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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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No. 5.   1865.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Ein Lied vom Salz.
Aus Preußen.

Noch immer starben die Luculle nicht,
Noch immer wiegt auf Rosen sich der Prasser,
Das Brod heißt „Auster“, das der Reiche bricht,
Im Blut der Rebe perlt für ihn das Wasser;

5
Ihm dient das Roß, ihm fliegen die Carrossen,

Und sein Daheim durchglüht des Goldes Licht
Und hat ihm Wonnen sonder Ziel erschlossen –
Noch immer starben die Luculle nicht!

Vom Berg zum Thale führt ein steiler Pfad,

10
Doch steiler nicht wie vom Palast zur Hütte,

Wo Elend schuf das Proletariat,
Wo Krankheit haust, wo Freude hemmt die Schritte.
Dich schrecken die Gestalten bleich und hager –
Nach Arbeit schreit der Mann, das Kind nach Brod;

15
Zum Heiland schreit das Weib vom Krankenlager –

Der Heiland in den Hütten ist der Tod!

Der Reiser Gluth verräth die Mittagsstund’,
Es brodelt matt die karge Gottesgabe;
Fürwahr, zu wenig für des Reichen Hund

20
Und doch so vieler Lippen milde Labe!

Die Lust der Sinne läßt die Noth zerstieben,
Dem Armen ist der Hunger Fleisch und Wein;
Und von des Reichen Mahl ist ihm geblieben
Der Erde Thräne nur, das Salz allein!

25
Wie tief das Elend auch den Menschen stürzt,

Er athmet auf bei seinem trocknen Bissen,
So lang’ noch Salz das Brod der Armuth würzt, –
Erbarm’ es Gott, auch Das wird ihm entrissen!
Der Staat – des Salzes Hüter und Gebieter –

30
Wirft auf das Salz der Steuer Doppellast!

Des Reichen Scheffel wohl drückt sie nicht nieder –
Des Armen Körnlein – ach, erdrückt sie fast!

O, wollt ihr Blüthen, wollt ihr Früchte schau’n,
So geht zum Weinstock, beugt die stolze Palme

35
Und fangt den Duft der Blume auf den Au’n –

Verlangt nicht Früchte vom verdorrten Halme!
Mit Steuern trefft des Luxus eitle Gabe:
Livree, Carrosse, Gold und Edelstein;
Belastet nicht des Elends letzte Habe:

40
Das Salz des Armen muß euch heilig sein!


Was segnend quillt aus uns’rer Heimath Born,
Das will uns Gott als unser Erbe zeigen!
Des Landes Most, des Landes Salz und Korn,
O, gebt’s dem Volke unverkürzt zu eigen!

45
Zu lange währt des Elends dumpfes Schweigen,

So tön’ ein Schrei empor zum Haupt des Staats;
O, mög’ es donnernd bis zum Throne steigen,
Das Lied vom Salz des Proletariats!
So tön’ ein Schrei empor zum Haupt des Staats: M. K.




Erkauft und Erkämpft.
Von Johannes Scherr.
Sie konnten zusammen nicht kommen,
Das Wasser war viel zu tief. 
Alter Singsang.


1.0 Brunhild.

Die Ränder des kleinen See’s liegen im Schattendüster ihrer Weidenumbüschung, aber gegen die Mitte des kaum merkbar gekräuselten Wasserspiegels zu glüht eine rothgoldene Lichtmasse, von der höher und höher über die östlichen Berge emporsteigenden Morgensonne dorthin geworfen. Auf dieser lichten Stelle haftet, kaum weniger strahlend, ein großes, dunkles Mädchenaugenpaar, welches unter einer prachtvoll gebauten Stirn träumerisch hervor- und auf auf den See niederblickt.

Sie ist fast zu bedeutend, zu gedankenmächtig modellirt, diese Stirn. Sie würde das Haupt eines Mannes zieren, während sie die Harmonie der Schönheit ihrer Besitzerin mehr stört als erhöht. Ueberhaupt ist diese Schönheit eine durch Contraste wirkende. Das germanische Haar mit seinem Goldschimmer stimmt nicht zu den dunkeln Brauen von orientalisch kühner Schweifung, welche sich mitunter an der Nasenwurzel zu einem Ausdruck des Stolzes und Trotzes zusammenziehen, der mit dem anmuthigen Lächeln des reizend geschnittenen Mundes gar nicht zu reimen ist. Auch die schwarzen Augen mit ihrem intensiven Sammetglanz müssen fast wie Fremdlinge erscheinen in einem Antlitz, auf dessen durchsichtiger Weiße das Incarnat frischester Jugendblüthe liegt wie das Morgenroth auf Firnschnee. Und doch, trotz alledem, muß die Erscheinung der jungen Schönen, wie sie so dasitzt auf der Bank am Fuße des halbzerfallenen Wartthurms der Burgruine, mit von den Schultern geglittener Mantille, die Hände über dem auf ihren [66] Knieen ruhenden Strohhut leicht gefaltet, ja, sie muß auf den Betrachter einen fast unwiderstehlichen Zauber üben.

Man merkt, es ist da ein Eigenartiges, eine auf sich gestellte Natur. Es geht von dieser vornehm eleganten, nicht allein in Betreff der Toilette vornehm eleganten, Mädchengestalt ein Ton und Duft stolzer und herber Jungfräulichkeit aus, etwas Abweisendes, um nicht zu sagen Abstoßendes, das aber auf wahlverwandte Seelen nur um so anhebender wirken wird. Ein über die Jahre der Empfänglichkeit oder wenigstens der Entzündbarkeit hinausgekommener Beobachter dürfte sagen: Eine ungewöhnliche, eine merkwürdige Erscheinung! Vielleicht eine Schönheit ersten Ranges, vielleicht einer jener weiblichen Dämonen, welche geschaffen sind, die Männer rasend zu machen; jedenfalls aber ein verzogenes Glückskind, welches „nie sein Brod mit Thränen aß“ und demnach „die himmlischen Mächte nicht kennt.“

Daran mag Etwas sein. Nicht allein insofern, als das Freifräulein Brunhild von Hohenauf wirklich ein verzogenes Glückskind ist, sondern auch in dem Betracht, daß, wenn sie im Triumphalpomp ihrer Schönheit durch die Gesellschaftssäle der Residenz schreitet, auf ihrer stolz erhobenen Stirne für sehende Augen in Fracturschrift das Credo hoch- und übermüthigen Selbstbewußtseins zu lesen ist: „Ich glaube an mich!“

In Wahrheit, sie glaubte an sich und nur an sich. Ihr Vater, ein Geburtsbaron und zugleich – rara avis! – ein Geldbaron, hatte es durch äffische Zärtlichkeit einerseits und durch Lässigkeit andererseits glücklich dahin gebracht, daß in der schönen Person seiner Tochter, die sein einziges Kind, der Hochmuth des Feudalismus mit dem des Brozenthums vollständig sich verschmolz. So war aus Brunhild beim Mangel mütterlicher Erziehung – denn sie hatte ihre Mutter frühzeitig durch den Tod verloren – eine vollkommene Dame der großen Welt geworden, ein Stück von einer Künstlerin, ein Stück von einer „Emancipirten“, ein Stück auch – behaupteten wenigstens häßliche alte Jungfern – von einer Kokette, ein Wesen, welches, hoch dahinschwebend über der „gemeinen Wirklichkeit“ der Dinge, über des Lebens Arbeit, Noth und Sorge, sich einbildete, das Dasein wie einen genialen Scherz nehmen und mit so souveräner Virtuosität durchspielen zu können, wie irgend ein modisches Brillantbravourclavierstück.

Und doch hatte dieses Mädchen ursprünglich eine Seele voll Zartheit, Keuschheit und Hoheit besessen, ein Herz voll tiefen Gefühls und inniger Gluth. Es lag in ihr, auch jetzt noch, ein Keim der edelsten Weiblichkeit, ein Etwas, das sie gleichsehr befähigte, unter Umständen erhaben-heldisch in die Geschichte hinein zuschreiten wie Jeanne d’Arc, oder aber einem geliebten Manne sein Haus zum Himmel zu machen. Sie hatte Stunden, oder wenigstens Augenblicke enthusiastischer Träumerei, wie nicht minder einer schwermüthigen Nachdenklichkeit, wo die primitive Innigkeit, frische und Kraft ihrer Empfindung sich Bahn brachen durch alle die an- und eingebildeten Schranken einer grenzenlosen Ueberhebung und alle die gleißenden Phantasmen eines maßlosen Stolzes. In solchen Momenten empfand Brunhild eine Herzensöde, welche ihr das Gefühl aufzwang, als müßte sie sehnsuchtsvoll die Arme ausstrecken nach der Welt und nach den Menschen, welche sie verachten zu dürfen, verachten zu müssen glaubte. Es war ihr unselig Geschick, daß diese Stimmung immer wieder zurücktreten mußte vor den Eingebungen eines Hochmuths, welchen die Schmeichler Brunhild’s den Stolz einer Amazone, einer Heroine nannten, der aber im Grunde doch eben nur die Ueberhebung verwöhnter Glückspilzigkeit war.

Derartige verschrobene Wesen kommen in unseren Tagen keineswegs so selten vor, wie man sich etwa einbilden möchte. Sie sind naturgemäße Producte einer Zeit, welche durchweg den Schein dem Sein vorzieht, vergoldeten Schmutz höher schätzt als unpolirtes Erz und ihre Gedanken- und Grundsatzlosigkeit hinter einer weitbauschigen Phrasendraperie verbirgt. Wenn die Yankees vom „allmächtigen Dollar“ reden, so könnten wir mit noch mehr Berechtigung von der „allmächtigen Phrase“ sprechen. Sie beherrscht, wie alles Uebrige, auch die weibliche Erziehung, und wenn man die Resultate derselben in’s Auge faßt, muß es sehr begreiflich und verzeihlich erscheinen, daß die jungen Männer mehr und mehr schaarenweise in’s cölibatärische Lager übergehen. Es würde lächerlich sein, falls es nicht so traurig wäre, zu sehen, wie auch der Mittelstand allüberall immer mehr von der allmächtigen Phrase sich verleiten läßt, seine Töchter zu müßiggängerischen Damen „ausbilden“ zu lassen. Was sollen daraus für Hausfrauen und was für Mütter werden? Gerechter Himmel! Jagt die französischen Parlirmeister zum Henker; zerschlagt die ewigen Klimperkasten, die nachgerade jedes Haus zu einer Clavierhölle machen; lehrt die jungen Mädchen zeitig den Werth der Zeit und der Arbeit kennen und woher das Brod komme; laßt sie Hände und Finger statt auf den die Denkfähigkeit abstumpfenden Tasten lieber in der Küche rühren; bringt ihnen bei, daß die wahre Heimath der Frauen nicht der Ball-, Concert- und Opernsaal sei, sondern das Haus und die Häuslichkeit; lehrt sie denken, klar und folgerichtig denken, und wär’ es täglich nur eine Viertelstunde, nur zehn Minuten lang; entwickelt in eueren Töchtern statt der Phrase, statt der Sucht, zu scheinen und zu „brilliren“, den Eifer, etwas Besseres zu sein als die Toilettenpuppen an den Schaufenstern der Modenmagazine; gebt ihnen statt elenden Verbildungskrams gesunden Menschenverstand, Genügsamkeit, Arbeitslust und Sparsamkeit zur Aussteuer, und ihr werdet – bei allen Göttern! – endlich wieder eine Generation von Müttern erhalten, welche fähig sind, tüchtige Jungen zu gebären und sie zu Männern zu erziehen, zu Männern, die das Zeug haben, uns von der Tyrannei der Phrase zu erlösen.

Auf Fräulein Brunhild freilich würde diese Philippika kaum anwendbar sein. Sie gehört ja durch Geburt und Reichthum zu den Erdengöttern, welche nicht wissen, daß das Menschenleben „Sorg’ und viel Arbeit“ ist, sondern vielmehr vom Dasein nur die Ambrosia naschen und den Nektar schlürfen. Trotzdem ist mit gutem Grund anzunehmen, daß der Herr Baron von Hohenauf, welcher, sagte man, mittelst seines speculativen Genies Millionen auf Millionen gehäuft hatte, für das Glück seiner Tochter besser gesorgt haben würde, so er sie bedeutend viel weniger zu einer „Göttin“ und bedeutend viel mehr zu einer verständigen Frau hätte erziehen lassen. Das Sprüchwort vom „Müßiggang, welcher alles verkehrten und Schlechten Anfang“, ist freilich eine sehr triviale Wahrheit; aber im Grunde sind ja alle die Wahrheiten, auf welchen die Gesellschaft als auf ihren Fundamenten ruht, Nichts als Trivialitäten. Allerdings hat Einer gesagt: „Den Vornehmen ist der Genuß Arbeit, den Armen die Arbeit Genuß“; aber der das sagte, war notorisch einer der ärgsten Wirr-, Schwirr- und Schwarbelköpfe, die jemals „philosophischen“ Nonsens von sich gaben …

Die junge Schöne hatte in der heutigen Sommermorgenfrühe eine ihrer nachdenklichen, träumerischen Stunden. Die Einsamkeit der Stelle, wo sie saß, der balsamische Morgenlufthauch, der Blick in die wunderbare Alpenschönheit hinein hatten sie gut und weich gestimmt. Mit etwas vorgeneigtem Oberkörper saß sie da und nie vielleicht war ihr Antlitz schöner gewesen als jetzt, da sie ihre Augen von dem lichthellen Fleck inmitten des kleinen Hochsees erhob und wie selbstverloren mit klangvoller Altstimme sagte: „Ein Lichtstrahl auf trügerischer Fluth, – das soll ja das Glück sein.“ Aber als wollte sie sich dafür bestrafen, daß sie einer „altfränkisch empfindsamen“ Stimmung sich überlassen habe, fügte sie mit leicht zusammengezogenen Brauen laut hinzu: „Bah, das Glück ist, was man selbst daraus macht!“

Sie fiel aber doch wieder in den Gedankengang oder besser in die Gefühlsschwingung von vorhin zurück. Wieder haftete ihr Blick auf dem Lichtpunkt im See drunten und nach einer Weile murmelte sie: „Es ist recht eigen, recht wunderlich! Das Wasser da sieht mich an wie ein lockendes Auge, das bittend sagt: Komm’ her!“ Dann machte sie eine rasche, unmuthige Bewegung, als fühlte sie sich plötzlich angefröstelt, zog ihre Mantille hinauf und erhob sich, als wollte sie weggehen. Aber sie that es nicht. Ihr weitbauschendes Seidenkleid rauschte heftig, als stampfte sie mit dem zierlichen Fuß auf den Rasen, und mit den wie im Zorn gesprochenen Worten: „Was das für Albernheiten sind!“ nahm sie ihren Platz auf der Bank wieder ein.

Sie ahnte nicht, daß sie ihr Schicksal erwartete. Aber wenn die Stolze es geahnt, ja gewußt hätte, würde sie, wie sie nun einmal war, kaum davor geflohen sein, sondern es nur um so trotziger erwartet haben.




2. Sigfrid.

Während droben die schöne Brunhild von der Höhe des Burgruinenhügels, welcher wie eine Art Warze aus der hoch sich hinaufthürmenden Bergwand vorspringt, auf den kleinen Hochsee [67] träumerisch niederblickte, kamen drunten zwei Männer über die lange, bedachte Holzbrücke gegangen, welche da über den Strom gelegt ist, wo er aus dem großen See tritt.

Im belebtem Redetausch stiegen die Beiden gemächlich den sanft emporführenden Weg hinan. Ihr Gespräch hatte Ton und Färbung alter Befreundung, auch mochten sie auf gleicher Altersstufe stehen, etwas näher dem vierzigsten, als dem dreißigsten Jahre, und doch waren die Beiden in ihrer äußern Erscheinung grundverschieden.

Der Eine der Freunde war eine lange, hagere, schlottrige, so zu sagen abstracte Gestalt, welcher man auch ohne ihren weithinabreichenden schwarzen Rock das „Wort Gottes“, ja, das „Wort Gottes vom Lande“ unschwer ansehen konnte. Es war auch in den grauen Augen der weltbekannte theologische Essigblick. Die decidirte Mephistonase, sowie die sarkastisch niedergezogenen Mundwinkel thaten dem Theologismus des langgezogenen, gescheidten Gesichts mit nichten Eintrag. Denn es ist eine unbestreitbare Thatsache, daß es unter den „Hirten“ unendlich viel mehr Ironiker und Sarkastiker giebt, als die guten „Schafe“ sich träumen lassen. Der Andere konnte mit seinem schwarzen, üppigen, noch von keinem einzigen Silberfädchen durchzogenen Kraushaar und Vollbart, mit seinem kühn geschnittenen, blühenden, durch ein dunkelblaues Augenpaar von schelmisch keckem Falkenblick belebten Antlitz für einen Typus männlicher und mannhafter Schönheit gelten, falls die Wohlgeformtkeit seiner hohen, breitschultrigen Figur nicht etwas beeinträchtigt worden wäre durch einen Anflug von Beleibtheit, welcher zwar der Leichtigkeit seiner Bewegungen für jetzt noch keinen Abbruch that, aber doch den armen Lord Byron zur Verzweiflung gebracht haben würde. Uebrigens in Haltung und Gebahren ein Gentleman jeder Zoll, einfach, ohne Ziererei, aber auch ohne affectirte Nachlässigkeit sich tragend, ein Gentleman, der augenscheinlich viel „in der Welt“ gelebt, vielleicht ein bischen zu viel, jedoch immerhin eine Frische sich bewahrt hatte, welche von dem Hautgout der Blasirtheit nicht entfernt angeflogen war.

„Und so hast Du Dich also entschlossen,“ fragte im Geben der Abstracte den Concreten, „unser Vaterland für immer zu verlassen?“

„Für immer.“

„Unglückliches Vaterland!“

„Spotte nur zu, lieber Alter. Aber in allem Ernste, ich werde keinen Fuß mehr nach Michelien setzen und möchte nicht einmal dort begraben sein.“

„Armes Deutschland! Wie spricht der große Scipio? Ne ossa mea quidem habeas, ingrata patria!“ (Nicht einmal meine Gebeine sollst Du haben, undankbares Vaterland!)

