Die Gartenlaube (1865)/Heft 21
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No. 21. | 1865. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
(Fortsetzung.)
„Ist Fräulein Elisabeth gegangen?“ fragte Max, als er nach einer Pause wieder in den Salon trat … „aber was ist Dir, lieber Onkel, bist Du nicht wohl?“
Er sah Markholm wie eine Bildsäule dastehen, die rechte Hand auf die Lehne des Sessels gestützt, in welchem er Elisabeth gegenübergesessen, die Linke schlaff herabhängend, todtenbleich und leise die Lippen bewegend.
Markholm sah auf. Er fuhr mit dem Tuch über seine feuchte Stirn und sagte dann:
„Nicht wohl? O doch, mir ist ganz wohl.“
„Aber Du siehst so bleich und verstört …“
„Es ist nichts. Ich hatte nur einen meiner Anfälle von Herzklopfen. Hole mir Wasser!“
Max eilte davon.
„Fassung und Ruhe!“ sagte sich Markholm. „Geben wir diesem jungen Manne kein fatales Beispiel. Er darf nicht ahnen, daß ein Sieg, den ein Mann über sich selber erringt, nicht sofort mit der schönsten und angenehmsten Empfindung des Selbstbewußtseins belohnt ward; daß man recht gründlich elend werden könne durch solch einen Sieg!“
Max kam mit Wasser zurück, Markholm trank und stellte sich an die Glasthür, so daß er Max halb den Rücken zuwandte, als er in’s Freie blickend sagte:
„Ich habe Dich wohl ein wenig erschreckt, armer Junge, als ich gestern Abend meine Unzufriedenheit über Dein Verhältniß zu Elisabeth aussprach …“
„In der That, Onkel, ich begreife Dich nicht, da Du doch vorher …“
„Du hast Recht und es war auch mein Ernst nicht; Du kannst Dich beruhigen, ich habe soeben selbst bei Elisabeth um ihre Hand für Dich geworben.“
„Was?!“ rief Max aus, „Du hast …“
„Ich selbst –“
„Aber um Gotteswillen …“
„Zürnst Du mir, daß ich Dich nicht selbst das thun ließ? Ich meine, meine väterlichen Rechte über Dich …“
„Aber um Gotteswillen, Onkel, Du hast doch nicht bei Elisabeth, der Elisabeth, die eben hier war, für mich geworben?“
„Bei Elisabeth von Morgenfeld,“ versetzte Markholm, sich mit einem schmerzlichen Lächeln zu Max wendend, „glaubst Du, ich hätte Eure kleine Komödie nicht durchschaut? Ich vergebe sie Euch, denn ich mag mich sehr leidenschaftlich und heftig über die Morgenfelds geäußert haben …“
„Onkel, Onkel, was hast Du gethan!“ rief Max entsetzt aus.
„Aber was hast Du denn, was erschreckt Dich dabei? … Elisabeth hat meine Werbung aufgenommen, wie ein Mädchen das zu thun pflegt, die Erschrockene gespielt, sich Bedenkzeit, um über ihre Gefühle klar zu werden, erbeten … sie wird Dir das Jawort geben, ich zweifle nicht daran!“
„Bei allen Göttern der Unter- und der Oberwelt, das fehlte noch!“ rief Max verzweifelnd aus … „Elisabeth von Morgenfeld mir das Jawort geben … O mein Gott, wenn sich doch ein Poet nicht in solche Sachen mischen wollte … Ihr mögt Liebesintriguen, Tragödien und Komödien in die Wolken bauen, so viel wie Ihr wollt, doch in die, welche sich hier auf der festen Erde wirklich begeben, solltet Ihr Euch nicht mischen!“
„Aber Max, Du wirst grob … was zum Henker sagst Du, was verdrießt Dich an dem Schritt, den ich Deinetwillen that?“
„Und wenn sie nun Ja sagt, dann soll ich sie auch wohl heirathen, muß sie heirathen, damit wir die Güter, an denen Du hängst, erhalten …“
„Nun, gewiß wirst Du sie heirathen, ganz sicherlich!“
„Und ich sage Dir, ich werde mich eher begraben lassen.“
„Aber so sag doch …“
„Mein Gott, Du bist in dem beklagenswerthesten Irrthum, wenn Du glaubst, ich hätte mir jemals eine Täuschung gegen Dich erlaubt, ich hätte mich jemals einen Pfifferling um diese Deine Elisabeth gekümmert; ich habe mich längst mit Elisabeth Kramer verlobt, und nun siehst Du, was Du angefangen hast!“
„Ist das in der That wahr … Deine Pfarrerstochter ist wirklich keine Mythe?“ sagte Markholm tief erschrocken.
