sanct Paulus mit seinem Schwert, schmückte, während die andere einen Haufen Schlangen zeigte, „welche also gemalet sind, daß man sich fürchtet, von ihnen gebissen zu werden.“ Sobald sie aufmarschirt sind, fängt Einer von Ihnen an, den Ursprung ihres Geschlechts zu erzählen, wie der Apostel der Heiden auf der Insel Melite von einer Otter gebissen worden, aber ohne Schaden, und wie dieselbe Gnade nachher sich auf seine Nachkommen (Paulus war bekanntlich unverheirathet) fortgepflanzt habe. Der Redner versichert, man habe dies vielfach probirt, vielfach Anfechtung erlitten, aber allezeit die Oberhand behalten, wie mit Brief und Siegel zu beweisen sei. Endlich ergreift er die auf dem Tische oder der Bank stehenden Schachteln und langt aus der einen – gräulich anzusehen! – einen zwei Ellen langen und armsdicken Molch, aus der andern eine große Schlange. Bei einem jeden der garstigen Reptilien erzählt er, wie die Brüderschaft ihn gefangen, als die Bauern beim Kornschneiden gewesen, die deshalb in großer Gefahr gestanden hätten. Darüber erschrecken die Landleute dermaßen, daß sie nicht wieder nach Hause gehen zu dürfen meinen, sie hätten denn zuvor eins von den Pulvern eingenommen, welche der Nachkomme des heiligen Paulus ihnen jetzt anbietet und welche vor allem Biß giftiger Creaturen schützen. Und je mehr sie kaufen, desto mehr Schachteln werden geöffnet: in der einen liegt eine rauhe Otter, in der anderen ein todter Basilisk, in einer dritten eine Tarantel aus Campanien, wieder in einer andern ein junges Krokodil aus Aegypten oder eine indianische Eidechse. Daß einige dieser schrecklichen Thiere gar nicht, andere nicht bei uns existiren, weiß die Einfalt vom Lande nicht, und so zieht [393] sie auch vor ihnen den Beutel, um sich der Gnade Sanct Pauli zu versichern.

Noch Vieles ließe sich über den Doctor Eisenbart sagen, der sich bisweilen auch in viel höheren Regionen, als den geschilderten, bewegte und selbst an Höfen und Universitäten, wenn auch hier mit weniger plumpem Schwindel, Glück machte. Es mag indeß genug sein. Erst gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts verschwand er von den deutschen Märkten. Einige wollen ihn in der Türkei noch in den letzten Jahren gesehen haben, Andere meinen, er sei nach Amerika ausgewandert und habe dort nacheinander unter den Namen Morrison, Brandreth und Townshead als Pillenfabrikant und Sarsaparillatränkchenbrauer kolossale Geschäfte gemacht. Wieder Andere glauben zu wissen, daß, wenn nicht der alte Doctor selbst, doch Nachkommen von ihm noch in ziemlicher Anzahl und bei recht stattlichem Verdienst mitten im erleuchteten Deutschland wohnen, einer als Dickbierbrauer mit einem halben Dutzend Preismedaillen, einer als heilsamer Kräuterschnaps-Destillateur, ein dritter als Persönlichkeit, welche sich den Schutz ihrer Mitchristen vor gewissen unnennbaren Leiden angelegen sein läßt, und so noch ein paar Dutzend andere Heilande der kranken Menschheit. Ob das wohl wahr ist?
M. B.




Pariser Bilder.
Der Lebensplan eines Pariser Ladenmädchens.


Neulich wanderte ich nach der Rue St. Jacob, um mir in der deutschen Buchhandlung bei Haar und Steinert die Gartenlaube abzuholen. Sie ist für mich der Besuch lieber Freunde; zudem wußte ich, daß Abends ein Pariser Bekannter zu mir kommen und mich nach den Illustrationen dieser Zeitschrift fragen würde, welche er, der kein Wort Deutsch spricht, beharrlich „Jardinlob“ nennt.

Zuweilen fühle ich große Neigung, mich mitten aus dem Straßengewühl in eine stille Kirche zu flüchten. Dieser Neigung folgend, schlug ich den Weg nach Notre Dame ein, denn um diese Zeit ist es in dem alten Gotteshause gewöhnlich sehr still. Wer noch niemals in Paris war, stellt sich unter dieser Kirche gewöhnlich einen großen Dom vor, aber sie zeichnet sich nur durch ihr Alter und ihre schönen, im gothischen Stil gebauten Thürme aus. Das Innere der Kirche ist würdig, die bunten Glasfenster verbreiten eine angenehme Dämmerung. Ich setzte mich auf einen Stuhl und ließ im Geiste so manche der interessanten Personen an mir vorüberziehen, deren Andenken mit der Kirche verknüpft ist, von der schönen Anna von Bretagne und Carl dem Achten bis zu Napoleon dem Dritten und der schönen Spanierin, die jetzt Kaiserin der Franzosen ist.

Das Rauschen eines seidenen Gewandes rief mich aus meinen Träumereien in die Wirklichkeit zurück. Eine schlanke, graciöse Gestalt schwebte an mir vorüber und ließ sich auf die Kniee nieder. Unwillkürlich sah ich mich nach der Beterin um, deren kleines Hütchen mich nicht verhinderte, zu bemerken, daß sie sehr jung und außerordentlich liebreizend war. Das Mädchen, denn ein Mädchen war die Unbekannte offenbar, betete aus Herzensgrunde; endlich brach es in Thränen aus. Ich kann kein Weib weinen sehen, dazu regten sich außer den Empfindungen aufrichtigen Mitleids die Gedanken des Novellisten in mir: ich las in den Thränen des jungen Mädchens einen ganzen Roman. Als ich meinen Platz verließ, stand auch die junge Dame auf; an der Kirchenthür begegnete ich ihr. Sie warf einen halb scheuen, halb zutraulichen Blick auf mich. Schelte mich, wer da will, ich that, was ich nicht lassen konnte, und fragte: „Kann ich Ihnen auf irgend eine Weise dienen, Mademoiselle?“

Sie zögerte einen Augenblick mit der Antwort, endlich sagte sie: „Sie sind ein Ausländer, mein Herr?“

„Ein Deutscher, Mademoiselle.“

„Ach, ich kenne und liebe die Deutschen. Ich war zwei Jahr bei einer deutschen Dame und diese war sehr gütig gegen mich. Leider ist sie seit drei Monaten todt; wenn sie noch lebte, würde ich jetzt noch bei ihr sein. Ich habe Niemanden, den ich um Rath fragen kann.“

„Vielleicht kann ich Ihnen rathen; wollen Sie mir Ihr Zutrauen schenken, so werde ich es zu rechtfertigen wissen.“

Das holde Geschöpf trocknete schnell seine Thränen und sah mich lächelnd an.

„Wollen Sie? Ja, ich glaube Ihnen, denn ich habe eben zur allerseligsten Jungfrau gefleht, mir in meiner Noth beizustehen und mir durch einen Wink zu sagen, welchen Weg ich gehen soll.“

„Gern, Mademoiselle, will ich Ihnen dienen, aber,“ ein wenig Mißtrauen regte sich doch in mir, „haben Sie, so jung und anmuthig, nicht Eltern, Verwandte oder doch Freunde unter Ihren Landsleuten?“

„Nein, mein Herr, meine Eltern habe ich nicht gekannt; ich bin im Findelhause erzogen worden und Niemand hat jemals nach mir gefragt. Als ich erwachsen war, suchten die Vorsteher der Anstalt ein Unterkommen für mich und ich wurde bei der guten deutschen Dame als eine Art von Gesellschafterin untergebracht. Bei ihr habe ich viel Gutes gelernt, sogar stricken; ja, gewiß, mein Herr, ich kann Strümpfe stricken.“ Sie lachte voll Uebermuth, dann fuhr sie ernster fort: „Die gute Dame hat mir oft gesagt, daß in Deutschland gebildete und anständige Mädchen nimmermehr Loretten würden; ist dem so, mein Herr?“

Das Mädchen sah mich mit seinen großen, blauen Augen, welche von den schönsten schwarzen Wimpern beschattet wurden, mit einer Naivetät an, welche mich in Erstaunen setzte.

„Gewiß, Mademoiselle, so ist es. Nicht alle Frauen bei uns sind tugendhaft, aber die, welche es nicht sind, schämen sich doch, dies einzugestehen.“

„Nach dem Tode der deutschen Dame,“ fuhr das Mädchen fort, „kam ich zu einer Blumenhändlerin als Ladenmädchen. Ich mußte den ganzen Tag im Laden stehen und verkaufen, der Duft der Blüthen machte mir oft peinliches Kopfweh. Vor einigen Tagen redete mich ein Herr an, welcher oft Bouquets kauft; er ist schon ältlich, ein politischer Flüchtling, ein Pole.“ Sie schlug die Augen nieder und stockte in ihrer Rede.