„Kerl, Du bist doch der ewige Mephistophel! Gieb acht, daß ich Dich nicht an das Sprüchlein erinnere, welches zu unserer Zeit auf der Universität umging.“

„Was für ein Sprüchlein?“

„Stiftler[1]
Sind Diftler,
Mitunter auch Giftler.“

„Bah, lieber Junge, Stiftler sind heutzutage nur noch correcte Setzlinge im Weinberge des Herrn, sonst nichts mehr. Aber laß Dir sagen, ich war nicht wenig erstaunt, als ich Dich gestern Abend da unten in der Nußbaumallee hinter den pyramidalischen Gestalten der fabelhaft aufgedonnerten drei Engländerinnen plötzlich auftauchen sah. Nach dem, was ich zuletzt von Dir hörte, vermuthete ich Dich in der schönen Hauptstadt meines engeren Vaterlandes (von uns Deutschen hat ja jeder bekanntlich ein engeres und ein weiteres Vaterland, also, beiläufig bemerkt, keines, denn Null mal Null gleich Null), ja, in der Hauptstadt meines Heimattlandes vermuthete ich Dich.“

„Ich war dort, konnt’ es aber nicht lange aushalten.“

„Wie so?“

„Weil ich daselbst vor lauter ‚gemüthlichen Leuten‘ keine Menschen zu finden vermochte.“

„Lästerer! Ich sehe, der Reichthum hat Dich übermüthig gemacht. Deine selige Tante hätte wohl etwas Klügeres thun können, als Haus und Hof, Schloß und Park, Geldkiste und Capitalienbriefsammlung ihrem Heiden und Sausewind von Neffen zu vermachen.“

„Sie hat auch diese hübschen Sachen mir nicht vermacht, die Gute, welche lind und weich in Abraham’s oder eines beliebigen andern Patriarchen Schooße ruhen möge. Sie wollte ja ihren ‚leidigen Mammon‘, welchen sie zusammenhielt wie eine Kneipzange, der ‚inneren‘ oder gar der ‚innersten Mission‘ vermachen, hatte aber glücklicher Weise keine Zeit mehr zur Ausführung dieses frommen Vorhabens, maßen sie, nachdem sie sich eines Abends beim Tischrücken und Geisterklopfen übermäßig angestrengt und aufgeregt hatte, in der Nacht durch einen Nervenschlag diesem irdischen Jammerthal entrückt wurde. So war ich ihr Erbe von Rechtswegen.“

„Glücklicher Millionär Du! Nun, ich werd’ es mir in Deinem Schlosse, welches, sagst Du, wenige Stunden von hier an dem unteren See liegt, etliche Tage oder auch Wochen lang gehörig wohl sein lassen.“

„Das sollst Du, und Du wirst sehen, daß ich den Grandseigneur ganz leidlich spiele.“

„Ich glaub’ es. Du hattest, ohne Compliment, schon in der Studentenzeit etwas Lordmäßiges an Dir, obgleich Du damals häufig genug nur Lord John mit der leeren Tasche gewesen bist. Ich hab’ es darum nie recht begriffen, wie Du mit Deinen aristokratischen Neigungen, Bedürfnissen und Manieren unter die guten Demokraten gerathen bist, welche so märchenhaft naiv waren, eine gewisse ewige Schlafkappe für die phrygische Mütze von Anno 1789 oder gar von 1792 anzusehen.“

„Du hast Recht. Es war für einen im Heimathlande des beschränkten Unterthanenverstandes Geborenen die dümmste der Dummheiten, nach etwas Anderem zu streben, als nach einer Hofrathscarrière und nach dem gelben Spatzenorden vierter Classe. Aber so wahr ich Siegfrid von Lindenberg heiße, ich bin durch meine Villeggiatur in der Einzelhaftzelle des berühmten Zuchthauses zu B. von der leidigen Romantik des Idealismus und Patriotismus vollständig curirt und von dem Wahnglauben der Begeisterung zum Dienst der holden Göttin Ironie bekehrt worden. Süße Ironie, du allein bist die wahre Freiheit! Du erlöstest mich von der Narrheit der Großmannssucht, von der Parteisclaverei, von der Ehrfurcht vor Schlagwörtern, von der Bewunderung angeblich großer Persönlichkeiten, von den Mystificationen der Politik, von –“

„Halt’ ein! Ich kenne dieses Proudhon’sche Gebet sattsam.“

„Ganz richtig. Proudhon und meine Erfahrungen haben mitsammen mich zum heiteren Ironieglauben herübergeführt.“

„Bah!“ sagte der pastorliche Mephistophel, indem er stehen blieb und den Rauch seiner Cigarre mit einem pfeifenden Ton in die sonnige Luft blies. „Wie doch die Menschen darauf versessen sind, sich selbst zu belügen! Was hast Du, altgebackener Phantast und neugebackener Millionär, mit Proudhon und der Ironie zu schaffen? Du bist heute noch derselbe Urromantiker und Hyperidealist, welcher Du gewesen zur Stunde, wo Du als Fuchs in die damals streng verpönte Burschenschaft tratest und bereit warst, für die schwarz roth goldene Schleife an Deiner Uhr Leib und Leben zu riskiren oder wenigstens einen so tüchtigen Schmiß, wie nur je eine Corpsburschenklinge einen gegeben hat.“

„Was schwatzest Du da für verdammten Kohl!“

„Kohl? Bewahre! Die pure, blanke, nackte Wahrheit sag’ ich, die aber freilich auch Dir, wie allen Menschenkindern, unangenehm in die Nase sticht. Aber trotzdem. Du bist und bleibst Einer von Denen, auf deren Augenhornhaut die Welt sich spiegelt, nicht wie sie ist, sondern wie sie den Einbildungen der Ideologen zufolge sein sollte. Ich wette, Du machst immer noch Verse.“

„Nicht einmal mehr Spottverse; denn sonst würd’ ich Dir jetzt zur Stelle in solchen sagen, daß Dein Gerede sehr an den Kanzelton streife.“

„Bah, nur nicht empfindlich, alter Junge! Ich wollte Dir nur andeuten, daß ich fast überzeugt bin, Du habest ganz das Zeug, allen Deinen Erfahrungen und Deinem angeblichen Ironikerthum zum Trotz das Zeug, Dich einmal bei Gelegenheit mittelst irgend einer romantischen Narrheit zu Grunde zu richten.“

„Das werd’ ich bleiben lassen, schon Dir zum Possen,“ entgegnete Sigfrid lachend. „Aber komm, wir müssen dort rechts den Fußpfad hinan, wenn ich Dich zu dem prächtigen Aussichtspunkt bei der Ruine da droben bringen soll.“




3. Ich kam, sah und – ward besiegt.

„In der That, das Ding hat Styl und läßt sich ansehen,“ sagte der Pfarrherr, seine Brille zurechtrückend, um sich auf der Höhe des Burgruinenhügels mit Behagen der Betrachtung des [68] herrlichen Landschaftsbildes zu überlassen, welches sich allerdings „ansehen ließ“.

Es giebt freilich in dem schönsten und glücklichsten Lande Europas viele Aussichtspunkte, welche umfassendere oder auch großartigere Blicke darbieten, als der, auf welchem die beiden Freunde standen, unfern der Bank, worauf Brunhild von Hohenauf noch immer saß. Aber es dürfte wenig Stellen im Umfange der Alpen geben, wo das Erhabene und Anmuthige in so reicher Fülle auf so engem Raume sich beisammen findet, wie gerade hier. Wendet man sich scharf zur Linken, so schweift das Auge an einer Bergwand voll wechselnder Formen bin, aus deren felsigen Schluchten weißschäumende Wildwasser thalwärts springen und längs deren Fuß da und dort eine Kirchthurmspitze aus dem Grün üppigen Baumwuchses hervorlugt. Geradeaus fällt der Blick zunächst auf den mehrerwähnten kleinen Hochsee, hinter dessen dunkler, mit Weiden, Rüstern und Ahornbäumen bestandener Muldenwand eine große, stahlblau und silbern schimmernde Spiegelfläche sich aufthut, die weithin gedehnte Wassermasse eines der schönsten Seen des Landes. Gen Osten und Süden zu ist dieser See von Gebirgen eingefaßt, welche sich in ungeheuren Stufen mählich zu Bergriesen aufthürmen, deren Brust den Gletscherpanzer und deren Haupt den Firnschneehelm trägt. Wendest du dich, an den Rand des Hügels vortretend, zur Rechten, so siehst du tief unten den Strom aus dem großen See, worin er sich vom Gletscherstaub reingewaschen, hellgrün hervorkommen und in sanften Windungen längs eines paradiesischen Thalbodens von mäßig großer Ausweitung hinfließen, um nach etwa dreiviertelstündigem Laufe abermals in ein Seebecken sich zu ergießen, in den unteren See, dessen Gewässer fernher duftig zu dir heraufblauen. Das Gelände zwischen den beiden durch den Strom also verbundenen Seen bildet vielleicht den schönsten Park, welchen es auf Erden giebt. Es ist eine Harmonie in diesem Landschaftsbild, welche selbst durch die an der Südseite des Stroms sich hinziehenden Gruppen von Hotels und Pensionen eines Curorts von Weltberühmtheit nicht gestört wird. Oder aber, falls deine Landschaftsästhetik das Vorhandensein dieser Institute als Störung empfinden sollte, so würde dich ein Blick wieder darüber wegheben, der Blick über die Thalebene südwestwärts dorthin, wo dir aus einer riesigen Spalte der von der Natur wie eigens zu diesem Zweck auseinandergeschobenen Bergwände die Königin der Alpenkolosse im Vollglanz ihrer wunderbaren Majestät entgegenleuchtet.

Ehrwürden Schwarzdorn – so hieß der Herr Pastor – sog so zu sagen mit vollen Zügen die vor seinen Augen entrollte Schönheit in seine Seele. Da er aber ganz entschieden zu jenen Leuten gehörte, die sich daran gewöhnt haben, ihren Empfindungen keinen vollen Ausdruck zu gestatten, sagte er nach einer Weile: „In der That, recht niedlich.“

„Niedlich,? O, Du stroherner Philister! Ein Wunder von Schönheit, ein helles, liebes Wunder!“

„Nun, nun, nur nicht gleich so obenhinaus, alter Junge. Habe denn doch während der letzten Wochen landschaftliche Scenen gesehen, welche –“

„Ach was! Glorios, sag’ ich Dir!“

„Wohl, wohl; aber ich behaupte dessenungeachtet –“

„Geh’, geh’! Es ist, beim Jupiter, ganz unmöglich, daß Du jemals etwas so Herrliches gesehen!“

Schwarzdorn kehrte sich verwundert um: es war in der Aeußerung seines Freundes ein so ganz eigener Ton! „Was hast Du denn?“ wollte er fragen, verschluckte aber die Frage, spitzte seinen Mund zu einem leisen Pfeifen und murmelte dann, während seine Mephistonase sich so weit herunterzog, daß ihre Spitze fast das Kinn berührt hätte, vor sich hin: „Ah so? da haben wir’s! Und der schwatzt von Proudhon und Ironie! … Schön ist sie allerdings, merkwürdig schön, originell, pikant! … Aber was ist das? Ich glaube gar, der tolle Mensch will die Schöne im Sturm erobern.“

Er that einige Schritte gegen die Bank am Fuße des halbzerfallenen Wartthurms hin und blieb dann stehen, um, getheilt zwischen Verblüffung und Neugier, die Entwicklung des kleinen Drama’s abzuwarten, welches er vor sich sah.

Angefaßt von einer jener plötzlichen, unerklärlichen Regungen, welche schicksalsmächtig den Menschen überfallen und überwältigen, war Sigfrid, nachdem er, während sein Freund in der Schönheit der Aussicht schwelgte, die junge Dame mit steigendem Staunen betrachtet hatte, auf sie zugeschritten.

Selbstverständlich war es ihr nicht entgangen, daß sie der Gegenstand der entzückten Verwunderung des fremden Mannes war; aber solcher Huldigungen gewöhnt, fühlte sie sich davon weiter nicht berührt. Oder doch? Denn möglicher Weise konnte das blitzende Aufleuchten ihrer Augen, als Sigfrid mit seinem Freunde den Hügel heraufgekommen war, bezeugen, daß sie den Fremden schon einmal bemerkt, vielleicht drunten im Curort, und von seiner allerdings imponirenden Erscheinung einen ungewöhnlichen Eindruck empfangen habe. Wie dem sei, sie machte, als sie ihn jetzt auf sich zukommen sah, eine Bewegung, um aufzustehen. Allein sie unlerließ es, und als Sigfrid, zwei Schritte vor der Bank stehen bleibend, sie mit einer tiefen Verbeugung grüßte, erhob sie mit dem Ausdruck kalten und stolzen Befremdens ihre Augen zu den seinigen.

Aber aus diesen Mannesaugen schimmerte ihr ein unbekanntes Etwas entgegen, ein Etwas, von welchem sie sich etwas erschreckt und beleidigt fühlte und doch zugleich gebannt und bemeistert. Sie wollte ihren Blick abwenden, vermochte es jedoch nur mit großer Anstrengung, und wie ihr Antlitz ein heißes Roth, so überflog die Seele ein Geheimnißvolles, von dem sie um keine Welt zu sagen gewußt hätte, ob es schluchzendes Weh oder jauchzende Wonne.

(Fortsetzung folgt.)




Sonntagsälpler.
Von Ludwig Steub.

Um eine Alpenfahrt handelt es sich also wieder, aber nicht um eine rauhe, halsbrecherische, wie sie der wilde Gemsenjäger unternimmt, sondern um eine feine, anmuthige, wie sie die gebildeten Stände, angesehene Väter, hochgeachtete Mütter, wohlerzogene Jünglinge und schöne Fräulein zu Stande bringen, um eine unvergeßliche Erinnerung für’s ganze Leben nach Hause zu tragen. Die Aufgabe, einen solchen monumentalen Tag durch den Bleistift oder die Feder zu schildern, hat ohne Frage ihre großen Reize und ist von beiden Seiten mit lobenswerthem Eifer unternommen worden, nur sind der Zeichner und der Beschreiber zu sehr verschiedenen Zeiten an die Arbeit gegangen und daher auch zu sehr verschiedenen Zeiten damit fertig geworden. Der Zeichner nämlich, der noch in der Blüthe seiner Jahre steht und den letzten Sommer zu Brannenburg am Inn verlebte, hat erst neulich die bedeutenden Motive gesammelt und auf’s Holz gebracht, welche ihm aus den schönen Tagen, wo man gen Alm fährt, im Gedächtniß haften geblieben. Seine Darstellung, seine Herren, seine Damen gehören daher der frischesten Gegenwart an, und wer in denselben Kreisen mit ihm gelebt hat, der würde auch leicht die Originale, die ihm vorschwebten, anzugeben wissen. Derjenige dagegen, der den Text verfaßt, gehört nachgerade der reiferen Hälfte der Menschheit an und hat sich mit der Aufgabe, seine Almenpartie zu schildern, schon vor etwelcher Zeit auseinander gesetzt. Seine jungen Herren, die damals „wie Zicklein voraushüpften“, sind jetzt schon alle in hohen Würden; seine rosigen Mädchen, die damals „wie dienende Engel in der Alpenluft strahlten“, sind mittlerweile alle etwas bräunlich und meistens Mütter geworden, deren Söhne und Töchter nunmehr ebenso voll Lieb und Lust in den Bergen herumklettern, wie weiland die lieben Eltern gethan. Seiner Zeit hat er dann auch, was ihm der Genius in diesem Betreffe zugeflüstert, mit mehreren andern Bildern aus der Alpenwelt unter den Druck gegeben; es ist aber selbiges Büchlein, wie es dem Verfasser auch in anderen Fällen begegnete, nicht gar viel oder eigentlich nur von sehr Wenigen gelesen worden, und darum möchte es wohl nicht indiscret erscheinen, wenn er hier diese Schilderung daraus gewissermaßen als etwas Frisches und Neues wieder auf die Tafel bringt, um so mehr als seine Beschreibung recht wohl zu dem neuen Bilde stimmt. In anderer Weise hätte der Schilderer sich nicht zur Sache zu stellen gewußt, denn die ganze Beschreibung wieder mit neuen Farben und neuen Bildern herzustellen, schien ihm fast unmöglich. – –

Es ist ein wesentlicher Bestandtheil eines Aufenthaltes im

[69]

Die Residenzler auf der Alm.
Originalzeichnung von Theodor Pixis.

[70] Hochlande, einmal etwas Apartes, Mühseliges, Abenteuerliches zu unternehmen. Die Feinsten besuchen wenigstens eine nahe Sennhütte und lächeln nach ihrer Rückkehr schelmisch, wenn sie gar über Nacht ausgeblieben sind. Die Rüstigsten tragen einen schweren Kugelstutzen nebst großem Büchsenranzen hinauf an die Schneehöhe und sofort wieder herunter und behaupten dann, sie seien auf der Gemsenjagd gewesen. Jene aber, denen die Sennhütten zu nah, die Schneehöhen aber zu entlegen sind, lösen ihre Aufgabe in gesellschaftlichen Partien auf ein schönes Berghorn, dessen Spitze etwa ein Belvedere ist, wie es die Sommergäste von Partenkirchen mit dem Krotenkopf, die von Brannenburg mit dem Wendelstein, die von Reichenhall mit dem Sonntaghorn zu machen pflegen. Da geht es denn familienweise hinauf in die thauigen Wiesen, im Angesicht der Morgenröthe, die um so überraschender wirkt, je länger man sie nicht mehr gesehen hat. Bald beginnt das Steigen, und nun entwickelt sich der Knäuel. Der Papa in seinem Reisehemd, gleichsam der Hauptmann der liebenswürdigen Bande – wie schwer war er zu gewinnen! – und die Mütter, die schon etwas leichter mithalten, bleiben keuchend mehr und mehr zurück; die Münchner Fräulein und die jungen scheinkranken Badeherren hüpfen wie Zicklein voraus. Die Jungen tragen sich phantastisch-jägerhaft, so daß die Spielhahnfeder auf dem grünen Hütchen und die graue Joppe mit den grünen Aufschlägen nicht leicht fehlen; die Mädchen, unter dem Einflusse der idyllischen Umgebungen, dichten ebenfalls an ihrer Tracht, und wenn sich die Jünglinge am Liebsten als Waidmänner darstellen, so liegt den Damen am Nächsten der Aufzug der arkadischen Hirtinnen, wie sie im Ballete erscheinen. Es ist ein gar erheiternder Anblick, wie das junge Volk, in allen Farben spielend, lachend und schäkernd, unter den schwarzen Tannen sich hinaufwindet, nun über den Felsenvorsprung klimmt, nun in langer, ängstlicher Zeile am Rande des Abgrunds hintrippelt. Dort ruht ein Pärchen aus, um neugestärkt wieder nachzueilen, da werden Alpenrosen gesucht und unter bedeutsamen Winken verschenkt. Die Alten sehen sich auch zuweilen an, aber mit den Blicken der düstern Resignation, denn zum Steigen sind die Berge schrecklich hoch.

