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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[801]

No. 51. 1865.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Unverhofft.
Erzählung von Melchior Meyr.
(Fortsetzung.)


Frau von Weiden machte eine Bewegung des Bedauerns. „Es thut mir leid,“ sagte sie mit einem Blick auf Richard, „aber wir werden dem Vortrage nicht beiwohnen können!“

„Wie!“ riefen Bernhardine und Juliane wie aus Einem Munde, „so Etwas könnten Sie versäumen?“

„Wir werden morgen früh Hainsfeld verlassen müssen,“ erwiderte jene. Und zu der Baronin gewendet fuhr sie fort: „Der Brief, den ich gestern Abend erhalten habe, war von meinem Onkel Troßbach. Er hat seine Wirthschafterin verloren und ladet mich ein, seinen Haushalt zu führen.“

Frau von Hainsfeld nickte, konnte dann aber nicht umhin, ein gewisses Bedenken zu verrathen. „Was ich von dem Manne gehört habe –“

„Kann mich nicht abhalten!“ versetzte die Wittwe. „Uns Beide hat die Welt in den letzten Jahren nicht verwöhnt; und wenn der alte Herr grillenhaft und jähzornig ist, so finden wir auf seinem einsamen Gütchen doch eine Unterkunft, die wir durch unsere Thätigkeit abverdienen. Wir sind Niemand zur Last und erleichtern Jemand das Leben.“

Die Baronin besann sich einen Augenblick, dann erwiderte sie: „Allerdings! Und vielleicht ist er nicht so schlimm, wie man ihn macht.“

„Er mag sein, wie er will,“ entgegnete Frau von Weiden mit einem resignirten Lächeln, „wir sind auf ihn gefaßt.“

Bernhardine, immer noch von einer dumpfen Empfindung gedrückt, als ob ihr Juliane in der Gunst des Landwirths einen Schritt vorausgekommen sei, rief jetzt: „Müssen Sie denn aber so schnell abreisen? Können Sie, um einem Vortrag und einem Schauspiel beizuwohnen, wie es uns in Aussicht steht, nicht noch einen Tag zugeben?“

„Das hab’ ich eben auch sagen wollen!“ bemerkte Juliane.

„Sie haben gehört, was mein Onkel für einen Humor hat. Er wünscht, daß wir sobald als möglich eintreffen, und ich möchte ihm keine Gelegenheit geben, uns gleich mit einer Probe seiner Fähigkeiten zu empfangen.“

Während die Baronin die beiden Eifrigen mit einem spöttischen Lächeln ansah, bemerkte Richard mit Ernst, fast unwillig: „Meine Damen, lassen wir doch jetzt diese Kleinigkeit!“ Er trat zu Frau von Weiden und Marie und sagte theilnehmend: „Ich hätte Ihnen Beiden ein besseres Loos gegönnt, als einen alten Murrkopf zu pflegen. Aber da Sie es annehmen und entschlossen sind, so können wir Sie nicht abhalten wollen. Unter allen Umständen haben Sie eine Aufgabe und können Gutes thun.“

„Entfernt von der Welt,“ fügte die Wittwe hinzu, „in der wir die letzten Jahre eine so wenig angenehme Rolle gespielt haben.“

„Es ist ein Glück,“ rief Marie bewegt, „ein wahres Glück!“

Dieser Ausruf hatte etwas eigen Rührendes, Richard betrachtete das Mädchen und sagte herzlich: „Sie sind sehr bescheiden, liebe Marie. Die Welt muß Ihnen wenig geboten haben, daß Sie in Ihrem Alter sich auf die Einsamkeit freuen. Aber,“ setzte er mit gutmüthigem Lächeln hinzu, „seien Sie getrost, es giebt eine Ausgleichung, und das Glück kommt oft plötzlich und da, wo man’s gar nicht vermuthet hat!“

Marie erröthete, fast glücklich. Aus ihren feuchten Augen ging ein Blick des Dankes.

Wer einen Zweck hat und Ausdauer und Muth besitzt, der wird jede Gelegenheit, Etwas dafür zu thun, zu benutzen suchen. Bernhardine war noch nicht fertig. Sie trat vor, so daß sie neben Juliane zu stehen kam, und sagte zu den Scheidenden: „Ich wünsche Ihnen Glück und alles Gute auf die Reise. Aber offen muß ich gestehen, ich wäre nicht im Stande, mich von Hainsfeld so rasch zu trennen, ich würde unter den gegenwärtigen Umständen bleiben, möchte daraus entstehen, was da wolle.“

Eine Röthe heroischer Entschlossenheit ging bei diesen Worten über ihre Wangen.

Die Baronin hatte nachdenklich dagestanden. Mit einem Mal wendete sie sich zu den jungen Damen und sagte: „Da Sie für Hainsdorf und meinen Sohn ein so freundliches Interesse zeigen, so darf ich Ihnen nicht länger eine Nachricht vorenthalten, die für die Welt noch ein Geheimniß ist, die es aber für Sie nicht mehr sein soll. Wir haben Etwas zu melden, was gütige, theilnehmende Seelen mit Freude vernehmen werden.“

Die Gesichter der Jungfrauen erhielten einen feierlichen Glanz der Erwartung.

„Haben Sie die Herrschaft in Böhmen gewonnen?“ rief Bernhardine zu Richard. „Sie besaßen Loose –“

Die Baronin schüttelte den Kopf.

„Haben Sie eine Entdeckung gemacht,“ rief Juliane, „die Ihrem Namen die Unsterblichkeit sichert?“

Erneuertes Kopfschütteln.

„Haben Sie den Kronorden erhalten? Hat man Ihnen das Doctordiplom zugeschickt?“ riefen die Damen durcheinander.

„Nichts von alledem,“ entgegnete die Baronin. „Aber das Ereigniß, das wir Ihnen mitzutheilen haben, ist nicht minder wichtig und freudenreich. Mein Sohn hat sich verlobt – er ist glücklicher Bräutigam!“

[802] Die Wirkung dieser Worte auf die Anwesenden ist schwer zu beschreiben.

Die Damen aus der Residenz, Mütter und Töchter, standen im ersten Moment, als wären sie in Bildsäulen des Schreckens verwandelt worden; starr, unbeweglich, mit einem steinernen Glanz der Gesichter. Aus den Zügen Marie’s war der letzte Schein von Farbe gewichen; dann überzog sich das Gesicht mit glühendem Roth und drückte Scham und eine peinliche Selbstanklage aus. Frau von Weiden hatte sogleich auf die Tochter geschaut, war erschrocken und hielt einen Blick des Kummers und der Mahnung auf sie gerichtet. Richard, der nach den ersten Andeutungen der Baronin umhergesehen, wie einer, der nicht begreift, war nach dem klaren Wort aufgefahren wie ein verwundeter Leu und rief nun mit seinem strengsten Gesicht: „Mutter, bist Du bei Troste? Was fällt Dir ein?“

„Lieber Sohn,“ entgegnete diese, „ich weiß, daß Du von mir verlangt hast, die Sache noch nicht bekannt werden zu lassen. Aber wenn wir es diesen lieben Freundinnen mittheilen, dann kommt’s ja nicht in die Oeffentlichkeit! Die Theilnahme, die sie Dir zuwenden, schien mir durchaus zu verlangen, daß wir mit ihnen eine Ausnahme machten.“

Die erste Statue, die sich wieder zu beleben anfing, war Bernhardine. „Es ist nicht möglich!“ rief sie mit würdevollem, beinahe entrüstetem Unglauben. „Eine Verlobung! Und Niemand soll Etwas davon erfahren, nicht einmal etwas geahnt haben! Sie treiben Ihren Scherz mit uns, Frau Baronin!“

„So sieht’s fast aus!“ rief Juliane. Und zu Richard gewendet sagte sie: „Herr Cousin, haben Sie die Güte zu reden. Ist’s wahr? Müssen wir Ihnen gratuliren?“

Der Baronin war es gelungen, dem Sohn einen mahnenden, bittenden Blick zuzuwerfen. Richard versetzte: „Ich – kann meine Mutter nicht Lügen strafen.“

„Bravo!“ dachte Frau von Hainsfeld und ihr Gesicht glänzte triumphirend.

Die Generalin erhob den Kopf, und ohne ihren Verdruß in Ton und Miene nur verbergen zu wollen, rief sie: „Aber wer ist sie denn, die Glückliche? Nennen Sie uns doch den Namen, liebe Baronin! Es ist gewiß einer der ersten des Landes und wir werden dann die Glückwünsche nicht länger zurückhalten –“

„Den Namen,“ versetzte Frau von Hainsfeld, „kann ich Ihnen noch nicht nennen. Ich habe schon sehr gegen die Abrede gehandelt, daß ich Ihnen nur die Thatsache mittheilte. Sehen Sie, wie mein Sohn immer noch zürnt? Genüge es jetzt Ihrer gütigen Theilnahme, daß die Braut nach dem Urtheil der Mutter ein in jeder Beziehung vorzügliches Mädchen ist.“

„Das genügt,“ erwiderte Frau von Weiden mit Ernst und freundlicher Theilnahme. „Wie hätte man’s auch anders erwarten können! Baron Richard,“ fuhr sie zu diesem fort, „ich freue mich herzlich, diese gute Nachricht noch gehört zu haben, und wünsche Ihnen von ganzer Seele Glück dazu. Verzeihen Sie, daß wir sie jetzt verlassen. Ich muß dem Boten einen Brief mitgeben. Komm’, meine Tochter!“

Marie hatte sich zuletzt gefaßt. Während ihre Mutter sprach, hielt sie den Blick auf den jungen Mann gerichtet und es schien, als ob sie Etwas hinzufügen wollte. Nach dem an sie ergangenen Zuruf aber verneigte sie sich stumm und ging mit der Mutter hinweg.

In den Damen aus der Residenz war das Gefühl ihrer Bedeutung wieder herrschend geworden, und eine gerechte Indignation, ein edler Stolz trieb die letzten Schwächen aus ihren Seelen. Die Nebenbuhlerinnen und Gegnerinnen waren jetzt Verbündete, und wie von Einem Geiste gelenkt vollzogen sie nun harmonisch ein gemeinsames Werk.

Die Generalin begann: „Liebe Freundin – bester Baron, empfangen Sie unsre wärmsten Glückwünsche! Die Gefühle, die uns beseelen, brauche ich nicht zu schildern, Ihre Freundschaft wird sie sich denken können. Der Besitzung, die der ausgezeichnete Landwirth so musterhaft einzurichten verstand, hat nichts mehr gefehlt, als eine Herrin, wie sie nach dem Urtheil der Kennerin hier einziehen soll. Der Tag, an dem es geschieht, wird auch für uns ein Festtag sein, wenn wir ihn auch fern von Hainsfeld erleben werden.“

Die Geheimräthin betheuerte: „Damit sind meine Gefühle buchstäblich ausgedrückt!“

Auch Bernhardine und Juliane verneigten sich zustimmend.

Die Generalin fuhr fort: „Nun fürchte ich blos, daß ich mit dem, was ich jetzt zu sagen habe, meine Tochter betrüben werde. Mein liebes Kind,“ bemerkte sie zu Bernhardine, „weißt Du, was in zwei Tagen für ein Tag ist? Der sechzehnte!“

„Wahrhaftig!“ rief Bernhardine tief betroffen. „Der Geburtstag des Vaters!“

„In dem schwärmerischen Eifer, in welchen die herrliche Oekonomie Dich versetzte, hast Du’s vergessen.“

„In der That,“ erwiderte die Tochter, ihr Haupt in anmuthiger Reue senkend.

„Wir haben diesen Tag,“ fügte die Generalin mit einem feierlichen Blick auf die Baronin hinzu, „noch jedes Jahr mit ihm begangen. Er zählt darauf. Es würde ihn tief schmerzen, wenn er nicht alle seine Lieben um sich sähe. Wenn wir aber noch rechtzeitig eintreffen sollen, um Alles anzuordnen, dürfen wir unsre Koffer packen.“

Mutter und Tochter nickten sich zu.

Die Geheimräthin wendete sich hierauf zu Juliane und sagte: „Die Fassung, womit Bernhardine[WS 1] eine Nachricht erträgt, die ihr in einer Hinsicht unendlich leid thun muß, kann Dir zum Muster dienen. Ich habe Dir auch eine Mittheilung zu machen, auf die Du nicht vorbereitet sein wirst.“

„Nun?“ rief Juliane mit einer Sorge, welche den durchscheinenden Spott der Begreifenden beinahe verschleiert hätte.

„Nichte Bertha, Deine intimste Freundin, heirathet in drei Tagen ihren Regierungsrath. Ich erhielt den Brief, der es anzeigt, heute früh. Aber Du warst so in Deine Studien vertieft, so ganz davon hinweggenommen, daß ich nicht den Muth in mir finden konnte, Dich zu stören. Später ist’s mir aus dem Gedächtniß entfallen.“

„Aber, Mama,“ rief das Mädchen, „da müssen wir ja reisen! Nur die dringendste Angelegenheit könnte mich abhalten, bei diesem Feste zu sein. Aber so? Ich hätte wahrlich keine Entschuldigung.“

„Du siehst ein,“ bemerkte die Geheimräthin mit Ernst, „wir müssen scheiden. Und zwar ohne Aufschub!“

„Es geht nicht anders,“ erwiderte Juliane.

Frau von Hainsfeld hatte die Wirkungen ihrer Erfindung mit allen Wonnen einer Siegerin betrachtet. Die Freude über das gelungene Wagniß, die entzückende Aussicht, die ihr nun für das Glücken ihres Lieblingsplans geöffnet war, machte sie förmlich übermüthig; sie betrachtete die Damen und sagte: „Ich sehe, daß es vergeblich wäre, Sie noch längere Zeit in Hainsfeld halten zu wollen. Aber das glaube ich von Ihnen erbitten zu können, daß Sie uns nicht sogleich verlassen. Sie müssen wenigstens noch einen Tag bleiben! Erinnern Sie sich doch, daß mein Sohn morgen die Maschinen erklären und probiren wird!“

In wahrhaft bewundernswerther Uebereinstimmung verzogen sich hier die Lippen Bernhardine’s und Juliane’s mit so gleichmäßiger Elasticität, daß Niemand hätte sagen können, welche mehr Ironie und Spott ausdrückten.

„Allerdings,“ rief Bernhardine, „es würde unendlich interessant sein, im großen Style das Gras fallen und von den zerdrückten Schollen den Staub wirbeln zu sehen! Geist und Herz würden dabei in gleichem Maß ihre Rechnung finden! Ich fühle mit Schmerzen, welche innige Genugthuung und hochwichtige Belehrung mir dadurch entzogen wird; aber es ist nun einmal nicht zu ändern. Wir Frauen können nicht früh genug lernen, dem Theuersten zu entsagen, und so verzichte ich auf die mir gestattete Theilnahme, indem ich voraussetze, daß meine Freundin, der das Schauspiel ja zuerst auch allein zugedacht war, sich durch Nichts die Freude wird nehmen lassen, ihm beizuwohnen.“

„Unmöglich!“ rief Juliane höchst entschlossen. „Der Genuß wäre außerordentlich, und nur mit dem tiefsten Leidwesen entsag’ ich ihm. Aber ich bezwinge mich selbst und opfere meine Freude, um eine geliebte Verwandte zu erfreuen, die mich erwartet.“

Die Generalin sagte: „Sie verzeihen, wir müssen uns rüsten,“ grüßte mit der Hand und verließ mit Bernhardine den Saal.

Die Geheimräthin und Juliane folgten ihnen.

Als die Flügelthüren wieder geschlossen waren, blickte Frau von Hainsfeld mit einem um zwanzig Jahre verjüngten Gesicht auf den Sohn und brach dann in ein lautes, herzliches Gelächter aus. „Nein!“ rief sie, „das ist nicht zu bezahlen! Ich habe [803] viel von ihnen erwartet, aber sie haben’s bei Weitem übertroffen! Diese Entschlossenheit und diese Ungenirtheit! Wahrlich, der Muth, womit sie sich demaskirten, steht in gleicher Höhe mit der Schauspielkunst, mit der sie ihren landwirthschaftlichen Enthusiasmus durchführten, und die war doch bewundernswürdig! Mein Sohn, ich will schweigen und Dich nicht an Deinen Glauben erinnern; denn ich sehe, Du bist beschämt, mehr als genug.“

Richard stand mit einem hochrothen Gesicht voll des tiefsten Verdrusses. „Ja,“ rief er zornig, „ich schäme mich, und ich ärgere mich. Kaum zu glauben! Solch’ ein Manöver! Solch’ ein entwürdigendes Spiel!“

„O,“ rief die Mutter, „sei nicht zu hart, Richard! Der Zweck heiligt das Mittel, und was war der Zweck der geistreichen Mädchen? Dich zu gewinnen.“

Richard, unwillig, drehte sich weg und stieß einen leisen Fluch aus.