„Bitte, Mademoiselle, sprechen Sie weiter.“

Das schöne Mädchen seufzte: „Der Herr sagte: ‚Was für einen Lebensplan haben Sie gemacht? Wollen Sie Jahr aus Jahr ein Blumenverkäuferin bleiben, mit einem Gehalt, der eben nur hinreicht für die allernothwendigsten Bedürfnisse?‘ Ich erwiderte: ‚Freilich bekomme ich wenig, allein, mein Herr, was soll ich thun? Ich bin ohne Vermögen, ohne Empfehlungen.‘

‚Als ob Schönheit nicht der beste Empfehlungsbrief wäre!‘ lachte der Herr. ‚Beantworten Sie mir doch einige Fragen, mein Kind.‘

‚Warum nicht, mein Herr?‘ fragte ich.

‚Lieben Sie schöne Kleider?‘

‚Natürlich.‘

‚Gute Speisen, Mademoiselle?‘

‚Das eben nicht, nur schönes Obst.‘

‚Aha, Champagner, Gefrornes; weiter!‘

‚Ich liebe, in Büchern zu lesen.‘

‚Gut, Theater, Concerte, wir verstehen uns, Mademoiselle, Alles das kann ich Ihnen bieten.‘

‚Sie mein Herr?‘ sagte ich.

‚Ach nein,‘ antwortete er, ‚nur mein Mund hat dies für Sie und mein Verstand, nicht meine Börse, aber ich kenne einen Herrn, einen reichen Grafen; er will Ihnen Alles geben, sobald Sie sich entschließen, seine Gesellschafterin zu werden.‘“

Kein junges deutsches Mädchen, welches so viel Bildung besitzt, wie sie die Französin offenbar hatte, würde einem Fremden mit solcher Unbefangenheit dies entehrende Anerbieten erzählt haben.

„Nun, Mademoiselle, was gaben Sie zur Antwort?“ fragte ich sie.

„Ich sprach gar nichts, der Herr lachte und rief: ‚Ueberlegen Sie sich meinen Vorschlag, es wird Ihnen nicht sobald ein ebenso guter gemacht; morgen komme ich wieder.‘“

„Und der Herr ist wieder bei Ihnen gewesen?“

[394] „Natürlich, er hat mir den Anzug, den ich trage, geschickt, dann hat er mich abgeholt und in eine reizende Wohnung geführt, gestern war es; auch der Graf erschien auf kurze Zeit mit dem alten Herrn. Er, nämlich der Graf, versicherte mir, daß er mich liebe und mich mit Glanz umgeben wolle, doch solle ich drei Tage Bedenkzeit haben, denn sobald ich eingewilligt habe, verlange er Treue.“

„Lieben Sie den Grafen?“

„Nein, er gefällt mir wenig, aber ich wagte nicht, es ihm zu sagen.“

„Was aber, Mademoiselle, macht Sie so traurig, und warum erzählen Sie mir das Alles?“

„O mein Herr, weil Sie mich fragten und weil ich Sie in der Kirche fand – – ich möchte doch lieber nicht Lorette werden, denn noch bin ich es nicht.“

„Das ist ganz richtig gedacht, nur möchte ich wissen, warum Sie es nicht werden wollen; wenn ich dies weiß, dann erst kann ich vielleicht etwas thun, was Ihnen eine sichere, ehrenvolle Zukunft gründet“

„Ja, mein Herr, mit dem besten Willen kann ich Ihnen nicht so genau erklären, warum ich es nicht will; vielleicht ist es einfältig von mir, wie der Herr Pole spricht, vielleicht stoße ich mein Glück von mir. Eine meiner Bekannten, sie heißt Louison Lesueur, wurde mit mir im Waisenhaus erzogen; sie ist drei Jahre älter als ich, hat jetzt Equipage, einen prachtvollen Schmuck; o, ich sprach sie vor einiger Zeit, ihr Wagen hielt vor der Thür des Ladens, wo ich Blumen verkaufte, auf der Place Vendôme; sie ließ sich ein Rosenbouquet für fünf Franken geben und sagte, sie lebe wie im Himmel, aber doch –“

„Ihr Ehrgefühl sträubt sich gegen den Gedanken, Lorette zu sein; ist es nicht so?“

„Das nicht, denn die gebildetsten Mädchen sind es und die vornehmsten Herren fahren mit ihnen herum; sie haben prachtvolle Toiletten, Dienerschaft, es ist ja keine Schande, aber – der Graf gefällt mir gar nicht, und zuweilen kam ein junger Mann in den Blumenladen, er kaufte immer nur für einen halben Franken; wenn er Student wäre, ja dann wollt’ ich schon seine kleine Frau sein.“

„Spricht der junge Mann mit Ihnen?“

„Selten; er ist ein Deutscher, ein Maler, er weiß, daß ich ein wenig Deutsch verstehe.“

„Und haben Sie schon bedacht, daß, selbst wenn der deutsche Maler Sie als seine kleine Frau zu sich nähme, er Sie in einiger Zeit wieder verlassen würde?“

„Nein, wer denkt an die Zukunft? Weiß ich denn, ob ich morgen noch lebe?“

„Wenn aber der junge Mann Sie liebte, wenn er Sie erst zum Altar und dann in eine bescheidene Häuslichkeit führen wollte, würden Sie ihm lieber folgen als dem reichen Grafen, selbst wenn Sie nicht nur dessen Geliebte, sondern seine Gemahlin sein sollten?“

„Sicher, o ganz gewiß!“

„Und wie nennt sich mein Landsmann?“

„Es war einmal ein Freund mit ihm im Blumenladen der nannte ihn Max.“

„Aha, Max, jetzt glaube ich ihn zu kennen. Ein junger, schlanker Mann, gelocktes braunes Haar, große blaue Augen, Schnurrbart; ist diese Beschreibung richtig, Mademoiselle?“

„Sie trifft genau, mein Herr.“

„Und die Liebe, wahrscheinlich, wie Ihre Jugend schließen läßt, Ihre erste Neigung, hat Sie belehrt, wie viel, wie unschätzbar viel Sie verschenken wenn Sie Ihre Person ohne Ihr Herz an einen Mann für schöne Kleider und Luxus verkaufen. Armes Kind, das böse Beispiel, welches Sie vor sich sahen, und der Mangel an richtiger Erziehung hatte Sie beinahe dahin gebracht, den Weg der Schmach zu wandeln! Danken Sie Gott für Ihre Liebe zu meinem Landsmanne, welche Sie auf dem Pfade der Tugend erhalten wird.“

„Werden Sie Herrn Max sprechen, mein Herr?“ fragte sie lieblich.

„Heute noch; ich werde ihm sagen, daß ich Sie kenne, daß Sie ein sittsames Mädchen sind, vorausgesetzt, daß Sie das Haus, in dem Sie jetzt wohnen, sofort verlassen und in den Blumenladen zurückkehren, bis sich ein besserer Platz für Sie gefunden hat, was sicher nicht schwer sein wird.“

„Wollen Sie mir dazu behülflich sein, mein Herr?“

„Natürlich, geben Sie mir Ihre Adresse, Mademoiselle.“

Ich wechselte noch einige Worte mit ihr; sie sagte mir, daß sie jetzt nach ihrer Wohnung zurücklehren, ihre prachtvollen Gewänder ablegen und sich dann wieder zu der Blumenhändlerin bei der Place Vendôme begeben würde.

Als ich Mittags in den Speisesaal des Hotels trat, wo ich gewöhnlich mehrere Landsleute treffe, ward ich von meinem liebsten Freunde mit Gelächter begrüßt.