Endlich ist der Vortrab auf dem Gipfel; die Herren jodeln und rufen Halloh, die Damen schwenken die Taschentücher zur Aneiferung für die Nachkommenden, die sich langsam aus dem Waldschatten herauslösen. Nach und nach hat sich Alles eingefunden und steht in schönen Gruppen auf der freien Höhe, hinabzusehen in’s unendliche Blachland, auf Hügel und Thäler, Wälder und Felder, Seen und Ströme, Städte und Dörfer. Die Mädchen sind gar liebreizend, wie sie dastehen, herrlich roth im Gesicht vom Steigen in der reinen Alpenluft, seligen, träumerischen Blickes hinunterstarrend in die Tiefe, während der frische Morgenwind in ihren Locken wühlt. Mit Vergnügen weisen die Kundigen auf die Münchner Frauenthürme, die sich in blauer Ferne dem trunkenen Auge darbieten und an die Lieben in der Heimath mahnen. Nach diesem vergißt aber die Gesellschaft keineswegs, sich auch gegen Süden zu wenden, wo die beschneiten Berghäupter von Tirol in unzählbaren silbernen Zacken in’s blaue Firmament hineinstarren. Ist dann ein bewanderter Alpenfahrer darunter, der die majestätischen Hörner zu benennen und zu deuten weiß, so kann er bei solcher Gelegenheit mit seiner Wissenschaft viel Ehre einlegen. Ist aber ein Norddeutscher dabei, was jetzt kaum mehr fehlen kann, so benutzt dieser den Augenblick, stellt sich in die Mitte und declamirt etwas, zum großen Verdruß eines Andern, der die Erreichung des Zieles mit einem Sturme auf der Guitarre feiern wollte, die ihm über dem Rücken hängt, und zum nicht mindern Aerger eines Dritten, der ein Flageolet bei sich hat. Die Verse aber hat der Poet gestern Abend noch zusammengestoppelt, als er wegen erdichteter Uebelkeit schon um neun Uhr auf seine Stube ging, und die Reime klappern wunderbar schön. Die Jugend klatscht begeistert Beifall, denn er hat ihren Gefühlen Worte gegeben; die Mütter nicken einander zu, als wollten sie sagen: der kann’s; Papa aber, der unbestechliche, macht ein Gesicht, das nicht viel mehr ausspricht, als: Für so ’nen jungen Menschen ist’s gut genug. Unterdessen hat der Dichter das langhaarige Haupt verschämt geneigt und die Rechte dankend auf’s Herz gelegt, damit aber auch zu gleicher Zeit aus der Seitentasche ein Album gezogen, das er herumgeben will, mit der Bitte, einen Gedanken hineinzuschreiben zur ewigen Erinnerung an diesen unbezahlbaren Moment. Da er Alles vorausbedacht, so zieht er auch gleich ein tragbares Schreibzeug hervor und richtet die Federn her. Dies dämpft den Jubel etwas, denn nicht alle Alpensteiger sind so vorsichtig, immer einen Stammbuchvers im Hinterhalt zu haben; doch faßt und findet man sich bald. „Auf den Bergen ist Freiheit“ etc., das würde freilich Jeder am liebsten spendiren, wenn nicht schon der Allererste so boshaft gewesen wäre, diese Verse der ganzen Gesellschaft wegzuschnappen. So ist’s denn kein Wunder, wenn der Löwe des Tages mit gewöhnlichen Sinnsprüchen, wie z. B. „Ehrlich währt am Längsten“, oder „Bleib zu Haus und nähr’ dich redlich“, fürlieb nehmen muß.

Endlich ist die peinliche Feierlichkeit vorüber und das Album wieder in der schattigen Rocktasche. Papa sitzt schon lange auf seinem Tragstuhl und bläst den Knasterdampf vergnügt über die Wälder hin, die von unten herauf rauschen; die Mütter kauern malerisch auf den Felsblöcken umher und stricken. Das Feuer, das die Jungen angemacht haben, brennt lustig und frisch, die Töpfe mit Wasser und Milch fangen nachgerade zu sieden an. Nun geht’s ernstlich an die Vorbereitungen zum Frühstück. Da zeigt sich erst, mit wie viel Umsicht der Plan zu diesem Unternehmen entworfen und wie passend die Rollen ausgetheilt worden. Vor Allem wird der große Reisesack aufgethan, den der Führer heraufgetragen, und aus welchem nun Kalbskeulen und Schinken springen, wobei die Messer und Gabeln, die auch in seinem Bauche liegen, kampflustig erklingen. Nun erschließen sich auch die Tragkörblein der Schönen, und wer hätte es diesen zierlichen Täschchen, die den ganzen Weg herauf so gleichgültig mitbaumelten, ansehen sollen, daß sie heute als Vorrathskammern für die feingebildete Gourmandise der bergsteigenden Hauptstädter eingerichtet seien? Und doch ist’s nicht anders! Aus der einen Tasche richtet sich vielversprechend eine edle Wurst aus Wälschland empor, aus der andern steigt ein Senftopf, der wenigstens Pariser Etiquette trägt; von anderen Seiten kommt wieder Anderes, geräucherte Zungen, gebratene Hühner und dergleichen. Jetzt zeigen aber auch die Paladine, daß sie nicht umsonst dabei sind. Ihre Aufgabe war’s, den Wein zu liefern, und nun kommen die Vertreter der angesehensten Rebenhügel vom Frankenland bis Bordeaux aus den Reiseränzchen. Das wird aber für jetzt Alles nur bei Seite gestellt, geordnet und, was zerlegbar ist, zerlegt; denn der Kaffee ist fertig und die Mädchen machen lächelnd die Honneurs. Man nähert sich aber auch bald dem nahrhafteren Theile des Frühstücks. Einzelne Vorläufer machen schon die Runde, die Kernspeisen dringen unwiderstehlich nach. Am Meisten haben wieder die Mädchen zu thun, die frischen, heitern, rosigen Mädchen, die jetzt, in der Glorie der Alpenluft strahlend, wie dienende Engel hin und her eilen, voll Leben und Lust, die nun spielend alle Reize deutscher Häuslichkeit entfalten, welche uns hier oben auf der grünen Bergmatte, in der hellen Sommersonne, mehrere tausend Fuß hoch über dem Meere noch viel tausendmal einnehmender erscheinen, als unten im langweiligen Abendcirkel beim trüben Lampenschimmer. Und wenn nun die Gläser erklingen, da klingen alle Herzen mit, und wenn die Champagnerpfröpfe knallend in die Lüfte fliegen, dann fliegen auch die letzten Grillen still ins Thal hinunter. Die Freude tritt immer königlicher auf, der Jubel wird immer lauter; der Norddeutsche declamirt wieder, der Andere fällt mit der Guitarre rauschend in den Lärm, der Dritte spielt sein Flageolet, und dann ertönen – Alles schweigt – die Almenlieder, diese herrlichen, himmelansteigenden Gesänge, die Keiner vergessen kann, der sie je in ihrer milden Kraft gehört hat, die in Jedem die Sehnsucht nach den Alpen wecken, der sie draußen wieder hört auf der flachen Haide dort:

Mein’ Freud is im Wald,
Weil’s Jodeln schen schallt
Und a Dirnerl drin gras’t,
Dös ma goar so guet g’fallt

Da ob’n auf da Wand
Wachst vierblattleter Klee,
Den brech’ i mein Schatzerl,
Nacher liebt sie mich eh’.

Und die Blümerl, i sag’s euch,
Sind grad so wie d’ Leut,
Und sie bußeln sich d’ Wangerln
A öfters voll Freud.

Weil’s aber kein Äermerl,
Kein Handerl nit ham,
So biegt der Wind ihnen
Die Köpferl oft z’sam.

Drum, Schatzerl so gib ma –
Horch’, hörst nit den Wind? –
Jetzt bußeln sich d’ Blüemerl –
A Bußerl geschwind!



[71]
Das Clavier und seine Geschichte.
(Schluß.)

In Betreff der äußeren Form der Instrumente sei erwähnt, daß die ersten von Silbermann gebauten Fortepianos Flügelform hatten. Die Fortepianos in Tafelform rühren von dem Instrumentenmacher Friederici in Gera her (gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts); sie wurden von ihm, zur Unterscheidung von den Silbermannschen Instrumenten, Fortbien genannt. Das erste Instrument in aufrechter (Flügel-) Form, von dem also die heutigen Pianinos abstammen, baute im Jahre 1742 der Hoforganist Gerber zu Nordhausen. Als Verfertiger des ersten Pianinos (Anfang des neunzehnten Jahrhunderts) ist der Londoner Fabrikant Southwell zu nennen. Es wurde von Pape im Jahre 1815 nach Frankreich eingeführt und gelangte dort durch ihn und namentlich durch Roller und Pleyel zu allgemeiner Geltung. In Deutschland baute es zuerst Grüneberg in Halle, im Jahre 1821. Auch an Spielereien und horriblen Auswüchsen fehlte es dem Fortepiano, wie früher dem Claviere, nicht. Der Ergötzlichkeit wegen sei in ersterer Beziehung hier ein von Pape in Paris, freilich in sehr sinnreicher Weise, verfertigtes Instrument in Form eines achteckigen Theetisches, angeführt, woran ebensoviele Personen Platz hatten. Mittelst Drucks auf eine Feder war das Instrument auf der Säule, die ihm als Fuß diente, zu drehen, sodaß die Claviatur, die ebenfalls vermittelst Federdrucks hervorsprang, ohne weitere Unbequemlichkeit beliebig jedem Theilnehmer des Theekränzchens zugeschoben werden konnte. Ja, es bedurfte nur eines dritten Druckes, so zauberte dieses seltsame Theegesellschaftstischpianoforte allsogleich eine zweite Claviatur hervor und flugs ging’s an die Verdoppelung der bisherigen musikalischen Begeisterung. Zum Beweise der behaupteten „horriblen Auswüchse“ brauchen wir wohl nur an die jetzt freilich ausgestorbenen, aber der ältern Generation unter den heutigen Musikliebhabern wohl noch in gutem Andenken gebliebenen Pianofortes mit Pauken, Trommeln, Triangeln, Becken und der ganzen übrigen Janitscharenmusik zu erinnern.

Ueber die verschiedenen Bemühungen, am Pianoforte einen Mechanismus anzubringen, der die sofortige Notenaufzeichnung des eben Gespielten ermögliche, glauben wir wohl hinweggehen zu können, da diese Einrichtung, trotz vielfacher scharfsinniger Versuche, bis jetzt eben nur – ein Versuch geblieben ist. Nicht vergessen aber dürfen werden, wegen ihres großen Einflusses auf die Qualität des Tones, die von Joh. Andr. Stein zuerst angewandte Belederung der Hammerköpfe und die von Pape eingeführte Garnirung derselben mit dem von ihm zu Anfang dieses Jahrhunderts erfundenen Filze.

Indem wir auf den heutigen Stand der Clavierfabrikation übergeben, wollen wir zunächst einen Blick werfen auf die ungeheure Ausdehnung und hohe mercantilische Bedeutung, den dieser Industriezweig gegenwärtig einnimmt. Leider ist es bei den gänzlich mangelnden statistischen Angaben über die in den verschiedenen Ländern bestehenden Fabriken und die Anzahl der von ihnen verfertigten Instrumente durchaus unmöglich, eine auch nur annähernd zuverlässige Uebersicht über die Gesammtfabrikation zu geben; aus einigen Zahlen aber werden unsere Leser leicht die Großartigkeit derselben erkennen. Wir beginnen den Reigen mit dem Auslande. Wie schon früher angegeben, beläuft sich die Zahl der in London allein von etwa zweihundert und fünfzig Fabrikanten alljährlich verfertigten Instrumente auf etwa fünfundzwanzigtausend. Davon kommen z. B. auf Collard u. Collard über eintausend fünfhundert, auf Stoddart fast ebensoviele, auf Broadwood and Sons aber sogar zweitausend fünfhundert. Dieses alte berühmte Haus, das weit über sechshundert Arbeiter beschäftigt, baute überhaupt seit Anfang 1780, von welcher Zeit an die verfertigten Instrumente in den Büchern sich einregistrirt finden, bis zu Ende 1861 nicht weniger als 124,048 Instrumente und muß also in diesem Augenblicke die fast unglaubliche Zahl von 130,000 überschritten haben. In dem Magazine dieser Fabrik, worin die fertigen Instrumente aufgestellt werden, fanden wir in einer unabsehbaren Reihe von Sälen über tausend Claviere jeglicher Form zum Verkauf bereit stehen.

Außer den genannten liefern noch viele andere Londoner Fabriken, wie Kirkman, P. O. Erard, Wornum, Peachy (an achthundert), Hopkinson, Towns und Parker, Addison u. A. m. jede jährlich mehrere Hunderte. In Frankreich ist, wohl zum Theil in Folge der vielen Unruhen und Umwälzungen, denen es zu Ende des vorigen und im Laufe dieses Jahrhunderts unterworfen war und von denen auch die Pianofortefabriken nicht unberührt bleiben konnten, die Zahl der alljährlich gebauten Claviere nicht so groß; doch gehen aus den Pariser Fabriken von Herz, Pleyel, Pape, Roller und Blanchet, Kriegelstein und namentlich Erard, der Broadwood wohl sehr nahe kommen dürfte, große Massen von Instrumenten hervor. Großen Aufschwwng hat in den letzten Jahren auch Amerika genommen, und es kann sich namentlich rühmen, in der von dem Braunschweiger Steinweg erst vor wenigen Jahren zu New-York gegründeten Fabrik überhaupt die größte der Welt zu besitzen. Steinweg baut jetzt wöchentlich sechszig bis fünfundsechszig Instrumente, also dreitausend und einige Hundert jährlich! Als von ebenfalls gewaltigen Dimensionen nennen wir noch die Chickering’sche Fabrik zu Boston.

Was nun Deutschland anlangt, so kann sich zwar keine seiner Städte mit den obengenannten in Bezug auf die Großartigkeit der Fabrikanlagen messen, aus dem einfachen Grunde, weil eine Concentration nach einem Punkte hin, wie in jenen Ländern, in Deutschland nicht vorhanden ist. So baute z. B. Wien, mit einhundert und acht Fabrikanten, im Jahre 1851 im Ganzen nur etwa zweitausend sechshundert Instrumente; eine sehr thätige und ausgedehnte Fabrik, die von Schiedmayer und Söhne in Stuttgart, lieferte in einem Zeitraume von 40 Jahren nicht mehr als 4200, die Irmler’sche Fabrik in Leipzig vollendete vor Kurzem, nach etwa 50-jährigem Bestehen, ihr 6000. Instrument – Zahlen, die den obigen gegenüber fast verschwinden. Dagegen besitzt Deutschland allerwärts, nicht allein in seinen zahlreichen Haupt- und Residenzstädten, sondern in jeder Stadt von nur einiger Ausdehnung blühende Fabriken, deren Totalproduction, bei der hervorragend musikalischen Bildung des deutschen Volkes, die alle Schichten der Gesellschaft durchdringt, wohl noch eine bedeutendere sein dürfte, als die Englands. Erfreulich und von hoher Wichtigkeit ist besonders auch die jetzt wieder mit jedem Jahre wachsende Ausfuhr nach Amerika und andern überseeischen Ländern, die eine lange Zeit in Folge der äußerst unsoliden und auf das heiße Klima jener Gegenden nicht genug Rücksicht nehmenden Bauart auf ein Minimum sich reducirt hatte. In frühern Jahren exportirte man dahin, durch Gewinnsucht getrieben, nur die schlechtesten Instrumente; dieselben wurden selbst in Deutschland verachtet als „erbärmliche Arbeit“, und die größte Zahl derselben war ruinirt, ehe sie an dem Orte ihrer Bestimmung anlangte, so daß die nothwendigen Reparaturen oft mehr kosteten, als die Instrumente werth waren. So konnte es auch nicht fehlen, daß Deutschland bald von andern Ländern und namentlich von England, das sich die Fehler andrer Nationen so gut zu Nutze zu machen versteht, fast vollständig aus jenen Gegenden verdrängt wurde, und es hat lange genug gedauert, bis die soliden deutschen Fabrikanten durch ihre in jeder Hinsicht mustergültige Arbeit die Achtung vor der deutschen Fabrikation sich zurückerobert haben. Die bei gleicher Güte beträchtlich größere Wohlfeilheit der deutschen Instrumente vor den englischen und französischen mag wohl auch nicht wenig dazu beitragen, den Sieg der erstern beschleunigen zu helfen; schon jetzt wandern alljährlich wieder viele Tausende derselben über den Ocean, ja, manche deutsche Fabriken arbeiten fast ausschließlich für außereuropäische Länder. – Fügen wir nun noch hinzu, daß auch in Rußland, Dänemark, Belgien, Italien, kurz, in allen übrigen europäischen Staaten dieser Fabrikzweig in großer Blüthe steht, so leuchtet ein, daß das Heer von Pianofortes, welches alljährlich nach allen vier Himmelsgegenden auszieht, um das Reich der Töne auf Erden immer weiter auszubreiten, ein gar gewaltiges ist und sicherlich kein geringer Mitstreiter sein dürfte im Kampfe der Civilisation gegen Uncultur und Barbarei.