Die Thür war aufgegangen; vor der Mutter stand ein Dienstmädchen und sagte mit niedergeschlagenen Augen: „Frau Baronin haben nichts zu befehlen?“

Jene warf einen strengen Blick auf sie und entgegnete: „Nein! – Doch ja, Du kannst das Zimmer reinigen!“

Sie deutete auf die Thür zur Linken des Salons.

Das Mädchen trat einen Schritt näher und sagte, indem sie lauernd emporsah, mit traurig bittendem Tone: „Frau Baronin?“

„Es ist umsonst!“ rief diese. „Ich hab’ Dir’s gesagt und ich geh’ nicht davon ab. Eine Zwischenträgerin kann nicht bei mir bleiben!“

Die Abgewiesene öffnete die Seitenthür und schloß sie hinter sich zu.

Richard wendete sich wieder zur Mutter und sagte: „Jetzt haben aber wir ein Wort miteinander zu reden! Bildest Du Dir vielleicht ein, ich werde mich Dir nun fügen? Glaubst Du, weil Du mich für einen Bräutigam ausgegeben und mich gezwungen hast, Dir beizustimmen – ich werde nun auch gleich einer sein? Und zwar mit derjenigen, die Du mir aufnöthigen willst? Du irrst Dich, Frau Mama! Die Cousinen hast Du mit Deinem Märchen entlarvt; aber Deinem Ziel bist Du damit um keinen Schritt näher gekommen!“

Mit einer ernst ergebenen Miene versetzte die Baronin: „Mein Sohn, wenn ich Dich durch meinen Einfall von den beiden Heuchlerinnen befreit habe, so ist das immer schon Etwas! Du glaubst, ich will Dich zwingen, und Du sträubst Dich gegen den Zwang – dies ist in der Ordnung. Aber ich habe nur das Meinige gethan; ich habe Dir den Weg bereitet und überlasse von jetzt an Alles Dir, indem ich hoffe, daß, wo in der That kein Zwang ist, auch die Antipathie dagegen sich verlieren wird. Die Vorzüge, welche Auguste zieren, werden Deiner Seele sich darstellen, Dein Verstand und Dein Herz, ja auch Dein Herz, werden entscheiden! Auguste, von allem Andern abgesehen, ist ein aufrichtiges, wahrhaftiges Mädchen. Ich glaube, wenn sie durch ein einziges Wort, das ihr nicht von Herzen ginge, den Mann ihrer Wahl erringen könnte, sie würde es nicht sprechen. Sie wäre zu stolz dazu! Bezweifelst Du’s?“

„Nein,“ versetzte Richard, „für ehrlich halt’ ich sie. Aber keine Heuchlerin zu sein, das ist noch lange nicht Alles!“ Er lächelte, halb mit einer gewissen Befangenheit, halb mit Laune, und sagte: „Man will doch auch einigermaßen geliebt sein!“

„Auguste liebt Dich!“ versicherte die Baronin.

„Das wird so arg nicht sein! Sie wird mich heirathen – das glaub’ ich. Aber daß sie mich liebt, wirklich liebt, mit einer Liebe liebt, daß sie mich jedem Andern vorzöge –“

Die Frau nickte mit einem Blick des Vorwurfs. „So seid ihr Männer! Die ehrliche Neigung eines wackern Mädchens genügt euch nicht, ihr wollt geschmeichelt, gehätschelt, vergöttert sein – und fallt in die Netze der Betrügerinnen!“

Richard stand nachdenklich. „Lüge – und Prosa!“ erwiderte er. „Giebt’s nichts Anderes? Könnten nicht Ehrlichkeit und Gefühl und wahre, innige Liebe –“

Die Baronin erhob mahnend ihre Rechte. „Mein Sohn,“ rief sie, „ich warne Dich. Du jagst einem Phantom nach und versäumst darüber Dein Lebensglück! Ein außerdem so verständiger Mensch, der sich mit einem Roman-Ideal herumträgt! Ist’s zu glauben? Woher hast Du das nur? Wie ist Dir das gekommen?“

Mit einem Lächeln entgegnete Richard: „Es wird doch wohl ein Erbstück sein. Denn es sitzt ganz tief in meiner Seele und will durchaus nicht Unrecht haben.“

„Du behandelst die Angelegenheit selber mit Humor, das tröstet mich! Richard,“ fuhr sie mit ernster Güte fort, „ich wiederhol’ es, ich zwinge Dich nicht. Ich wünsche das, was ich aus allen Gründen für Dein höchstes Glück halten muß, aber ich will Dich nicht dazu drängen, in keiner Weise. Du bist von mir aus ganz frei! Ueberlege und entscheide Dich! Das muß ich Dir aber nochmals sagen: wenn Du Dich für Auguste entscheidest, so ist sie Dein. Adieu!“

Sie sah ihn nochmals an und ging dann in das Zimmer, worein sie das Mädchen gewiesen hatte. Nicht lange, so hört man eine entferntere Thür gehen.




3.

Richard, im Saal allein, schritt auf und ab. Dann blieb er stehen und versank in Gedanken. Er war in einer sonderbaren Stimmung.

Die lebhafte, enthusiastische Theilnahme, welche die Cousinen der Landwirthschaft – seiner Landwirthschaft und ihm selber zuwandten, hatten ihm in der Seele wohlgethan. Beide waren ihm damit vertrauenerweckend, liebenswürdig erschienen. Sein Herz hatte noch nicht gesprochen, weder für die Eine, noch für die Andere; aber er hatte sich doch gesagt: wenn eine von ihnen meine Neigung auf sich zöge, ich könnte mit Jeder glücklich leben. Die Genugthuung, die er empfand, machte ihn keineswegs blind für die Absicht der Mädchen, auf ihn einen angenehmen Eindruck machen zu wollen. Aber diese Absicht konnte ihn nicht nur nicht verletzen, im Gegentheil, sie mußte sein Vergnügen steigern. Daß ihr Eifer gemacht war, das glaubte er nicht. Giebt es denn in Wahrheit etwas Schöneres, als eine große, wohleingerichtete Oekonomie? Die Freude daran war natürlich. Daß man ihm aber die natürliche Freude zeigte, das war auch natürlich.

Nun hatte er sich gleichwohl getäuscht. Schimpflich getäuscht. Beiden war es nicht um die Landwirthschaft, nicht um den Landwirth, sogar nicht um ihn selber, sondern nur um eine gute Partie zu thun! Um ihn zu berücken und mit ihm seine Revenüen zu gewinnen, spielten sie die Begeisterten. Schmähliche Komödie.

Die Beraubung, welche das Verschwinden einer Illusion mit sich führt, pflegt nicht nur traurig zu machen, sondern auch muthlos. Man hat sich geirrt, man ist beschämt; hat man Ursache, hochgespannte Ansprüche zu erheben und auf ihre Erfüllung zu hoffen? Was Einem nun vorher nicht bedeutend, nicht kostbar genug vorkam, das steigt im Werthe. Es kann wünschenswerth, ja begehrenswerth, liebenswerth erscheinen und Zuneigung erwecken.

Richard, durch das falsche Spiel der Cousinen erzürnt, verwirrt, gedemüthigt, schaute umher nach einem Ersatz. Ungesucht trat das Bild Augustens vor seine Seele.

Es war nicht liebreizend, nicht bestrickend, aber es sprach ihn an. Es ließ ihn jetzt nicht mehr gleichgültig, sondern erweckte ein Gefühl in seinem Herzen. Er dachte: sie ist nicht so, wie ich mein Weib mir gewünscht habe, aber sie ist ein ehrenwerthes Mädchen, unfähig irgend welchen Betrugs, und das ist etwas werth, das ist viel, und das soll ihr gedankt sein. Woher weiß ich, daß ihr Herz nicht empfindet? Ich kann mich wieder irren! Ich habe sie zu streng beurtheilt, weil ich sie kenne und weil eben aus sie meine Augen gerichtet worden sind.

Er erwog den Gedanken, sich mit ihr zu verloben, und sagt zuletzt: es wird nicht anders gehen.

Wenn er dabei das Gefühl einer Auskunft, einer Rettung hatte, so schien ihm doch immer noch Etwas zu fehlen. Unmittelbar nach jenem Worte entschlüpfte ihm ein Seufzer. Aber das machte ihn ärgerlich auf sich selbst. „Thorheit!“ rief er. „Ich hab’ doch etwas Phantastisches in mir! Wir wollen aber jetzt ein Ende machen!“

Nach diesem Selbstzuruf wollte er den Saal verlassen. Als er in die Mitte gekommen war, klopfte es an die Flügelthür.

In einer gewissen Stimmung glaubt man an die Wunder des Zufalls. „Wenn sie’s wäre?“ dachte er. „Wenn sie uns besucht hätten?“

Unwillkürlich rief er „Herein!“ in einem einladenden, willkommenheißenden Tone.

[804] Die Thür ging auf und – Marie trat ein. Richard lächelte.

Marie, nicht ohne Befangenheit, aber mit der Miene eines gefaßten Entschlusses, mit einem gehobenen, edlen Ausdruck, näherte sich und sagte: „Lieber Vetter, meine Mama schickt Ihnen hier die Bücher zurück und läßt herzlich dafür danken.“

Sie legte zwei zierliche Bände auf den Tisch an der Seite.

Richard nickte freundlich. Marie sah ihn an. „Dann,“ fuhr sie fort, „möchte ich Sie um Verzeihung bitten. Ihre Mama hat uns Ihre Verlobung mitgetheilt und ich bin fortgegangen, ohne Ihnen Glück zu wünschen.“

Dem jungen Mann entriß das Bewußtsein des wirklichen Sachverhalts einen Laut, der ihn beinahe verrathen hätte. „Deswegen!“ rief er.

„Ich verlasse Sie,“ erwiderte das Mädchen, „und es wäre mir sehr unlieb, wenn in Ihnen eine falsche Meinung von mir zurückbliebe.“

„Gutes Bäschen, das hätte ich Ihnen nicht übel ausgelegt.“

„Sie hätten’s aber dürfen!“ entgegnete Marie. Mit einem Bedenken und zugleich mit Selbstgefühl in ihren Zügen fuhr sie fort: „Auch die Andern haben geschwiegen. Und als ich allein war, fiel mir ein, ich könnte Ihnen vorkommen wie sie.“

„Und das wollen Sie nicht?“

„Nein!“

Richard nickte beifällig und mit einem Lächeln, das ungefähr hieß: darin leitet Dich ein gutes Gefühl.

„Wenn ich geschwiegen habe,“ sprach Marie weiter, „so hat das einen anderen Grund. Ich habe nichts gemein mit jenen Damen. Gar nichts!“ Sie schaute ihn an, ihre Wangen rötheten sich, ihre Augen schimmerten von Empfindung. „Ich wünsche Ihnen wirklich und aus tiefster Seele alles Gute. Nichts in der Welt kann mir lieber sein, als zu wissen, daß Sie glücklich sind.“

„Ah!“ rief jener, und eine Ahnung überkam ihn von dem Zustande des Herzens, welches diese Worte eingegeben hatte.

Das Mädchen sah zu Boden. Dann erhob sie den Blick und sagte: „Glauben Sie nicht, daß ich deswegen, weil ich nicht davon sprach, kein Auge gehabt habe für die Schönheit Ihres Gutes, für Ihren Eifer als Landwirth und für Ihre vortreffliche Verwaltung. Ich habe das Alles recht gut gesehen und meine wahre Freude daran gehabt; aber ich habe es für mich behalten. Ich mochte auch nicht den Schein auf mich laden, als ob ich Ihnen damit schmeicheln wollte.“ Und mit einem Selbstgefühl, das ihre feuchten Augen glänzend machte, setzte sie hinzu: „Wir armen Leute haben unseren eigenen Stolz. Und das ist sehr nöthig!“

Richard schaute sie mit großen Augen an.

Sie, mit herzlicher Güte, fuhr fort: „Mich freut es, wenn es guten Menschen auch gut geht und wenn Alles zusammenpaßt. Ich habe mir gesagt: mein Vetter hat Alles, was ein Mann sich wünschen kann. Ein herrliches Gut, eine außerordentliche Freude daran, einen Trieb, es zu verbessern, zu verschönern, und die Mittel dazu. Seine übrigen Verhältnisse stimmen damit überein, und es fehlt ihm nichts, nichts als eine Frau, die ihn versteht und die mit ihm harmonirt. Wenn er diese findet, dann ist Alles beisammen und er ist ganz glücklich! Und nun habe ich vor meinem Abschiede noch die Freude gehabt, zu hören, daß sie gefunden ist.“

Richard war ernst geworden und erröthete. Nicht ohne Verwirrung sagte er: „Sie sind gut! Und – Sie wollen also fort?“

Marie schaute ihn verwundert an. „Ich bin gekommen,“ erwiderte sie, „den zu meiner Beschämung versäumten Glückwunsch nachzutragen und Abschied zu nehmen. Ich kann Ihnen betheuern, es ist mir nichts angenehmer, als Hainsfeld mit der Gewißheit verlassen zu können, daß hier das Glück zurückbleibt, so reich, so vollkommen, wie man es auf dieser Erde haben kann!“

„Freundlich, freundlich!“ rief jener erregt. „Aber gehen Sie denn gern, Marie?“

„Jetzt – ja!“

(Schluß folgt.)




Bei dem Dichter Oskar von Schweden.[1]

Die schwedische Sprache, von welcher Tegnér mit Stolz singt:

Männlich und edel erklingst Du, Sprache des Ruhms und des Sieges,
     Rein wie Metall Dein Klang, fest wie die Sonne Dein Gang.
Wo die Donner reden, der Sturm, Du wohnst auf den Höhen,
     Nicht geboren für niedriger Thäler Genuß.
Spiegle Dein Antlitz im Meer, befreie die männlichen Züge
     Endlich vom fremden Staub – wenn es vielleicht nicht zu spät!

gehört bekanntlich mit unserer deutschen zu demselben großen germanischen Sprachstamme, und die schwedische Literatur hat mit der deutschen, der sie in ihrem Entwickelungsgange mehrfach ähnelt, das gemein, daß sie einer vorübergegangenen Glanzepoche nachtrauert und in den Erscheinungen der Gegenwart, wie edel sie sich auch darstellen, nur ein Epigonenthum erblickt.

Jedes Volk, das eine Kunst, eine Literatur besitzt, hat eine solche Epoche nachzuweisen; sie ist eine naturgemäße. Der Volksgeist, der Blüthen und Früchte trieb, hat, wie ein Baum, ein Ackerland seine Kraft aufgebraucht und bedarf der Erholung. Aber zu beklagen sind die Talente einer solchen Epoche. Den edelsten Geistern, auf die ein Volk für alle Zeiten stolz ist, oft ebenbürtig, fehlt ihnen nur der originale Stoff, die aus der Reibung religiöser, socialer, politischer Zustände hervorbrechende neue Weltanschauung. Es ergeht ihnen, wie den modernen Baumeistern, welchen die Aufgabe wird, die in bewegten Zeiten unvollendeten Dome auszubauen.

Es ist eine bedeutende Gruppe von Dichtern, die jetzt in Schweden leben, und es war mir eine Freude, einzelne kennen zu lernen, unter ihnen den Prinzen Friedrich Oskar von Schweden, Herzog von Ostgothland, der, 1829 geboren, mit seinen Gesängen auf die schwedische Flotte den goldenen Preis errungen und um sein Vaterland sich das schöne Verdienst erworben hat, Herder’s „Cid“ und Goethe’s „Tasso“ in seine Muttersprache zu übertragen und zum kostbaren Besitze Schwedens zu machen. Dieses Land bietet jetzt die eigenthümliche Erscheinung, daß zwei Brüder, der eine, welcher als Carl der Fünfzehnte den Thron innehat, und der andere, der einst König sein wird, um den poetischen Lorbeer ringen, während der erstere noch einer zweiten Kunst, der Landschaftsmalerei huldigt, und die Hallen und Gemächer seiner Paläste mit Gemälden schmückt, welche die Freude eines jeden Gastes wecken.

Der Prinz von Schweden führte eben für den aus seinem Schlosse Bekaskog verweilenden König die Regentschaft, als ich ihm vorgestellt wurde. Im Vorzimmer fand ich Generäle und Minister versammelt, und als ich den Saal betrat, in dem sich der Prinz befand, schritt mir eine sehr hohe schlanke Gestalt in militärischem dunkelblauem Rocke entgegen, an dem uns unter mehreren Sternen ein kleines rothes Kreuzlein entgegenglänzte und auffiel, der Orden Carl’s des Dreizehnten, der, nur für Freimaurer höchsten Ranges bestimmt, von dem Prinzen als Großmeister getragen wird. Der schwarze Vollbart und das dunkle Haupthaar contrastirten schön mit dem leuchtenden Eigenthume der meisten nordischen Männer und Frauen, den blauen Augen. Die ganze Erscheinung machte den Eindruck einer edlen Ritterlichkeit, als träte sie uns aus einem goldenen Rahmen in einer Gemälde-Galerie entgegen.