„Mythe! So sag’ mir um Gotteswillen, wie konnte Deine kranke Poetenphantasie Dir eingeben, sie sei eine Mythe?“
„Eine kranke Poetenphantasie!“ wiederholte Markholm mit blasser Lippe … aber dann plötzlich kehrte eine helle Röthe in seine Züge zurück. „Großer Gott, dann wäre ja Alles, Alles gut …“ rief er aus.
„Was wäre gut?“ fiel Max ein, „ich meine, es kann gar nicht schlimmer sein! Sag’ mir nur, wie kamst Du auf die unglückliche Idee?“
„Wie ich darauf kam? Ich konnte ja gar keine andere fassen! Wenn ich von Elisabeth sprach, sagtest Du mir jemals, daß dies nicht Deine Elisabeth sei?“
„Anfangs glaubte ich auch, Du seiest der meinigen begegnet, [322] als ich die Verwechselung merkte, diesen Morgen, bat sie, die Deinige“ – Max betonte das fast ironisch – „mich, Dich im Irrthum zu lassen …“
„Und dann Euer Vielliebchen – die Aufmerksamkeit, womit sie Dein Portrait dort betrachtete … Alles das konnte mich ja nicht zweifeln lassen!“
„Ein Vielliebchen hatte ich mit ihr in der Pfarre gegessen.“
„Und nun gar,“ fuhr Markholm fort, „Dein Eingeweihtsein in die Vorgänge zwischen ihrem Vater und ihrem Bruder … konnte ich glauben, sie habe das einer Bekannten erzählt, die es Dir wieder geplaudert? …“
„Aber das hat mir in der That, wie ich Dir sagte, Elisabeth Kramer anvertraut … aber nun sag’ mir, wie entdecktest Du, daß sie nicht Elisabeth Kramer sei, sondern …“
„Wenn Du es mir nicht übel nehmen willst, ich sah eben sehr bald, daß sie keine Land-Pfarrerstochter sein konnte. Und wer konnte es denn anders sein, als Elisabeth von Morgenfeld? Andere Damen wohnen nicht in unserer Nachbarschaft, so viel ich weiß. Auch vertheidigte sie Morgenfelds viel zu eifrig für eine Fremde. Sie kam ja auch immer aus der Gegend her, wo Haus Markholm liegt.“
Max hatte sich in seiner Verzweiflung in das Sopha geworfen, sein Onkel schritt in großer Bewegung auf und ab. Nach einer längern Pause sagte er: „Beruhige Dich, Max, was geschehen ist, ist geschehen, aber es ist nicht so, daß es nicht wieder gut zu machen wäre.“
„Gut zu machen … wenn sie nun Ja sagt, so soll wohl ich die angenehme Aufgabe erfüllen, ihr zu sagen: ,mein Fräulein, es war ein Irrthum meines trefflichen, aber leider in seinen poetischen Paroxysmen nicht ganz zuverlässigen Onkels, ich will Ihre Hand nicht, ich mag sie nicht!‘?“
„Nein, nein, das sollst Du nicht!“
„Ich soll sie annehmen, ihre Hand, um der Güter willen?!“
Markholm sah ihn schweigend an; mit einem zerstreuten Blick, als habe er Maxens Ausruf gar nicht gehört.
„Ich will,“ sagte er dann halb wie für sich, „ich will selbst zu ihr gehen, augenblicklich!“
„Du wolltest … zu ihr gehen? … nach Haus Markholm? … zu diesen Morgenfelds?“
„Auf der Stelle!“
Markholm ging, um sich anzukleiden zu dem Besuch, und Max sah ihm verwundert nach.
„Er nach Haus Markholm! Das ist wunderbar! Welcher Geist ist in ihn gefahren? Aber wenn er auch Erd’ und Himmel in Bewegung setzt, verkaufen laß ich mich nicht!“
Markholm war nach wenig Augenblicken draußen. Er schlug den Weg ein, welchen wir ihn so oft gehen sahen. Am Schlagbaume wandte er sich rechts; am Saume seines Gehölzes lief hier ein schmaler Fußpfad, derselbe, den er zweimal Elisabeth kommen sah; er führte in einen Hohlweg, von diesem in einen schönen, von Zweigen überwölbten Weg durch den Wald; am Ende dieses Weges sah man eine Wiesenfläche vor sich, und in der Mitte derselben, aus breiten Wassergräben, Haus Markholm sich erheben; nach rechts und nach links hin liefen zwei Alleen hoher Pappeln vom Hause aus, der Hintergrund wurde von Obstgärten und einer Parkanlage gebildet.