„Hoho, Du Eremit, Bücherwurm, blind für Frauenschöne, taub für Sirenengesang, was hast Du heut in Notre Dame gethan? Bist Du dort getraut worden, oder hältst Du Deine Stelldicheins an heiliger Stätte? Wer ist das reizende Wesen im schweren Gewand von violetter Seide, an dessen Seite Du wandeltest?“

„Himmel!“ rief ich erstaunt aus, „kann man in dieser Riesenstadt rein wie Schnee sein und dennoch der Verleumdung nicht entgehen?“

„Bester Freund,“ lachte mein Freund Georg, “der Zufall führte mich in die Gegend von Notre Dame, und ich sah Dich, das ist Alles.“

Nach dem Diner, als die andern Tischgenossen sich entfernt hatten, blieben Georg und ich noch bei Kaffee und Cigarren zusammen. Ich theilte ihm mein Abenteuer mit und schloß mit der Frage: „Könntest Du nichts für das arme Mädchen thun? Du bist viel länger hier als ich, hast in sehr angesehenen Familien Zutritt, vielleicht machtest Du eine passende Stelle für meinen Schützling ausfindig.“

„Deutscher Schwärmer!“ lachte Georg herzlich, „Du bist nicht wie ich zehn Jahre in Paris; ich kenne keine Familie hier, welcher ich ein so schönes Mädchen empfehlen möchte; übrigens, bester Georg, scheint mir Deine Unschuld aus dem Blumenladen sehr verdächtig. Sie hatte ihr bescheidenes Auskommen, trug eine reine Neigung zu unserm schönen Landsmann Max im Herzen, ließ sich aber nichtsdestoweniger bereden, eine elegante Wohnung, reiche Toilette etc. anzunehmen, und ist – wenn es sich bewahrheitet – nur deshalb noch nicht ganz gesunken, weil ihr Beschützer ihr persönlich mißfällt. Lehre mich solche Pariser Mädchen kennen!“

„Aber ich versichere Dir, sieh das Mädchen, sprich es –“

„Gut, ich will am Sonnabend mit Dir nach dem Blumenladen gehen, da wollen wir sehen, was für sie zu thun ist, um sie auf dem Pfade der Tugend zu erhalten; früher habe ich keine Zeit.“

Wir trennten uns, Georg lachend, ich in sehr verdrießlicher Stimmung über sein Mißtrauen. Den nächsten Morgen ging ich nach dem Louvre, um meinen Freund Max aufzusuchen; ich wußte, daß ich ihn dort finden würde, weil er mit der Copie eines berühmten Gemäldes von Rubens beschäftigt war.

„Da malst Du ein sehr hübsches Gesicht,“ sagte ich, „aber das Antlitz der Blumenverkäuferin unter den Arcaden bei der Place Vendôme ziehe ich vor.“

„Ah, die schöne Manon, blaue Augen, schwarzes, atlasartiges Haar –“

„Ja, sie ist Deiner werth, und Du machst ihr den Hof?“

„Werth? Hm, sie ist schön, deshalb kaufe ich alle Blumen, die ich für mein Junggesellenstübchen und zum Verschenken brauche, bei ihr.“

„Sie scheint Dich mehr als gern zu sehen.“

„Sehr schmeichelhaft, doch sieht wohl Manon auch andere junge Männer gern.“

„Hast Du keine ernstere Neigung zu ihr, Max?“

„Durchaus nicht; wenn ich überhaupt schon an Heirathen dächte und wenn das holde Blumenmädchen eine Deutsche, nur an Stand und Bildung gleich wäre, dann könnte ich vielleicht einen kleinen Roman spielen, welcher mit einer Heirath endete, aber wie ihre und meine Verhältnisse sind, wäre eine Liebesgeschichte ihrerseits Unsinn, meinerseits Unrecht.“

„Max sagte das so ernst, daß ich kein Wort mehr über die arme Waise sprach, aber eine Stelle wollte ich für sie finden. Am fünften Mai, an dem Tage wo das Denkmal Napoleon’s des Ersten mit unzähligen Immortellenkränzen geschmückt ist, traf ich der Verabredung gemäß Georg auf der Place Vendôme; er hing sich an meinen Arm und sagte: „Nun komm’, ich will mir die gerühmte Schönheit besehen.“

Im Blumenladen, dessen Duft mich fast betäubte, erblickte ich nur eine ältliche Frau und einen Mann, der ihr Gatte zu sein schien.

[395] Auf meine Frage nach Mademoiselle Manon entgegnete die Frau: „Welche Manon? Alle meine Verkäuferinnen werden von mir Manon genannt; etwa Manon Lepitre?“

„Das junge Mädchen, welches kürzlich noch bei Ihnen war, das mit den blauen Augen –“

„Ah, Manon Lepitre, sie hatte mich am 30. April verlassen, kam dann wieder und bat um Aufnahme. Ich hatte bereits ein anderes Mädchen engagirt, aber eine Schönheit wie Manon Lepitre ist ein Vortheil für jeden Laden; wir nahmen sie abermals auf, allein gestern hat sie uns Adieu für immer gesagt, ohne ihre Adresse zurückzulassen.“

Wir dankten für die Auskunft und gingen; Georg lachte. Einige Abende später besuchte ich die Opéra Lyrique, um Don Juan auch in diesem Theater gehört zu haben. Meine Augen wanderten im Saal umher und blieben dann auf einer Loge haften, in welche eben die schöne Manon in der geschmackvollsten Toilette trat, begleitet von einem jungen, elegant aussehenden Manne. Mein Nachbar, ein Pariser, der so viel Bekanntschaften besaß, daß wir, meine Freunde und ich, ihn im Verdacht hatten, er gehöre zur geheimen Polizei, sagte, als er mein Staunen bemerkte: „Sie starren diese schöne Lorette an? Haben Sie dieselbe früher gekannt? Es ist Manon Lepitre, und ihr Begleiter der einzige Sohn des Bankiers D., eines enorm reichen Mannes.“

Beim Herausgehen sah ich Manon Lepitre an des jungen Mannes Arme, sie stieg mit ihm in den Wagen und fuhr davon. Einige Tage später erhielt ich ein zierliches Briefchen; der Inhalt desselben lautete:

„Mein Herr! Ich habe Sie in der Oper gesehen und Ihr Staunen wohl bemerkt. Lassen Sie uns Freunde bleiben und werden Sie nicht irre an mir; ich bin ein armes Mädchen, Herr Max hat sich nicht sehen lassen, einen guten Platz fand ich nicht, was konnt’ ich thun? Aber der Mann, dessen Freundin ich bin, ist ein anderer, als jener alte, häßliche, von dem ich Ihnen sagte; also werden Sie mich begreifen. Viele Stunden des Tages bin ich allein; an eine Verheirathung mit Herrn Max denk’ ich nicht mehr, aber gern würde ich ihn sehen, sprechen. Jeden Tag bin ich zwischen zehn und elf Uhr in Notre Dame, sagen Sie das Ihrem Freunde. Nicht wahr, Sie thun es?
Manon Lepitre.“

Empört über diese naiv-sittenlose Sprache, warf ich das Blättchen in den Kamin und sah zu, wie es verbrannte. Meinem Freunde Georg sagte ich nichts, und als ich gestern im Bois de Boulogne der schönen Lorette begegnete, welche mit ihrem Freunde in der elegantesten Equipage dahin rollte, erwiderte ich ihren Gruß nicht. Ich will nicht sagen, daß anderswo nur tugendhafte Frauen leben, aber diese Naivetät der Verdorbenheit wie hier sieht man vielleicht nur in Paris. Sie ist das naturgemäße Ergebniß einer Erziehung und Lebensanschauung, wie sie, Gott sei Dank! bei uns in Deutschland doch noch nicht haben heimisch werden können.




Das Festungsviereck an Mincio und Etsch.


Abermals bereitet sich der Kampf vor, in dem sich Italien endlich frei machen möchte bis zur Adria, und mit ihm tritt uns von Neuem ein Schlagwort entgegen, welches bereits in den Kriegen von 1848 und 1859 eine wichtige Rolle gespielt hat. Jenes gewaltige Fortificationssystem, das sogenannte Festungsviereck, das Venetien wie mit einem unübersteiglichen Walle umgiebt, war es, vor dem die verbündeten Italiener und Franzosen in ihrem Siegeszuge Halt machten. Wohl allen unsern Lesern ist dieser Name selbst geläufig, gewiß aber so manchem nicht recht klar, worin eigentlich der Schwerpunkt desselben liegt. Wir wollen darum in dem nachstehenden Aufsatz eine eingehendere Schilderung und Würdigung dieses Festungsvierecks versuchen, müssen aber zum Voraus bemerken, daß die spröde Natur des Gegenstandes nicht die farbige Behandlung zuläßt, welche sonst die Mittheilungen der Gartenlaube zu charakterisiren pflegt.

Zu den wichtigsten Flußlinien in ganz Oberitalien gehören die des Mincio und der Etsch. In ihnen liegt hauptsächlich die Stärke der Oesterreicher für die Vertheidigung gegen eine von Westen kommende feindliche Armee. Der Mincio ist der Abfluß des Gardasees und hat bis zu seiner Mündung in den Po eine Länge von etwa sieben und einer halben Meile. Die Etsch betritt, aus den tiroler Bergen kommend, das venetianische Gebiet bei Ossegno, durchströmt es in einer Länge von ungefähr sechsundzwanzig Meilen und ist, zwischen sechshundert und eintausend zweihundert Fuß breit und sechszehn bis fünfundzwanzig Fuß tief, auf dieser ganzen Strecke schiffbar. Da die Etsch, die außerdem einen sehr starken Fall hat, nur wenige Meilen östlich vom Mincio fließt, so unterstützen sich beide Linien gegenseitig. Vor Allem aber entsteht durch die Festungen Peschiera und Mantua am Mincio und Verona und Legnago an der Etsch ein schiefes Viereck, welches schon 1848 ungemein gute Dienste leistete, sodaß Willisen es für eine der stärksten Positionen erklärte, die er kenne, welches aber seitdem noch wesentlich vervollkommnet worden ist und jetzt, in der rechten Flanke durch Tirol, in der linken durch den Po gedeckt, als eine wahrhaft vortreffliche Stellung für eine active Defensive bezeichnet werden muß.