„Ich grüße Sie, meine Herren,“ begann der Prinz in correctem, [805] von fremdem Accent nicht angehauchten Deutsch, und mir die Rechte reichend: „Seien Sie willkommen in Schweden!“ Nach einigen Fragen über meine Reise beklagte der Prinz, daß ich auf der Eisenbahn kommend nur einen wenig fruchtbaren einsamen Theil des Landes gesehen habe, der aber seiner fortgesetzten Ebene wegen gerade für den Bau einer Eisenbahn sich am besten eignete. „Und den prächtigen Anblick Stockholms, wenn man durch die Ostsee anfährt, haben Sie ebenfalls entbehren müssen! Wenn Sie durch eine Ausfahrt in die See oder den Mälar zurückkehrend den Anblick der Stadt gewinnen, so ist es nicht mehr ein erster, wirklich großer Eindruck.“

Der Prinz lud mich darauf zum Sitzen ein, und es begann ein bequem geselliges Gespräch, wie es zwei Schriftsteller in lebhaftem Interesse für die schönen Künste sich gegenseitig anregend gerne führen mögen. Nichts mahnte, wenn nicht die blitzenden Sterne an seiner Brust, an den Prinzen. Diese freundliche Weise, die nichts von vornehmer Herablassung hat, wird der ganzen geistvollen Familie der Bernadottes in Schweden nachgerühmt; sie hält die glatte Kürze, das aristokratische Fernhalten für keine Stütze der Majestät, es genügt ihr menschlich schön zu erscheinen, durch nichts Anderes zu imponiren, als durch Geist und Bildung.

Als ich auf die Poesien des Prinzen anspielte, der ein Schüler des berühmten Dichters und Erzbischofs Wallin war, den sie seiner einfach-mächtigen Kirchenlieder wegen die „Davidsharfe des Nordens“ nennen, fing er, von sich bescheiden ablenkend, über die moderne schwedische Literatur zu sprechen an. Es freute ihn, zu hören, daß sich die Deutschen Tegnér’s „Frithjofsage“ durch sechszehn Uebersetzungen angeeignet haben und daß die eben erschienenen neuen Gedichte seines königlichen Bruders von dem kundigen, poetisch nachempfindenden Freiherrn Lüttgendorff bereits verdeutscht worden. Die Literaturbewegung in Deutschland, die Dichter der Gegenwart regten manche seiner Fragen an, die eine theilnahmvolle Beschäftigung mit ihnen deutlich erkennen ließen.

Prinz Oskar von Schweden.

Eine Gesprächswendung veranlaßte meinen Begleiter, den österreichischen Legationsrath Freiherrn Herbert, zu erwähnen, daß Jenny Lind eben in Stockholm anwesend sei. Ich erzählte von der Wirkung schwedischer Volkslieder, die sie uns in Wien gesungen. „Unsere Volkslieder,“ versetzte der Prinz, „sind sehr einfach und darum so schön.“ Der Stoff, über Volkspoesie zu reden, war geboten. und ich machte den Prinzen auf die urthümliche Poesie der serbischen Helden- und Liebeslieder aufmerksam. „Ich kenne nur eines,“ antwortete Oskar, „und zwar durch Goethe, das von der Frau des Assan Aga singt.“ Ich erlaubte mir, auf meine eigenen Uebersetzungen aus dem Serbischen hinzuweisen, die unter dem Namen „Gusle“ erschienen sind. Der Name regte die Neugier des Prinzen an. Ich schilderte ihm die einsaitige kleine Geige der Serben, die Gusle, und die Art und Weise, sie zu spielen und wie das Volkslied in den „schwarzen Bergen“ noch heutzutage als wilde, schöne Blume blüht. Wie zuweilen im Bernstein uns die Gattung einer vorweltlichen Fauna erhalten wurde, so in der serbischen Nation die Genesis des Volksliedes, das einzelne Rhapsoden sangen, bis Homer und Ossian ihre Gesänge zu einem Kunstwerke verbanden. Dem serbischen Volke muß dieser große letzte Volksdichter noch auferstehen. Als ich die allgemeine Bemerkung aussprach, wie eigenthümlich es sei, daß die lyrischen Gesänge des Volkes immer von weichen, melancholischen Melodien getragen werden, erwiderte der schwedische Poet: „Es ist der durch die ganze Menschheit gehende Schmerz und die Sehnsucht, die in den Liedern eines jeden Volkes widerhallen. Die Menschheit hat das Paradies, einen seligen Zustand, eingebüßt und hofft und sehnt sich nach der Wiederkehr eines goldenen Zeitalters. Wenn das Volk sich dessen auch nicht bewußt ist, unwillkürlich kommt, wenn es singt, dieser ideale Schmerz und die ahnungsvolle Hoffnung zum Ausdruck. Bei uns im Norden hat das noch einen ganz besonderen Grund: der Hirt aus den Bergen fühlt sich einsam, er weiß, daß stundenweit kein menschliches Wesen weilt. Er möchte reden, sich mittheilen, aber wem? und da beginnt er zu singen. Es ist ein melancholischer Gesang, die Molltöne herrschen vor. Wenn aber eine andere ebenfalls sich einsam fühlende Stimme ihm aus weiter Ferne ein Lebenszeichen giebt, so jubelt er laut empor. Die Sänger können sich aber nicht erreichen, Schneeklüfte, Wasserfälle liegen zwischen ihnen, und wenn es gar Sänger und Sängerin sind, die miteinander in Liedern Zwiesprache halten, so erwacht der Sehnsuchtslaut und wieder tönen Melancholie und Sehnsucht in Mollaccorden aus.“

Das Gespräch erhielt bald eine andere Richtung. Der Prinz fragte mich: „Welche Erscheinung hat in Schweden einen besonderen Eindruck auf Sie gemacht?“

Ich sprach von dem seltsamen Lichte, das um ein Uhr Nachts noch gestattet, ohne Kerzen anzünden zu müssen, den kleinsten Druck zu lesen, und das, fast nur in Dämmerung übergehend, um zwei Uhr des Morgens wieder seine volle Kraft gewinnt. „Der König Carl der Fünfzehnte von Schweden,“ schloß ich, „kann mit vollem Rechte von sich sagen, was ein anderer Carl der Fünfte usurpirt hat: in meinem Reiche geht die Sonne nicht unter!“

Oskar Bernadotte lachte: „Dafür geht sie in diesem Reiche eine Zeit lang im Winter auch gar nicht auf! Wären Sie um Johanni zu uns gekommen, Sie hätten die ganze Nacht hindurch ohne Kerzenlicht lesen können!“

In diesen Formen wurde noch ein mannigfacher, auf Kunst, Wissenschaft, auf locale Zustände sich beziehender Gesprächsstoff gesellig angenehm verhandelt. Unser Besuch währte lange Zeit und die antichambrirenden Minister und Generäle mögen Wunder gedacht haben, was die beiden Oesterreicher so lange mit ihrem Herzoge von Ostgothland zu verhandeln hatten. Der Prinz verabschiedete

[806] uns endlich mit einigen freundlichen, von herzlichem Händedruck begleiteten Worten und fragte mich um meine Wohnung in Stockholm, um mir seine Uebersetzungen aus dem Deutschen als Andenken überschicken zu können. Ich war kaum im Hotel angelangt, als ein Kammerherr des Prinzen mir ein illustrirtes Prachtexemplar von Herder’s „Cid“ und Goethe’s „Torquato Tasso“ überbrachte mit der Einschrift: „Zur Erinnerung des Uebersetzers. Oskar.“
Ludw. Aug. Frankl.




Die Nordfahrt der Deutschen.

Am Schlusse des vergangenen Sommers ging eine Nachricht durch die Zeitungen, die blos von einem gewöhnlichen Schraubenbruche in einem Schiffe sprach, aber wie eine Trauerbotschaft aufgenommen wurde. Ein englisches Dampfschiff, die Queen of the Isles, war von preußischen Corvetten-Capitain Werner zu einer Erkundungsfahrt nach dem Nordpol gemiethet worden und auf diesem Schiffe, dem Eigenthum einer Nation, die arktische Entdeckungsfahrten so ziemlich als ihr Monopol betrachtet, hatte sich jener Schraubenbruch ereignet. Die Queen of the Isles soll uns die Freude nicht rauben, daß die deutsche Thatkraft auch bei diesem Plane einer deutschen Nordfahrt sich wieder rasch und energisch entfaltet hat. Wie eine Stahlfeder, die man von einem niederhaltenden Drucke befreit, schnellt die deutsche Unternehmungslust empor, wenn man ihr ein würdiges und nationales Ziel zeigt. Am 23. Juli hatte August Petermann einer Frankfurter Versammlung, die ausdrücklich zur Besprechung einer deutschen Nordfahrt eingeladen worden war, seinen Plan entwickelt, und bereits am 10. August hatte der preußische Corvetten-Capitain Werner in Bremen die ersten Schritte gethan, den Gedanken zu verwirklichen. Noch war der 1. September nicht gekommen und schon dampfte die Queen of the Isles, nicht mit dem wackern, unermüdlichen Capitaln Werner, dem der Urlaub verweigert worden war, aber mit den Hamburger Capitainen Hagemann und Bernard und mit den Naturforschern Wiebel und Fischer-Bengen an Bord, die Elbe hinunter – um bei Cuxhaven mit gebrochener Schraube von einem Schlepper an’s Land bugsirt zu werden.

Es war eine bloße Erkundungsfahrt, die auf diese Weise vereitelt worden ist. Die Pioniere der Nordfahrt sollten über Hammerfest nach Spitzbergen segeln, die dortigen Küsten untersuchen, namentlich sich mit den jüngst aufgefundenen Kohlenlagern beschäftigen, ferner auf dem östlich von Spitzbergen gelegenen, schon mehrmals gesehenen, aber nie besuchten Gilisland zu landen streben, Beobachtungen über Strömungen und Wärmeverhältnisse machen, so weit nördlich steuern, als sich in eisfreiem Wasser gelangen lasse, womöglich östlich bis zu den Mammuthsküsten von Neusibirien gehen und am 15. Oktober wieder in Hammerfest sein. Daß Capitain Werner an der Nordseeküste kein deutsches Dampfschiff fand und ein englisches miethen mußte, hat diese werthvollen Vorstudien unmöglich gemacht. Die eigentliche Nordfahrt wird im nächsten Jahre dennoch stattfinden. Die freudige Theilnahme, die der Petermann’sche Plan aller Orten, namentlich in Hamburg und Bremen, gefunden hat, ist uns Bürgschaft dafür, daß die Deutschen, die „Nation der Geographen“, es als eine Ehrenpflicht erkennen werden, in arktischen Entdeckungsfahrten mit den übrigen Völkern zu wetteifern. Auf diesem Felde sind namentlich die Engländer uns weit voran. Sie haben in zwei Jahren (1848 und 1849) auf der amerikanischen Seite ein Gebiet von 15,000 Geviertmeilen erforscht und für die zwanzig Fahrten jener Zeit sieben Millionen Thaler verausgabt. Wir hoffen, daß im nächsten Jahre Corvetten-Capitain Werner, der nächst Petermann für den Plan der Nordfahrt am meisten und unter persönlichen Opfern thätig gewesen ist, nicht verhindert werden wird, die Leitung der Expedition zu übernehmen. Wie wir hören, hat die preußische Regierung zu solchem Behufe ihm bereits ein Kriegsschiff zur Disposition gestellt.

So weit der Plan bis jetzt gediehen ist, sollen zwei hölzerne Schraubendampfer verwendet werden. Hölzerne Schiffe sind wärmer, als eiserne, und leisten auch, wenn man ihren Wänden die bei arktischen Fahrten übliche Verstärkung giebt, dem Eise mehr Widerstand. Zwei Schiffe müssen es sein, damit sie sich gegenseitig unterstützen und zu Zeiten trennen können, und jedes für sich eine Meergegend, eine Küste, im Eise sich öffnende Straßen zu untersuchen. Zur Besatzung würden, die Officiere und Naturforscher mitgerechnet, sechszig Mann ausreichen. Die Dauer der Fahrt würde höchstens zwei Jahre betragen, doch müßte man auf drei Jahre Lebensmittel mitnehmen, um im Stande zu sein, an geeigneten Punkten Magazine anzulegen. Eine nicht zu niedrig gegriffene Berechnung veranschlagt alle Kosten auf 212,000 Thaler. Die größere Hälfte wäre bereits vorhanden, wenn man die müßig liegenden deutschen Flottengelder für das echt nationale Unternehmen verwendete, das dem Ruhm der deutschen Flagge in ganz anderer Weise dienen würde, als der Bau von einem Paar Kanonenbooten. Das Fehlende ist durch Unterzeichnungen zu beschaffen; wenn der Plan Privatsache bleibt.

Für die deutsche Nordfahrt ist nicht die amerikanische, sondern die asiatische Seite der Polarzone gewählt worden. Die Engländer haben, gewissermaßen aus Gewohnheit, die erstere immer bevorzugt und sind ebendarum auf die stärksten Hindernisse gestoßen. Nimmt man eine Landkarte zur Hand, so gewahrt man im Westen der Barrowstraße, dem Hauptgebiet der englischen Thätigkeit, ein Gewirr von Inseln und schmäleren oder breiteren Wasserstraßen. Wie sehr das feste Land die Entstehung von Eis begünstigt, kann man an jedem unserer größeren Flüsse beobachten. An den Ufern setzen sich hüben und drüben Eisränder an und dehnen sich bei fortdauernder Kälte mehr und mehr gegen die Mitte hin aus. Dort ist noch eine Zeit lang freies Wasser, in dem bald Eisschollen zu erscheinen anfangen, die an Zahl und Umfang zunehmen, endlich in’s Stocken gerathen und den Fluß ganz schließen. In allen den Canälen westlich der Barrowstraße, welche die Engländer befahren haben, bilden sich auf dieselbe Weise Massen von Eis. Unter dem Einflusse des Landes, das überall in der Nähe ist, thauen sie in der guten Jahreszeit spät auf und entstehen nach dem kurzen Sommer rasch auf’s Neue. Das Eistreiben, das in dem freibleibenden Raume in der Mitte stattfindet, wo starke Meerströmungen herrschen, ist fürchterlichster Art. M’Clure, der Entdecker der nordwestlichen Durchfahrt, gerieth beim Vorgebirge Prinz Alfred in Polareis, das vom Westwinde in jeder Stunde einen Knoten weit gegen Osten fortgetrieben wurde. Sechszehn bis achtzehn Fuß hoch waren die mit Donnergeräusch treibenden Eisblöcke, und welchen Druck sie übten, sah man nicht blos an losgerissenen Kupferbeschlägen des Investigators, die wie Papierrollen zusammengewickelt wurden, sondern auch an einer Art von Bergreihe am Ufer, die aus einer einzigen Holzmasse bestand, lauter Trümmern von Stämmen Treibholz, die das Eis zu Spähnen und Splittern zerrieben hatte. Gnadenbucht nannte M’Clure die Einzahnung der Küste, die ihm vor den Eismassen Schutz gewährte. Noch fürchterlicher ist der Canal westlich von der König Wilhelmsinsel, aus dem Franklin keinen Ausweg gefunden hat. Gleich einem Eisstrom drängt sich dort das Polareis aus der Straße zwischen dem Prinz Waleslande und dem Victorialande heran.

Ehe die Schiffe zu der Barrowstraße gelangen, die ihnen den Zugang zu dem höchsten Norden gewähren soll, haben sie bereits eine Gefahr zu bestehen. In der Baffinsbai treiben große Eismassen, von den Walfischfängern als Mitteleis bezeichnet. Es öffnen sich darin Straßen, in die man sich auf die Gefahr hin wagen muß, daß sie sich wieder schließen und das Schiff nicht mehr fortlassen. M’Clintock war aus seiner Nordpolfahrt zur Aufsuchung Franklin’s zweihundert zweiundvierzig Tage der Gefangene des Mitteleises. Rings von ihm eingeschlossen, wurde er mit den Eisfeldern vom Winde hierhin und dorthin getrieben und machte in der erwähnten Zeit eine unfreiwillige Reise von fast dreihundert deutschen Meilen. Die große Erzeugungsstätte dieses Mitteleises der Baffinsbai ist das nördliche Grönland, welches einen einzigen ungeheuren Gletscher darstellt. Unter den doppelten Einwirkungen der Luftniederschläge und des Frostes immerfort sich ausdehnend, schiebt der grönländische Riesengletscher sein Eis durch Thäler und Schluchten dem Meere zu. Sind die Ufer hoch und steil, so wird der Gletscherrand in die Luft hinausgedrängt, bis er unter dem Drucke seines eigenen Gewichts abbricht, krachend in’s Meer stürzt [807] und dort einen Wellenschlag erzeugt, der ein Schiff von der Größe des Fox, auf dem M’Clintock seine Fahrt gemacht, gleich einer Nußschale umherwirft. Der Humboldt-Gletscher, dessen Ausdehnung über einen ganzen Breitengrad die staunende Bewunderung Kane’s und seiner Gefährten erregte, ist nur ein Theil des grönländischen Binnengletschers. „Eine lange, glänzende Klippe,“ so beschreibt Kane den Humboldt-Gletscher, „zieht sich in einer Quere fünfzehn geographische Meilen lang wie eine feste Glaswand von dreihundert Fuß Höhe in unabsehbare Ferne. Das innere Eismeer, mit dem der Gletscher in Verbindung steht, ist ein Schnee- und Eisfeld, für das Auge von grenzenloser Ausdehnung. Zum Beweise seiner im Fortrücken begriffenen Bewegung hört man von Zeit zu Zeit tief hallende oder krachende Töne, die dem Donner oder entfernten Kanonenschüssen ähnlich sind. Am Ufer selbst läßt sich die große Artillerie der Eismauer vernehmen, denn diese wirft beständig ihre Abbrüche ab, wodurch die Eisdecke des Meeres meilenweit durchschlagen wird.“ Ist das Ufer flach, so schiebt der Gletscher sein Eis eine Strecke in’s Meer hinaus, bis es im tieferen Wasser gehoben wird und abbricht.