Markholm schritt rüstig dem jetzt durch die Wiesen laufenden Wege nach, gelangte bald an eine alte steinerne Brücke, die an das Thor eines grauen Vorbaues führte, über dem in zerbröckelndem Sandstein eine Reihe Wappen angebracht waren. Durch eine Thorwölbung kam er in den Hof; um eine mit Blumenstöcken geschmückte kleine Rasenfläche herum, auf reinlich gehaltenem Kiespfade, schritt Markholm auf das große, in Bruchsteinen aufgeführte Gebäude zu, das rechts stand, ein Bau aus dem Ende des siebenzehnten Jahrhunderts, hoch und massig und sehr schucklos, die große Freitreppe und das schwere Portal darüber bildeten die einzigen Verzierungen des Baues.
An den Blumenbeeten auf der Rasenfläche war ein Gärtnerbursche beschäftigt, der herankam und nach Markholm’s Begehren fragte, als dieser die Portaltreppe erreicht hatte.
„Ich wünsche Fräulein von Morgenfeld zu sprechen.“
Der Bursche ging vorauf und öffnete die Portalthür vor Markholm. In der großen Halle, von der die Treppe in zwei Flüchten nach oben lief, saßen mehrere weibliche Domestiken mit Einmachen von Gemüse beschäftigt, sie hatten sich dazu um einen Tisch neben der Thür unter dem großen Fenster etablirt.
„Der Herr wünscht zum gnädigen Fräulein!“ sagte der Bursche und ein zierliches Kammermädchen erhob sich mit der Frage: „Wen soll ich melden?“
„Sagen Sie nur, ein Herr aus der Nachbarschaft wünsche das Fräulein zu sprechen.“
Die Zofe verschwand in einem Seitengang … Markholm blickte ihr nach, ohne seine Augen auf eine Umgebung zu werfen, die ihn in anderer Stimmung so sehr angezogen und seine Blicke gefesselt haben würde … das Schloß seiner Ahnen, schien es, ließ ihn in diesem Augenblicke völlig gleichgültig. Nur den kleinen Haufen von Stronzianitsteinen nahm er wahr, der zur Seite an der Wand aufgeschichtet lag.
Gleich darauf kehrte die Zofe zurück und bat ihn, zu folgen. Am Ende des Ganges öffnete sie eine hohe dunkle Thür vor ihm.
„Im zweiten Zimmer!“ sagte sie.
Markholm schritt durch das erste, einen kleinen mit zwei Bücherschränken an den gegenüberliegenden Wänden ausgestatteten Raum; eine Portiere öffnete sich vor ihm und Elisabeth erschien unter den Falten derselben.
„Sie sind es!“ sagte sie tonlos und als ob sie erwartet hätte, daß er es sein würde. „Kommen Sie hierhin!“
Er folgte ihr und sah sich in einem mittelgroßen Zimmer, das sehr elegant eingerichtet und mit vielfachen Dingen gefüllt war, welche eine rege geistige Thätigkeit und einen lebhaften Beschäftigungsdrang der Bewohnerin andeuteten. Die grünen Vorhänge des zweiten Fensters waren weit zurückgeschlagen, um das Licht auf einen mit Zeichenmaterialien bedeckten Tisch fallen zu lassen. An einer Wand stand ein Tisch, der mit sauber geordneten Mineralien belegt war. Ein von einem Blumentisch getragenes kleines Aquarium stand in der Mitte; auf dem Eckdivan lagen mehrere Bücher, auch der runde Tisch davor war mit Büchern bedeckt.
Elisabeth nahm auf dem Eckdivan Platz und winkte Markholm sich ebenfalls zu setzen. Er schob einen Stuhl herbei, Elisabeth nahm ihm schweigend den Hut ab und stellte ihn neben sich auf den Divan. Dann sah sie fragend zu ihm auf.
Ihr ganzes Wesen hatte etwas Lässiges, Gedrücktes. Markholm durfte sich nicht gestehen, daß sein Besuch etwas Erfreuendes für sie habe, es lag durchaus keine Spur von Erfreutsein in der Art, wie sie ihn aufnahm.
„Ich komme mit einer eigenthümlichen Mission zu Ihnen, mein gnädiges Fräulein,“ sagte er verlegen, „als ein Mann, der etwas gut zu machen und um Verzeihung für einen schweren Mißgriff zu bitten hat! Werden Sie mir verzeihen?“
„Und was haben Sie begangen?“ fragte Elisabeth aufblickend.
„Ich habe um Ihre Hand für meinen Neffen geworben, weil ich glaubte, daß er Sie liebe und daß Sie …“
„Daß ich …“
„Ich bin eines Besseren belehrt, Fräulein Elisabeth, mein Neffe ist außer sich über das, was ich gethan, und mich sehen Sie tief beschämt über meine Unbesonnenheit!“
„Er ist außer sich?“ rief Elisabeth lebhaft aus, „o nicht wahr, er liebt ja meine Freundin … ich wußte es ja, ich wußte es ja!“
„So ist es!“
„Und Gott sei Dank, daß dem so ist!“ sagte Elisabeth ihre Hände faltend, indem sie tief, tief Athem schöpfte und ihre Züge sich vor Freude rötheten.