1848 hatte die Mincio-Linie noch gewisse Nachtheile, indem der Fluß zu wenig breit und tief ist, um als besonderes taktisches Hinderniß gelten zu können, auch dessen Ufer bald auf der rechten, bald auf der linken Seite höher sind, was namentlich am obern Laufe desselben die Vertheidigung erschwerte, während weiter stromabwärts, bei Mantua, Befestigungen am Curtatone fehlten, die eine Seitenstellung gewähren, und Peschiera’s Werke ebenfalls zu wünschen übrig ließen. Gegenwärtig ist alledem abgeholfen, und auch Verona hatte schon 1859 eine Anzahl neuer Forts und Schanzen erhalten, so daß die ganze Festungsgruppe nunmehr vollkommen alle Zwecke erfüllt, die man bei einem System von Befestigungen zu verfolgen pflegt. Sie schützt das hinter ihr gelegene Land, giebt der sie besetzt haltenden Armee den Charakter der Unangreifbarkeit und gestattet derselben, jeden Augenblick zum Angriff überzugehen.

Peschiera, die nordwestliche Spitze des Vierecks und am Austritt des Mincio aus dem Gardasee gelegen, wird von Höhen beherrscht, woher man ihm den Namen des „Spucknapfs“ gegeben hat. Die Stadt ist klein, hat nur zweitausend Einwohner, die meist von Fischerei leben, und ist mit Verona durch eine Eisenbahn verbunden. Die Höhen um dieselbe waren bereits 1848 stark befestigt, indem sich auf dem rechten Flußufer die Werke des Monteferro, auf dem linken das Fort Mandella erhoben. Beide geriethen damals nur durch Hunger in die Gewalt der Piemontesen, die sie unter dem General Manno vom 10. April bis zum 31. Mai belagerten und dann bis zum 14. August besetzt hielten. Während dieser Zeit wurde die Stadt mit neuen Werken versehen, die, als Peschiera wieder in die Gewalt der Oesterreicher gerathen war, in großartigem Maßstabe erweitert und ergänzt wurden, so daß der Platz jetzt eine Festung von bedeutender Widerstandskraft ist. Auf den die Stadt beherrschenden Höhen zieht sich zunächst ein doppelter innerer Kreis von Wällen und Bastionen, von zahlreichen Außenwerken umgeben, um den Kern des Ganzen bis an das in den See vorspringende Vorgebirge im Südwesten. Ein dritter Ring vorgeschobener Werke vergrößert den Rayon der Festung um das Dreifache und macht sie fähig, ein Heer von mindestens dreißigtausend Mann aufzunehmen und so nicht blos bei der Vertheidigung, sondern auch bei Offensivoperationen eine wichtige Rolle zu spielen.

Am obern Mincio ist das Terrain von Volta bis Lonato, denen außer Peschiera noch Valeggio und Salionze zu Stützpunkten dienen, der Defensive besonders günstig, und es folgt hier Stellung auf Stellung für einen Feldherrn, der mit der Vertheidigung beginnen und mit dem Angriff schließen will. Was früher fehlte, ist geschaffen worden, und die betreffenden Verschanzungen ziehen sich weit genug stromabwärts, um den oben angeführten, ehedem berechtigten Bedenken in Bezug auf diesen Theil des Festungsvierecks ihre Geltung zu nehmen.

Mantua, der südliche Endpunkt der Minciolinie und vier und eine halbe Meile von Peschiera entfernt, ist eine Stadt von [396] nahe an dreißigtausend Einwohnern und eine der wenigen Festungen, welche schon Napoleon dem Ersten Achtung einflößten. Es liegt auf einer flachen Insel des Mincio, der hier mehrere Arme und sehr morastige Ufer hat und einen ziemlich großen Landsee bildet,

Peschiera.

Mantua.

von welchem die Stadt auf der Nord- und Ostseite umgeben ist, während im Westen und Süden der Fluß und eine breite Sumpfstrecke sich hinziehen. Die Werke der eigentlichen Stadt, welche eine viel größere Fläche einnimmt, als man nach ihrer Bevölkerung schließen sollte, sind von keiner besondern Bedeutung und bestehen nur in einer alten, bastionirten Mauer. Desto gewaltiger sind die Forts, welche sie außerhalb dieses Kerns der Festung vertheidigen. In den westlichen Sümpfen liegt das vorgeschobene Hornwerk Pradella, an der Südseite trifft man auf die stark befestigte Insel Cerese oder Il Te und das Außenwerk Miglioretto, welches mit einigen andern von Mantovanna über La Favorita bis Castiglione und La Motella hinaus sich erstreckenden detachirten Werken ein verschanztes [397] Lager deckt, sowie auf ein großes Schleußensystem zur Ueberschwemmung des Terrains, dem das Fort Pietole zum Schutz dient. Die Nordseite gegen Verona hin, mit welchem Mantua durch eine

Verona.

Abzweigung der lombardisch-venetianischen Ferdinandsbahn verbunden ist, heißt Borgo di Fortezza. Zu ihr führt ein eintausend dreihundert und achtzig Fuß langer, starker Damm, Ponte dei Molini, über den See, und sie wird durch die große Citadelle di Porto vertheidigt, während die Ostseite, Borgo di San Giorgio genannt und mit dem Haupttheile der Stadt durch eine zweitausend

Legnago.

siebenhundert Fuß lange, durch sechs Bastionen und zwei Strandbatterien vertheidigte Steinbrücke verbunden, durch das Fort San Giorgio gedeckt ist.

Die Ueberschwemmungen, mit denen man das verschanzte Lager umgeben kann und die durch den Fosso Pajolo mittels Stauung gebildet werden, lassen Mantua als von der rechten Flußseite her unangreifbar erscheinen. Ohne den Besitz des starken Forts von Pietole ist es nicht möglich, das hierher geleitete Wasser abzuführen, und jenes Werk bildet daher bei einem Angriff von dieser Gegend den Schlüssel zu der Festung. Der Ponte dei Molini staut auf der andern Seite den obern Theil des Sees, und nur durch Schleußen können Fahrzeuge in den untern gelangen. Die große Stadt, der breite See und das verschanzte Lager mit dem Ueberschwemmungsrayon vor demselben geben der ganzen Festung eine solche Ausdehnung, daß es eines sehr zahlreichen Heeres bedarf, um sie auf beiden Seiten einzuschließen, und überdies ist die Erweiterung des Mincio oberhalb und unterhalb Mantua’s so bedeutend [398] und das Ufer auf beiden Seiten so sumpfig, daß die Brücken, deren ein Belagerer zur Verbindung seiner durch den Fluß getrennten Streitkräfte bedürfte, nicht nahe genug gelegt werden könnten, um schnelle wechselseitige Unterstützung zu ermöglichen. Das belagerte Heer dagegen kann, so oft es will, die Ufer wechseln und den Feind da angreifen, wo er augenblicklich am schwächsten ist, und wollte der Feind auf der kurzen Strecke des Mincio über den Fluß gehen, so könnte die Besatzung, die durch die Eisenbahn von Verona her fortwährend verstärkt werden kann, die Festung verlassen, ihm in den Rücken fallen und ihn in der ungünstigsten Lage zur Schlacht nöthigen.

Der einzige große Mangel, der sich den Vorzügen Mantua’s gegenüberstellt, ist die tiefe, sumpfige Lage des Platzes, das schlechte Wasser und die Ungesundheit der Gegend, die von Fiebern aller Art heimgesucht wird; aber diese Nachtheile treffen auch den Feind, der sich bei einer Belagerung hier länger aufhalten muß. Die Cholera würde in dieser Atmosphäre, wenn sie sich einstellte, unter beiden Theilen mächtig aufräumen und unter den großentheils im Freien lagernden Angreifern vermuthlich am meisten.