Auf der asiatischen Polarseite sind die Verhältnisse dem Nordpolfahrer weit günstiger. Hier ist kein die Eisbildung begünstigendes Gewirr von Inseln und Wasserstraßen wie im Westen. Vor allen Dingen trifft man auf der asiatischen Seite die warme Meerströmung, die wir den Golfstrom nennen, weil sie vom mexikanischen Meerbusen zu uns kommt. Sie geht in schräger Richtung von Amerika zu uns herüber, hält das Nordcap und die Bai von Kola Jahr aus Jahr ein vom Eise frei, berührt die Westküste von Spitzbergen und von Nowaja Semlja, den Taimyr-Busen, die neusibirischen Inseln und strömt durch die Behringsstraße in das große Weltmeer. Dort trifft der Golfstrom mit einer der beiden kalten Strömungen zusammen, die vom Pol ausgehend an Amerika hinströmen. Der klimatische Unterschied, der durch das Vorherrschen der kalten Strömung an der amerikanischen und der warmen Strömung an der europäischen und asiatischen Küste hervorgerufen wird, ist ein ungeheuerer. Ein Beispiel möge genügen. Auf der amerikanischen Seite liegt die Insel Melville, auf unserer Seite, um keinen ganzen Grad südlicher, die Bären-Insel. Auf der Melville-Insel blieb das Quecksilber fünf Monate lang gefroren und die Lebensmittel mußten mit der Axt zerhauen werden. Auf der Bären-Insel bleibt der Schnee selten lange liegen, Regen um Weihnachten ist keine seltene Erscheinung und die norwegischen Fischer brauchen während des kältesten Monats ihre Arbeiten im Freien nicht auszusetzen. Auf Packeis, d. h. von Winden und Strömungen zusammengetriebene Massen eines verhältnißmäßig lockern Eises, werden die deutschen Nordfahrer auch auf der asiatischen Seite stoßen. Solches Eis bildet überall in der arktischen wie in der antarktischen Zone einen Gürtel, der durchbrochen werden muß. Jenseits dieses Gürtels ist unbedingt auf ein eisfreieres Meer zu rechnen als in den amerikanischen Meeren und gegen die höchsten Breiten hin wahrscheinlich auf ein ganz freies Meer.

Um das letztere zu erklären, müssen wir die wissenschaftliche Thatsache vorausschicken, daß die Temperatur-Extreme sich nicht streng nach den Breitegraden richten. Nicht der Erdgleicher ist es, wo die stärkste Hitze herrscht. Das kennt man aus Erfahrungen sehr genau. Der Nordpol ist zwar noch nicht erreicht worden, aber so viel weiß man mit Bestimmtheit, daß die Linie der höchsten Kälte bedeutend südlich von ihm läuft. Man erkennt diese Linie unschwer daran, daß jeder Wind, aus welcher Richtung er auch kommen möge, eine Abnahme der Kälte zur Folge hat. Man hat diese Linie der höchsten Kälte auf der amerikanischen wie auf der asiatischen Seite gefunden. Es ist mithin ein Vorurtheil, daß die Kälte nach dem Nordpol hin beständig zunehmen müßte, so daß, selbst wenn dort oben blos Wasser wäre, der Pol wegen ewiger Eismassen nicht erreicht werden könnte. Das Gegentheil ist der Fall: im amerikanischen Rensselaer-Hafen ist es im Winter wärmer als vier Grad südlicher in M’Clure’s Gnadenbucht, und daß es noch höher im Norden abermals wärmer werde, läßt sich daraus schließen, daß Nordwestwinde Schnee oder Regen mitbringen. Ebenso hat das sibirische Ustjansk wärmere Winter als das um sechs Grade südlichere Jakuzk.

Ist der Nordpol nicht von Land, sondern von Wasser umgeben, so läßt er sich zu Schiff erreichen. Daß die Nordfahrer auf Wasser stoßen werden, dafür sprechen die wichtigsten Momente. Was Menschen mit ihren Augen gesehen haben, schicken wir voran. Eine ganze Reihe von Entdeckern und Seefahrern, Wrangell und Anjou in Asien, Belcher, Inglefield, M’Clintock, Kane und Hayes in Amerika, haben im höchsten Norden ein offenes Meer gefunden. Ein sogenannter Wasserhimmel, d. h. ein dunkler, stets ein offenes Wasser bezeichnender Himmel, deutete ihnen an, daß dieses fahrbare Meer sich in weite Ferne erstrecke. Im Frühling von 1851 machte Capitän Penny, der Franklin suchte, am Wellington-Canal aufwärts eine Schlittenreise. Jenseits einiger Inseln hörte das Eis auf und Penny stand vor offenem Wasser, dem er mit den Augen fünf deutsche Meilen weit gegen Norden folgen konnte. Weit hinten am Horizont erhob sich ein Wasserhimmel. Von Westen kam eine nicht unbedeutende Strömung; Walrosse, die ohne offenes Wasser nicht existiren können, Heerden von Rennthieren, Polarhasen, Wölfe und Füchse und große Schwärme von Enten, Gänsen und anderem Geflügel waren Zeichen eines weit reicheren Thierlebens, als es weiter südlich wahrgenommen wird. Eine noch bedeutsamere Wahrnehmung machte Morton, einer der Begleiter Kane’s, im Juni 1854. Vom Smith-Sunde, wo das Schiff der Amerikaner rettungslos eingefroren war, gegen Norden vordringend, gelangte er an einen Canal, der immer weiter wurde und zu einem offenen Meere führte. An einem steilen Vorgebirge, wo er Halt machen mußte, hörte Morton zum ersten Male wieder das Getöse der Brandung. Sturmvögel, Möven, Eidergänse, Enten und selbst Vögel südlicherer Küsten flogen in unerhörter Menge gegen Norden. So weit Morton sehen konnte, war offene Fahrt, und der heftige Nordwind, der drei Tage lang wehte, trieb kein Eis heran.

Die übrigen Beweise für ein offenes Polarmeer wollen wir blos erwähnen. Herrscht in den Gewässern von Spitzbergen längere Zeit Nordwind, so wird das Meer frei. Der Wind treibt das vorhandene Eis gegen Süden und bringt aus dem Norden keines mit. Die Eismassen, die sich im Winter auf der asiatischen Polarseite bilden, bestehen aus Salzwasser, entstehen also nicht durch Gletscher, sondern im Meere. An sehr vielen Punkten der höchsten Breiten wandern die Rennthierheerden, wenn der Winter naht, gegen Norden. Sie finden dort eine Weide – Kane zählt die einzelnen Pflanzenarten auf – die ohne ein offenes Meer nicht vorhanden sein könnte. Daß der Walfisch ganz oben im Norden seine Jungen gebäre und aufziehe, ist fast mit Gewißheit anzunehmen, und dazu braucht er ein offenes Meer. Für ein solches sprechen endlich Windverhältnisse, für deren Erklärung uns der Raum fehlt, und Meerströmungen, die nicht so breit und mächtig gegen Norden vordringen könnten, wenn sie dort nicht einen weiten freien Raum hätten.

Die Existenz eines offenen Polarmeers durch eine Beschiffung außer Zweifel zu stellen, ist der Hauptzweck der deutschen Nordfahrt. Handelte es sich dabei blos um die Lösung eines geographischen Problems, so wäre dieser Zweck allein der höchsten Anstrengungen werth. Es tritt jedoch auch ein sehr praktisches Anliegen in Frage. Wir hängen Alle so sehr vom Wetter ab, daß wir die Ungewißheit, die in der Wetterkunde herrscht, hundert Mal schmerzlich beklagen. Eine Wissenschaft der Wetterkunde ist in der Ausbildung begriffen, aber die sicheren Grundlagen, deren sie bedarf, kann sie nicht eher erlangen, als bis die Wind- und Meerströmungs-Verhältnisse am Nordpol gründlich erforscht sind, denn von dort her kommen die schlimmsten unserer Winde. In den Polarmeeren muß ferner der Walfischfang betrieben werden, wenn er noch von Nutzen sein soll. Nur zu lange haben wir uns von diesem Zweige der Schifffahrt, der die beste Schule für Seeleute ist, ausschließen lassen. Die deutsche Nordfahrt wird Walfischgründe nachweisen, auf denen die deutsche Handelsflotte das Versäumte nachholen kann. Endlich harren auf der sibirischen Nordküste ungeheuere Elfenbeinlager der Vorzeit einer planmäßigen Ausbeutung. Die Landfracht erschwert das Fortschaffen, durch Dampfschiffe kann der Handel mit Mammuth-Elfenbein vielleicht so gewinnbringend gemacht werden, wie der mit dem Guano der Inseln an der Küste von Peru. Man sieht also, daß die deutsche Nordfahrt nicht blos den Ruhm unseres Namens erhöhen, sondern auch volkswirthschaftlichen Nutzen bringen wird.

F. St…r.



[808]
Weihnachten hinter Eisengittern.
Ein Erlebniß.

Der Gefängnißbeamte hat nur wenig freie Zeit. Der regelmäßige Dienst beginnt Morgens fünf Uhr und endigt erst Abends acht Uhr. In diesem Zeitraume ist er seiner Familie und seinem Hauswesen gänzlich entzogen und im Dienste selbst mit einer Unmasse von Verdrießlichkeiten und Verantwortungen behelligt. Die Verdrießlichkeiten werden durch die Unfügsamkeit der Gefangenen, die Verantwortungen durch die äußerst strengen Dienst-Instructionen geschaffen. Der Gefängnißbeamte kann auch bei der gewissenhaftesten Pflichterfüllung, bei der allergrößten Strenge im Dienste Ordnungswidrigkeiten seitens der Gefangenen nicht immer verhindern, und dennoch werden diese den Gefangenen nur selten allein zur Last gelegt; in der Regel treffen damit Verweise an den Beamten zusammen.

Der Dienst geht indeß häufig auch noch über die gedachte Zeit hinaus. Ich meine damit nicht die regelmäßig wiederkehrenden Nachtwachen, an welche der Beamte sich schon gewöhnt, ich meine die Einlieferungen von Gefangenen, welche außerhalb der Dienststunden erfolgen. Für gewöhnliche Gefangene werden daher auch alle Tage eine oder mehrere Zellen in Bereitschaft gehalten; werden dagegen – was allerdings seltener ist – Gefangene eingeliefert, welche von vornherein mit den übrigen Gefangenen nicht gleichgestellt werden sollen, so macht dies stets eine Menge Vorbereitungen und die Thätigkeit mehr als eines Beamten nothwendig. Es läßt sich denken, daß einem solchen Gefangenen bei seinem Eintritt in die Anstalt nicht besonders freundliche Gesichter entgegentreten, daß er verdrießlich und mürrisch empfangen und unfreundlich untergebracht wird.

Am Abend vor Weihnachten 185* hatte ich meine Dienstgeschäfte etwas früher als gewöhnlich beendigt. Es war ein halb acht Uhr, ich wollte auf einige Stunden vergessen, daß ich Gefängniß-Inspector war, ich wollte Familienvater sein und heiligen Christ spielen. Die wenigen Gaben, welche ich von meinen Ersparnissen für Weib und Kinder hatte beschaffen können, waren bereits auf den Weihnachtstisch gelegt und die Lichter an dem Christbaume angezündet, ich war eben im Begriff, die Kinder eintreten zu lassen, als die Hausglocke in rascher Folge zwei Mal gezogen wurde. Ohne daß ich nachsah, wußte ich, daß der Untersuchungsrichter vor der Thür war, denn er meldete sich stets in gleicher Weise an; ich wußte aber auch, daß er nicht allein kam, denn er hatte zu dieser ungewöhnlichen Zeit in dem Gefangenenhause nichts zu schaffen. Was sollte ich thun? Sollte ich meine Kinder, oder sollte ich den Untersuchungsrichter warten lassen? Die Kinder waren unruhig, sie hatten ja schon so lange die Weihnachtsfreude ersehnt und mit Ungeduld die Stunden bis zur Christbescheerung gezählt, aber auch der Untersuchungsrichter war unruhig, er zog wiederholt und stärker als das erste Mal an der Glocke. Meine Unentschlossenheit war bald zu Ende, ich durfte nicht Vater, ich mußte Beamter sein, meiner Frau das Einführen der Kinder überlassen und auf die Theilnahme an deren Weihnachtsfreude vielleicht für die Dauer des ganzen Abends verzichten.

Als ich die Thür des Gefangenenhauses unmuthig geöffnet hatte, hörte ich den Untersuchungsrichter draußen sagen: „Treten Sie ein, gnädige Frau.“ Diese Worte machten mich noch mürrischer, denn ich berechnete in aller Geschwindigkeit, daß die Unterbringung einer „gnädigen Frau“ mich mehrere Stunden ausschließlich beschäftigen werde. Ich war zurückgetreten, um den Eingang frei zu lassen. Allein es trat Niemand ein, der Raum innerhalb der geöffneten Thür blieb leer. Um die Ursachen der Zögerung kennen zu lernen, näherte ich mich der Oeffnung und sah durch diese in das Freie hinaus. Ich erkannte den Untersuchungsrichter und bemerkte auch die Gestalt einer Frau, welche an der äußeren Seite der Thür lehnte und den Kopf mit beiden Händen gestützt hatte. Die Frau war ganz still, ich hörte keinen Laut, ich konnte keine Bewegung wahrnehmen.

Der Untersuchungsrichter wartete einige Minuten. Dann erfaßte er die eine Hand der regungslosen Gestalt, zog diese sanft nach sich und sagte dabei: „Ich bitte, gnädige Frau, folgen Sie mir, treten Sie in das Haus, wir dürfen hier nicht länger verweilen.“

Bei der Berührung ihrer Hand zuckte die Frau zusammen, sie richtete auch den Kopf hoch, blieb aber immer noch ruhig. Eine Secunde später wendete sie sich rasch der Thür zu. Ich sah ganz deutlich, daß sie den einen Fuß hochhob, um diesen auf die Schwelle zu setzen, daß der Fuß jedoch einige Augenblicke in der gehobenen Stellung verblieb, ehe er die Schwelle berührte, und daß dann der andere Fuß hastig nachgezogen wurde. Es ist ein schwerer Schritt über die Schwelle eines Gefangenenhauses, der folgenreichste, den ein Mensch im Leben thun kann; warum sollte diese Frau da nicht zögern?

Während ich die Thür schloß, blieb die Frau neben dem Untersuchungsrichter ruhig auf dem nur matterleuchteten Flur stehen. Bei dem Eintreten in das Haus hatte ich von derselben, außer dem Fuße, nur die Kleidung, sonst nichts gesehen, da das Gesicht mit einem schwarzen Schleier bedeckt war. Ich wußte nicht, ob sie jung oder alt, schön oder häßlich, und ob mir dieselbe im Leben schon ein Mal begegnet war. Auch jetzt, als ich an ihr vorbeischrilt und die Gestalt mit einem neugierigen Blicke betrachtete, vermochte ich die Einhüllung nicht zu durchdringen.

Ich hatte beinahe mein Arbeitszimmer erreicht, als der Untersuchungsrichter mir zurief: „Herr Inspector, können wir nicht in Ihr Wohnzimmer eintreten?“

„Nein,“ versetzte ich kurz und unfreundlich, „das gehört heute, am Abend vor Weihnachten, meiner Familie.“

Diese hart gesprochenen Worte wurden durch ein lautes und heftiges Schluchzen unterbrochen. Ich blickte zurück. Die Frau war stehen geblieben, sie hielt beide Hände vor das Gesicht und weinte. Das Weinen allein würde ich vielleicht unbeachtet gelassen haben, das kam mir ja alle Tage vor; aber die Haltung der Frau zeigte einen so tief empfundenen Schmerz, ein so unendlich bitteres Leid, daß ich mich unwillkürlich ergriffen fühlte und die harten Worte bereute. Um diese zu mildern, fügte ich hinzu: „Herr Rath, in meiner Wohnstube brennt der Weihnachtsbaum, den Kindern ist soeben bescheert worden; ich möchte dieselben nicht gern in ihrer Freude stören, ich möchte aber auch der Dame nicht gern – “

„Nein, nein,“ fiel diese mir mit Heftigkeit in’s Wort, „nicht dahin, wo Kinder sich aufhalten; ich will allein sein, ganz allein.“

Die Stimme war frisch, sie war, obgleich bewegt, ich möchte sagen zitternd, doch glockenrein. Die Gefangene konnte nicht alt sein. Aber weshalb wollte sie nicht mit Kindern zusammentreffen?