Wir kommen endlich zur Betrachtung des heutigen Claviers vom musikalischen Standpunkte. Es bleibt uns hierüber nur Weniges zu berichten übrig. Wie schon früher erwähnt, ist die hohe Vervollkommnung vor Allen Erard und Broadwood zu danken. Auch jetzt noch gehören ihre Fabriken, wie weltbekannt, zu den hervorragendsten Vertretern der Pianofortebaukunst; doch besitzen sie nicht mehr allein das Monopol, vorzügliche Instruniente zu [72] liefern. In Frankreich und England selbst stehen ihnen die oben schon genannten Fabrikanten würdig zur Seite, jeder Vorzüge für sich in Anspruch nehmend und in einer oder der andern Hinsicht auch verdienend. Bekannt ist z. B., daß Chopin in seinen letztern Lebensjahren den Pleyel’schen Flügeln wegen ihres verschleierlen, fast melancholischen Tones vor den Erard’schen den Vorzug gab. Als Hauptunterschied zwischen den englischen und französischen Instrumenten möchte der anzugeben sein, daß die ersteren durchgängig einen markigeren, vollern Ton aufzuweisen haben, der Ton der letztern dagegen entschieden graciöser, eleganter, einschmeichelnder, auch ihre Spielart meist leichter und gefügiger ist.

Von den Amerikanern, deren Instrumente wohl nur höchst selten nach Europa gelangen, hat sich besonders Steinweg hervorgethan. In Betreff Deutschlands sei zu unsrer hohen Genugthuung die Anerkennung ausgesprochen, daß es sich in den letzten zehn Jahren dem Auslande gegenüber die volle Ebenbürtigkeit wiedererrungen hat. Lange genug war es, Dank dem starren Festhalten an der „deutschen“ Mechanik, England und namentlich Frankreich unterthan und tributpflichtig. Wer erinnerte sich nicht noch der Zeit, wo Erard fast alle Concertsäle Deutschlands beherrschte und es nur eine seltene, meist nur durch Localgründe bedingte Gnade war, wenn die großen Heroen des Virtuosenthims deutscher Instrumente sich zu bedienen die Herablassung hatten? Freilich grassirte damals die Mode, in Kunstangelegenheiten nur das als wahrhaft vortrefflich anzuerkennen, was in Paris vorher die „Weihe“ erhalten hatte, und wie z. B. erst ein von den Parisern ausgestellter Paß dem deutschen Kunstjünger erlaubte, in seinem Vaterlande ungehindert die steilen Wege des Ruhmes zu wandeln, so konnten auch nur die von den Parisern approbirten Erard’schen Instrumente als würdig befunden werden, in einem deutschen Concertsaale zu erscheinen. Und dennoch wäre es ungerecht, dieses Resultat etwa nur der Mode zuschreiben zu wollen: es war eben so sehr Folge wahren Verdienstes, denn in der That ragten diese Instrumente durch ihren klangvollen Ton und ihre vortreffliche Spielart weit hinaus über fast Alles, was Deutschland damals hervorzubringen vermochte. Den ersten Schritt zur Wiederbelebung seines Pianofortebaus that Deutschland durch die rückhaltlose Wiederaufnahme der „englischen“ Mechanik. Zu Anfang noch unbeholfen und in mehr oder minder ängstlicher Nachahmung an ihre fremden Vorbilder, namentlich Erard, sich anlehnend, haben die bessern Fabrikanten sich allmählich von diesem Zwange befreit, und durch eignes Nachdenken, unermüdlichen Fleiß und durch ihren hervorragend musikalischen Sinn Erfolge erzielt, die wohl dazu angethan sind, unsern gerechten Stolz zu erwecken. Wir wählen unter vielen Andern nur die Namen Einiger aus, deren guter Klang allerwärts in Deutschland Zeugniß ablegt für die Wahrheit unseres Ausspruches. Es sind dies: Schiedmayer und Söhne in Stuttgart, Dörrner und Lipp ebendaselbst, Ehrbar, Bösendorfer, Streicher in Wien, Scheel in Cassel, Steinweg in Braunschweig, Breitkopf und Härtel, Irmler, Wankel und Temmler, Feurich in Leipzig, Rosenkranz in Dresden, Klems in Düsseldorf, Stöcker in Berlin und Bechstein ebendaselbst, dessen Instrumente zumeist durch die Concerte Hans von Bülow’s weithin bekannt geworden sind. Ganz besonders sei hier noch als einer der hervorragendsten Vertreter deutscher Pianofortebaukunst Julius Blüthner in Leipzig genannt, dessen Flügel, namentlich seine sogenannten „symmetrischen“ Flügel, einen Vergleich mit den besten Instrumenten des Auslands aushalten.

Schließlich dürfen wir nicht unterlassen noch mitzutheilen, daß Deutschland auch in der Fabrikation der wichtigsten Materialien zum Clavierbau eine hervorragende Stelle einnimmt. So z. B. liefert Miller in Wien die anerkannt besten Stahlsaiten; Broadwoods, die bisher nur englische Saiten anwandten, hatten ihre sämmtlichen auf der eintausendachthundertzweiundsechziger Weltausstellung zu London befindlichen Flügel nur mit Miller’schen Saiten bezogen. Das vorzüglichste Leder zur Garnirnug der Hammerköpfe fertigen die Gebrüder Geyer zu Eisenberg im Altenburgischen; es bedienen sich desselben selbst die amerikanischen Fabrikanten. Vortrefflichen Filz, der an Güte dem besten englischen und französischen gleichsteht, liefert Weickert in Leipzig und Wurzen; auch sein Fabrikat wird in großer Menge nach dem Auslande, besonders nach Amerika, ausgeführt.

Wir können also mit höchster Genugthuung auf unsere gegenwärtige inländische Clavierfabrikation schauen: sie steht entschieden „auf der Höhe der Zeit“, und wir begingen nur einen Act der Gerechtigkeit, indem wir ihre Verdienste hier nachdrücklich betonten. Möchte nur auch das deutsche Publicum solches erkennen und danach handeln! Es giebt aber kaum eine andere Nation, die so rasch bei der Hand wäre im Aufgeben eignen Verdienstes, wie die deutsche. Wir können tagtäglich die Wahrnehmung machen, daß, während andere Völker in wohlberechtigtem Nationalstolz auf ihre Industrie dieselbe mit aller Kraft und Hingebung unterstützen, mit allen Mitteln an ihrer immer weiteren Entwicklung arbeiten, sie überall fast rücksichtslos geltend zu machen suchen und im Gefühl ihrer Ueberlegenheit sich stolz abwenden von fremden Erzeugnissen, das deutsche Volk leider immer noch gar häufig in unglücklicher Verblendung nach dem fremden, als dem deshalb unfehlbar Bessern, greift und, indem es seiner eigenen Arbeit sich nicht annimmt und ihr die Anerkennung versagt, ihr auch die Nahrung zum nöthigen Gedeihen entzieht. So finden wir auch jetzt noch in allen unseren bedeutenden Städten große Magazine ausländischer Instrumente, die namentlich noch immer in die Salons unserer „Vornehmen“ wandern. Man zahlt gern eintausend, eintausend fünfhundert, ja eintausend siebenhundert Thaler für einen Erard, Pleyel oder Broadwood, glaubt aber nicht die Hälfte dieser Summe für ein ebenso vortreffliches Instrument des bescheidenen deutschen Fabrikanten zahlen zu dürfen! Das Vorurtheil fremder Ueberlegenheit ist es, das wie ein Alp auf der deutschen Kraft lastet. Möchte das deutsche Volk endlich nach allen Seiten hin sich seines Werthes bewußt werden! Möchte der aller Orten erwachende nationale Geist mit der politischen Selbstachtung namentlich auch die Achtung des Deutschen vor deutscher Arbeit verbreiten helfen, damit auch in dieser Beziehung Deutschland nicht mehr zu dienen braucht, wo es herrschen könnte!




Herzenskämpfe eines deutschen Dichters.
Von Max Ring.

Vor mehr als einem halben Jahrhundert erschien eines Abends in Frankfurt a. d. O. der Lieutenant Heinrich v. Kleist bei seiner Familie, um ihr zu nicht geringer Verwunderung aller Verwandten anzuzeigen, daß er seinen Abschied genommen und fortan sich den Studien widmen wollte. Es war dies ein unerhörtes Ereigniß, daß ein königlich preußischer Officier von Adel seinen bevorzugten Stand freiwillig aufgab, und alle die alten Tanten und Basen schüttelten den Kopf über den „sonderbaren Schwärmer“. Dieser ließ sich jedoch keineswegs irre machen: er fühlte sich glücklich in seinem neuen Laufe und studirte fleißig Philosophie und alte Sprachen mit anerkennungswerthem Eifer. Nach und nach söhnte sich auch seine Familie mit dem neuen Lebensplane aus; er konnte ja Diplomat, Regierungsbeamter, wo nicht gar einmal Minister werden. Er selbst dachte zwar nicht an eine solche Versorgung, sondern er liebte die Wissenschaft nur um ihrer selbst willen, rein und ohne alle Nebenabsichten; höchstens dachte er daran, einmal als Professor an einer Universität die Jugend zu belehren. Dabei war er, trotz einer kleinen Neigung zur Pedanterie, nichts weniger als ein gelehrter Stubenhocker; er besuchte die beste Gesellschaft, zu der er vermöge seiner Geburt überall Zutritt hatte, galt für einen liebenswürdigen jungen Man und wurde von der Frankfurter Damenwelt recht gern gesehen, indem man ihm seine Sonderbarkeiten und seine Zerstreutheit leicht verzieh. In dem Hause des Generals Heege lernte Kleist die älteste Tochter desselben, Minette oder Wilhelmine, wie er sie nannte, kennen; bald liebte er sie auch und sie erwiderte seine Neigung. Heimlich verlobte er sich mit ihr, da er die Grille oder vielmehr den Grundsatz hatte, daß die Eltern nichts davon zu wissen brauchten, wenn zwei Liebende sich für einander bestimmt hätten. Zu seinen Eigenheiten gehörte es auch, daß er seiner Braut fast täglich die leidenschaftlichsten Briefe schrieb, obgleich er Haus an Haus mit ihr wohnte. Er ging dabei von der Absicht aus, die Geliebte geistig zu bilden und für sich zu erziehen. Nur auf ihr dringendes Bitten entschloß er sich endlich, ihre Eltern, mit dem Verhältnisse bekannt zu machen. [73] Diese gaben ihre Einwilligung unter der Bedingung, daß Kleist eine gesicherte Lebensstellung sich erwerben würde, da er ebensowenig wie seine Braut ein hinreichendes Vermögen besaß.

Wilhelmine war ein gutes, sanftes Mädchen, das sich in alle Launen des geliebten Mannes fand und voll Vertrauen an ihm hing. Geduldig wartete sie auf die Erfüllung seiner Pläne für die Zukunft, die sich indeß meist als Chimären erwiesen. Bald wollte er Chemie und Naturwissenschaften studiren, bald in Frankreich als Lehrer der deutschen Sprache auftreten, bald dies, bald das ergreifen, vor Allem aber sich die höchste und vielseitigste Bildung erwerben. Bildung und Liebe sind die Worte, die er in allen Briefen an seine harrende Braut wiederholt, die beiden Achsen, um die sich sein ganzes Dasein dreht. Seine Angehörigen und besonders Wilhelminens Eltern verlangten, daß er sich um ein Amt bewerben sollte. „Ich will kein Amt nehmen,“ schrieb er an die Verlobte. „Warum nicht? Wie viele Antworten liegen mir auf der Seele! Ich kann nicht eingreifen in ein Interesse, das ich mit meiner Vernunft nicht prüfen darf. Ich soll thun, was der Staat von mir verlangt, und doch soll ich nicht untersuchen, ob das, was er von mir verlangt, gut ist. Zu seinen unbedeutenden Zwecken soll ich ein bloßes Werkzeug sein – ich kann nicht. –– Nein, es geht nicht, ich passe für kein Amt. Ich bin auch wirklich zu ungeschickt, um es zu führen. Ordnung, Genauigkeit, Geduld, Unverdrossenheit sind Eigenschaften, die bei einem Amte unentbehrlich sind und mir ganz fehlen. Ich arbeite nur für meine Bildung gern und da bin ich unüberwindlich geduldig und unverdrossen. Für die Amtsbesoldung Listen zu schreiben und Rechnung zu führen? – ach! ich würde eilen, eilen, daß sie fertig würden, und zu meinen geliebten Wissenschaften zurückkehren. Ich würde die Zeit meinem Amte stehlen, um sie meiner Bildung zu widmen. Nein, es geht nicht!“

Natürlich waren die Eltern seiner Verlobten mit diesen Ansichten nicht einverstanden, aber Wilhelmine blieb ihm treu, ohne sie jedoch zu theilen. Kleist selbst lebte in Berlin, ausschließlich mit seinen Studien beschäftigt, unter denen die Philosophie den ersten Rang einnahm. Plötzlich aber erfaßte ihn ein Ekel vor allem Wissen, ein eigenthümlicher Zustand von Zweifel und Uebersättigung, wie er häufig gerade die vorzüglichsten Geister zu befallen pflegt, während die Mittelmäßigkeit davon verschont bleibt. „Seit die Ueberzeugung,“ schreibt er an seine Braut, „daß hienieden keine Wahrheit zu finden ist, vor meine Seele trat, habe ich kein Buch mehr angerührt.“ Um sich aus diesem furchtbaren Zustande zu reißen, unternahm er in Begleitung seiner treu ergebenen Schwester Ulrike im Jahre 1801 die schon längst beabsichtigte Reise nach Paris. Der Anblick des modernen Babel war nicht geeignet, seinen Seelenschmerz zu heilen. Der Luxus, die Gedankenlosigkeit und Unsittlichkeit des französischen Volkes nährten nur seine Schwermuth. Ernstlich dachte er daran, sich ganz von der Welt zurückzuziehen, mit dem Rest seines Vermögens sich in der Schweiz niederzulassen und als Landmann das Feld zu bebauen. Diesen Vorschlag machte er auch seiner Braut, indem er ihr schrieb: „Unter den persischen Magiern gab es ein religiöses Gesetz, ein Mensch könne nichts der Gottheit Wohlgefälligeres thun, als dieses: ein Feld zu bebauen, einen Baum zu pflanzen und ein Kind zu zeugen. Das nenne ich Weisheit, und keine Wahrheit hat noch so tief in meine Seele gegriffen, als diese: das soll ich thun, das weiß ich bestimmt! Ich will im eigentlichen Verstande ein Bauer werden, mit einem etwas wohlklingenderen Worte ein Landmann. Was meine Familie und die Welt dagegen einwenden möchten, wird mich nicht irre führen. Jeder hat seine eigene Art, glücklich zu sein, und Niemand darf verlangen, daß man es in der seinigen sei.“ –

Wilhelmine hielt es für ihre Pflicht, diesen neuen gewagten Lebensplan ihres Verlobten, der ihrer ganzen Lebensanschauung widersprach, ihren Eltern mitzutheilen, die von ihrem Standpunkte ein äußerst ungünstiges Urtheil darüber fällen mußten. So schonend als möglich theilte sie ihm ihre Bedenken mit; Kleist fühlte sich verletzt und schwieg fünf Monate, worauf er ihr einen kurzen Brief, den Scheidebrief seiner Liebe, schrieb, in dem er sich bitter über ihre Kälte beklagte und hinzufügte, daß er nun allerdings zu der Einsicht gekommen, sie habe ihn nie geliebt und werde ihn nie lieben. Sein erster Liebestraum war an der Prosa des Lebens gescheitert.




An den reizenden Ufern des Thuner Sees, da, wo sich die rauschende Aar in seine stille Fluth ergießt, liegt eine kleine Insel im Angesicht der majestätischen Alpen, wie geschaffen zu einem ruhigen, beschaulichen Asyl, nur von einigen Fischerfamilien bewohnt, die in patriarchalischer Einfachheit lebten. Hier erschien gegen Ende April des Jahres 1802 ein junger Mann von ungefähr sechsundzwanzig Jahren mit charakteristischen, wenn auch nicht gerade schönen Zügen. Ueber die hohe Stirn fiel das schlichte bräunliche Haar nachlässig hin, die kleinen, tiefliegenden Augen verriethen eine gewisse anziehende Schwermuth, während die vollen Lippen und das rundliche Kinn nicht ohne Anmuth waren. Der Fremde hatte ein leerstehendes Häuschen auf der Insel bezogen, welches er allein bewohnte. Im Anfange lebte er ganz für sich, in tiefster Zurückgezogenheit, meist am Ufer der Insel umherstreifend und sich seinen eigenen Gedanken überlassend. Auf seinen Ausflügen hatte er die Bekanntschaft einer armen Fischerfamilie gemacht, mit der er zuweilen um Mitternacht auf dem Nachen über den See fuhr, wenn sie ihre Netze im Silberlicht des Mondes auswarf. Bald hatte er das Vertrauen und die Liebe der schlichten Leute gewonnen, so daß ihm der Vater von zwei Töchtern die eine überließ, damit sie ihm die Wirthschaft führe. Es war ein freundlich liebliches Kind, „Mädeli“ geheißen, das sich ihm innig anschmiegte und Alles that, was sie „dem Herrn“ an den Augen absehen konnte. Beide führten ein idyllisches Leben; sie standen mit der Sonne auf, er pflanzte im Garten, sie schaffte in der Küche, während er arbeitete; dann wurde unter Scherzen und Lachen das gemeinschaftliche, frugale Mittagsmahl genossen. Sonntags zog das Mädeli ihre schöne Schweizertracht an, ein Geschenk ihres großmüthigen Freundes, dann schifften sie singend über den See; sie ging in die Kirche nach dem nahen Thun und er bestieg eine der schönen Waldhöhen jenseit des Sees, und nach der Andacht kehrten sie wieder in das freundliche Häuschen zurück.