Die Etschfestungen des Vierecks sind von sehr verschiedenem Werth. Legnago, ein wenig weiter von Mantua entfernt, als dieses von Peschiera, ist ein kleiner Platz, zu dessen Besetzung etwa eintausend Mann genügen und welcher nur wegen des Uebergangs über die hier ziemlich breite Etsch und deshalb Wichtigkeit hat, weil er noch eine gesicherte Verbindung zwischen Mantua und Verona erlaubt, wenn der gerade Weg bereits vom Feinde bedroht wird. Südwestlich von hier breiten sich in sumpfigem Terrain ungeheure Reisfelder aus, die nur von wenigen Straßen durchschnitten werden. Verona dagegen, in der Nordostecke des Vierecks und fünf Meilen von Mantua, drei Meilen von Peschiera gelegen, ist gegenwärtig, wenn auch nicht so stark, wie Mantua, ein Hauptstützpunkt für die Defensive der Oesterreicher.

Verona liegt in einer trockenen und wenig fruchtbaren Ebene, um die sich im Halbkreise ein jäh abfallender Erdrücken, jedenfalls ein altes Etschufer, hinzieht, über welchen die beiden Hauptstraßen nach Mantua und Mailand laufen und wo sich die Dörfer Croce Bianca, San Massimo und Santa Lucia befinden, letzteres der Hauptschauplatz der Schlacht, in welcher Radetzky am 6. Mai 1848 das Heer Carl Albert’s schlug. Die Stadt, von ungefähr sechszigtausend Menschen bewohnt, zerfällt in zwei Hälften, von denen die kleinere östliche Veronetta heißt und welche durch sechs Brücken über die Etsch mit einander verbunden sind. Die oberste derselben ist römischen Ursprungs, wie denn Verona verschiedene Reste des Alterthums, namentlich ein großes, marmornes Amphitheater, in ihren Mauern hat; die unterste, Ponte delle Navi, steht an der Stelle der Brücke, welche 1757 durch den Eisgang der Etsch zerstört wurde und zu Bürger’s Lied vom braven Mann Veranlassung gab. Verona hat einen Umfang von ein und dreiviertel Meilen, die Straßen sind meist eng und unregelmäßig, nur der Corso und die Stradone Porta Nuova, die belebteste Verkehrsstraße, sind schön und gerade. Von den vier Hauptplätzen ist die Piazza dei Signori zu erwähnen, die mit Marmorquadern belegt und von sechs alten Palästen umgeben ist.

Als Festung wollte Verona 1848 noch nicht viel bedeuten. Es war damals eigentlich wenig mehr als ein verschanztes Lager, und seine Werte sahen aus, als ob sie von den Feinden Oesterreichs gebaut wären, denn ihre Hauptstärke richteten sie gegen die Erbstaaten, die westliche Front mit ihren zehn Bastionen konnte eher offen, als hinreichend geschützt heißen. Gegenwärtig ist Verona ein im großartigsten Stil der Neuzeit befestigter Waffenplatz. Seine Befestigungen, zum Theil von dem Grafen Bolza erbaut, bestehen zunächst in einer Umfassungsmauer, dann in einer Anzahl detachirter Forts. Die bastionirte Umwallung der Stadt ist älteren Ursprungs, aber in der letzten Zeit vielfach verbessert und verstärkt. Sie hat eine beträchtliche Anzahl Thore, so daß im Verlauf einer halben Stunde fünfundzwanzigtausend Mann ausfallen oder sich in das Innere der Festung zurückziehen können, und auf dem rechten Etschufer als der natürlichen Angriffsfront acht Bastionen: am Eintritt des Flusses in die Stadt liegt das Fort San Proculo, am Austritt desselben das Fort Heß und zwischen diesen beiden Punkten zieht sich eine Reihe von sehr respectabeln Redouten hin, die, trapezförmig gebaut, mit ihren längsten Seiten der Stadt zugekehrt und nur ungefähr eintausend achthundert Fuß von einander entfernt sind.

Diese Werke sind sämmtlich mit bombenfesten Casernen versehen. Der zu einem verschanzten Lager bestimmte Raum hinter ihnen hat eine Länge von fast zehntausend und eine Breite von etwa sechstausend Fuß, und es können hier bequem sechszigtausend Mann aufgestellt werden. Die Befestigungen auf dem linken Etschufer sind zwar nicht so großartig, wie die auf dem rechten, doch verdienen auch sie Beachtung. Der Wall ist ebenfalls mit Bastionen versehen, und die Zugänge werden von dem alten Castell San Felice beherrscht, welches auf einem steilen Felsen zwischen dem Etsch- und dem Patentathale sich erhebt.

Betrachten wir die Festung aus der Vogelschau, so bemerken wir, daß die Stadt zunächst mit einem innern Gürtel von acht, dann mit einem äußern Gürtel von zwölf Forts und Schanzen umgeben ist, zu welchen auf den Höhen, die sich auf dem linken Ufer des Flusses zur Stadt herabsenken, noch vier casemattirte Thürme kommen. Die äußeren Forts, die einen Kreis von etwa drei Meilen Umfang bilden, sind meist erst seit 1848 erbaut und führen die Namen der im Kriege mit Carl Albert berühmt gewordenen österreichischen Feldherren Radetzky, d’Aspre etc. Die Kosten aller Festungswerke Verona’s, soweit sie aus neuerer Zeit datiren, sollen sich auf fünfundzwanzig Millionen Gulden belaufen. Was sich eine Armee nur wünschen kann: gesicherte Stellung, Freiheit der Bewegung, Möglichkeit des raschen Uferwechsels an einem ansehnlichen Flusse, findet sich hier vereinigt. Die Etsch hat zwischen Verona und Legnago eine Breite von zweihundertundsechszig bis dreihundertundzwanzig Fuß; Furten giebt es auf dieser Strecke nicht, auch ist der Lauf des Flusses hier noch ziemlich rasch, weshalb größere Truppenkörper denselben hier nur mit Schwierigkeit überschreiten, wenn sie nicht im Besitz der stehenden Brücken sind.

Verschiedene Vorpunkte haben ebenfalls Befestigungen erhalten, so die beiden wichtigsten: Pastrengo und Rivoli. Jenes wird von Schönhals ein natürlicher Brückenkopf genannt, da es in einem Halbkreis von vortheilhaft gelegenen Höhen umgeben ist. Es nimmt die Stellung vor Peschiera in die Flanke und hilft die von Rivoli decken. Letztere, ein Plateau, unter dem das Thal der Etsch so eng ist, daß man von Rivoli die Straße am linken Ufer durch weittragendes Geschütz völlig sperren kann, wird durch drei Werke, die Forts Rivoli, Wratislaw und Molinari, sowie durch mehrere Maximiliansthürme vertheidigt. Sehr wichtig sind die Eisenbahnen, welche jetzt die drei Hauptvesten des berühmten Vierecks mit einander verbinden. Legnago liegt außer ihrer Linie, aber Pieschiera, Mantua und Verona sind sowohl unter sich als mit ihrem Hinterlande durch Schienenwege verknüpft. Die Schwierigkeiten der Verpflegung und Verstärkung verschwinden dadurch beinahe ganz, und die Kraft des Festungssystems wird durch die innere Verbindung beinahe verdoppelt.

Das ist das gewaltige Festungsviereck, in welchem die österreichische Südarmee wie in einer ungeheuern Verschanzung dem von Westen herandringenden Feinde Trotz bieten und ihn in jedem geeigneten Momente angreifen kann, ohne daß für sie die Möglichkeit besteht, zur Schlacht genöthigt zu werden, wenn es ihr nicht gefällt. „Man kann sich,“ sagt Willisen, „hier sehr gut eine Bewegung denken, bald so, bald anders herum, entweder von Peschiera nach Verona, von da nach Legnago, von da nach Mantua und wieder zurück nach Verona und abermals nach Peschiera oder umgekehrt. Durch welche Mittel aber und durch welche Uebermacht sollte es dem Feinde, der hier überall Hindernisse in seiner Bewegung findet, wo sie mir stets erleichtert ist, je gelingen, mich in einer nachtheiligen Stellung zur Schlacht zu zwingen? Und so lange er das nicht kann, ist der Zweck der Defensive erreicht, der eben kein anderer ist, als der, mich nicht schlagen zu dürfen, ohne daß ich darum Land aufgebe.“

Willisen empfahl eine Umgehung des Festungsvierecks durch Ueberschreiten des Po bei Revere. Dies war 1848, wo die Italiener in der Uebermacht waren und keinen Seitenangriff zu fürchten brauchten, nicht allzu schwierig. 1859, wo die Gegner sich an Truppenzahl gewachsen waren, wäre es sehr gewagt gewesen, in den eingebogenen Winkel von Revere hineinzugehen, dabei die Brückenköpfe Mantua’s, Brescello und Borgoforte, links und die damals von Oesterreich besetzt gehaltenen Festungen Ferrara und Comacchio rechts zu lassen und den Uebergang über den großen, hier gegen eintausend Klaftern breiten und fünfundzwanzig Fuß tiefen Strom in kurzer Entfernung von Mantua und Legnago [399] zu erzwingen. Jetzt fällt ein Theil dieser Schwierigkeiten weg, indem Ferrara und Comacchio den Italienern gehören, die sich überdies in Piacenza’s und Bologna’s verschanzten Lagern eine gute Angriffsbasis geschaffen haben; aber immerhin wäre ein Marsch zwischen der Meeresküste und dem Festungsviereck (in der Richtung Ferrara, Rovigo, Padua) ein so gewagtes Unternehmen, daß die Italiener daran nur denken könnten, wenn sie ein doppelt so starkes Heer in’s Feld stellten als ihre Gegner.