Und gerade an diesem Abend nicht? War sie Mutter und aus dem Kreise ihrer Familie herausgerissen? Dann allerdings war sie tief zu beklagen, dann mußte der Anblick fremder Kinder ihren Kummer vermehren; die eigenen Kinder, die sie vielleicht hülflos verlassen hatte, mußten ihr ja vor Augen treten. Aber wenn sie auch nicht Mutter sein sollte, sie war dennoch bedauernswerth, weil sie gerade an dem Tage, an welchem entfernt und zerstreut wohnende Familienglieder sich zusammenfinden, um durch ihre Vereinigung die Festfreude zu erhöhen, die Freiheit verloren hatte. Ich nahm mir vor, nicht mehr unfreundlich zu sein, sondern der Gefangenen so viel, als ich durfte, Erleichterung zu bereiten.

In meinem Arbeitszimmer veranlaßte der Untersuchungsrichter die Frau zum Niedersitzen. Diese kam auch der Aufforderung sofort nach, aber mir schien es, als ob sie dies in halber Bewußtlosigkeit thue. Sie setzte sich eigentlich nicht, der Körper fiel mehr auf ein altes, hartgepolstertes Sopha nieder, er hatte offenbar keine Festigkeit, keinen Halt, er fiel, als er den Ruhepunkt erreicht hatte, in sich zusammen. Auch die geistigen Kräfte mußten erlahmt sein. Denn der Untersuchungsrichter erhielt auf die verschiedenartigsten Fragen, die er von Zeit zu Zeit an sie richtete, keine Antwort. Böser Wille war das auf keinen Fall, der Frau fehlte allem Anscheine nach das Verständniß und die Fassungskraft.

Die vergeblichen Versuche versetzten den Untersuchungsrichter in Verlegenheit. Nachdem er das Zimmer mindestens zehn Mal durchschritten hatte, blieb er vor mir stehen.

„Was fangen wir an?“ fragte er leise.

„Gönnen Sie der Frau noch einige Zeit,“ erwiderte ich in derselben Weise bittend, „sie scheint zu sehr angegriffen zu sein.“

„Ja, ja, ich weiß das; es kann ja nicht anders sein. Das Unglück ist zu groß, der Schlag ist ganz unverhofft gekommen,“ versetzte er weich.

„Wir können ja noch einige Zeit warten.“

„Ich möchte aber gern nach Hause, ich wollte schon um sechs Uhr zurück sein, Frau und Kinder warten.“

[809] „Gehen Sie doch, Herr Rath, ich werde mit der Gefangenen schon fertig werden.“

„Sie haben Recht,“ sagte dieser nach einigem Nachdenken, indem er seinen Hut wieder in die Hand nahm; „ich kann heute Abend so nichts weiter vornehmen. Sehen Sie, wie Sie mit der Frau fertig werden; üben Sie nur alle Rücksicht, welche die Instruction zuläßt, und wenn Sie noch weiter gehen wollen, so will ich auch das in diesem Falle genehmigen und vertreten. Hoffentlich wird die Dame sich bald erholt haben.“

Die letzten Worte wurden bereits außerhalb des Zimmers gesprochen. Ich wollte den Mann nicht zurückhalten, obwohl ich über die näheren Verhältnisse der Gefangenen, namentlich über den Grund der Verhaftung, gern Auskunft gehabt hätte.

Die Gefangene war während dieser Zeit unverändert liegen geblieben. Als ich nach dem Zimmer zurückkehrte, blieb ich unwillkürlich einige Zeit vor ihr stehen. Ich weiß wirklich nicht, welche Gründe mich hierzu bestimmten, ich weiß nur, daß ich unentschlossen war, in welcher schicklichen Weise ich mich bemühen sollte, das Bewußtsein der Gefangenen zurückzurufen. Daß der Untersuchungsrichter dieselbe „gnädige Frau“ angeredet hatte, machte mir wenig Sorge; mir war jeder Gefangene gleich, alle waren unglücklich, und das Unglück hat überall, auch wenn es verschuldet ist, Anspruch auf Theilnahme. Vielleicht veranlaßten mich nur die ganz eigenthümlichen Umstände, unter welchen die Gefangene mir entgegengetreten war, zu einer mehr als gewöhnlichen Theilnahme. Genug, ich stand einige Zeit unschlüssig vor der leblosen Gestalt.

„Gnädige Frau,“ redete ich dieselbe endlich an, „ich bitte Sie inständigst, machen Sie mir die Erfüllung meines Amtes nicht schwer. Sagen Sie mir vor allen Dingen Ihren Namen.“

Ich bekam keine Antwort.

„Fühlen Sie sich unwohl,“ fuhr ich mit etwas stärkerer Stimme fort, „so haben Sie die Güte mir das zu sagen, ich werde den Arzt herbeirufen lassen.“

Ein fast unmerkliches Zucken der einen Hand, die auf der Brust ruhte, war Alles, was ich wahrnahm.

„Sie wünschen, daß ich den Arzt rufe?“ fragte ich, da ich das Zucken für eine bejahende Bewegung hielt und mir nur Gewißheit verschaffen wollte.

Die Frau blieb regungslos. Ich hätte mit ihr weinen können, wenn sie ihren Kummer, ihr Elend mir mitgetheilt hätte; ihr beharrliches Schweigen ließ mich die Theilnahme vergessen, welche ich ihr hatte bezeigen wollen. Meine Geduld war zu Ende.

„Sie sind Gefangene,“ sagte ich hierauf hart, „vergessen Sie das nicht, so lange Sie in diesem Hause sind. Als solche müssen Sie sprechen, wenn Sie gefragt werden.“

Auch dies hatte keinen Erfolg, ich bekam keine Antwort.

„Jetzt befehle ich Ihnen, daß Sie aufstehen!“ schrie ich in größter Heftigkeit.

Aber auch dies blieb unbeachtet, die Gefangene rührte sich nicht. Das laute, heftige Schreien war in meiner Wohnstube gehört worden. Meine Frau kam zu mir. Sie wußte, daß ich mit der Gefangenen allein war, und hatte geglaubt, daß diese sich renitent zeigen und daß ich Unterstützung nöthig haben möchte. Ich ließ sie eintreten und indem ich nach dem Sopha hinwies, sagte ich ihr, sie möge nachsehen, ob die Gefangene todt sei.

Meine Frau schlug den Schleier, welcher das Gesicht bis zu diesem Augenblicke bedeckt hatte, leise zurück. Kaum war das geschehen, so rief sie laut: „Herr Gott, das ist ja Frau von .ch!“ Ich trat näher hinzu und fand dies bestätigt.

Herr von .ch, ein sehr reicher Grundbesitzer, bewohnte ein etwa zwei Stunden entfernt gelegenes weitläufiges Rittergut. Er war in der Umgegend wegen seiner vielen Eigenheiten bekannt, wegen seines großen Geizes und aus anderen Gründen aber nur wenig geachtet. Seit seiner Verheirathung, also seit ungefähr zwei Jahren, wurde er vielfach lächerlich gemacht. Man sagte, daß er seine Frau auf Schritt und Tritt überwache und daß er dies aus grenzenloser Eifersucht thue. Er selbst war bereits einige fünfzig Jahre alt, ziemlich unschön und stets mit einem widerlichen, hektischen Husten behaftet, während seine Frau kaum dreißig Jahre zählen konnte und für eine interessante Erscheinung gehalten wurde. Von dieser wußte man nur, daß sie aus einer verarmten, altadeligen Familie abstamme und daß sie den Herrn von .ch nur seines Reichthums wegen geheirathet haben solle. Ueber ihre Vergangenheit dagegen war nichts bekannt; ich hatte mehrfach davon sprechen hören, daß dieselbe in ein tiefes Dunkel gehüllt sei und daß beide Ehegatten darüber Schweigen beobachteten. Bemerken muß ich noch, daß ich mich erinnerte, vor einiger Zeit, es mochten etwa vier Monate her sein, in der Zeitung gelesen zu haben, wie Herr von .ch mit einer komischen Feierlichkeit anzeigte, daß ihm ein Sohn und Majoratserbe geboren sei.

Das ist Alles, was mir über die Persönlichkeit meiner Gefangenen bekannt geworden war. Ich fragte mich, was der Grund ihrer Verhaftung sein möchte. Alle bekannten Gesetzesübertretungen traten mir geschwind vor Augen. Es wollte keine passen, keine schien schwer genug zu sein, um die hochgestellte Frau aus ihrer Stellung, die Mutter von dem hülfsbedürftigen Kinde loszureißen. Zuletzt war mir nur noch eine übrig geblieben, die schwerste, die das Strafgesetz kennt: der Mord. Ich wollte mich losreißen von diesem Gedanken, und dennoch schien mir gerade dies Verbrechen genau zu den Verhältnissen der Gefangenen zu passen. Ihre Ehe konnte keine glückliche sein; der alte, häßliche Mann, mit seinen widerlichen, Ekel erregenden Leidenschaften, konnte unmöglich geliebt werden; die Ueberwachung der jungen Frau mußte diese tief verletzen, und gewiß manche Scene zwischen den Gatten hervorrufen. Bis dahin war ich gekommen, als mit meiner Gefangenen eine auffällige Veränderung eintrat.

In dem Moment nämlich, in welchem meine Frau den Schleier zurückschlug, zeigte sich das Gesicht der Gefangenen leichenblaß mit geschlossenen Augen und festzusammengedrückten Lippen. Dieser Druck ließ jedoch bald nach, die Lippen öffneten sich, und auch die Augenlider zogen sich auseinander, aber langsam, als ob die Kraft oder der Wille fehle. Der Blick aus den so geöffneten Augen richtete sich unbeweglich und starr auf mich. Ich konnte denselben schon nach wenigen Secunden nicht mehr ertragen. Es war mir genau ebenso, als ob mich eine Leiche mit gebrochenen Augen anstarrte; ich fühlte dieselbe Beängstigung, dasselbe unheimliche Grauen.

Da mit einem Male belebte sich erst das Auge und dann das ganze Gesicht. Der Blick wurde beweglich, er wendete sich von mir fort und nach der Thür zu, er war nicht mehr starr, nicht mehr ausdruckslos, nicht mehr todt; ich las darin eine ängstliche Aufmerksamkeit, ein freudiges Ergriffensein, es war als ob ein Ereigniß sich verwirklichen sollte, dessen Eintreten vorher nicht für möglich gehalten worden war.

Ich gab mir Mühe, irgend etwas Auffälliges im Zimmer zu entdecken, vermochte jedoch nichts Besonderes wahrzunehmen, namentlich nicht an der Thür, die fest zugemacht worden war. Im Zimmer selbst waltete eine feierliche Stille, nur draußen auf dem Flur oder sonstwo ließen sich das schwache, gedämpfte Schreien eines kleinen Kindes und die Bemühungen hören, welche zur Beruhigung desselben gemacht wurden.

Diese Laute näherten sich, sie wurden von Augenblick zu Augenblick vernehmlicher. Aber auch die Aufmerksamkeit und die Spannung der Gefangenen steigerten sich und wurden zusehends lebendiger. Der Kopf derselben ruhte bald nicht mehr auf dem harten Kissen, er hatte sich gehoben; der Oberkörper nahm nicht mehr die liegende Stellung ein, er hatte sich langsam aufgerichtet; die Muskeln zeigten sich nicht mehr schlaff, sie hatten sich gekräftigt; das Gesicht verlor das leichenähnliche Aussehen, ein mattes Roth färbte die Wangen, beide Arme stützten sich fest und kräftig auf das Polster des Sophas und gaben dem Oberkörper, der sich immer mehr vorn überbeugte, eine feste Stütze.

Die Thür wurde von draußen leise geöffnet, das Schreien des Kindes drang klar und hell durch die Oeffnung in das Zimmer, gleichzeitig aber auch der Ruf: „Madame, bitte, kommen Sie einmal heraus!“

Diese Worte waren noch nicht vollständig gesprochen, als die Gefangene aufsprang und in der Richtung nach der Thür hastig fortlief.

In dem ersten Augenblicke dachte ich nur an einen Fluchtversuch; ich erfaßte deshalb auch die Gefangene, noch ehe sie die Thür erreicht hatte, am Arme und hielt sie zurück.

„Mein Gott,“ sagte diese, als sie sich festgehalten sah, im Tone ängstlicher Besorgniß und indem sie sich loszureißen versuchte, „lassen Sie mich doch gehen, das Kind weint, ich will nachsehen.“

„Bleiben Sie nur,“ erwiderte ich erfreut, daß die Gefangene [810] sprach, „das Mädchen kann hereinkommen, die Mutter wird den kleinen Schreihals schon beruhigen.“

„Wie denn?“ rief Frau von .ch, indem sie sich verwundert umsah. „Bin ich nicht in meinem Hause? Wo bin ich denn? Herr Gott!“ schrie sie plötzlich laut auf, daß es mir eiskalt über den Rücken lief. „Jetzt weiß ich’s – ich bin im Gefängnisse!“ setzte sie dumpf hinzu.

„Sie sind noch nicht da, gnädige Frau, ich muß Sie aber dahin bringen,“ versetzte ich, um sie vorzubereiten.

Frau von .ch entgegnete nichts, sie schien meine Erwiderung gar nicht gehört zu haben, sie sah unverwandt nach meiner Frau, welche dem Mädchen das Kind abgenommen hatte und dies liebkoste. Das Kind weinte nicht mehr, es war still geworden, als es sich von den Armen der Mutter umschlungen und an der Brust der Mutter ruhen fühlte.

Ich beobachtete Frau von .ch mit immer höherem Interesse, ich sah, daß ihre Augen feucht wurden, daß es in ihrer Brust gewaltig arbeitete, daß sich aber die Lippen fest zusammenpreßten, als ob sie die innere Bewegung gewaltsam niederdrücken sollten; ich sah, daß die langen, schwarzen Wimpern die Thränen nicht zurückzuhalten vermochten und daß diese endlich in großen, schweren Tropfen herabfielen.

Die Thränen verschafften Linderung, das Arbeiten der Brust hörte auf, der Ausdruck des Gesichts wurde weich.

„Sie sind glücklich, Madame, weil Sie Mutter sein dürfen,“ sagte Frau von .ch mit kleinen Unterbrechungen, als ob sie sich erst auf die Worte besinnen müsse, zu meiner Frau.

„Ach, gnädige Frau,“ enlgegnete diese, „Sie werden auch wieder glücklich werden, Sie können ja nichts Böses gethan haben, Sie werden Ihr liebes Kind wiederfinden.“

„Mein Kind? sagten Sie nicht so?“ fragte die Gefangene; dann setzte sie in größter Betrübniß hinzu: „ich habe kein Kind.“

„Aber die Anzeige in der Zeitung?“ versetzte ich fragend.

„Ist die Frucht einer Lüge. Haben Sie,“ fuhr Frau von .ch in ganz verändertem Tone fort, „in sich noch nie eine Leere gefühlt? Sehen Sie, mir war es so, als ob mir das Herz fehle. Ich hatte das Bewußtsein, daß ich ohne Herz nicht leben könne, daß ich sterben müsse, wenn es mir nicht möglich sein sollte, ein Herz zu finden. Die Thätigkeit meines Geistes war ausschließlich nach diesem Ziele gerichtet, ich dachte an nichts weiter, als an das Aufsuchen und das Auffinden eines Mittels, durch welches ich das zu meinem Leben nothwendige Bedürfniß erlangen wollte. Und als ich endlich ein solches gefunden zu haben glaubte, da war ich unaussprechlich glücklich, denn ich sah den Tod nicht mehr vor mir, ich hatte die Bürgschaft noch für ein langes Leben erworben. Das war der Trieb der Selbsterhaltung. In solchem Zustande behält der Mensch nur das Ziel im Auge, er fragt nicht darnach, ob der Weg gerade oder krumm, ob er geebnet oder holprig ist, wenn er nur zum Ziele führt. Nicht wahr, Sie verstehen mich nicht?“ sagte sie nach einer kleinen Pause, „ich will mich kürzer fassen, ich will deutlicher sprechen. Ich führte in meiner Ehe ein elendes Leben; ich war nichts weiter, als ein Spielzeug in der Hand eines Kindes, das weggeworfen, mitunter auch mit Füßen getreten wird, wenn das Kind des Spielens überdrüssig ist. Als ich mir dessen klar bewußt wurde, da wünschte ich mir eine Seele, in die ich mich hineinleben wollte, die mir Ersatz geben sollte für namenlose Leiden. Mir selbst war jede Aussicht benommen, Mutter einer Seele zu werden, darum kaufte ich eine solche, und der Besitz derselben ließ mich alle Leiden vergessen und alles Elend mit Freudigkeit ertragen. Verstehen Sie das? Es enthält Alles, was ich verschuldet habe; ist denn diese Schuld so gar schwer?“

Frau von .ch machte eine Pause. Ich hatte sie verstanden, wußte, daß es sich um ein Verbrechen handelte, welches das Strafgesetz mit „Unterschiebung eines Kindes“ bezeichnet und mit Zuchthausstrafe bis zu zehn Jahren bedroht.