So verging ein Tag wie der andere gleich einem glücklichen Traum. Nur selten zeigte sich eine finstere Wolke auf der hohen Stirn des Mannes, und auch diese mußte bald dem lieblichen Geplauder des holden Mädeli weichen. Einmal fiel es ihm ein, dem unschuldigen Kinde zu sagen, daß es sparen sollte. Das Mädchen aber in ihrer Einfalt verstand ihn nicht und er war nicht im Stande, ihr das Ding begreiflich zu machen; Beide lachten darüber ausgelassen und es blieb beim Alten. Er selbst fühlte sich so glücklich, wie nie zuvor, und seine Briefe bekundeten dies. Auch an Besuch fehlte es nicht auf der einsamen Insel; zuweilen kamen einige Freunde, die er sich in der Schweiz erworben hatte, der liebenswürdige Geßner, der hochbegabte Zschokke und der junge Ludwig Wieland, der talentvolle Sohn des berühmten Dichters. Dann wurden bald heitere, bald ernste Gespräche über Natur, Kunst und Literatur geführt und bei einem Glase edlen Weines manches schöne Gedicht vorgelesen und beurtheilt. Eines Tages hatten sich die Freunde „wie die Hirten Virgils“ zu einem poetischen Wettkampf vereinigt. In Zschokke’s Zimmer hing ein französischer Kupferstich, in dessen Figuren sie ein trauriges Liebespärchen, eine keifende Mutter mit einem Majolikakruge und einen großnasigen Richter zu erkennen glaubten. Jeder sollte diesen Stoff nach seiner Weise bearbeiten, Wieland ihn als Satire, Zsckokke als Erzählung und Kleist, welcher der Bewohner des kleinen Häuschens am Thuner See war, als Lustspiel behandeln. Seine Arbeit: „Der zerbrochene Krug“, erhielt einstimmig den Preis, und dieses Urtheil der Freunde bestärkte ihn in seinem Entschlusse, fortan als Dichter zu leben.

Auf seiner Insel erwachte mit ungestümer Kraft der poetische Schöpfertrieb in seiner Seele; eine Tragödie, „Die Schroffensteiner“, hatte er bereits vollendet und neue großartige Pläne bewegten seine Brust. Den Entschluß, Landmann zu werden, hatte er wieder aufgegeben, dafür war er ein Dichter geworden und zwar, wenn er den Versicherungen seiner Freunde trauen durfte, ein Dichter, der sich den ersten Genien dreist an die Seite stellen durfte. Der Traum seines Lebens schien in Erfüllung zu gehen: er war ein Dichter und wurde geliebt. Doch nur kurze Zeit sollte dieses Glück dauern. Zwei Monate hatte er mit seinem Mädeli auf der stillen Insel gelebt, als sie eines Tages ihn verließ und nicht mehr zurückkehrte. Wie man sagt, hatte ein französischer Officier, der ihr mit seiner kleidsamen Uniform und heiteren Laune besser gefiel, als der zuweilen so ernste und ihr unverständliche Dichter, sie entführt. Der Aufenthalt auf der Insel war diesem nun verleidet, sein [74] Glaube an Unschuld und Herzenseinfalt erschüttert. Siech und gebrochen schleppte er sich nach Bern, wo er auf das Krankenlager niedersank und mehrere Wochen in Gefahr schwebte. Die Seelenkämpfe und Erschütterungen seines Gemüths, so wie die Ueberanstrengung seiner geistigen Kraft drohten ihn aufzureiben, doch seine gesunde Natur und die Pflege seiner Freunde retteten ihn.

Mit gebrochenem Herzen verließ er die Schweiz, wo er ein kurzes Liebes-Idyll geträumt.




In Oßmanstädt, einer ländlichen Besitzung in der Nähe von Weimar, lebte der liebenswürdige Dichter des Oberon, der alte Wieland, im Kreise seiner zahlreichen Familie, umringt von sechs blühenden Töchtern und vier begabten Söhnen, ein heiteres, poetisches Stillleben. Poetische Arbeiten wechselten mit angenehmen Spaziergängen und Ausflügen in die reizende Umgegend. Das einfache Mahl wurde mit heiteren, attischen Scherzen gewürzt, und es gab wohl so leicht kein glücklicheres Haus als das des allgemein verehrten Dichters, der wie ein ehrwürdiger Patriarch mitten unter seinen schönen, wohlgerathenen Kindern erschien. In diesen Kreis guter und bedeutender Menschen trat der schwer geprüfte, ruhelose Kleist. Eine dringende Empfehlung von dem jugendlichen Ludwig Wieland, dem er in der Schweiz einen bedeutenden Freundschaftsdienst geleistet, verschaffte dem seltsamen Gast eine herzliche Aufnahme, obgleich der alte Wieland keineswegs ein Freund der sogenannten „romantischen Schule“ war, zu der sich Kleist offen bekannte. Manche Eigenheit des wunderlichen Besuchers, der in Oßmanstädt längere Zeit verweilte, konnte nicht unbemerkt bleiben. Seine Absonderlichkeiten traten jetzt weit schärfer, als früher hervor, besonders seine zunehmende Zerstreutheit. Ein einziges Wort genügte, ihn dermaßen zu fesseln und sein ganzes Nachdenken in Anspruch zu nehmen, daß er von Allem, was man zu ihm sprach, nichts vernahm und auch keine Antwort auf die an ihn gerichteten Fragen gab, ganz in Selbstvergessenheit versunken. Oefters saß er auch bei Tisch, für sich zwischen den Zähnen murmelnd, mit der Miene eines Menschen, der sich allein glaubt, oder mit seinen Gedanken fern von der Gesellschaft weilt. Nicht ohne Bedenken beobachtete Wieland das seltsame Treiben seines Gastes, dem er mit der ihm angeborenen Liebenswürdigkeit und Offenheit entgegengekommen war, ohne daß derselbe eine gewisse Scheu und Zurückhaltung ablegte und ihm mit gleichem Vertrauen vergalt.

Nach und nach befreundeten sich jedoch der greise Dichter und seine Familie mit dem Wesen Kleist’s, der unwillkürlich Theilnahme erweckte. Die reizende Lieblingstochter Wieland’s, ein sinniges, echt poetisches Mädchen von neunzehn Jahren, ahnte mit weiblichem Instinct ein tiefes Leiden in der Seele des melancholischen Gastes und fühlte sich dadurch zu ihm um so mehr hingezogen. Die Liebe, welche ihm von allen Seiten entgegen kam, löste endlich die Rinde von seinem Herzen und öffnete die verschlossene Brust. Eines Tages, als ihn Wieland in schonender Weise wegen seiner Zerstreutheit und Geistesabwesenheit mit freundlichem Lächeln zur Rede stellte, gestand er ihm, daß er in solchen Augenblicken mit der Dichtung eines neuen Dramas beschäftigt sei. Als Wieland darauf in ihn drang, entschloß er sich ihm einige Bruchstücke seiner unvollendeten Tragödie „Robert Guiscard“ aus dem Gedächtnisse mitzutheilen. Der Eindruck war so mächtig, daß Wieland keinen Ausdruck für seine Bewunderung fand. „Wenn die Geister des Aeschylus, Sophokles und Shakespeare’s sich vereinigten,“ rief er bei dieser Gelegenheit begeistert aus, „eine Tragödie zu schaffen, sie würde das sein, was Kleist’s Tod Guiscard’s des Normannen, sofern das Ganze demjenigen entspräche, was ich gehört.“ Es stand bei ihm fest, daß Kleist dazu geboren sei, die große Lücke in unserer dramatischen Literatur auszufüllen, die, nach Wieland’s Meinung wenigstens, selbst von Schiller und Goethe noch nicht ausgefüllt worden ist. Er bat und beschwor ihn, das angefangene Werk zu vollenden, indem er hinzufügte: „Nichts ist dem Genius der heiligen Muse, die Sie begeistert, unmöglich. Sie müssen Ihren Guiscard vollenden, und wenn der ganze Kaukasus und Alles auf Sie drückte.“

Der liebenswürdige Enthusiasmus des Vaters theilte sich natürlich dem noch leichter entzündlichen Herzen der Tochter mit. Zu der aus Mitleid entsprungenen Neigung trat noch die Bewunderung für den Genius, in dessen Verehrung sie aufgewachsen und erzogen war. Sie liebte Kleist und verbarg ihm nicht ihre zärtlichen Gefühle, die er jetzt doppelt liebesbedürftig bald erwiederte. Mit Freuden sah Wieland dies Verhältniß entstehen, das seinen Wünschen für das Wohl seines Kindes vollkommen zu entsprechen schien. Noch einmal lächelte das Glück dem armen Dichter, aber er selbst zerstörte es schnell wieder. Trotz der Bewunderung Wieland’s genügte ihm nicht das Geschaffene, er verzweifelte und vielleicht nicht ohne Grund daran, seine Tragödie so zu vollenden, wie er sie angefangen; sie blieb in der That nur ein Fragment. Mit demselben grübelnden, zersetzenden Verstande betrachtete er seine Liebe. Er fühlte sich unfähig, ein Mädchen noch glücklich zu machen. Flüchtig, heimathslos, ohne Beruf, den eigenen Heerd zu bauen, glaubte er, entsagen zu müssen. Was konnte er ohne Vermögen, ohne Stellung der Geliebten bieten? Nichts, als ein zerrissenes Herz, eine unsichere Zukunft und jenen unnennbaren Drang nach dem Ideale, der ihn der Wirklichkeit entfremdete. Er prüfte sich und fand, oder glaubte wenigstens zu finden, daß kein irdisches Weib ihn ganz auszufüllen im Stande sei. Sein Herz gehörte der Poesie und ihr allein sein Sinnen und Trachten. „Ich habe hier,“ schrieb er an seine Schwester, der er Alles anvertraute, „mehr Liebe gefunden, als recht ist, und muß über kurz oder lang wieder fort; mein seltsames Schicksal!“

Nicht ohne Schmerz und nach schweren Kämpfen riß er sich los und verließ das friedliche Oßmanstädt, den väterlichen Freund und das geliebte Mädchen, welches weinend von ihm Abschied nahm, seine Gründe ahnend und ehrend.

Durch eigene Schuld hatte er den schönen Liebestraum seines und ihres Lebens für immer zerstört.




Mehrere Jahre waren seitdem vergangen: nach manchen Irrfahrten lebte Kleist in Dresden, wo ihm sein bedeutendes Talent in den ersten Kreisen eine günstige Aufnahme verschaffte. Das Schicksal schien müde, ihn zu verfolgen. Er fand Freunde und Anerkennung, die bedeutendsten Männer und Frauen interessirten sich für ihn. Auch seine Stimmung war eine andere geworden, die finstere Melancholie geschwunden, sein Herz voll Hoffnung für die Zukunft; er selbst heiter, zuweilen fast übermüthig. Bei dem österreichischen Gesandten, der in Dresden damals den Ton angab, wurde auf der eleganten Privatbühne ein eben vollendetes Stück von ihm mit großem Beifall von vornehmen Dilettanten aufgeführt. Nach beendeter Vorstellung erhob sich das schönste Mädchen Dresdens, um ihn mit einem Lorbeerkranz zu krönen. Man verglich ihn mit Tasso, mit dem er in der That so manche Aehnlichkeit hatte, vor Allem die gleiche Neigung, vom tiefsten Schmerze sich zur höchsten Freude aufzuschwingen. Hinter Kleist lag die düstere Vergangenheit, vor ihm die heiterste, lachende Zukunft. Auch die Liebe regte sich in seiner Brust von Neuem; die holde Kranzspenderin hatte es ihm angethan. Sie war nicht nur das schönste, sondern auch das reichste Mädchen Dresdens und lebte in dem Hause des bekannten Appellationsraths Körner, dem Sammelplatz und Mittelpunkt aller geistigen Elemente. Hier war Kleist ein täglicher, willkommener Gast, und seine aufkeimende Liebe fand kein Hinderniß. Die Geliebte hatte keine Eltern mehr, und ihr Vormund, der treffliche Körner, gab von ganzem Herzen seine Einwilligung zu dieser Glück verheißenden Verbindung des Talents mit der Schönheit, um so mehr, da für die Zukunft des liebenden Paares ausreichend gesorgt war.

Kleist war glücklich, aber er gehörte leider zu jenen Naturen, die das Glück nicht zu ertragen vermögen. Wieder regte sich der alte Dämon, jene unheilvolle Neigung, sein Glück auf die Probe zu stellen. Von dem Gedanken erfüllt, daß die Geliebte ihm ganz und ausschließlich angehören müsse, verlangte er von ihr, ohne allen Grund, ohne jede Veranlassung, daß sie ihm ohne Vorwissen ihres Vormundes, des alten Körner, schreiben solle. Lächelnd schlug sie ihm die seltsame Bitte ab, in der sie nur eine vorübergehende Laune erblickte. Drei Tage ließ er sich darauf nicht sehen, und als sie ihn trotzdem freundlich empfing, wiederholte er sein wunderliches Verlangen nur noch dringender, als das erste Mal. Da sie sich von Neuem weigerte, ging er fort, um erst nach drei Wochen wiederzukehren. Auf ihre zärllichen Vorwürfe antwortete er nur mit der Erneuerung seiner Forderung. Auch diesmal wurde er von ihr zurückgewiesen, indem sie zwar liebevoll, aber ernst auf das Unstatthafte seines Betragens hinwies. Er verließ sie bereits mit dem festen Entschlusse, noch einen Versuch zu machen und dann das ihm so theuere Verhältniß für immer zu lösen. Volle drei Monate wartete der Sonderling, ehe er zu ihr zurückkehrte. Selbst [75] jetzt noch war sie geneigt, ihm zu verzeihen, wenn er sein Unrecht einsehen würde. Aber Kleist beharrte auf seinem Eigensinn und stellte gebieterischer als je die alte Forderung, worauf sie eben so entschieden bei ihrer Weigerung verblieb. Als die ihr von ihm gesetzte Frist verstrichen war, kam er nicht mehr wieder. Damals soll er aus Verzweiflung über diesen Ausgang, den er selbst verschuldet hatte, zum ersten Male versucht haben, seinem Leben ein Ende zu machen. Die Freunde fanden ihn ohne Bewußtsein, neben ihm ein geleertes Fläschchen, das Opium enthalten hatte. Bald erholte sich der Unglückliche und fand bei der Poesie, der wahren und einzigen Geliebten seines Herzens, Trost und Erhebung. Sie führte ihm das Ideal weiblicher Hingebung, wie es in seiner Seele schlummerte, entgegen. Vor ihm erschien das holde „Käthchen von Heilbronn“, die reizende, unsterbliche Verkörperung seiner Liebesträume.

Kleist aber liebte seitdem kein irdisches Weib mebr, nur noch die Muse, welche ihm treu blieb und sein Grab mit ihrem unverwelklichen Lorbeer kränzte, als er, verfolgt vom Mißgeschick, seinem Leben mit eigener Hand ein Ziel setzte, wie wir früher den Lesern der „Gartenlaube“ erzählten.




Ein Künstlerleben.
Von Eugen Peschier.

Vor einiger Zeit sah ich in einem illustrirten Blatte zwei Abbildungen, deren Zusammenstellung einen eigenthümlichen Eindruck auf mich machte. Rechts Dorfbewohner aus dem Canton Tessin, bemüht, einen vom Schneesturm verschütteten Leichnam aus seinem eisigen Grabe zu befreien; links eine der blutigen Scenen aus dem polnischen Aufstande. Dort also eine ganze Gemeinde Tag und Nacht mit fieberhaftem Eifer grabend, um einen Unglücklichen an’s Licht fördern, während dieser schon längst der goldenen Sonne die Augen verschlossen hatte – und hier eine jener gräßlichen Metzeleien, wo Hunderte und Tausende hingeopfert, zu Dutzenden in’s gemeinsame Grab geworfen werden und noch glücklich sind, wenn im Spitale über dem Schmerzensbette eine Nummer den Namen ersetzt, nach dem Niemand fragt. Es liegt etwas tief Ergreifendes in diesem Gegensatze. Wie sonderbar ist nicht nur das Menschenloos, sondern auch menschliche Theilnahme vertheilt! Es mag allerdings oft die Größe des Verlustes den Schmerz erdrücken und nicht zur Besinnung kommen lassen; nach und nach zersplittert sich dieser, eine neue Woge des Lebens geht darüber hin und das Unglück ist vergessen, ehe man sich desselben recht bewußt geworden, während der einzelne Schlag viel tragischer wirkt, weil er, den eigenen Erlebnissen näher gerückt, um so leichter Furcht und Mitleiden weckt. Aber im Großen und Ganzen liegt doch viel Ungerechtes und Launenhaftes in der Theilnahme; das Zufällige, Blitzartige hat zu viel Einfluß, und selten denkt die Menge den großen Räthseln des Menschenlebens nach, die sich ruhig entfalten und ruhig lösen.

Dieser Eindruck wurde mehrere Wochen darauf wieder lebbaft in mir wach. An einem Sonntag des vergangenen Jahres bewegte sich ein endloser Leichenzug durch die Straßen Genfs. Die Freimaurer trugen einen Bruder, die Feuerwehrmänner einen Cameraden zu Grabe, der auf dem Schlachtfelde gefallen, d. h. vom Giebel eines brennenden Hauses zerschmettert unter die entsetzte Menge gestürzt war. Mit schmerzlicher Theilnahme erfuhr man, daß der Verunglückte ein junger Bildschnitzer gewesen, der sich vom Packknecht durch riesigen Fleiß zu großer Geschicklichkeit in seiner Kunst emporgeschwungen hatte. Die früh gebrochene Kraft wurde in’s Grab gesenkt, während in der Nähe des Friedhofs der Expreßzug in die weite Welt, in das volle Menschenleben hineinbrauste. Wie gesagt, fast alle Bürger der Stadt folgten dem Sarge. Vierzehn Tage zuvor, gleichfalls an einem Ruhetage, warf ein kleines, ganz kleines Häuflein Männer die schwere Scholle auf den Sarg eines Mannes, der auch in den besten Jahren seines Lebens der Kunst und dem Vaterlande entrissen wurde. Ja, dem Vaterlande, und darin finde ich das Ungerechte dieses kleinlichen Ignorirens, denn Alexander Calame – er war der von Wenigen zur letzten Ruhestatt Geleitete – war nicht blos ein großer, sondern vor Allem ein nationaler Künstler. Während man überall im Auslande um den Tod Calame’s trauert, erwiesen ihm in der Heimath nur wenige Freunde und des Anstandes halber einige Vertreter des Kunstvereins die letzte Ehre.