Dagegen ist ein anderer Weg denkbar; Ein Feind, der im Besitz von Venedig ist, kann das Festungsviereck im Rücken fassen. Die Einnahme dieses Platzes ist indeß keine leichte Aufgabe, da seine Lage seltene Vortheile vereinigt und die Kunst Alles gethan hat, seine natürliche Stärke zu vermehren.

Die ganze Küste der Adria, soweit sie zu Venetien gehört – eine Strecke von zwanzig Meilen – ist durchaus flach. Vor der Mündung aller hier sich in’s Meer ergießenden Flüsse haben sich Sand- und Schlammdünen, italienisch Lidos, gebildet, und hinter diesen winden sich Meeresarme, Lagunen, hin, die weiter landeinwärts in Sümpfe übergehen. Auf solchen Lidos und in solchen Lagunen liegt Venedig. Die Gewässer, welche es umgeben, sind meist viel zu seicht, um größeren Seeschiffen Zugang zu gewähren. Indeß giebt es tiefere Canäle, die man sorgfältig offen hält und den Schiffern durch Pfähle bezeichnet. Entfernt man diese, so läuft ein eindringendes Fahrzeug Gefahr, auf Untiefen zu gerathen. Der große Canal, der Venedig vom Festlande trennt, ist so breit, daß von letzterem kein Feuer gewöhnlicher Geschütze nach der Stadt hinüberreicht, und die Brücke, welche diese mit dem Lande verbindet, ist durch das starke, halb im Wasser, halb im Sumpf liegende Fort Malghera vertheidigt, welches die Oesterreicher 1849 erst nach vierwöchentlicher Belagerung einnahmen, ohne daß deshalb aber die Stadt sich sofort ergeben hätte. Die dem Festland zugekehrte Seite der Stadt ist mit allerlei Schanzen und Forts gesichert, und der Lido, der sich drei Stunden lang auf der Meerseite vor Venedig hinzieht, ist ebenfalls mit einer Reihe starker Werke bedeckt, die durch eine Straße miteinander verbunden sind und an deren Vertheidigung der hier stationirte Theil der österreichischen Flotte theilnehmen würde. Auch mit den Panzerschiffen und den gezogenen Vierzigpfündern der italienischen Marine wird hier vermuthlich nicht viel auszurichten sein. Dagegen kann Venedig, da die österreichische Flotte vor der italienischen die offene See nicht zu halten vermag, blockirt werden, und dadurch wird die Vertheidigung beträchtlich erschwert, indem leicht Mangel an Munition und Lebensmitteln eintreten kann. Jedenfalls aber ist die Einnahme Venedig’s, welches mit dem Festungsviereck durch eine Eisenbahn verbunden ist, eine langwierige Sache und keineswegs so leicht, wie mancher Gegner Oesterreichs sie sich vorstellen mag.




Blätter und Blüthen.


Die letzten Lebenstage der Sophie Albrecht. Die Gartenlaube brachte unlängst eine biographische Skizze aus dem Leben der Freundin Schiller’s, welcher wohl Niemand ein höheres Interesse abgewinnen konnte als der Unterzeichnete, der den letzten jammervollen Lebenstagen jener interessanten Frau einen mindestens leidlichen Ausgang zu geben suchte und dennoch ein Zeuge des schaudervollsten Elends sein mußte, welches jemals einem fühlenden Wesen den Weg zum Grabe mit Dornen bestreute. Hat man aber die sonnenhellen Lebenstage einer „schönen Seele“ der Betrachtung werth gefunden, warum sollte man das Gemälde unvollendet lassen, indem man die schauerlich düstern Schattenseiten kurz vor dem Ende dem Anblick zu entziehen suchte? –

Anfangs der vierziger Jahre hatte Streicher, der treue Freund und Begleiter Schiller’s auf seiner Flucht aus Stuttgart, die Erzählung dieser interessanten Abenteuer aus dem Leben unsers großen Dichters veröffentlicht. Noch frisch unter dem Eindruck dieser Lectüre, saß ich eines schönen Sommernachmittags in Hamburg in der Laube eines Freundes beim Kaffee, als ein Dienstmädchen hereintrat und ihm einen Brief überreichte. Als er ihn erbrochen und gelesen, blickte er ziemlich verdrossen und sichtlich unangenehm berührt auf die Bringerin und sagte unwirsch zu ihr: „Grüßen Sie Ihre Madame, und ich müsse sie bitten mich von jetzt an mit Zuschriften zu verschonen; ich kann nichts mehr für sie thun. Der ärztliche Verein, zu dem ich gehöre, hat sie jahrelang unterstützt, aber man ist der Sache überdrüssig geworden, sie muß sehen, wie sie sich sonst durchhilft. Addio!“

Sehr bestürzt und erschreckt entfernte sich das Mädchen. Als es gegangen war, bat ich den Arzt um nähere Aufklärung der Scene. „Es handelt sich um die Doctorin Albrecht,“ erwiderte er. „Sie müssen ja von ihr gehört haben, denn sie war einst eine ziemlich berühmte Schauspielerin, und da ihr verstorbener Mann einstmals Arzt gewesen, ehe er Schauspieldirector wurde, so haben wir die alte Dame unterstützt. Allein es hat Alles seine Grenzen, und es giebt Menschen, die auch dem wärmsten Mitleid zu lange leben!“

Anfangs konnte ich vor Bestürzung die Sprache kaum finden. Gestern erst hatte ich im Streicher die bekannte Episode von Schiller’s Verhältniß zu dieser Frau gelesen, und heute wurde sie hier als Bettlerin abgewiesen! „Um Gottes willen!“ fuhr ich auf und griff nach Hut und Stock, „wo wohnt die Frau? ich muß sogleich zu ihr; ihr soll, ihr muß geholfen werden! So etwas kann und wird die deutsche Nation nicht dulden!“ – Gesagt, gethan! Sie wohnte ganz in der Nähe im Hinterhause eines Maurermeisters, der ihr, ich weiß nicht durch welche Verkettung von Umständen, eine Freiwohnung zu geben verpflichtet war. Ich fand die alte Dame, zwar großmütterlich verschrumpft, wie es einer Achtzigerin geziemt, jedoch noch geistig leidlich frisch und wohl empfänglich für meinen Vortrag bezüglich ihrer desperaten Lage an so spätem Lebensabende und nunmehr verlassen von jeder Hülfe; denn an die Armenanstalt sich zu wenden hatte sie – abgesehen von der bekannten Geringfügigkeit der dort gewährten Gaben – im Gefühl ihrer Würde doch nicht über sich gewinnen können. Zu meinem Bedauern scheiterte aber hieran auch mein wohlgemeinter Vorschlag, mit Hinweis auf ihren einstmaligen Freundschaftsbund mit Schiller bei der deutschen Nation für sie zu collectiren; und so blieb mir vor der Hand nichts weiter übrig, als eine meinen Verhältnissen angemessene Gabe (einen Gulden) mit wohl motivirter Entschuldigung in ihre dürre Hand. zu legen, den sie dankend entgegennahm, um dann von alten classischen Zeiten zu plaudern, von ihren glücklichen Tagen in Dresden, wo sie mit ihrem Freunde unter Einem Dache wohnte und die schönen Töchter einer pensionirten Wittwe ihre Netze um ihn woben und seine kleine Baarschaft verschlangen, so daß er beständig Vorschüsse von seinem Buchhändler erbitten mußte, bis seine Freunde ihn endlich halb mit List aus der Nähe jener Sirenen entfernten, u. dergl. m. Für alle diese längst vergangenen Dinge hatte sie eine lebhafte Erinnerung und durchlebte im Geiste mit sichtbarer Erhebung noch einmal jene sonnigen Tage, mit denen das Heute, ach, so schmählich contrastirte. Ich schied endlich mit der Zusage von ihr, daß, wenn sie etwa, von Noth gedrängt, bezüglich der Collecte andern Sinnes werden sollte und mir Botschaft sende, ich jeder Zeit gern zu ihrer Verfügung stehen würde.