Diese Entdeckung bereitete mir auf der einen Seite Freude, denn ich hatte in meine Listen keinen Mord zu verzeichnen, das Uebelste, was mir in meiner Stellung begegnen konnte, auf der anderen Seite machte mich dieselbe aber traurig, denn ich hatte es mit keiner Unschuldigen zu thun, ich mußte die schöne, zarte Frau auf den Aufenthalt im Zuchthause vorbereiten.

Von da ab gab Frau von .ch kurze, doch bestimmte und befriedigende Antworten, sie schien sich ruhig und ergeben in ihr Schicksal zu fügen, wenigstens kam kein Wort der Klage über ihre Lippen. Es war beinahe eilf Uhr geworden, als ich sie bat, mir nach dem Gefängnisse zu folgen. Ich hätte sie so gern die erste Nacht in meiner Wohnung behalten, allein ich durfte es nicht thun, ich setzte mich der Gefahr aus, Amt und Brod zu verlieren.

Frau von .ch folgte ohne Widerstreben. Auch im Gefängnisse war sie ruhig, nur als ich fortgehen wollte und die Laterne bereits in die Hand genommcn hatte, kam sie noch einmal auf mich zu und fragte mich mit zitternder Stimme: „Muß ich denn ohne Licht bleiben?“ und als ich darauf erklärte, daß ich das Licht nicht zurücklassen dürfe, schlug sie beide Hände ineinander und murmelte dumpf vor sich hin: „die erste Nacht, das ist schrecklich!“ Sie trat sodann langsam zurück und setzte sich auf den Rand des Bettes, das ich für sie hatte besorgen lassen.

Ich blieb, nachdem ich die Thür geschlossen, noch einige Zeit vor derselben stehen, die Gefangene verhielt sich jedoch vollständig ruhig. Die Gemüthserregungen hatten sie jedenfalls ermüdet, sie mochte sich nach Ruhe sehnen und diese auch gefunden haben.

Jeder Verbrecher hat für seine That eine Entschuldigung. In der Regel werden „die Verhältnisse“, in welchen derselbe ohne Verschulden sich befunden zu haben vorgiebt, vorgeschoben. Frau von .ch hatte mir gegenüber dasselbe gethan. Sie sagte: mir fehlte das zum Leben eines Menschen nothwendige Herz; der Trieb der Selbsterhaltung mußte das Verbrechen erzeugen. Nun ja, das mochte sein. Sie befand sich aber durchaus in keiner besseren Stellung, als der Dieb, welcher behauptet, nur deshalb gestohlen zu haben, weil er nicht habe verhungern wollen.

Ich wußte es aus unzähligen anderen Fällen, daß diese Art der Entschuldigung vor dem Gericht keine Anerkennung findet und daß deshalb die arme Frau dem Zuchthause nicht entgehen konnte.

Meine Weihnachtsfreude war dahin. Bei der Rückkehr in meine Wohnung kurz vor Mitternacht fand ich Weib und Kinder bereits in tiefem Schlafe.

Ueber das fernere Schicksal der Frau von .ch kann ich nur noch Weniges mittheilen. Sie wurde trotz einer meisterhaften Vertheidigung zu zwei Jahren Zuchthausstrafe verurtheilt, von mir auch in die Strafanstalt abgeliefert. Ueber ihren Verbleib nach der Entlassung aus dem Zuchthause – auf Verwendung mehrerer hochangesehener Damen wurde ihr ein gut Theil der Strafzeit erlassen – ist mir nur bekannt geworden, daß sie jetzt in einer mitteldeutschen Residenz lebt; zu dem Herrn von .ch ist sie nicht zurückgekehrt.

Im Gefängnisse war ihre Führung musterhaft. Sie versicherte wiederholt, daß der Aufenthalt darin noch lange nicht so schrecklich sei, wie das Zusammenleben mit Herrn von .ch, ohne sich jedoch über Einzelnheiten zu verbreiten.




Alpenbilder.
Von Otto Banck.
2. Berge, Pässe und Menschen des Tiroler Aufstandes.

In der letzten Zeit ist die Route zwischen Salzburg und Gastein zu einer wahren politischen Heerstraße, zu einem Touristenweg der Diplomatie geworden; doch so heilkräftig und anregend das Wasser des Wildbades wirkt, so erwies es sich doch nicht stärkend und gesundmachend für die Pläne und Unterhandlungen, die an seinem Quell gepflogen wurden. Die vierspännige Extrapost mit dem lustig blasenden Postillon hat auf dem romantischen Pfade durch den herrlichen Paß Lueg, welcher den Glanzpunkt der von Salzburg nach Gastein führenden Straße bildet, gar manchen staatsmännischen Kopf, das eine und das andere hohe Haupt ebenso rathlos wieder zurückgefahren, als sie angekommen waren.

Vor fast zwei Menschenaltern bewegten sich auf dem nämlichen

[811] Terrain, durch denselben Paß der Salzburger Alpen, Männer hin und her, die sich ebenfalls, aber freilich in ganz anderer Weise, mit dem Heil des Vaterlandes beschäftigten. Es waren Gestalten des Volkes, ohne Macht, ohne einflußreiche Stellung. Aber über eine weittragende Macht geboten sie, über jene gewaltige Macht der Begeisterung, welche ihres Sieges gewiß ist, und wenn es auch nur der Sieg des schönen Beispiels wäre. Es waren nicht Männer der langen Rede mit kurzem Sinn, sondern Männer der großen patriotischen That von wenig Worten: die Tiroler Vaterlandsvertheidiger von 1809.

Wie lebhaft trat mir dies denkwürdige Jahr 1809 vor die Seele, als ich auf jener Bergstraße die schöne Wanderung von Golling nach Werfen in Begleitung eines befreundeten Mannes zurücklegte, dessen Dasein um mehr als ein Menschenalter weiter als das meine in die hinter uns liegenden Zeiten der Eltern und Großeltern zurückragte! Ein alter, silberhaariger Tirolergreis in ungebeugter Rüstigkeit, in Geist und Herzen wetterfest, wie der Fels seiner Berge, aber als ein im Auslande fortgebildeter Mann der Wissenschaft vorurtheilsfreier, als viele seiner im Wahne der „Glaubenseinheit“ befangenen Brüder. Er war unter den Vaterlandsvertheidigern gewesen, die unter Hofer’s Leitung gegen die französisch-baierische Macht ihr Blut so opferfreudig vergossen. In seinem Gedächtniß spiegelten sich die Thaten und Begebenheiten jener Epoche mit den Farben der Wahrheit ab.

Die Bilder der Erinnerung schweben für den Eingeweihten, der sie zu sehen vermag, auf allen Fluren des Tiroler und Salzburger Landes, soweit dasselbe von den Kriegsereignissen berührt wurde. Zunächst jedoch war es für uns die schöne, prangende Natur der stolz-frohen, weithin ragenden Gebirgswelt, die unsern Genuß in Anspruch nahm. Der tiefblaue Herbsthimmel hing wie ein lachendes Zelt über die weiten, grünen Thalmatten von Golling, und die Salzach kam, ein lebendiger Wegbegleiter, fröhlich rauschend da herab, wo zu klüftigen Bergschwingungen der Blick des Wanderers hinaufdringt.

Der Salzachbach hat sich tief in das Flötzkalkgebirge eingewühlt; in Urzeiten bildete er einst in Pongau, jenseit Werfen, einen See, bis er die Kluft weiter und weiter im Laufe der Jahrtausende auswusch und, nach Norden strömend, sich sein Bett in der Salzburger Ebene schuf.

Hinter Golling tritt man in den eigentlichen Paß Lueg ein, der das Innere der Gebirgswelt erschließt. Zuvor aber übersieht man ein großartiges Gemälde, gebildet von den schroffen Wänden des 7600 Fuß hohen Tännengebirges, welches sich von dem westlich darangrenzenden Hagengebirge scheinbar mit solcher Gewalt losgerissen hat, daß sich beide Massen, in wildromantische Zacken zerklüftet, schroff und felsengipfelig entgegenstarren. Zu diesem Einschnitt hinein zieht sich der imposante Weg des Paß Luegs, in den Senkungen seiner steil abfallenden Berge wild und prachtvoll decorirt vom Dunkelgrün der spitzen Tannen, von Farrenkraut und Steinmoos, vom hellen, herbstlich gelben Laub der Buchengebüsche, die mit dem braunen Ahorn drastisch abwechseln. Es ist eine immer sich verschiebende Coulissenscenerie. Die Stauden der üppig wuchernden Hagebutte hängen mit ihren glanzrothen Früchten von den steinigen Wänden herab und werden nur überboten von der hellen, schreienden Scharlachfarbe der Berberitzenbeere, deren federbuschartige Trauben das Auge blenden im hellen Sonnenschein. Dahinter der grünblaue Dufthauch der aufsteigenden Berggipfel und tief unterhalb der Straße das bald klare, stillfließende, bald über Steine dahintosende grünweiße Wasser der Salzach! Immer enger wird die eigentliche Paßclause, bis die Felsen, die den Fluß einschließen, sich endlich nur noch in einer Entfernung von fünfundzwanzig Schritten gegenüberstehen. Bald am Eingang und so ziemlich am höchsten Punkt der Straße hat man die alten Befestigungsbauten in etwas verbesserter Art wieder eingerichtet, so daß bei guter Vertheidigung nicht leicht ein feindlicher Durchgang möglich ist. Hier befindet sich auch eine Höhle, das Kroatenloch genannt, weil sie 1742 diesen Kriegerschaaren zur Befestigung diente. Der eigentliche Paß zieht sich in ungleicher Enge zwei Stunden lang dahin und bietet oben bei der einsamen Capelle Brunegg die dankbarste Uebersicht dar, besonders auf die altersgrauen Steinwände des Hagengebirges.

Mein hochwürdiger Begleiter, dessen nicht unbekannte Person von Manchem errathen werden mag, schritt schweigend neben mir her; aber was ihn in sich gekehrt machte, konnte nicht die drückende Gluth der Sonne sein, denn diese war lange schon gebrochen, indem sie weiße Wolkennebel aus den feuchten Bergen hatte hervordampfen lassen, mit ihnen den Himmel mehr und mehr umschleiernd. Es war die Erinnerung, die den alten Mann mit ihrem ebenso schmerzlichen, wie erhebenden Gefühl an das Innenleben fesselte und ihn abzog von den sonst so mächtigen Eindrücken der Außenwelt. Als wir oben auf der Paßhöhe ausruhten, brach er das lange Schweigen.

„Nicht gar weit von hier,“ sagte er, „liegen im tiefen Flußbette der Salzach merkwürdige, vom Gebirge herabgestoßene Felsblöcke, auf welchen man vermöge künstlich angebrachter Wege und Stege umherklettern und bewundern kann, wie sie umbraust und umzischt werden von der wilden Wasserfluth. Diese von Baum und Moos bewachsenen Trümmer tragen den unerklärbaren Namen ,die Oefen’ und locken wohl manchen Reisenden an. Ich habe mich nicht entschließen können, Sie dorthin zu führen, denn diese Schlucht im Paß Lueg ist in gewissem Sinne mein Kirchhof. Nur einmal saß ich auf jenen Felsblöcken in der Abendstunde, umbraust von den wilden Fluthen. Ein tiefes Grauen erfaßte mich, denn ich hatte ein Recht, mir einzubilden, an diesen Felsen seien dereinst die Gebeine meines unglücklichen Vaters zerschmettert, der im Paß Lueg mit manchem Biedermann den Heldentod für das Vaterland fand.“

„Es geschah das an einem für mich unglücklichen, für Tirol glücklichen Kriegstage, am 25. September,“ fuhr der alte Herr mit erhobener Stimme, mit lebendig aufleuchtenden Augen fort. „Solcher Aufschwung, solche höchste Anspannung von Kraft kann in jedem Jahrhundert nur Einmal über einen Volksstamm kommen, um dann von einer längeren Ruhe abgelöst zu werden. Es ist eine maßlose psychische und physische Reibung der Kräfte, wobei sich aller vorhandene Lebensmuth wie ein elektrischer Strahl entladet. Mein Vater war ein Freund des Rothbartes, des merkwürdigen Krieger-Mönches Haspinger, der schon in seinen dreißiger Jahren auf seine Umgebung eine solche Macht der Beredsamkeit ausübte, daß nur Wenige seinem Aufruf zum Kriegszug widerstanden. Und doch war dieser Mann keineswegs ein phrasenhafter, salbungsvoller, bilderreicher Sprecher, wie so viele seines Standes, die Alles durch das Wort hartnäckig durchzusetzen wissen. Nicht wie ich ihn später oft und viel gesehen, als er Pfarrer zu Traunfeld war, als er zu Hietzing oder zu Salzburg in seinem späten Alter lebte, steht er vor mir, diese nachfolgenden Eindrücke gehen alle in dem ersten auf: ich sehe ihn im Geiste immer und immer vor mir, wie er 1809 als Feldprediger in unsere friedliche Behausung trat, meinen Vater begrüßte und, dessen Hand mit der Rechten festhaltend, mit der Linken das Crucifix emporhob und ihn mit dem ernsten, aber ebenso verzückten wie feierlichen Blick in die Augen sah. ,Wenn Dir Das heilig ist, Toni, und der Herr ruft Dich, so mußt Du kommen und wirst leben, ob Du auch stirbst. Denn die da bleiben, werden sterben und verloren sein, ob sie auch leben in Ruhe und Ueberfluß.’[2] Jenen Blick vergesse ich nie! Es lag in diesen Augen so viel unumstößliche Ueberzeugung für das, was der Mund sprach, daß diese Ueberzeugung, vom Ton der Rede gehoben, auch auf die Massen berückend und ansteckend wirkte, obschon die Worte vielen verständigen Widerlegungen Raum boten. Das Volk wurde somit durch das überzeugt, wodurch es sich am leichtesten und liebsten überzeugen läßt: durch die sympathische und doch zugleich tyrannische Wirkung der Persönlichkeit.

Auf einen Wink meines Vaters verließen wir Andern, meine Mutter, ich und meine Geschwister, das Zimmer. Haspinger folgte uns bald, und darauf nahm mein Vater seinen Stutzen von der Wand, und nachdem er mit meiner Mutter gesprochen, die viel weinte, und uns Allen ,Behüt’ Euch Gott!’ gesagt, verließ er schon gegen Abend unsern Hof. Nur wenige Tage konnte ich es daheim aushalten, denn alles junge, kräftige Volk zog den Compagnien zu. Ich war schon zwanzig Jahre alt und da mich meine Mutter nicht fortgelassen haben würde, so schlich ich heimlich fort und ein älterer Camerad, der bei dem Meraner Hauptmann Peter Thalguter stand und mit diesem nach St. Johann ging, nahm mich dieses Weges mit. Dort versammelten sich damals viel Schützenmannschaften um ihren Oberanführer Joseph Speckbacher.

Der galt mir, da ich ein Jüngling war, als Ideal, und jetzt, da ich ein Greis bin, muß ich mit kalter Ueberlegung, mit

[812]

Die hohe Tänne.
Nach der Natur aufgenommen von Blumauer.

[813]

Der Paß Lueg.
Nach der Natur aufgenommen von Blumauer.

[814] ruhiger Bewunderung sagen: er ist ein Mann, er ist ein Heros gewesen, unvergleichlich in seiner Mannestugend für alle Zeiten. Die Griechen, die Römer, die alten Germanen, die Eidgenossen der Schweiz, alle tapferen Kriegsvölker der Geschichte würden seinem Heldenmuth den Lorbeer der Verehrung gereicht und ihm ein Monument der Poesie gesetzt haben. Er ist aber nur ein Tiroler Bauernanführer gewesen, und wenn man auch seine merkwürdigen Thaten nicht geringschätzig übersehen hat, was nur von Wien aus geschah, so begnügte man sich doch am meisten damit, als ein wunderbares Exempel anzustaunen, wieviel riesenmäßige Strapazen sowohl sein Körper wie sein Geist vertrug, ehe er allmählich zusammenbrach. Diesem großen, starren, spröden, aber durch und durch edelmüthigen Charakter war es wie so vielen andern Tirolerhelden heiliger Ernst, die Unantastbarkeit des Vaterlandes zu retten, und wenn sie dabei zugleich für das Haus Oesterreich mit einer unterwürfigen Anhänglichkeit in’s Feuer gingen, die weder durch die Geschichte gerechtfertigt, noch mit den Begriffen echter staatlicher Freiheit zu vereinen war, so verkleinert doch dies die Größe ihrer Thatkraft und die Reinheit ihres Strebens nicht.