Die nachstehende Lebensskizze des Künstlers wird begreiflich machen, warum ich diese lange Einleitung vorausschickte. Ich bemerke aber zum voraus, daß ich keine fesselnden Episoden, keine spannenden Anekdoten mitzutheilen habe; still und anspruchslos, wie die Leichenfeier, war das Leben des Malers gewesen. Aber Eines wird aus dem Lebensbilde hervorgehen: was es kostet, um zu erreichen, was köstlich ist – und wie leicht der äußerlich Glückliche verkannt wird. Am liebsten freilich hätte ich den Leser in das prachtvolle Atelier Calame’s geführt, um dort das Bild des Künstlers in die verwaiste Stätte zurückzurufen, allein die Achtung vor dem Schmerze der Hinterbliebenen verbietet’s, neugierig an die noch immer geschlossene Thür zu klopfen; aber in eine andere Werkstätte werden wir eintreten, in die große erhabene Alpenwelt, deren Majestät und ewige Schönheit im Kampf der Elemente und in der Sabbathruhe der Pinsel Calame’s uns so wunderbar vor Augen zaubert. Aus den Fenstern seines Ateliers schweifte sein Blick über den See, welcher die Schönheit des Himmels ein- und ausathmet; mit der Sehnsucht, welche die Wasser in unserer Seele wecken, folgte er dem Wogenschlag bis zu den duftigen Linien des Jura; durch das düstre Rhonethal eilte die Phantasie über den Gemmipaß in jene Riesenwelt, wo Calame’s Kunst ihr Heiligthum und ihre Heimath fand.

Der Vater des Künstlers, ein armer Maurermeister, stammte aus dem Canton Neuenburg und vererbte seinem Sohne die zwei Haupttugenden seiner Heimath: Muth und Ausdauer. Beim Bau eines Hauses am Genfer See verunglückt, hinterließ er seiner Wittwe nichts, als das einzige Kind, Alexander, das den 28. Mai 1810 in Vevey geboren war. Der Knabe folgte der Mutter nach Genf und trat im vierzehnten Jahre in das Bankgeschäft des Herrn Diodati als Handelslehrling; seine hübsche Handschrift genügte und empfahl ihn für die Wahl dieses Berufs. Allein in der Hand, die so zierlich schrieb, zuckte ein neckischer Kobold. Während der Lehrling am Pulte saß und eifrig zu rechnen schien, verwandelten sich die Schnörkel, mit welchen die jungen Handelsbeflissenen gern die monotone Regelmäßigkeit ihrer Schrift zu verschönen suchen, in wundervolle Arabesken; die gleichförmigen Striche fügten sich aneinander zu allerliebsten Zeichnungen, die Nullen wurden zu zierlichen Elfen, die um die Blumen tanzten, und so füllte der Knabe jedes Blättchen mit den Gebilden seiner Phantasie. Sein Chef entdeckte den Frevel, und nun stellt man sich wohl irgend eine Krämerseele vor, einen ausgetrockneten Zahlenmenschen, der dem Knaben tüchtig die Moral liest, ihm einprägt, wie die Null die lieblichste Form, Schwarz auf Weiß die solideste Farbe und ein Wechsel auf eine gute Firma mehr werth sei, als ein unsicherer Wechsel auf den Geschmack und die Gunst des Publicums. Aber Herr Diodati dachte anders; er schenkte dem begabten Zeichner eine Farbenschachtel, nicht wie man sie Kindern zum Klecksen giebt, sondern gute werthvolle Farben.

Im Besitze seines Schatzes geht Alexander, obgleich er noch nie im Leben einen Pinsel in die Hand genommen hatte, an einem Bilderladen vorüber, sieht am Schaufenster einige colorirte Schweizeransichten und tritt ohne Weiteres ein, um den Händler zu fragen, ob er nichts auszumalen habe. Dieser giebt halb zweifelnd, halb überzeugt von dem glänzenden Auge des Knaben und dem zuversichtlichen Tone desselben einige Zeichnungen zum Coloriren her. Calame eilt nach Hause, arbeitet zwei Wochen lang ohne Lehrer und unermüdet die Nächte hindurch, bringt dem erstaunten Auftraggeber die bestellte Arbeit zurück und erhält ein glänzendes Goldstück. Voll Jubel über den Erfolg, mit der unbeschreiblichen Freude, welche der Arme empfindet, wenn er den ersten Lohn seiner Arbeit in Händen hat, stürzt der Knabe nach Hause und wirft mit Freudenthränen der armen Mutter das Geld in den Schooß. Diese Pietät für die Mutter hat Calame sein Leben lang bewahrt; die Liebe zu ihr verwob sich mit der Liebe zur Kunst und beide trieben ihn zu rastloser Arbeit. Der edle Diodati erlaubte ihm, einen Theil der Nachmittagsstunden zur Ausbildung seines Talentes [76] zu verwenden. Diday, der berühmte Genfer Landschaftsmaler, der mit Calame die Palme theilt, nahm den Jüngling in sein Atelier, und hier machte der Schüler so überraschende Fortschritte, daß sein Gönner auch den letzten Zweifel an der glänzenden Zukunft des jungen Künstlers aufgab und ihn selbst bewog, der kaufmännischen Laufbahn völlig zu entsagen. Schon nach zwei Jahren verließ Calame Diday’s Werkstatt als ebenbürtiger Rivale seines Meisters. Damals schon fanden seine Bilder schnell ihre Liebhaber und gute Preise.

Alexander Calame.

Im Jahre 1837 stellte er sieben Oelgemälde im Genfer Museum aus, welche trotz des Wortspiels eines eifersüchtigen Künstlers, der dieselben „Calamitäten“ nannte, großes Aufsehen erregten. Schon vor diesem Erfolge hatte sich Calame mit einem liebenswürdigen Mädchen verheirathet, und nun war sein Leben getheilt zwischen dem Heerde friedlicher Häuslichkeit und der doppelten Werkstätte seines genialen Schaffens: der Alpenwelt, wo er seine großartigen Eindrücke sammelte, und dem Atelier, wo er die Bilder schuf, die nun die Museen und Galerien zweier Welten schmücken. Obgleich seine ersten Versuche ebensoviele glänzende Siege waren, machte er unablässige Studien für sich und seine Schüler, die aus ganz Europa und selbst über den Ocean herüber nach Genf strömten. Mit ihnen und einigen Herzensfreunden durchwanderte er jeden Sommer die Schweiz und kannte diese bald so genau, daß er jedes Plätzchen wußte, wo er diese oder jene Studie für einen Baumstamm, eine Gletscherform oder den Wuchs einer seltenen Pflanze zu suchen hatte.

Vor Diday hatten die Künstler höchstens am Fuße des Gebirgs die Motive zu ihren Bildern gesucht, erst jener stieg in die mittlere Zone, in die Gebirgsthäler, auf die Alpenpässe, und dort machte auch Calame als Diday’s Schüler in den ersten Jahren seiner Meisterschaft Halt. Das Hauptbild Calame’s aus der mittleren Zone der Alpenwelt, welches zuerst seinen europäischen Ruf gründete, ist „der Sturm auf der Handeck.“

Wer kennt nicht die Handeck, mit dem prachtvollen Wassersturze der Aare auf dem vielbetretenen Pfade zur Grimsel? Ein Felsen – einige Tannen – ein Bergstrom – das ist Alles, und doch macht das Bild einen unbeschreiblichen Eindruck. Es graut einem vor diesem Kampf der Elemente, der schon ausgetobt hat, dessen zerstörende Wuth sich aber an den Opfern offenbart. Die Tannen sind so wundervoll plastisch gemalt, daß man glaubt, man brauche nur hineinzutreten in ihr Dickicht, allein man bebt davor zurück, man hört die vom Sturm gepeitschten Bäume seufzen und stöhnen und leidet mit den zerbrochenen Aesten, die wie jammernd am Boden liegen. Und der Felsen! Calame’s Felsen sind keine glatten oder eckigen Gebilde, die mit dem Roth der Alpenrosen übertüncht werden. Nein, seine Felsen erzählen die Geschichte von Jahrtausenden; sie tragen die Spuren des Wildwassers, das sie übertost, der Quelle, die sie tropfenweise ausgehöhlt; die Spur der Lawine, des Blitzstrahls, des nistenden Mooses, der üppig wuchernden Baumflechte; man glaubt den Sturm zu hören, der sich heulend an ihnen bricht. Und doch verläßt die Seele befriedigt dieses Schauspiel, weil die Kunst, die das Einzelne zur allgemeinen Weihe ruft, über die Schrecken und die Unordnung der Elemente triumphirt hat und im Herzen des Beschauers die Ahnung des siegreichen Menschengenius weckt.

Wie aber hat Calame diese Naturwahrheit so unnachahmlich getroffen? Etwa zufällig durch flüchtiges Beschauen mittels des Fernrohrs aus den Fenstern des schützenden Hotels? Nein, in sein dünnes Plaid gehüllt eilte er hinaus in den markdurchdringenden Nebel, in die eisigen Regen- und Hagelschauer, in den wüthenden Schneesturm, um dem Herzschlag der Natur zu lauschen, der Natur in’s Angesicht zu schauen. Einer seiner nächsten Freunde erzählte mir vor drei Jahren, als Calame schon von Krankheit gebeugt nur noch mühsam Athem holte, als er bereits eine Million besaß und seit Jahren auf dem Gipfel des Ruhmes stand, sei er einen ganzen Tag am Fuße eines nackten Felsens in der verzehrenden Gluth der Augustsonne vor einem Bache stehen geblieben, um die Farbe der Steine im Sonnenglanze zu studiren. Wie seine Ausdauer, so war auch sein Muth und seine Wahrheitsliebe in der Kunst. Calame hatte für eine Pariser Ausstellung einige Eichen im Sturm gemalt. Das Original befindet sich jetzt im städtischen Museum in Leipzig. Zwei Bekannte besuchten den Künstler, um das vollendete Werk zu bewundern. Sie fanden den Freund in fieberhafter Aufregung. Seit drei Nächten hatte er kein Auge geschlossen. „Es fehlt etwas an dem Bilde, ich weiß aber nicht was; helft mir, saget mir wo es fehlt!“ ruft Calame den Eintretenden zu und eilt nach dem Atelier zu seinen Schülern.

„Ich weiß, was fehlt,“ sagt der Eine leise zu dem Andern, „die Eiche, die auf dem Vorderplan lang hingestreckt am Boden liegt, wundervoll als Detail, stört die Harmonie des Ganzen.“

In diesem Augenblicke tritt Calame in den Salon. „Was hast Du gesagt? Du weißt etwas, sprich.“

Zögernd rückt Töpffer – denn er war’s, der bekannte Verfasser der „Genfer Novellen“, der die Bemerkung gemacht hatte – mit seiner Vermuthung heraus.

„Das ist’s, das ist’s!“ jubelt Calame, nimmt das Radirmesser und im Nu ist die prachtvolle Eiche vom Bilde entfernt. Es waren nur noch einige Tage bis zum letzten Termin der Einschickung. In dieser kurzen Zeit malt der Künstler einen einfachen Vordergrund, und das Meisterwerk wird mit der goldenen Medaille belohnt. Eben diese Treue im Detail, diese meisterhafte Ausführung des Vordergrundes, welche die französische Schule achselzuckend [77] lobt oder gar tadelt, zeichnet sämmtliche Werke des Meisters aus. Der Maler blieb indeß nicht in der mittleren Bergzone stehen, er eroberte der Kunst die dritte und höchste Zone der Alpenwelt, und hier feierte der Genius Calame’s seine höchsten Triumphe. Das Chaos der nackten Gipfel, der felsigen Einöden, der schauerlichen Abgründe, der Eisklüfte dieser Zone, die da aufhört, wo der Himmel beginnt, diese übermenschliche Natur hat Calame menschlich erfaßt und künstlerisch verklärt.

Das erste Meisterwerk, das diesen Charakter trägt, ist der Monte-Rosa. Das Original befindet sich im Besitze des Professors de la Rive in Genf, in größerem Maßstabe ausgeführt in den Museen von Neuenburg und von Leipzig, und viele der Leser werden es am letztern Orte zu bewundern Gelegenheit gehabt haben. Es ist aufgenommen in der Nähe des Randahgletschers über dem Sanct Niclasthal. Im Vordergrunde eine düstere Wasserfläche – eine verlorene Weide, öde Hügel, tiefmelancholische Einsamkeit – hinten die Monte-Rosakette im herrlichsten Morgenalpenglühen. Wir stehen in ehrfurchtsvollem Bangen vor der höchsten Majestät der Alpenwelt. Dieser wunderbare Glanz der Schneegipfel, zum Theil von rosigem Lichte übergossen und darüber der tief-, fast schwarzblaue Himmel; der träumerische Duft, der über dem Abgrund schwebt und die weite Ferne des Hintergrunds so unnachahmlich zeigt; die stille Luft; das Schweigen der Einsamkeit; die göttliche Ruhe lassen die Seele ahnen, daß über dieser Schöpfung der Odem des Geistes webt, der einst über den Wassern schwebte.

Wahrlich, wer so malte, der muß ein einfaches, kindliches, frommes Gemüth gehabt haben! Mit kindlicher Liebe an seiner Mutter hängend, bald und glücklich verheirathet, frühe kränkelnd, von Natur ernst gestimmt, liebte Calame die Kunst und die Künstler, aber nicht das gewöhnliche bunte, laute Künstlertreiben, und das wurde ihm vielfach verargt. Wie er seine eigene Mutter geliebt, so legte er seinen beiden Kindern die Mutter an’s Herz fast selbst mit kindlichem Flehen.

Man hat Calame oft der Habsucht, des Geizes und der Härte geziehen. Er hinterläßt allerdings mehr als eine Million; dies genügt Manchen, um den Stein auf ihn zu werfen. Allein nicht Calame machte, sondern die Käufer boten die Preise. „Gut,“ sagen die Beschränkten seiner Feinde, „aber warum, malte er fort, als er ruhen und Andern den Verdienst lassen sollte?“ Die einfache Antwort ist: Calame mußte malen; das künstlerische Schaffen war seine Lebensbedingung. Er wurde von einem unstillbaren Arbeitfieber verzehrt. Als er einst mit einem Freunde reiste, wollte ihn dieser zu seiner Erholung nach München führen. Allein der Künstler kehrte unterwegs wieder um. „Gieb mir meinen Pinsel wieder,“ ruft er schmerzlich aus und opfert die Kunstschätze an der Isar, um einen verborgenen Winkel in Graubündten aufzusuchen, den einzigen Ort, wo er eine gewisse Studie machen zu können hoffte. Oft, wenn ihn seine Freunde zur Ruhe zwangen, bat er sie flehentlich, ihn arbeiten zu lassen; „die innerliche Unruhe bringt mich um; die Arbeit allein verschafft mir Ruhe und Frieden.“ Wenn er den Pinsel weglegte, griff er zum Buche. Seine Briefe und Aufsätze bekunden seine wissenschaftliche Bildung und seine tiefe Kennitniß der Kunst und Kunstgeschichte. Um sich dann und wann einmal auszuspannen, zeichnete er Hunderte von Heften für seine Schüler, Studien und Vorlagen vom einfachen Strich bis zum feinsten Baumschlag, die durch die ganze Welt als Hauptbildungsmittel für den angehenden Landschafter verbreitet sind und von denen jedes einzelne Blatt ein kleines Cabinetsstück ist.

Auch sonst sorgte er väterlich für seine Schüler. Sehr vielen derselben erließ er nicht nur das Lehrgeld, sondern bezahlte noch Wohnung und Kost für sie. Wie Viele haben ihm wohl dafür gedankt? Wie Viele mögen eingestimmt haben in die Vorwürfe neidischer Kunstgenossen! Die stillen Wohlthaten Calame’s sind meist unbekannt. Nur einen Zug will ich erzählen. Als er in Brüssel war, erfuhr er, daß einer seiner Geschäftsfreunde, ein Kunsthändler, in dieser Stadt gestorben sei und Frau und Kinder hinterlasse. Der Verstorbene schuldete ihm ein paar Tausend Franken. Wäre Calame der Geizhals gewesen, für den man ihn ausgiebt, so hätte er die Bilder verkaufen lassen, welche der Kunsthändler im Hause hatte. Statt dessen schenkte er den Hinterlassenen die Schuld und zweitausend fünfhundert Francs baar dazu. Nein, nicht aus Geiz, aus Habsucht, wie man behaupten wollte, arbeitete Calame so rastlos, sondern weil er mußte. Die Anzahl seiner Werke – Oelgemälde, Lithographieen, radirte Kupferstiche – ist ungeheuer. Man glaubt kaum, daß ein einziger Mensch es vermochte, ein solches Riesenpensum zu vollenden, von dem jedes einzelne Stück den Stempel der Vollendung trägt.

Außer den schon genannten Hauptwerken Calame’s, „der Sturm auf der Handeck“, „der Monte-Rosa“, „die Eichen im Sturm“, nenne ich noch den „Vierwaldstättersee“ (im Museum zu Basel und im Besitz des Kaisers der Franzosen) und „die vier Jahreszeiten“ (in der Galerie des Kaisers von Rußland).

Schon früher war Calame in Italien gewesen, der Aufenthalt im Lande der Schönheit und Poesie hat ihn aber nur zu einem Hauptbild begeistert, „die Ruinen von Pästum“ im städtischen Museum zu Leipzig. Im letzten Herbste kehrte er noch einmal nach Italien zurück, nicht um nach neuen Motiven aus der südlichen Landschaft zu suchen, sondern um die weichere Luft des Mittags einzuathmen, die seiner müden, kranken Brust so noth that. Die Arbeit, die mit den Studien verbundenen Strapazen hatten seinen zarten Organismus frühzeitig angegriffen. In Mentone bei Nizza, in dem reizend gelegenen Curorte des Fürstenthums Monaco, schloß, am 17. März des vorigen Jahres, der Künstler die müden Augen – oder vielmehr das müde Auge, denn jetzt, nachdem wir die Fülle und Vollkommenheit seiner Werke bewundert, erwähnen wir noch das Wunderbarste – Calame hatte von der Geburt an nur ein Auge dem Lichte erschlossen, und dieses eine Auge drang in alle Höhen und Tiefen, erfaßte die gewaltigsten Massen und die zartesten Linien, das blendendste Weiß und die lieblichsten Farbenspiele und erblindete doch nicht, obgleich ihm der Künstler mehr zumuthete, als mancher strebsame Meister seinen beiden Augen zumal. – Das giebt auch dem Ausdrucke auf unserem Bilde das eigenthümlich Starre des Blicks. Wir erwähnen hier noch, daß die Photographie, nach welcher der Zeichner der Gartenlaube das vorstehende Bild gezeichnet, von der Familie und den Freunden des Künstlers als das ähnlichste Portrait Calame’s gerühmt wird. Die in Mentone aufgenommene Photographie erscheint den Genfern ziemlich fremd, da sich der Leidende erst im Süden, um den Hals zu schützen, den vollen Bart wachsen ließ. Das Portrait, welches die Illustrirte Zeitung enthielt, ist allerdings idealer, hat aber fast mehr Aehnlichkeit mit Mazzini, als mit Calame, so wie er uns noch vor der Seele steht.