Leider war ich nur zu sicher, daß diese Botschaft nicht lange auf sich warten lassen werde, und dennoch hatte die bittere Noth vierzehn Tage gebraucht, um den edlen Stolz der armen Frau zu brechen; dann aber ließ sie mich bitten, zu ihr zu kommen, und unter Thränen gab sie mir jetzt die Erlaubniß, der Welt ihr bitteres Leid an’s Herz zu legen.

Die Hamburger Nachrichten waren gleich bereit, sich zum Organ meines Aufrufs an edle Herzen zu machen, und am nächsten Morgen war ich noch nicht in den Kleidern, als es schon an meine Thür klopfte und kleine Geldpäckchen für die Freundin Schiller’s einliefen. Das ging denn nun so einige Wochen fort; von fern und nah kamen die blanken Gulden heran, Genannte und Ungenannte, mit und ohne Grüße, ja bis in die Schweiz hinein thaten sich die milden Herzen auf; so taucht in einem Winkel meines Gedächtnisses u. A. noch die freundliche Zuschrift der Frau Birch-Pfeiffer auf, welche damals Directorin eines Stadttheaters daselbst (in Zürich) war. Genug, einige hundert Thälerchen kamen im Fluge zusammen, und gleich die ersten trug ich hin, um die erste bittere Noth zu stillen und namentlich für Wäsche zu sorgen, an der es gänzlich gebrach.

Ich mußte indeß meinen kleinen Schatz wohl zu Rathe halten und spärlich eintheilen, denn die gute Alte war zäh, das sah man ihr wohl an, und zum andern Mal durfte ich wohl, ohne Verdacht des Eigennutzes zu erregen, nicht bittend wiederkommen. So theilte ich ihr denn wöchentliche Rationen von zwei Thalern zu. Das ging denn nun so einige Jahre fort und die Alte befand sich leidlich wohl dabei. Indeß, mein kleiner Schatz ging nun auf die Neige und die Sorge um das Weitere veranlaßte mich, meinen Freund, den vorhin erwähnten Arzt, zu ersuchen, nunmehr wieder an meiner Statt einzutreten, was auch geschah. Ein halbes Jahr darauf, eines schönen Morgens, erschien der Hauswirth bei mir, um mir die Besorgniß auszusprechen, es möchte wohl bei der Alten nicht recht richtig sein. Sie schreie oft die ganze Nacht hindurch, und er fürchte, das Mädchen behandle sie schlecht und werde bald ganz davonlaufen. Ob ich denn nicht einmal dort nachsehen wolle? Ganz erschreckt, machte ich mich sofort auf den Weg, um die Sachlage zu erkunden, wurde aber abgewiesen, weil Frau Doctorin schliefe, und dieses zu dreien Malen, bis mir endlich der Geduldsfaden riß, ich die freche Thürhüterin zur Seite stieß und den Eingang erzwang. Und siehe, da lag nun die jammervoll wimmernde Alte in einen Knäuel zusammengewunden, zitternd vor Kälte, vielleicht sogar vor Hunger, auf einem zerfetzten und beschmutzten Lager, das einst ein Bett gewesen war, und schon das Aeußere ließ erwarten, welcher Jammer darunter verborgen sein mochte? Ich war auf das Schlimmste gefaßt, als ich mit spitzen Fingern die Decke lüftete. Was aber mein Auge jetzt sah, überstieg alles Gefürchtete und die Schrift sträubt sich, dem Leser auch nur andeutungsweise eine Vorstellung zu verschaffen von dem erbarmungswürdigen Elend, in dem die einst so gefeierte Künstlerin jetzt vor meinen erstaunten Blicken dalag. Glücklicherweise hatte sie kein Bewußtsein von ihrem Elend mehr, denn der Jammer hatte sie wahnwitzig gemacht. Das Scheusal von Mädchen hatte ihre hülflose Herrin so verkommen lassen und meine schneidenden Vorwürfe glitten an der Entschuldigung dieses versteinerten Herzens ab, daß sie keine Mittel zur Pflege gehabt habe. Bekannt war es aber, daß sie die noch immer nicht versiechten Gaben mit einem Geliebten verjubelt hatte, mit dem sie bald darauf nach Amerika entfloh.

Was war nun zu beginnen? Nach verschiedenen vergeblichen Anfragen [400] trug der Landherr, Senator Dammert, an, mich ex officio zum beständigen Curator für die Alte zu machen und sie so meiner Verfügung gänzlich anheim zu geben. In meiner ängstlichen Besorgniß war ich zu Allem bereit und eilte mit meiner Vollmacht in der Tasche zu meiner Frau. „Holen wir sie hierher!“ rief diese entschlossen; „die Alte muß zuvörderst gereinigt werden, dann geben wir ihr Speise und Trank, und Du sollst sehen, sie wird schon wieder vernünftig werden.“ Das war auch mein Gedanke! Eine Droschke fuhr des Weges und wurde engagirt, eine große, wollene Decke mitgenommen, die Alte hineingewickelt, wie sie dalag, und fort ging’s auf dem Arm des Kutschers in den Wagen und weiter in meine kleine Behausung. Aber ach, alle Sorge, alle Reinlichkeit, alle Pflege war zu spät! Zu schrecklich tief hatte das Elend an diesen Trümmern genagt: sie schrie und jammerte fort und fort, Speise und Trank wurde verschmäht, kein Schlaf kam mehr in ihre Augen. Das allgemeine Krankenhaus blieb nun die letzte Zufluchtsstätte; dorthin ließ ich sie bringen, und nach weitern vierzehn Tagen erlöste der Tod die arme, unglückliche Dulderin von ihrem grenzenlosen Elende.

Von der Herausgabe einer Anthologie ihrer Gedichte auf Subscription hatte ich abermals ein kleines Sümmchen für sie in petto, wenn die ärztlichen Gaben etwa wieder erschöpft sein möchten. Von diesem ließ ich ihr einen anständigen Sarg anfertigen, sie hübsch einkleiden und so fuhren wir Drei, meine Frau, mein Pflegesohn, und ich, eines Tages zum Lübecker Thor hinaus und geleiteten die endlich glücklich gewordene Freundin Schiller’s als einziges Gefolge zu ihrer letzten Ruhestätte und warfen die erste Erde auf ihren Sarg.

Wer in Hamburg einmal die jetzige sogenannte Sechslingspforte an der Alster passirt, der sieht dort ein mit Pappeln eingehegtes, mit niedern Hügeln bedecktes Viereck, einstmals der Friedhof des allgemeinen Krankenhauses. Dort schlummert Sophie Albrecht, die Freundin Schiller’s, der die Kieler Studenten einst als gefeierter Künstlerin Abends die Pferde ausspannten und die nun am Abend ihres Lebens, vom bittersten Elende zu Tode gemartert, kaum noch einem menschlichen Wesen glich. Sanft ruhe ihre Asche!

Fr. Clemens.




Der Erfinder des Revolvers. Wenn unsere Zeit sich dadurch auszeichnet, daß sie den geheimnißvollen Kräften der Natur immer mehr nachforscht, um Industrie und Handel zu heben, neue Gewerbszweige in’s Leben zu rufen und durch Auffinden bis dahin unbekannter Heilmittel selbst dem Tode seine Beute streitig zu machen, so darf man sich andererseits doch nicht verhehlen, daß der menschliche Geist sich nicht weniger angestrengt hat, die mannigfachsten Mittel zum Zerstören und Vernichten zu schaffen. Der nordamerikanische Secessionskampf hat namentlich sehr viel dazu beigetragen, daß Zahl und Qualität der Trutz- und Schutzwaffen vermehrt und vervollständigt worden sind, und man braucht jetzt nur den kleinsten Spaziergang in den besuchtern Straßen von New-York, Philadelphia, St. Louis oder irgend einer anderen größeren Stadt der Union zu machen, um sogleich die furchtbare Wirkung jener Mordinstrumente durch das Begegnen von verkrüppelten Unionskriegern wahrzunehmen. Zwar kehrte ich selbst, obschon ich mehr als einmal die Spitzkugeln pfeifen und die Kanonen brüllen hörte, unversehrt aus dem Kampfe heim; allein, um nur ein Beispiel anzuführen, zwei meiner nächsten Bekannten erhielten in der einen Schlacht bei Pea Ridge, welche für die Unionswaffen ein so ruhmvolles Resultat lieferte, gar schreckliche Verwundungen: der eine, Hauptmann Henn, hatte schon früher in dem Kriege für Schleswig-Holstein seinen rechten Arm verloren, nun wurde ihm in der genannten Schlacht auch noch sein rechtes Bein bis über das Knie abgeschossen, so daß er vollständig ein Krüppel war; der andere, Lieutenant Türk – er lebt jetzt, kaum vierundzwanzig Jahre alt, von seiner Pension in Lübeck – verlor, während er mit geschwungenem Säbel seine Leute muthig in den Kampf führte, durch einen Musketenschuß seine beiden Augen und ist nun, obwohl er sonst gesund und jugendkräftig dasteht, zu ewiger Blindheit verdammt. Möge der Himmel unser deutsches Vaterland vor einem ähnlichen Bruderkriege, wie dieser amerikanische es war, bewahren! Jeder Blutstropfen, der ohne Noth darin vergossen wird, ruft Rache auf die Häupter der Schuldigen herab, die denn auch nur selten unbestraft bleiben.