Damals war nun hier die Salzburger Alpengegend das Hauptkampfterrain. Der französische Marschall Lefebvre führte das Obercommando über unsere Feinde, und trotzdem der Kronprinz Ludwig von Baiern manchen verständigen Gegenrathschlag geltend zu machen suchte, wurde durch den französischen General, der sein bequemes Hauptquartier in Salzburg hielt, den tapfern baierischen Truppen eine sehr unvortheilhafte Stellung in den Bergen angewiesen. Sie lagen besonders vertheilt und eingezwängt in dem Theile, in dem wir uns befinden, in dem der Salzach, und drüben in jenem der Salach, welches von Reichenhall nach Lofer hinführt. Sie konnten umgangen oder durch Paß-Ueberrumpelungen auseinander gesprengt werden.

Hierauf gründete das Talent Speckbacher’s, durch die höchste Terrainkenntniß unterstützt, einen ausgedehnten strategischen Kriegsplan. Es sollte auf vier Punkten zu gleicher Zeit operirt werden; sieben Compagnien Tiroler wurden über die Moosalpen in’s Unkener Seitenthal geschickt, damit sie bei Unken in’s Salachthal einbrechen konnten. Eine andere Abtheilung ward gegen den Steinpaß bei Unken dirigirt, um den Feind in die Seite zu fassen. Den offenen Beginn des Kampfes über den Strub- oder Loferer Hauptpaß wollten Speckbacher und Thalguter mit den Unterinnthaler und Meraner Mannschaften selbst übernehmen. Das Pinzgau’sche Tauernvolk hatte Wallner zur Erstürmung des Passes Laftenstein zu commandiren, und der Capuzinermönch Haspinger sollte mit seinen Innsbruckern den Paß Lueg zu erobern suchen.

Es war in der Nacht zum 25. September, als auf den Bergspitzen Feuerzeichen loderten, ein Signal für die losbrechenden Tiroler. Ich stand unter Speckbacher am Strub-Passe, und unser Hauptmann Blatzl aus Pillersee führte uns zum Angriff gegen die Truppen des Grafen Waldkirch. Das Bataillon zog sich, von mehreren Seiten bedrängt, nach Unken zurück, ein furchtbarer Retiradenkampf in einem sehr schmalen Thale mit herabhangenden Waldrändern, aus denen überall versteckte Schützen ihre Stutzen abfeuerten und andere sogar auf die Straße herabdrangen, um die Truppen in Unordnung zu bringen. Nach zwei Stunden endlich erreichte der Feind Unken, wo er noch mit wahrer Verzweiflung die halbzerstörte und von den Bauern vertheidigte Brücke nehmen mußte.

Ich will den Kampf nicht weiter erzählen; er wurde fast ganz in der Ordnung ausgeführt, wie ihn Speckbacher ersonnen hatte: Unsere Feinde, die Baiern, bewährten sich voll unverwüstlicher Tapferkeit in diesem ganzen unglücklichen Kriege, in dem, ohne jede Spur von materiellem oder idealem Gewinn, Brudervolk gegen Brudervolk sich zerfleischte. An Scenen entfesselter Leidenschaft und blinder Rachewuth fehlte es nicht, aber es zeigte sich dabei, daß die erhitzten Gemüther der Tiroler immer noch leichter zur Großmuth umzustimmen waren, als die der baierischen Soldaten, welche ihre militärische Ehre durch den Muth und das Kriegsglück der Bauern gekränkt wähnten. Auch die gemsenartige Schnelligkeit im Springen, Klettern, Verfolgen, im geschickten Rückzug, sowie die Ausdaner und gewaltige physische Körperkraft waren auf unserer Seite. Ich glaube, daß hiervon keine größeren Beispiele bei Murten und Sempach durch die alten riesigen Schweizer gegeben sind, als sie die Helden Tirols gaben. Hans Roth aus Hall hatte solche Stärke, daß er einst in einem Scharmützel zwei völlig armirte Soldaten in’s Genick packte und so stark gegeneinander stieß, daß sie todt zur Erde stürzten. Als es bei einer andern Gelegenheit galt, eine gedrängte militärische Colonne anzugreifen, packte er mit jeder Hand einen auf dem Wahlplatz liegenden todten Soldaten und stürzte sich mit der Last dieser beiden Leichen, sie wie ein Schild vorhaltend, ein zweiter Arnold von Winkelried. mit so heftigem Ansturm gegen die feindliche Linie, daß er der Freiheit eine Gasse gewann.

Aehnliche Beispiele ließen sich noch manche erzählen; Vieles habe ich selbst gesehen und mehr noch von glaubwürdigen Waffengefährten gehört, und was kommen dazu für Entbehrungen, für Züge der Ausdauer, der Enthaltsamkeit, der Langmuth, der kaltblütigen Mannheit, dem Tode mit Verachtung wochenlang auf der Flucht in Schnee und Wintersturm, in ruhelosem Verfolgtsein kaltblütig in’s Auge zu sehen!“

„Ja, ja,“ sagte der alte greise Mann und richtete sich hoch auf mit schönem, freudigem Selbstgefühl, das ihn von innen her warm verjüngte, „glaubt es nur, Ihr da draußen, die Ihr in Mitteldeutschland und fern am Ufer der See wohnt und Euch rühmen dürft, Mark und Seele in Euch zu haben: auch in den Männern Tirols steckt nach wie vordem noch Seele und Kraft und urdeutsches Gemüth! Wenn wir in unserm Lande Tirol erst haben werden, was Ihr da draußen habt, den Segen geistiger Bildung unter den Massen des Volkes, diesen Gnadenquell, der stark und reich und unabhängig macht von allem Uebermuth der List und Gewalt, wenn wir frei sind vom Zelotismus finsterer und ungebildeter Pfaffen, dann werden wir stark und fest dastehen in der selbstbewußten Lebensfreude der aufgeklärten Intelligenz, wie unsere Berge im Sonnenlicht. Bis dahin aber habt Geduld mit unsern Schwächen und ertragt uns, wie wir, ein armes Land, geduldig so viele Entbehrungen und bittere Täuschungen des Schicksals ertragen haben.“

Wir schüttelten uns die Hände, der Süden und der Norden, mit herzlichem altdeutschem Druck. Der edle Greis stand auf zum Weiterwandern; von seinen eigenen Waffenthaten hatte er kein Wort erwähnt, und ich wußte doch, wie glänzend sie von Anderen gepriesen waren – ein echter Tiroler Mann voll einfacher Bescheidenheit. Ich mochte ihn nicht daran erinnern, um sein Gefühl nicht zu kreuzen.

„Aber der Tod Ihres unglücklichen Vaters im Passe Lueg?“ fragte ich.

„Er war ein so einfaches Ereigniß,“ erwiderte er, „wie die Erstürmung des Passes selbst. Beide nur Folgen des Opfermuthes, aber mit entgegengesetztem Resultat. Haspinger hatte salzburgisches Landvolk aufgeboten, der Innsbrucker Hauptmann Harrasser mit seiner Compagnie begleitete ihn und der tapfere Wirth von Stegewalden, hier dicht in unserer Nähe, unterstützte ihn mit Heldenmuth und Verschlagenheit. Der Kriegszug ging über das Tännengebirge und über die Abtenau und gerade an demselben Tage, an dem wir unter Speckbacher das Salachthal von Feinden frei machten, gewann der feurige Rothbart nach furchtbarem Kampfe diese Paßenge. Mein Vater wagte sich zu weit in’s Vordertreffen und wurde abgeschnitten. Verwundet rang er mit drei Feinden, wobei er endlich zu Boden stürzte und seine Waffe verlor; dennoch raffte er sich wieder unter seinen Gegnern empor und da die äußere militärische Linie von den Tirolern bereits vernichtet war, suchte er zu diesen hin zu entkommen. Doch nach wenigen Sätzen holte den durch einen Stich Gelähmten der eine von seinen Gegnern ein und hing sich an seine Kleidungsstücke fest; schon kamen die Anderen mit geschwungenem Säbel: da packte der Waffenlose seinen Mann und sprang mit ihm in die Salzach hinab. Das Wasser schlug an der tiefen Stille über Beiden zusammen, und wenige Secunden darauf sahen befreundete Waffenbrüder ihn ohne seinen Gegner wieder auftauchen und dem Ufer zuschwimmen – da sank er plötzlich, von einem Schusse getroffen, unter und seinen Leichnam hat man niemals wieder gesehen. Haspinger aber verfolgte den General Stengel bis beinahe nach Salzburg und eroberte auf diesem Zuge Hallein.“

Stiller zogen wir unseres Weges weiter, der Himmel war wieder blau und frei. Es ging am Blühenbach vorüber, welcher der Salzach die Gletscherwasser der Uebergossenen Alm bringt, und weiter auf der überraschenden Straße dahin an dem stattlichen Schlößchen Hohenwerfen und endlich hinein in den Flecken Werfen selbst.

[815] Wie war der Tiroler Wein so kühlend und wie prangte drüben der Hohenwerfener Bergkegel am Tännenzug und der Stuhlwandkogel so hoch und leuchtend im Sonnengold des späten Nachmittags, von lilagrauen Schatten duftig modellirt! Harmonisch lag es da, das stolze, glanzumgossene Berggebilde, und wir priesen noch einmal das Licht, mag es ruhen auf dem schönen Antlitz der Natur oder auf dem Antlitz des Menschengeistes und der Nationen.




Blätter und Blüthen.

Aus dem Copirbuch eines Agitators. Möge man die Bedeutung und den Charakter Ferdinand Lassalle’s als öffentliche Person auffassen wie immer, jedenfalls besitzt seine letzte agitatorische Thätigkeit noch Interesse genug, um von seinem eigenen privaten Gesichtspunkte aus beleuchtet zu werden. Ein Copirbuch Lassalle’s, das ich beim Trödler kaufte, giebt uns die Mittel an die Hand, diese Beleuchtung auszuführen. Wir können ihn von Einer Seite wenigstens zeigen, wie er sich selbst gemalt. Es enthält zumeist nur eine Anzahl Briefe in seiner Eigenschaft als Präsident des Arbeitervereins; aus ihnen geht die Wahrheit über die Bedeutung dieser Stellung und einer Agitation hervor, welche zu einer historischen Thatsache geworden ist und an die man mit allen Mitteln der Kritik herantreten darf. Auch sind es keine Geheimnisse, welche wir zu enthüllen haben; das Interessante der Mittheilungen und Auszüge besteht nur darin, daß wir Lassalle selbst über sein Werk urtheilen hören, wie er sich in ungeschminkter Offenheit darüber gegen seine Vertrauten vernehmen ließ.

Zunächst ist ein Schreiben Lassalle’s in dem Copirbuch, sogar noch im Original, enthalten, mit welchem er auf den directen Wunsch einer gemeinschaftlichen Freundin, Frau Emma Herwegh, einem Theologen die vollständige Serie seiner politischen Flugschriften übersandte und bei welcher Gelegenheit er in seiner bekannten sehr selbstgefälligen Art die Bedeutung dieser Schriften skizzirt. Er schildert darin, wie er nach und nach sich von der Fortschrittspartei abwandte, und deshalb dringt er darauf, daß keine dieser Broschüren außerhalb der von ihm angegebenen Reihenfolge gelesen werde. „Schon im Voraus werden Sie, wenn Ihnen meine philosophischen Werke nicht entgangen sind, nicht zweifeln, daß meine Erhebung auf streng philosophischer Grundlage bei mir erwachsen ist. Die Fortschrittler sind politische Rationalisten der seichtesten Sorte und es ist derselbe Kampf, den Sie in theologischer und den ich jetzt in politischer und ökonomischer Richtung führe. Eben deswegen würde es mir ausnehmend leid thun, von Jemand, den ich so verehre wie Sie, diese tiefe innere Identität verkannt zu sehen, die übrigens -– verzeihen Sie mir diese Versicherung –- selbst trotz einer Verkennung eine historische und philosophische Thatsache bleiben würde. In politischen Kampfschriften kann das philosophische Element nur eben den Hintergrund bilden und darf nicht als solches hervortreten.“

Ueber die Charakterisirung seiner Schriften heißt es unter Anderm folgendermaßen:

„Herr Julian Schmidt, der Literarhistoriker etc. Scheinbar hat diese Schrift mit den folgenden noch keinen Zusammenhang. Aber eben nur scheinbar. In der That ist sie, wie Ihnen nicht entgehen wird, die ganze eine Hälfte der Bewegung. Sie ist die Erhebung gegen den literarischen Mob, auf welche mit innerer Nothwendigkeit die Erhebung gegen den politischen und ökonomischen Mob folgen mußte. Der theologische, politische, ökonomische und literarische Mob –- er ist immer ein und derselbe Mob, der seine einheitliche Natur nur nach verschiedenen Seiten hin zur Schau stellt.“

„Vortrag über Verfassungswesen: Obgleich derselbe schon durchaus auf meinem social-philosophischen Gesammtstandpunkte beruht, wurde er dennoch von der Bourgeoisie noch ausnehmend beklatscht, weil diese mit dem geistigen Scharfblick, der sie kennzeichnet, nur die darin ausgesprochenen, nicht die darin enthaltenen Consequenzen erkannte.“

„Mein ‚Was nun?‘ Immer noch die Allianz mit der Bourgeoisie festhaltend, den Fortschrittlern das Einzige angebend, was zu thun war, und sie zugleich mit dem offenen Bruch seitens aller demokratischen Elemente bedrohend, falls sie sich zu Mitschuldigen der Regierung und es dieser möglich machten, den äußerlichen Scheinconstitutionalismus aufrecht zu erhalten, statt durch ein männliches Handeln den Boden zu einer revolutionären Gährung zu legen.“

Die meisten der folgenden Briefe Lassalle’s sind aus dem Jahre 1864 und an seinen Hauptagenten für die Angelegenheiten des Arbeitervereins gerichtet. In allen klagt er über den schlechten Stand der Finanzen, über seine eigenen Geldopfer, über die Theilnahmlosigkeit der Arbeiter und die Dürftigkeit seines Vereins, ganz entgegengesetzt den hochklingenden Versicherungen, die darüber seiner Zeit veröffentlicht wurden und die, wie aus dem Copirbuch hervorgeht, Lassalle oft selbst verfaßte, ebenso den lobpreisenden Berichte über seine Reden und Aufnahme in den einzelnen Arbeitervereinen. Hören wir ihn selbst!

Unterm 15. Februar 1864 schreibt er an seinen Generalbevollmächtigten, nachdem er ihm Vorwürfe über den schlechten Stand der Vereinscasse gemacht: „Neue Gelder kann ich schlechterdings nicht mehr beschaffen und ebensowenig schon jetzt den Verein zu Grunde gehen lassen, so lange Hoffnung am politischen Himmel winkt.“

„Ich bin nicht nur bis an die Grenzen der Geldopfer, die ich bringen kann, gekommen, sondern ich habe eigentlich, was ich vernünftigerweise opfern konnte, weit überschritten. Was ich bis vorigen September für Geldopfer gebracht habe, wissen Sie! Das waren Capitalien! Seitdem hat sich die Sache noch sehr vermehrt, wovon hier einige Proben.“ Die aufgestellte Rechnung Lassalle’s erweist nun, daß er abermals fünfundsechszig Thaler Vorschüsse von der Vereinscasse zu erhalten habe, die nicht einmal das Monatsgehalt eines Beamten zahlte. Aus einer andern Briefstelle geht hervor, wieviel Lassalle an Geld für den Arbeiterverein bis dahin geopfert hatte. „Daß ich von den tausend Thalern, die ich ja ganz kündigen könnte, nicht einmal zweihundert Thaler und für die Arbeitercasse und in bedürfsweisen Raten kündigen können soll, ja daß Sie nicht einmal das Gehalt für W… daraus flott machen wollen, das trifft mich zu hart!“ Aber er erklärt, daß er nächstens „ein fulminantes Circular“ an die Bevollmächtigten erlassen werde „und sie zwingen, Geld zu schicken.“ „Ich bin todtmüde,“ heißt es dann weiter, „und so stark meine Organisation ist, so wankt sie bis in ihr Mark hinein. Meine Aufregung ist so groß, daß ich keine Nacht mehr schlafen kann! Ich wälze mich bis fünf Uhr auf dem Lager und stehe mit Kopfschmerz und tief erschöpft auf! Ich bin überarbeitet, überangestrengt, übermüdet im furchtbarsten Grade. Die wahnsinnige Anstrengung, den Julian (seine Schrift gegen Julian Schmidt, den Literarhistoriker, „den literarischen Mob“, wie er sich ausdrückt), außer und neben allem Anderen, in vier Monaten auszuarbeiten, die tiefe und schmerzliche Enttäuschung, der fressende, innere Aerger (ebenfalls unterstrichen), den mir die Gleichgültigkeit und Apathie des Arbeiterstandes in seiner Masse genommen einflößt – Beides zusammen war selbst für mich zuviel! Ich treibe ein métier de dupe und ärgere mich innerlich zu Tode, um so mehr, als ich diesem Aerger nicht Luft machen kann und ihn noch immer würgen, oft noch das Gegentheil behaupten muß! Und gleichwohl werde ich die Fahne nicht fallen lassen, so lange noch irgend ein Hoffnungsflämmchen an dem politischen Horizonte blinkt. Dazu der noch viel größere Aerger, zu wissen, wie glänzend die Dinge stehen würden, wenn der Arbeiterstand seine Pflicht gethan hätte: Er hätte heute das allgemeine und directe Wahlrecht schon!“

Als ihm der Vorschlag gemacht worden war, eine Zeitung zu begründen, welche das Organ des Arbeitervereins sein solle, rechnete er vor, daß an ein Bestehen eines solchen Blattes bei den elenden financiellen Zuständen des Vereins nicht zu denken sei. „Wir können uns nicht verhehlen, daß wir uns Alle mitsammen über das geistige Leben im Arbeiterstande sehr getäuscht haben: der allgemeine deutsche Arbeiterverein zählt erst circa dreitausend Mitglieder – und vielleicht fehlen noch mehrere Hundert zu dieser Zahl – das sagt Alles. Wer hätte diese Mattheit und Teilnahmlosigkeit für möglich halten sollen! Das wird sich erst wirklich ändern, wenn große politische Ereignisse eintreten und die Massen in Bewegung bringen. Und solche Ereignisse können allerdings in einiger Zeit kommen. Es handelt sich darum, sich bis dahin zu halten. Aber selbst das wird nicht möglich sein, wenn die Bevollmächtigten die Beiträge nicht ganz anders pünktlich einsenden, als bisher. In der Zwischenzeit hat sich der Arbeiterstand durch ein eindringendes Studium meines Julian und Schulze das theoretische Verständniß seiner Lage zu erwerben (?), damit hat er viele Monate vollauf zu thun.“

Das dickleibige Copirbuch mit sehr vielen noch leeren Seiten, dem wir obige Citate entnommen, muß übrigens, ehe es auf den Trödel kam, schon in verschiedenen Händen gewesen sein. Auf mehreren Seiten befindet sich darin mit Bleistift geschrieben eine Abhandlung über die beste Art, Pferdeställe zu bauen. Verschiedene Handschriften, die nur Unzusammenhängendes enthalten, stoßen Einem hier und da auf. Die eine davon enthält folgenden wunderlichen Satz: „Ferdinand Lassalle soll nicht denken, daß alle seine Gedanken verrathen sind.“

Schmidt-Weißenfels.