Calame wollte in der Heimath begraben sein, die er, obschon sie ihm nicht einmal das Ehrenbürgerrecht schenkte, während er seine Brust mit den Medaillen und Orden vieler Staaten hätte schmücken können, so heiß geliebt und so viel verherrlicht hatte. Seine Leiche wurde nach Genf gebracht und hier, wie schon bemerkt, von einem kleinen Häuflein bestattet.




Der Richter.
Nach brieflichen Mittheilungen. Von J. D. H. Temme.
(Schluß)

Der Justizamtmann machte eine Pause, während welcher er den jungen Edelmann beobachtete, um zu sehen, welche Wirkung seine Mittheilung auf ihn gemacht habe. Auch der alte Freiherr richtete wieder den scharfen Blick auf seinen Sohn, indem er die Hand von seinem Gesicht entfernte, das entsetzlich anzusehen war. Der Greis bebte wie in Todesangst das Gesicht des jungen Freiherrn aber war unbeweglich geblieben wie vorher.

„Habe ich hierher kommen müssen,“ fragte er, „um Criminalgeschichten von Ihnen zu hören?“

Der alte Freiherr bedeckte sein Gesicht wieder, und der Justizamtmann fuhr fort:

„Von dem Vorfalle, von dem plötzlichen, unter jenen auffallenden, verdächtigen Umständen stattgehabten Tode der jungen Dame wurde dem Gerichte Anzeige gemacht und in Folge dessen eine Untersuchung eingeleitet. Die Dame war vergiftet, und zwar mit Strychnin, und der Mörder war entflohen...Der Mörder war entflohen,“ wiederholte er, „längere Zeit war auch seine Spur verloren; sie ist wiedergefunden.“

[78] Er gab dem Gerichtsschreiber einen Wink. Dieser ging hinaus und kam sofort mit einem fremden Manne zurück. Es war der Postillon, der vor zwei Monaten den Herrn Bormann mit dessen Frau zu der Buchhauser Linde gefahren hatte.

„Kennt Ihr den Herrn?“ fragte ihn, auf den jungen Freiherrn zeigend, der Justizamtmann.

Der Postillon besah sich den jungen Edelmann.

„Es ist die Figur,“ sagte er. „Das Gesicht sah ich damals nicht. Weiter kann ich nichts sagen.“

„Herr Baron,“ wandte sich der Justizamtmann zu dem jungen Freiherrn, „darf ich Sie bitten, mit dem Manne zu sprechen?“

„Mit dem Menschen?“ fragte der junge Freiherr stolz.

„Er soll wohl meine Stimme hören? Er hat sie gehört!“

Der Justizamtmann hatte auch seine Ruhe, die nicht zu erschüttern war.

„Kanntet Ihr die Stimme des Herrn schon früher?“ fragte er den Postillon.

Der Mann sann einen Augenblick nach und sagte dann: „Ich meine, es sei die Stimme des Herrn, den ich nach der Buchhauser Linde fuhr.“

„Bestimmt wißt Ihr es nicht?“

„Schwören könnte ich nicht darauf.“

Der Mann war in dem fremden, vornehmen Schlosse befangen. Der Justizamtmann ließ ihn zurückführen und den Wirth von der Buchhauser Linde eintreten.

Der alte Lindenwirth war dagegen nicht der Mann, der sich durch Glanz und Stolz imponiren ließ. Der Schreck hatte ihn allerdings vor zwei Monaten vergessen und versäumen lassen können, was zu thun war, aber er war ein gewissenhafter Mann.

„Es ist,“ sagte auch er, „die Figur des Herrn, der mit der ermordeten Frau bei mir logirte. Das Gesicht habe ich nicht gesehen.“

„Soll auch dieser brave Mann meine Stimme hören, mein Herr?“ fragte der junge Freiherr den Gerichtsamtmann.

„Es ist auch die Stimme jenes Herrn,“ sagte der Wirth.

„Erkennen Sie dieselbe genau wieder?“ fragte der Justizamtmann.

Und der Wirth sagte entschieden: „Ja, es ist die nämliche Stimme.“ Dann besah er noch einmal den jungen Freiherrn und fuhr jetzt fort: „Je mehr ich nachdenke, Herr Justizamtmann, und mir Alles in meine Erinnerung zurückrufe, desto lebendiger spricht es in mir: ,Das ist der fremde Herr, der mit der Dame bei mir war, der mit ihr in der Nacht ihres Todes allein war, der mir am andern Morgen mittheilte, daß sie todt sei, und der die Leiche der Armen verlassen konnte!’ Ja, ja, Herr,“ wandte der Mann, dem man die Bravheit und Wahrheit ansah, sich zu dem jungen Edelmann, „ja, Herr, Sie waren es. So, gerade so, wie Sie hier jetzt stehen, standen Sie auch damals vor mir, als Sie mir die Todesnachricht brachten. Ganz so stolz, so vornehm und so herrisch. Ich werde Sie nie vergessen, wie Sie so dastanden, und niemals wird die Stimme aus meiner Erinnerung kommen, mit der Sie mir sagten: ,Mir ist ein Unglück begegnet in Ihrem Hause – – meine Frau ist diese Nacht an einem Krampfanfalle gestorben. Leider warten wichtige Geschäfte auf mich, ich kann mich keinen Augenblick länger aufhalten. Nehmen Sie das Geld und bestreiten Sie inzwischen die Beerdigungskosten, Sie werden bald Weiteres von mir hören.‘ Das sind Augenblicke, die einem nicht aus dem Gedächtnisse kommen, wenn man auch hundert Jahre alt wird. Ja, ja, Herr, Sie waren es, Sie stehen wieder vor mir und ich hörte eben die Stimme wieder.“

Der Mann sprach mit voller Ueberzeugung.

Der junge Freiherr lachte verächtlich. „Und Sie sahen das Gesicht nicht!“ Den Justizamtmann fragte er: „Haben Sie noch mehr solche Zeugen, mein Herr?“

Der Gerichtsbeamte hatte ein bedenklickes Gesicht. Die vollste innere Ueberzeugung des Lindenwirths enthielt kaum eine entfernte Vermuthung, da er sie nicht durch äußere, auch für jeden Dritten überzeugende Thatsachen begründen konnte. Da wurden draußen im Gange nahende Schritte laut.

Der Justizamtmann, als er vor dem Erscheinen des jungen Freiherrn in dem grauen Salon mit dem Castellan gesprochen, hatte diesem Anweisungen ertheilt für das, was geschehen solle. Den Gerichtsschreiber hatte er ihm in den Salon schicken müssen, während der Lindenwirth und der Postillon in einem Zimmer in der Nähe warten sollten. Der Polizeirath blieb bei dem Portier, um den alten Pfarrer aus Schönthal, sobald derselbe ankomme, hinauf zu geleiten.

Der Justizamtmann gab dem Gerichtssecretair wieder einen Wink. Dieser verließ das Zimmer, führte den Lindenwirth hinaus und kehrte mit einem Fremden zurück. Es war ein Greis, ein hinfälliger, von Gram und Schmerz niedergedrückter Greis. Welch ein Anderer war in den wenigen Monaien der Pfarrer Gerlach von Schönthal geworden! Im Mai der rüstige alte Mann, dem die silbenweißen Locken um das klare, zufriedene, glückliche Antlitz so schön glänzten! Heute ein Bild des Jammers, des zerstörten Lebens! Die Locken hingen ihm so lang, so unordentlich um das hohle Gesicht.

„Wer sind Sie, mein Herr?“ fragte ihn der Justizamtmann.

„Der Pfarrer Gerlach aus Schönthal.“

„Kennen Sie diesen Herrn?“

Der Greis hatte im ersten Augenblicke nur den Justizamtmann, der sofort bei seinem Eintritt vor ihn getreten war, gesehen. Er warf jetzt seinen Blick auf den jungen Freiherrn.

„Herr Bormann!“ rief er entsetzt. „Der Entführer meines Kindes! Der Mörder meines armen, meines einzigen Kindes!“

Die Worte waren ein furchtbarer Herzensaufschrei des unglücklichen Greises. Der alte Freiherr fuhr auf seinem Divan in die Höhe und die beiden Gerichtsbeamten erbebten; der junge Freiherr allein stand ruhig, mit seinem kalten, eisigen, sicheren Stolze.

„Erkennen Sie den Herrn bestimmt?“ fragte der Justizamtmann den alten Pfarrer.

„Ich sah ihn ja oft: ich sah ihn so nahe.“

„Sie haben keinen Zweifel?“

„Wie wäre ein Zweifel möglich! Mein ganzes Dorf kennt ihn, ebenso die Nachbarschaft am See; das Haus, in dem er lebte, kennt ihn. Hundert Menschen werden bei seinem ersten Anblick ausrufen: ,Das ist er!’“

„Und Sie, mein Herr?“ fragte der Justizamtmann den jungen Freiherrn.

„Ich, mein Herr, bedaure den unglücklichen Greis, dem seine Tochter entführt und ermordet sein mag und dem nun die durch den Verlust krankhaft aufgeregte Phantasie in jedem fremden jungen Manne den Entführer und Mörder seines Kindes zeigt. Seine hundert Zeugen werde ich mit Ruhe erwarten.“

Der alte Mann hatte sich setzen müssen. Sein Schmerz, sein Zorn hatten keine Worte. Der Gerichtsschreiber hatte, als er zuerst in das Zimmer gekommen war, ein Bündel Acten und ein verschlossenes Etui mitgebracht, die Acten enthielten die Verhandlungen über den in der Buchhauser Linde verübten Mord an einer unbekannten jungen Frau. Das Etui öffnete der Justizamtmann und nahm eine Gypsmaske heraus: es war die Todtenmaske der Ermordeten. Man erkannte die schönsten, die edelsten Züge einer jungen Frau. Der Gerichtsamtmann zeigte die Maske dem alten Pfarrer – und der furchtbarste Schmerz des Greises hatte wieder Worte.

„Mein Kind! Meine Tochter! Johanna, mein Kind!“

Der Justizamtmann hielt die Maske dem jungen Freiherrn, dem Mörder vor.

Ja, er war der Mörder!

Er war blaß geworden, als er plötzlich das Antlitz der Todten sah; alles Blut war aus seinem Gesichte gewichen. Er selbst glich einen Augenblick einem Todten, aber nur einen kurzen Augenblick, dann stand er wieder ruhig, kalt, stolz. Er hatte die Gewalt des vollendeten Verbrechers über sich.

„Kennen Sie das Gesicht?“ fragte ihn der Justizamtmann.

Der alte Freiherr hatte sich erhoben.

„Ueberlassen Sie mir das Weitere!“ sagte er ruhig, kalt und stolz, aber mit der Strenge des ernstesten, des furchtbarsten Richters dieser Erde, und das ist der Patriarch, der das Richteramt in seiner Familie ausübt. Er war nicht mehr hinfällig, der achtzigjährige Greis, und seine Gestalt nicht mehr gebückt, sondern hoch, aufrecht stand er da gleich einem jener alten Könige, von denen die Sage erzählt, daß sie manchmal aus ihren Gräbern sich erheben, zürnend, rächtend, richtend. So trat er vor den Sohn, zog das Sagenbuch hervor, das er aus seinem Zimmer mitgenommen, und schlug das Blatt auf, das er sich bezeichnet hatte.

„Lies,“ sagte er zu dem Sohne.

Es war das einzige Wort, das er sprach. Der junge Edelmann nahm das Buch, aber es zitterte in seiner Hand; der alte Edelmann sah das mit seiner kalten Ruhe. Der junge Freiherr las aus dem Buche, während der alte Freiherr hoch aufrecht vor [79] ihm stehen blieb. Der Justizamtmann war ehrerbietig zurückgetreten, vor dem strengen, vor dem höheren Richter, als er einer war. Der junge Freiherr las eine alte Sage aus dem fünfzehnten Jahrhundert.

„Es ist vor kurzen Jahren ein merkliches da in Colberg geschehen, das ich nicht unterlassen khan anzuzeigen, beide, darumb das man sehe, wie sich meyterey in den stetten erstrecken khan, wie auch das auffruhr seltzamer weise gestraffet wirt. Es seint lange jare her zwei geschlechte die gewaltigsten zu Colberge gewest, als die Schlieffen und die Adebare. Deren seient ungefherlich vor sechzigk jaren oder mehr, zwei junge bürger gewest, als Benedictus Adebar, der Doctoris Martinus Carit’s, welcher darnach bischoff zu Camin gewesen, schwester zur ehe hatte, und Niclas Schlieff, Peter Schlieff’s sohn, deren zuvor meldung geschehen. Dieselbigen hielten sich wie brüder unter einander. So begab es sich einmal, daß sie sampt anderer gesellschaft auf einen abend beide zusammen gezechet hatten, und Schlieff guter Zeit heimgingk und sich zu bette legte, und etwa eine Stunde darnach Adebar jm folgete und für seine thür klopffete. So hörete Schlieff das er’s war und stund selbst auff im hembde und wollte jm einlassen. So hörete Adebar, das er kham, und stach mit seinem Schwerte durch die thüre und wollte Schlieffen erschrecken; und wie schlieff im finsteren zulieff, das er die thüre auffmachen wollte, lief er in’s schwerdt. So machte er dennoch auff und schrye laut vber Adebaren, das er jne so hart erstochen hatte. So erschrak Adebar hart, und verstopffet jme von stunde an die wunde und führet jme zum artzten und entschuldigte sich sehr gegen jme, das er’s aus keinem bösen gemüte, sondern aus fürwitz gethan. So lies sich Schlieff verbinden, aber empfand sich sehr vbel. Darumb warnete er Adebar, das er möchte weichen, den er vertrawete sich nicht lebendig zu pleiben; wo jne denn seine Freuntschafft erhaschete, müste er widder sterben, welches er jme denn nicht gerne gönnete. Adebar mühete sich hart, sonderlich das er also widder alle seinen willen seinen gutten gesellen in todesgeffar und sich auch in sorge gepracht und verstach sich, den er khonte in der nacht nicht aus der stat khomen. Schlieff starb balde darnach, darvmb suchte Schlieffen freuntschaft so fleißig nach Adebar, das sie jm funden und in’s gefenknüß setzten. So hette doctor Martinus Carit und die andere freuntschaft Adebar’s viel bitte und mühe umb Adebar, das er mochte auff gebürichen abtrag los werden. Das wollte die freuntschafft nicht thun, sondern ließen Adebaren für Gerichte bringen und zum totte verurtheilen. Als er aber verurteilet wurde, wolte jne Schlieffen freuntschafft losgeben, damit das man sage, das sie jme recht das lebend geschenckt hatten. Das wollte der Adebar und die freuntschafft nicht annehmen, denn sie ließen sich bedünken, ein verurteileter were weiter lebends nicht wert. Darvmb ging Adebar freyes muths hin und sagte: er wolle viel liebe bei seinem gutten gesellen und bruder dem erschlagenen Schlieff sein, wie länger leben –“

Der junge Freiherr wurde unterbrochen. Seine Hand hatte gezittert, als er zu lesen begann, und er mußte das Buch mit beiden Händen halten, damit das Zittern aufhörte. Nur mit unsicherer Stimme hatte er lesen können, und ein paarmal mußte er tief Athem holen, damit ihm die Stimme sicher wurde. Da kam er zu der Stelle der Sage: „denn sie ließen sich bedünken, ein Verurtheilter wäre weiter des Lebens nicht werth,“ die Stimme begann ihm von Neuem zu fehlen und die beiden Hände wurden weiter von einem leisen Zittern, das sich weiter dem ganzen Körper mittheilte, ergriffen. So gelangte er zu der Stelle: „und Adebar sagte, er wolle lieber bei dem Erschlagenen sein, denn länger leben.“

„Setze Dich!“ befahl der alte Freiherr seinem Sohne, der bisher stehend vor ihm gelesen hatte.

Der junge Edelmann setzte sich, denn er konnte sich nicht mehr stehend erhalten.

„Lies weiter!“ befahl der Vater.

Er las weiter. Die Kniee schlotterten ihm und er mußte das Buch vor sich auf den Tisch legen, um weiter lesen zu können. Das Gesicht des alten Freiherrn war wieder fest geworden und hart und kalt, hoch und gerade stand er vor dem Sohne, der endlich weiter las:

– „Aber damit er nicht wie ein Missetheter gefhüret würde, mußte ihn der Rachrichter und seine Diener nicht anrühren, sondern er gink selbst gutwilligk, und der Rat und die ganze Stat begleitete ihne und betrübeten sich seinethalben. So hatte Adebar eine Schwester im Jungfrauenkloster zu Colberge, die war Eptissin; dieselbe ergriff ein Crucifix und trat für ihne her und sterkete ihne und sagte: er sollte auf Got trawen und in seinem Glauben sterben. Also kam er außer der Stat; da wurde ihme gegunt, daß er auff einen Kirchhoff gink. Daselbst lies er sich abhawen.“

Er hatte zu Ende gelesen.

„Steh auf!“ befahl ihm der Vater, „und sieh mich an!“

Der Sohn gehorchte und versuchte den Blick zu den Augen des Vaters zu erheben. Er sah das harte, kalte, bleiche Gesicht und die dunkel glühenden Augen, die tiefen Brauen verbargen sie nicht mehr. Er sah den furchtbaren Richter, vor dem er stand, und sein Blick senkte sich nieder.

„Elender!“ sagte der Greis.