Doch es war meine Absicht, den Lesern der „Gartenlaube“ einige minder oder gar nicht bekannte Daten und Einzelheiten über Samuel Colt, den Erfinder des Revolvers, jener Feuerwaffe mitzutheilen, die wegen ihrer furchtbaren Wirksamkeit sich in kurzer Zeit über den ganzen Erdball ausgebreitet hat.

Samuel Colt wurde als der Sohn eines intelligenten und unternehmenden Kaufmanns am 19. Juli 1814 zu Hartford im Staate Connecticut geboren und starb ebendaselbst am 10. Januar 1862. Vierzehn Jahre alt, entwich er aus einer Schule in Massachusetts und schiffte ohne Vorwissen der Seinigen als Kajütenjunge nach Ostindien. Heimgekehrt beschäftigte er sich, zunächst in einer Fabrik seines Vaters, vorzüglich mit Chemie und machte dann Reisen durch die Union und das britische Nordamerika. Ohne große theoretische Kenntnisse zu besitzen, hielt er, obschon erst achtzehn Jahr alt, auf diesen Reisen Vorlesungen über Chemie und verdiente sich, namentlich durch seine glücklich ausgeführten Experimente, viel Geld. Schon als Schiffsjunge hatte er aus Holz das Modell einer Pistole geschnitzt; das durch seine Vorlesungen und Experimente erworbene Geld setzte ihn nun in den Stand, sich in dieser Richtung weiter auszubilden, und kaum einundzwanzig Jahre alt, konnte er Modelle von revolvirenden Feuerwaffen aufzeigen, die nicht allein in Nordamerika, sondern auch in England und Frankreich die allgemeinste Anerkennung fanden.

Er verschaffte sich in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten Patente für seine Erfindung, schon früher aber war es ihm gelungen, zu Paterson in New-Jersey mit Hülfe von New-Yorker Capitalisten für dreimalhunderttausend Dollars die sogenannte „Patent Arms Company“ zu gründen. Allein dies Unternehmen scheiterte, obschon sich seine Revolver in den Kriegen gegen die Indianer in Florida vortrefflich bewährt hatten. Die „Patent Arms Company“ fallirte im Jahre 1842, und bis 1847 wurde von S. Colt keine revolvirende Feuerwaffe fabricirt.

Als aber in diesem Jahre der mexicanische Krieg ausbrach, bekam Colt durch die Empfehlung des General Taylor von der Regierung der Vereinigten Staaten den Auftrag, für achtundzwanzigtausend Dollars Revolvers zu liefern. Die ersten tausend Revolvers verfertigte Colt zu Whitneyville in Connecticut; bald aber mehrten sich die Aufträge von allen Seiten, so daß er nach Hartford zog und hier eine wahrhaft großartige Waffenfabrik anlegen konnte. Er kaufte hier eine zweihundertundfünfzig Acker große Wiesenfläche, die nahe an den sogenannten Mill-River stieß und wegen der jährlichen Ueberschwemmungen des Connecticutflusses nur zu gewissen Jahreszeiten als Weideplatz benutzt wurde. Diese Landfläche umgab er mit einem gewaltigen Deiche von nahezu zwei englischen Meilen Länge. Nachdem er die Stärke und Festigkeit dieses Deiches durch eine mächtige Ueberschwemmung probirt und denselben durch Anpflanzen von Weiden und anderem Gestrüppe noch dauerhafter gemacht hatte, errichtete er innerhalb desselben seine aus einem Complex stattlicher Bauten bestehende Waffenfabrik (armory) aus schönen Portland-Steinen.

Diesen Bau hatte Colt angefangen und vollendet, nachdem er von seiner im Jahre 1851 unternommenen Reise nach England zurückgekehrt war und namentlich aus Californien und Australien viele Geschäftsaufträge erhalten hatte. Sein Unternehmen war von dieser Zeit an gesichert; ja im Jahre 1861 häuften sich in Folge des Secessionskrieges die Bestellungen so sehr, daß er ein zweites Hauptgebäude errichten mußte. In diesem Etablissement konnten täglich eintausend Revolvers oder Musketen gemacht werden, d. h. doppelt so viel, als in den Waffenfabriken zu Springfield und Harper’s Ferry, welche den Vereinigten Staaten gehören. Im Jahre 1862 wurden daselbst einhundertundzwanzigtausend Waffen verfertigt, während die beiden genannten nationalen Werkstätten im Jahre 1860 nur etwa fünfunddreißigtausend Gewehre zusammen zu liefern im Stande waren. In einem Theile des Etablissements werden nur Colt’sche Maschinen, mit denen Feuerwaffen gemacht werden können, fabricirt; bereits sind viele solche Maschinen an die englische Waffenfabrik zu Enfield und an die von Peter dem Großen in Tula in Rußland gegründete Gewehrfabrik verkauft und versandt worden.

Auf dem von dem erwähnten Deiche eingeschlossenen Landstriche erbaute Colt außerdem zahlreiche Wohnungen für seine Gehülfen und Arbeiter, so daß sich die Kosten für Grund und Boden und alle darauf errichteten Gebäulichkeiten auf mehr als 2,500,000 Dollars belaufen. Auf der ersten Terrasse, nahe dem Flußufer, erhebt sich sein eigener, das ganze Etablissement überschauender, palastähnlicher Wohnsitz.

Oberst Colt hat bewiesen, was die Thatkraft und die Beharrlichkeit eines einzigen Mannes vermögen; sein Unternehmen lehrt, wie es das Borsig’s und anderer großer und genialer Fabrikbesitzer Europas gethan hat, daß richtig geleitete Privatinstitute sogenannten Staatswerkstätten fast immer den Rang ablaufen. Fast alle Regierungen Europas, ja selbst einige asiatische Monarchen, haben ihn mit Medaillen, Diplomen, Ringen und anderen Zeichen der Anerkennung und Achtung überhäuft. Allein die Hauptzierde des Oberst Colt bestand darin, daß er wie ein Vater für seine Arbeiter und Untergebenen sorgte. Wenige Fabrikarbeiter haben so schöne und bequeme Wohnungen, wie sie Colt für die seinigen eingerichtet hat; er hat ihnen eine große Halle erbaut und eine Bibliothek für ihren Gebrauch ins Leben gerufen. Er veranstaltete Concerte für sie und organisirte eine Musikbande, deren Mitglieder sämmtlich zu seinen Arbeitern zählten und die er mit den prachtvollsten Instrumenten ausstattete. Er bildete endlich mit seinen Arbeitern und Gehülfen eine Militär-Compagnie, die er mit einer geschmackvollen Uniform ausrüstete, und zeigte überhaupt in jeder Weise, daß er die Arbeit und ihre Vertreter zu würdigen verstand.

Uebrigens ist Oberst S. Colt nicht blos der Erfinder des Revolvers, seine „unterseeische Batterie“ (submarine battery) ist anerkannt eines der wirksamsten Vertheidigungsmittel gegen Seeangriffe.

Schließlich darf nicht vergessen werden, daß Colt auch unter den Erfindern des unterseeischen Telegraphen einen hervorragenden Platz einnimmt, daß mithin sein Geist nicht einzig und allein todbringende Instrumente zu ersinnen vermochte. So legte er z. B. mit vollkommen glücklichem Erfolge im Jahre 1843 ein Kabel von Coney Island und Fire Island nach der Stadt New-York. Dies Kabel war eingehüllt in eine Composition von Baumwollengarn, Asphalt und Bienenwachs und in eine bleierne Röhre eingeschlossen, weil man zu jener Zeit Gutta Percha noch nicht kannte. Ein Theil des von ihm gelegten Kabels existirte noch im Jahre 1862.

Rudolph Doehn.




Nicht zu übersehen!


Mit nächster Nummer schließt das zweite Quartal. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen

Alle Postämter und Buchhandlungen nehmen Bestellungen an.
Leipzig, im Juni 1866.
Die Verlagshandlung.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Unsere Leser, die sich über Franz Schubert und dessen Leben und Streben genauer unterrichten wollen, finden die werthvollsten Mittheilungen in einem soeben[WS 1] bei Gerold in Wien erschienenen sehr fleißigen Werke von Kreißle „Franz Schubert“, dem wir auch das umstehende Portrait verdanken.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: soben