Wie sich französische Schriftsteller bezahlen lassen. Das Neueste in der französischen Literatur sind gegenwärtig Victor Hugo’s „Chansons des rues et des bois“, und man erzählt, daß Victor Hugo für den Band dieser Gedichte von seinem Verleger 40,000 Francs oder etwa 10,667 Thaler verlangt und erhalten habe. Viele finden diesen Preis übertrieben, Andere jedoch meinen, daß er nur gerecht sei – lebt doch auch der Priester vom Altare, der General von seinem Degen, es brauche ja nicht jeder Dichter in Hunger und Elend zu sterben. Lord Byron verkaufte dem Buchhändler Murray in London jeden Vers seiner Gedichte zu einer Guinee, und der jetzt aus der Mode gekommene Jacques Delille verlangte gleichfalls einen Louisd’or für jeden seiner Alexandriner.

Victor Hugo ist also immer noch billiger in seinen Ansprüchen, indessen ist er nach unsern deutschen Begriffen schon von jeher etwas weniger bescheiden, als unsere Landsleute gewesen. Zur Zeit seines ersten Auftretens in der Literatur, von 1820 bis 1822, war sein Weg freilich spärlicher mit Gold und Bankbillets besäet. Damals ging der hochaufgeschossene, bleiche Jüngling von einem Buchhändler zum andern, schüchtern seine Werke anbietend, aber keiner wollte Etwas von seinen Romanen und Gedichten wissen, bis ihm doch noch endlich einer den Roman „Han, der Isländer“, um dreihundert Francs – achtzig Thaler – abkaufte. Der junge Mann rieb sich triumphirend die Hände. „Bug Jargal“ brachte ihm dann schon viermal soviel, 1200 Francs; seine Erfolge begannen. Sechs Jahre später bezahlte ihm der Buchhändler Eugen Ronduel für „Notre Dame von Paris“ die enorme Summe von 200,000 Francs – über 53,333 Thaler. Von 1830 an war Victor Hugo nach Chateaubriand der bestbezahlte französische Schriftsteller, er stellte seine Preise aber auch stets gehörig hoch, da er eine zahlreiche Familie zu versorgen hatte.

[816] Zu Anfang des Jahres 1833 wurde sein Drama „Lucrezia Borgia“ mit außerordentlichem Erfolge zum ersten Male aufgeführt. Bei dieser Gelegenheit berichtete man eine höchst eigenthümliche Scene, die zwischen dem Dichter und Herrn Harel, damaligem Director des Theaters de la Porte-Saint-Martin, stattfand. Als derselbe Victor Hugo aufforderte, seine Bedingungen zu stellen, verlangte dieser zuerst, daß er ebenso bezahlt werde, als ob das Stück im Théâtre français gegeben würde.

„Zugestanden,“ erwiderte Harel.

„Dann wünschte ich, daß das dreiactige Drama mir wie ein Stück von fünf Acten berechnet werde.“

„Auch zugestanden.“

„Dann möchte ich das Parterre für die drei ersten Vorstellungen zu meiner Verfügung haben.“

„Auch darauf will ich eingehen.“

„Ich verlange eine Prämie von eintausend Francs für die erste Vorstellung.“

Da Harel eben nicht bei Casse war, machte er bei diesem Artikel einige Schwierigkeiten, indessen gab er doch schließlich nach.

„Außerdem möchte ich …“

„Was, immer noch mehr?“

„Ja, ich wünschte noch, daß Sie mir fünfzig Vorstellungen mit jedesmal tausend Francs Tantième garantirten.“

„Mein lieber Herr Hugo, das ist nicht möglich. Sie haben meinen Rock verlangt und ich habe Ihnen denselben gegeben. Jetzt verlangen Sie aber auch noch mein Hemd und das geht nicht an – der Herr Polizeipräfect würde mir nicht erlauben, daß ich es ausziehe.“ –

Auch Balzac wollte sich gar nichts von seinen Schriftstellerrechten vergeben; bei der ersten Aufführung der „Ressources de Quinola“ im Odeontheater saß er selbst an der Casse und nahm das Geld ein.

Alfred de Vigny war streng uneigennützig, er setzte den Ruhm weit über das Geld und verlangte von seinen Verlegern nur, daß sie bedeutende Ausgaben für Anzeigen und dergleichen machten.

Jules Janin hat bedeutende Erfolge, aber wenig Geld für seine Werke geerntet. Noch kürzlich sagte er lachend zu einem Freunde: „Der ‚todte Esel‘ hat zwölf Auflagen erlebt und mir kaum 1200 Francs eingebracht, und doch ist es mein Lieblingswerk.“

Béranger, dessen Werke dem Verleger Perrotin 25,000 Francs jährliche Renten bringen, hatte sich ursprünglich contractlich nur eine Leibrente von 800 Francs jährlich ausbedungen, die sein Verleger nach und nach auf 3000 Francs erhöhte, was Béranger nur ungern annahm.

George Sand sagt selbst, daß ihr ihre siebenundfünfzig Bände jeder im Durchschnitt 50,000 Francs eingebracht haben; außerdem hat sie für ihre dramatischen Werke über 400,000 Francs erhalten.

Alphonse Karr machte mit seinem ersten Roman „Sous les tilleuls“ (Unter den Linden) ein merkwürdiges Geschäft; das Manuscript desselben wurde ihm in Wechseln mit 1200 Francs bezahlt. Welcher Triumph! Aber leider wurden diese Wechsel nicht blos nicht eingelöst, sondern er mußte auch noch die damit verbundenen Unkosten tragen, die sich wiederum gerade auf 1200 Francs beliefen.

Jules Sandeau erzählt, daß er eines Tages für einen seiner Romane dreihundert Francs in silbernen Fünffrankenstücken, eine Wanduhr und für hundert Francs Oblaten zum Siegeln bekam und doch noch ganz glücklich war, so gut bezahlt worden zu sein.

Der ältere Alexander Dumas gehört jedenfalls zu denen, die das Geld zu gleicher Zeit am meisten lieben und mißachten. Vor zehn Jahren sagte er, er habe schon drei und eine halbe Million verdient und besäße doch keine drei Louisd’or. Seitdem hat er vielleicht wieder eine Million eingenommen, und doch hat sich seine Casse schwerlich zu ihrem Vortheil verändert.

In Frankreich existirt ein eigenthümliches Buch, dessen Verfasser nicht genannt ist. Es heißt „die bürgerliche Köchin“, ist ein ganz einfaches Kochbuch und wurde zum ersten Male im Jahre 1800 gedruckt. Seit dieser Zeit bringt es regelmäßig jedes Jahr 30,000 Francs ein, was jetzt bereits 1,050,000 Francs oder nach unserer Münze 280,000 Thaler beträgt. –

In Deutschland werden indeß jetzt auch hier und da Honorare gezahlt, die sich sehen lassen können. Wahrscheinlich ist es selbst in Frankreich noch nicht vorgekommen, daß ein Autor für einen einzigen Octavband in kurzer Zeit ein Honorar von nahe an 100,000 Francs erhalten hat, wie dies dem Verfasser eines bekannten populären Werkes zu Theil geworden ist.




Mutterliebe. Im Juni dieses Jahres begab sich von dem Städtchen K. eine Deputation des dasigen Gerichtsamtes mit den Gerichtsärzten nach dem nahen Dorfe H., um den Thatbestand eines Selbstmordes zu untersuchen. Es hatte nämlich dort die sechszigjährige Frau S. durch Erhängen den Tod gefunden. Die Frau S. lebte auf dem Gute ihres Stiefsohnes mit diesem und seiner Familie im besten Einvernehmen, sie war im Dorfe allgemein geachtet und hatte sich anscheinend wohlbefunden. Einige Tage vorher war sie erst noch durch einen Brief ihres einzigen leiblichen Sohnes erfreut worden, der in Frankfurt als Gärtner lebte. Er hatte ihr geschrieben, daß er Gelegenheit habe, sich gut zu verheirathen und sich als Gärtner zu etabliren. Und doch hatte die Frau S., ohne jemals über Lebensüberdruß geklagt zu haben, ohne sich mit ihrem Stiefsohne und dessen Familie vorher entzweit zu haben, in deren Abwesenheit sich das Leben genommen. Es war kein Motiv dieser That zu finden, man mußte eine plötzlich eingetretene Geistesstörung annehmen.

Bei sehr vielen Selbstmordfällen ist man eben genöthigt, an eine Geistesstörung zu denken, wenn der Tod unter günstigen Verhältnissen gesucht wird, wenn der Vater aus dem Kreise einer geliebten Familie auf diese Weise scheidet; oft mögen aber hier doch andere Ursachen vorhanden sein, die den Mitmenschen für immer verborgen bleiben. In dem erzählten Falle sollte sich bald ein anderer Grund finden. Zufällig bekam man bald darauf im Wirthshaus näheren Aufschluß über den Inhalt des Briefes aus Frankfurt, welchen die Verstorbene von ihrem Sohne einige Tage vorher erhalten hatte. Es bestätigte sich, daß ihr Sohn jetzt eine sehr gute Gelegenheit habe, sich zu verheirathen und eine eigene Gärtnerei zu gründen, daß er aber hierzu sein Vermögen von fünfhundert Thalern sogleich haben müsse, wolle er diese günstige Gelegenheit nicht versäumen. Weiter erfuhr man, daß jene fünfhundert Thaler auf dem Gute seines Stiefbruders in H., wo seine Mutter lebte, ständen und daß sich der Stiefbruder geweigert, das Geld jetzt auszuzahlen, da er dies nach dem Testamente seines Vaters erst nach dem Tode der Mutter zu thun brauche.

Muß man nun nicht statt eines Verbrechens Großmuth in diesem Selbstmord finden, wodurch die Mutter vielleicht eine Anzahl Jahre opfert, um ihrem Sohne nicht die günstige Gelegenheit zu seinem Unterkommen entgehen zu lassen? B. H.     


Theecultur in den Vereinigten Staaten. Ein sehr strebsamer Pflanzer in Georgia Namens Beecher hat seit dem Jahre 1860 versuchsweise Thee angepflanzt und hat die Genugthuung zu bemerken, daß seine Mühe mit Erfolg gekrönt wird. Seine Pflanzen gedeihen vortrefflich, die Qualität des Ertrags ist eine sehr gute und steht in Nichts der des chinesischen Thees nach. Wie in ihrer Heimath verlangen die Pflanzen nach dem dritten Jahre, wenn sie bis dahin mit der nöthigen Sorgfalt behandelt worden sind, keine weitere Pflege mehr und beginnen einen Ertrag von drei- bis vierhundert Pfund pro Acker (160 Quadrat-Ruthen) zu geben. Zwanzig Jahre lang dauert die Ertragsfähigkeit der Theepflanze aus und weder nasses noch trocknes Wetter, weder Stürme noch Insecten afficiren sie im Mindesten. Beecher hat bereits mehrere seiner Nachbarn zu gleichem Streben veranlaßt, und es wäre leicht möglich, daß wir in nicht ferner Zeit amerikanischen Thee auf unserm Markte sehen. W.     


In der freien Natur. „Wer von den Anstrengungen und Mühsalen seiner Geschäfte sich erholen, wer von dem Lärm und Streit der Parteien sein Herz erleichtern, wer überhaupt einmal frei und leicht aufathmen, sich idyllisch wohl und glücklich fühlen will, der lese und versenke sich in die Naturschilderungen von Carl Ruß.“ Mit diesen Worten des alten, als eisenfester Kämpfer für deutsche Interessen, für Wahrheit und Recht bekannten Generalconsuls Sturz empfehlen auch wir das neueste Werk unseres Mitarbeiters: „In der freien Natur“ (Berlin bei Max Böttcher) mit seinen lebenswahren und poetischen Schilderungen aus der Thier- und Pflanzenwelt, unsern Lesern auf das Wärmste.


Deutsche Nordfahrt. Nachträglich erfahren wir durch eine Mittheilung aus der Geographischen Gesellschaft zu Berlin, daß Preußen vielleicht eines seiner Kriegsschiffe zu der beabsichtigten deutschen Nordfahrt leihen wird, dagegen für die Kosten der Bemannung und der auf eine Dauer von acht Monaten berechneten Expedition selbst, die auf etwa 220,000 Thaler veranschlagt werden, nicht aufzukommen gesonnen ist. Es würde also diese Summe immerhin vom deutschen Volke aufzubringen sein.



Nicht zu übersehen!
Für diejenigen Abonnenten, welche sich die Gartenlaube einbinden lassen, sind durch uns auch zum Jahrgang 1865 höchst
geschmackvolle Decken
nach eigens dazu angefertigter Zeichnung zu beziehen. Alle Buchhandlungen sind in den Stand gesetzt, dieselben zu dem billigen Preise von 13 Ngr. zu liefern. – Zu den Jahrgängen 1854 bis 1864 stehen ebenfalls Decken zu dem gleichen Preise zur Verfügung.
Die Verlagshandlung. 




Zur Nachricht!

Mit Nummer 52 schließt das vierte Quartal unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.

Leipzig, im December 1865. Die Verlagshandlung. 



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wie unsere Leser wissen, war der Marschall Bernadotte, einer der Heerführer unter Napoleon, 1810 von dem König Carl dem Dreizehnten zu dessen Thronfolger und zum Kronprinzen von Schweden vorgeschlagen und von den Ständen des Reichs einstimmig als solcher angenommen worden. Infolge dessen bestieg er 1818 als Carl der Vierzehnte Johann den schwedischen Thron. Sein einziger Sohn Oskar folgte ihm im Jahre 1844. Oskar war ein geistreicher und wissenschaftlich hochgebildeter Mann, der sich auch als Schriftsteller, namentlich durch sein in mehrere Sprachen übersetztes Werk „über Strafe und Strafanstalten“ ausgezeichnet hat, wie er sich ebenso und nicht ohne Glück in der musikalischen Composition versuchte. Diese Schriftstellerader scheint sich auf seine beiden Söhne, den jetzigen König von Schweden, Carl den Fünfzehnten Johann, und dessen Bruder Oskar, Herzog von Ostgothland, vererbt zu haben. Der Erstere machte sich besonders durch eine Reihe lyrischer Dichtungen bekannt, die von einer wahren poetischen Begabung zeugen, und auch der letztere, Prinz Oskar, ist ein Dichter von Gottes Gnaden, für uns Deutsche aber noch dadurch besonders beachtenswerth, daß er den Schweden mehrere unserer größten deutschen Meisterwerke durch vorzügliche Uebertragungen erschlossen hat.
    D. Red.
  2. Im Pusterthaler Dialekt gesprochen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Berhardine