Er konnte das Wort nur leise sprechen. Auch ihm zitterte die Stimme, und mit dieser zitternden Stimme sprach er weiter:

„Mörder! Oder wagst Du es, auch mir Dein Verbrechen zu leugnen?“

Er erhielt keine Antwort.

„Du kannst es nicht! Es ist ein Rest von Ehre in Dir. Du verdienest daher –“

Er sprach nicht aus, was er hatte sagen wollen, sondern wandte sich um zu den beiden Gerichtsbeamten und den alten Pfarrer.

„Verlassen Sie uns! Auf eine Minute!“ sprach er mit fester Stimme und entsetzlich bleichem Gesicht.

Die Drei verließen das Zimmer, ein Grauen hatte sie ergriffen. Draußen im Corridor an der Thür blieben sie stehen und horchten. Sie hörten kurze Worte, die der Vater und der Sohn mit einander wechselten, verstanden aber nichts davon.

„Kniee nieder!“ hörten sie dann den alten Freiherrn lauter sagen. „Bete!“

Eine Todtenstille, die wenige Secunden dauerte, folgte, dann fiel ein Schuß in dem Zimmer, und wieder herrschte Todtenstille. Kein Laut, kein Ruf, kein Schmerzens-, kein Hülferuf wurde gehört. Die Männer in dem Corridor standen bleich, bebend am ganzen Körper. Die Thür des Zimmers öffnete sich, und der alte Freiherr trat zu den bebenden Männern heraus und ließ die Thür offen. Durch die offene Thür sah man die Leiche des jungen Freiherrn. Das Blut floß aus einer Wunde in der Brust, und das abgeschossene Pistol lag auf dem Tische nebenan. Der Greis hatte es aus dem alten Schranke zu sich genommen, als er sein Zimmer verließ. Der alte Freiherr trat auf den Justizamtmann zu:

„Mein Herr, ich bin Ihr Gefangener statt seiner. Verfügen Sie über mich.“

Der Schuß hatte den Castellan des Schlosses herbeigeführt.

„Das Zimmer werde verschlossen,“ befahl ihm der Freiherr, „bis das Gericht seines Amtes gewahrt hat. Später werde es vermauert, damit Niemand wieder die Stelle betrete, an welcher der letzte Stamm dieses edlen Geschlechtes von der Hand des eigenen Vaters sterben mußte, um nicht der Hand des Henkers zu verfallen.“

Auch das hatte er mit fester, ruhiger, stolzer Stimme gesprochen.

„Ah!“ holte er dann Athem, tief aus der alten Brust.

Es war sein letzter Athemzug: der Schlag hatte ihn gerührt. Der Castellan und der Justizamtmann fingen seine Leiche auf.

Hinten in dem Rittersaale der alten Burg riefen unter den Ahnenbildern des edlen Geschlechtes die zechenden Gäste: „Hoch! hoch!“




Wohl sprach man in der Gegend eine Zeit lang von dem gräßlichen Gerichte auf dem Freienstein, allein in unserm raschlebenden Jahrhundert ward selbst dies Begebnis in der Fluth anderer Ereignisse rasch genug begraben und vergessen.




Blätter und Blüthen.

Die nordamerikanischen Oelprinzen. Schon seit Jahrtausenden ist das Petroleum, auch Steinöl, Naphta, Seneca-Oel, Erdöl oder Kohlenöl genannt, bekannt. Die ältesten Quellen desselben, von denen man weiß, befinden sich am Caspischen Meere bei Baku, wo die Flammen der Oelquellen ewig brannten – das ewige Feuer der Parsen – und die Bewohner der Nachbarschaft es zur Beleuchtung ihrer Häuser und Tempel gebrauchten. Außerdem haben noch Ostindien, in Europa die Gegend von Parma und Modena, die von Neuchatel und Tegernsee, Bezières in Frankreich, Sicilien und andere Orte Oelquellen aufzuweisen. Auch in Nordamerika sind die Oelquellen nicht erst eine Entdeckung [80] der Neuzeit. Im Lande der Seneca-Indianer, im Staate Pennsylvanien, waren schon um die Mitte des vorigen Jahrhunderts Quellen bekannt, welche ein Oel lieferten, das als Medicin gegen viele Krankheitsfälle benutzt wurde und noch jetzt in fast allen Apotheken unter dem Namen „Seneca-Oel“ verkauft wird. Auch in Westvirginien, in der Nähe von Salzquellen in der Grafschaft Braxton, wurde im Anfang dieses Jahrhunderts vermittelst wollener Decken Oel von kleinen Teichen und Bächen geschöpft und als Brennöl in den Handel gebracht. Aber die eigentliche gewerbliche Ausbeutung der amerikanischen Quellen datirt erst vom Jahre 1859. In diesem Jahre wurde von einem gewissen Mr. Drake aus Neu-England die erste „Pennsylvania Red Oil-Company“ in’s Leben gerufen, und das erste Bohrloch getrieben, welches aus einer Tiefe von nur neunundsechzig Fuß vierhundert Gallonen Oel täglich lieferte. Diese Quelle war in der Nachbarschaft von Titusville gelegen und bildet noch jetzt den Mittelpunkt der pennsylvanischen Oelregion. In ihrer Nachbarschaft sind verschiedene Quellen gebohrt, welche jetzt seit Monaten aus einer Tiefe von sechshundert Fuß von hundert bis eintausendfünfhundert Faß Oel täglich zu Tage fördern. Die berühmten Maple-Greve und Neble-Well, von denen letztere eine zeitlang fünftausend Faß täglich ergab, also eine Menge, hinreichend um eine viergängige Mahlmühle Tag und Nacht zu treiben, sind nur wenige Meilen von dem ersten Drake’schen Brunnen entfernt. Titusville selbst, sowie das benachbarte Meadville und Franklin, noch vor wenigen Jahren unbekannte und unbedeutende Flecken, sind rasch zu wohlhabenden volkreichen Städten herangewachsen, wo es von Oel-Speculanten, Landaufkäufern und Ingenieuren der zahlreichen Actiengesellschaften wimmelt, und Häuser, wie Grundstücke fabelhafte Preise bringen. Oil-City am Oil-Creek, obschon schwer zugänglich wegen der bodenlosen Wege, ist das eigentliche Eldorado der neuen Oelritter (Oil Conquistadores). Die ganze Gegend an beiden Ufern des kleinen Flusses ist im eigentlichen Sinne des Wortes mit einem Wald von Bohrgerüsten bedeckt, an welchen Hunderte von transportablen Dampfmaschinen arbeiten und ein solches Getöse, Gestöhne, Pfeifen und Heulen durch die wilde Umgegend erschallen lassen, daß man glaubt, man befinde sich mitten in einer ungeheuren Maschinenfabrik. Bauernhöfe, die noch vor einem oder zwei Jahren für eintausend oder zweitausend Dollars feil waren, werden dort für mehr als hunderttausend Dollars verkauft, und es fehlt nicht an Beispielen, daß einzelne Morgen gut gelegenen Landes mit dreißigtausend Dollars und mehr bezahlt wurden. In den schmalen, zerrissenen Thälern, in Mitten eines unergründlichen Kothes, sind die ursprünglichen Stammsitze der neuen Petroleum-Aristokratie. Selbst auf die Gefahr hin, bei einigen Ihrer Leser einen Anfall von Petroleumfieber zu erregen, will ich hier die Geschichte einiger der reichsten Petroleum Prinzen erzählen, was um so leichter ist, als man nicht wie bei den europäischen Rittergeschlechtern in das graue Alterthum dunkler Zeiten zurückzugehen braucht, um die Annalen dieser pilzartig aufgeschossenen Goldfürsten zu beschreiben. Die größte und geachtetste, wenn auch nicht reichste Familie in der Pennsylvanischen Oelregion ist holländischer Abkunft, wie der Name „Hann Jan Heedekooper“ beweist. Der Vater des jetzigen Stammherrn kam im Anfang dieses Jahrhunderts als Verwalter und Agent einer Amsterdamer Land Compagnie nach Pennsylvanien und kaufte von dieser Gesellschaft, als sie sich auflöste, einige tausend Acker Landes um den Preis von einem Schilling pro Acker. Diese Ländereien, vor etwa vier jahren zwanzig- bis dreißigtausend Thaler werth, werden jetzt sehr niedrig auf sechs Millionen geschätzt. Sie lieferten im Jahre 1861 (bis 1. November) den Eigenthümern nach Abzug aller Kosten einen Reinertrag von vierhundertachtzigtausend Dollars!

Reicher an Einkommen, als diese alte Familie, ist ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren, John Steele mit Namen. Er war vor fünf Jahren ein armer Waisenknabe und wurde 1860 von einer alten kinderlosen Bauernwittwe, Mrs. Mac Clintosh, adoptirt. Diese Wittwe, damals, wie die Amerikaner sich ausdrücken, etwa viertausend Thaler werth, besaß eine große wüste Farm am Oil-Creek, auf welcher, um mich so auszudrücken, aus jeder Pore Oel schwitzte. Vor etwa einem Jahre kam die alte Oelmutter dem Feuer ihrer Küche zu nahe: ihre petroleumgetränkten Kleider fingen die Flammen und in wenigen Minuten war sie und ihr Haus ein Haufen Asche. Auch die Wiesen um den Bauernhof geriethen bei der Gelegenheit theilweise in Brand, und die Verbreitung des Feuers über die ganze Farm konnte nur mit Mühe verhindert werden. Der junge Johnie (Hansel) wie er von seinen Freunden genannt wird, erbte das Gut. Sein jetziges Einkommen aus Oelquellen und vermiethetem Oelland beläuft sich auf viele hunderttausend Thaler jährlich! Seit einigen Monaten lebt Prinz Johnie hier in New York, in dem großen Marmorpalast des St. Nicolaus Hotels am Broadway und sucht, umgeben von einer Schaar von jungen Freunden und alten Gaunern, sein Geld „klein“ zu machen. Er lebt in amerikanischem Hochstyle und „very fast“, d. h. er trinkt des Morgens viel Brandy, Whisky, Toddy und andere angenehme Getränke, fährt Nachmittags vierspännig im Centralpark und verbringt die Abende in den Theaterlogen, bei den Sängern und in den Wirthschaften mit hübschen Kellnerinnen am Broadway.

Reicher noch als dieser junge Oelprinz ist ein Dr. Egbert, von deutscher Abkunft. Vor drei Jahren war er noch so mittellos, daß er für dreihundert Thaler ausgepfändet wurde. Jetzt erfreut er sich eines täglichen Einkommens von dreitausend Thalern und lebt wie Monte Christo in seiner Diamanten Grotte. Ein anderer Dorfarzt, Dr. Brewer, machte in zwei Jahren ein Vermögen von einer Million und zog sich bescheiden aus der kothigen Petrolia in die grünen Berge seiner Heimath, Vermont, zurück.

Auch einige unserer deutschen Landsleute haben im Oellande ihr Glück gemacht. Ein gewisser Rind, Besitzer der ölreichen Rindfarm, ist ein wahrer Petroleum Rothschild; ein anderer, um auch kleinere Beispiele zu erzählen, namens Peter Haas, aus dem Hessischen gebürtig, welcher noch im Jahre 1861 als Wagenknecht im Quartiermeisteramt unter dem Schreiber dieser Zeilen diente, kehrte 1862 aus dem Kriege zurück und kaufte mit den Ersparnissen seines Soldes eine kleine Farm, worauf er früher gearbeitet hatte. Vor fünf Wochen verkaufte er sein Eigenthum an eine Actien-Gesellschaft für die nette runde Summe von zweihundertundfünfzigtausend Dollars baar und einer Leibrente von fünftausend Thalern. Er heirathete eine deutsche Nähmamsell und lebt jetzt als vergnügter Rentier in der Nähe von Philadelphia. Daß unter solchen Verhältnissen auch manche komische und lächerliche Scenen erlebt werden, ist zu natürlich. Ich will eine Anekdote, deren genaue Wahrheit ich bestens verbürgen kann, hier auftischen. Die Tochter eines armen pennsylvanischen Bäuerleins, Namens Dick Fuß, war verlobt mit dem Sohne eines Bauern in der Nachbarschaft und die Hochzeit stand vor der Thür. Da findet ihr Vater beim Graben eines Brunnens eine reiche Oelquelle. Grete, die Braut, eilt in fliegender Hast zum Hause ihres Geliebten, aber nicht, wie eine sentimentale deutsche Jungfrau es gethan haben würde, um in seine Arme zu stürzen und ihm die glücklioche Mähr mitzutheilen; nein, mit den Worten: „Franz, mein Schatz, wir können nicht heirathen, mein Vater stieß auf Oel!“ war die Heirath abgebrochen, und wenige Tage darauf reiste sie nach Philadelphia, um in einem Damen-Institut Sitte und Manier zu erlernen und sich für die Carriere in der großen Welt vorzubereiten. Vielleicht gelingt es dem armen Franz auch, „auf Oel zu stoßen“, dann mag er als würdiger Oelritter vor seiner Petroleum Braut erscheinen und in ihren Augen Gnade finden.

Damit der Leser sich einen nur annähernden Begriff von der ungeheuren Summe machen könne, welche der Petroleumhandel in Umlauf setzt, mögen hier einige Vergleiche dienen. Der Werth des im verflossenen Jahre gewonnene Petroleums ist um einige Millionen größer, als die gesammten Staatseinnahmen der vier deutschen Königreiche Baiern, Würtemberg, Sachsen und Hannover zusammengenommen; ist größer als der Werth des ganzen Seehandels (Einfuhr und Ausfuhr) vom Kaiserthum Oesterreich und nur um ein weniges geringer, als der Werth aller Waaren, welche England durchschnittlich in einem Jahre nach den Hansestädten und dem Zollverein sendet. Er würde, auf reines Gold reducirt, einen Werth von einhundert fünfundzwanzigtausend Pfund-Goldes repräsentiren! Und doch ist die Entwickelung der Oelproduction erst in ihrer Kindheit. Daß die plötzliche Aufdeckung so ungeheurer, bisher verborgener Schätze eine maßlose Aufregung bei allen unternehmenden Menschen, welche davon unmittelbar berührt oder auch nur in Kenntniß gesetzt wurden, hervorrufen mußte, ist ganz natürlich, auch abgesehen davon, daß kein Volk so leicht erregbar oder so sehr dem „Excitement“, wie man es hier nennt, ergeben ist, wie die speculationsfähigen und wanderlustigen Bewohner der großen nordamerikanischen Republik. Trotz des schrecklichen Bürgerkrieges, dessen Flammen auch die Grenzen der Oelregion belecken, wandte sich die Speculation mit aller Heftigkeit eines wahren Fieberparoxysmus diesem neuen Oel-Eldorado zu. Im Verlauf der letzten vier Monate wurden in New York, Philadelphia und Pittsburgh nicht weniger als dreihundert und dreizehn Actien-Compagnien mit einem Nominal-Capital von nicht weniger als zweihundertfünfzehn und einer halben Million Dollars in’s Leben gerufen; eine eigene Oelbörse, „Petroleum Exchange“, wurde in New-York neben der Geldbörse erbaut und eröffnet; das Finanzviertel New-Yorks, die berühmte Wallstreet, Broadstreet und Nachbarschaft, wurden mit Petroleumcomptoirs so übersät, daß die Miethen auf das Doppelte stiegen; eine Sündfluth von Actien wurde ausgeschüttet und die Spalten unserer colossalen Tagesblätter sind so voll von Petroleumanzeigen, daß die größeren Journale, wie der Herald, um Platz für andere Dinge zu behalten, den Preis der Insertion von zwanzig auf vierzig Cents (fünfzehn Silbergroschen) pro Zeile erhöhen mußten.

Eine eigene Petroleum-Zeitung, „The Petroleum Gazette and Recorder“ (wovon ich der geehrten Redaction dieses Blattes eine Nummer beilege, weil ich sonst befürchten muß, daß einige obengemachten Angaben als Fabeln angesehen werden dürften), wurde als Specialorgan des Petroleum-Interesses in’s Leben gerufen; zahllose Patente für neue verbesserte Bohrinstrumente und Bohrmethoden, für eine neue Art von „impenetrable barrels“ (luftdichten Fässern), für neue Systeme von Lampen, für Heizung von Dampfmaschinen auf Schiffen vermittelst Petroleum, für Gaserzeugung aus Petroleum, für Raffinirmethoden, Anilinfarben-Fabriken, Seifen und Wagenschmieren, ja sogar für eine neue Art von Parfümerie setzten die ganze Industrie- und Handelswelt in Bewegung. Gleichzeitig bildeten sich in den kleinen Dörfern und Städtchen der ausgedehnten Oelregion Comptoire und Compagnien für Oelland-Ankauf, Advocatenvereine für Untersuchung der Besitztitel, verbunden mit Garantie-Actien-Gesellschaften, und endlich Capitalisten-Gesellschaften für die Beleuchtung großer auswärtiger Städte, wie Havanna, Rio Janeiro, Marseille, St. Petersburg, wo Steinkohlen so hohe Preise haben, daß man das Gaslicht viel billiger aus Petroleum, als aus Kohlen herstellen kann.

Wie durch einen Zauberstab aus den schmutzigen, schlüpfrigen Oelquellen Pennsylvaniens an’s Tageslicht gerufen, entstand plötzlich eine neue Geldaristokratie und „Oel-Prinzen“ und „Oel-Prinzessinen“ fuhren jetzt in glänzenden Equipagen durch unsere Straßen und Parks, mit ihren Schätzen und Einkünften weit überragend die alte Patricier-Aristokratie der „Knickerbocker“ so heißen die alten, meistens holländischen Familien, deren Besitz in städtischem Grundeigenthum besteht), der „Codfish-Aristokratie“ (der Handelsparvenus) und der neuen „Shoddy-“ oder „Lumpen-Aristokratie“, welche ihre Millionen durch Kriegslieferungen erworben haben. Aladdin’s Lampe, die langverlorene, welche wahrscheinlich von der Prinzessin Sheherazade mit Petroleum gefüllt war, ist wiedergefunden, und glücklich sind Alle, welche im goldenen Lichte ihrer Oelflamme wandern.




Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. - Verlag von Ernst Keil. - Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Stiftler heißen die im sogenannten „Stifte“ zu Tübingen gebildeten protestantischen Theologen.                  D. Red.