„Werden Sie mir nun verzeihen?“
„Sie haben mir grausame Stunden bereitet, Herr von Markholm!“ sagte Elisabeth aus ihren großen Augen ihn vorwurfsvoll ansehend.
„Und die verzeihen, vergeben Sie mir nicht?“
Elisabeth seufzte tief auf. Sie antwortete nicht. Sie stand auf und sagte:
„Ich will in Allem das Gute sehen und auch mit diesem versöhnt sein, weil es uns Sie zugeführt hat. Lassen Sie mich, da Sie nun einmal unter unserem Dache sind, Sie zu meinen Eltern führen. Sie werden sie kennen lernen und dann, ich weiß es, wird Ihr Groll schwinden, Sie werden eine andere Ansicht der Sache gewinnen …“
[323] Markholm erhob sich nicht.
„Bitte, Fräulein,“ sagte er, „schenken Sie mir noch einen Augenblick Gehör … ich möchte Sie auf eine andere Weise versöhnen mit dem, was Sie durch meine Unbesonnenheit gelitten haben können … dadurch, daß ich Ihnen sage, wie sehr ich selbst darunter gelitten habe!“
„Sie selbst?“ fragte Elisabeth mit ihrem forschenden Blick.
„Ich selbst,“ versetzte er, unsichern Tones und ihrem Blicke ausweichend, denn eine furchtbare Erregung hatte sich seiner bemächtigt, es war ihm, während er sprach, als hinge ein Schleier vor seinen Augen, als habe der ganze Raum um ihn sich in einen Nebel gehüllt, „ich … wie soll ich es Ihnen sagen? … ich meine, Sie müßten es erkannt haben, wie werth und theuer mir Ihre Freundschaft geworden in den wenigen Stunden, worin ich das Glück hatte, Sie zu sehen – Sie können aber nicht wissen, welch fürchterlicher Kampf mit mir selber den Worten, welche ich für meinen Neffen sprach, vorherging; wie entsetzlich schwer mir die Resignation auf den letzten Traum meines Glückes wurde – wie es mir das Herz brach, mir sagen zu müssen: Du bist ein alter Mann und mußt das Loos derer, für welche das Leben nur noch welke Blüthen hat, zu tragen wissen; laß das Glück denen, die jung sind: es wird ja immer denen gegeben, die es nach ihrem Werthe nicht zu schätzen wissen, die es übermüthig wie einen schuldigen Tribut des Schicksals entgegennehmen. Die, welche seinen ganzen unermeßlichen Werth zu erkennen wüßten, sind ja immer die Enterbten. Ich habe es über mich gewonnen, so zu mir zu sprechen, und um mir selbst den Rückweg abzuschneiden, habe ich überhastig zu Ihnen gesprochen, und doch wußte ich ganz und völlig, worauf ich damit verzichtete … wozu ich mir das Leben machte … zu einer grenzenlosen, nie endenden Qual! Ich hatte alle Glücksträume, Alles, Alles, was ich mir je in einer Frau ersehnt und was ich doch nie mehr zu finden hoffte, in Ihnen gesehen … ich hatte seit dem Augenblick, wo ich Sie zuerst erblickte, keinen andern Gedanken mehr als Sie; wie der ewige blaue Himmel war mir der Gedanke an Sie, über dem alles Andere nur noch wie flüchtige Wolken dahinzog; mit jeder Stunde wurde dies Gefühl mächtiger, unterjochender, leidenschaftlicher – es trug in einer Minute mehr in sich, als was ich früher je empfunden, es ward die ganze furchtbare Gluth eines – reifen Mannes. Und das Alles mußte ich bewältigen, niederkämpfen, ich mußte mich zum Lügner vor mir selber machen und das Höchste, Himmlischste, Größte, was je durch meine Seele geflammt, als etwas Thörichtes, Unberechtigtes, Nichtiges verdammen, fortzuschleudern, niederzutreten suchen … und ich fühlte doch, daß ich es nie, niemals werde vernichten und auslöschen können … und ich war unsäglich elend in meiner Kraft und in meinem Muth!“
Markholm hatte dies Alles leise und langsam, wie die Worte, die sein Gefühl aussprachen, suchend und sie nicht findend, gesprochen. Sein Gesicht war bleich, seine Züge gespannt, seine Fibern schienen zu zucken … er blickte mit einem ängstlichen, flehenden Ausdruck zu Elisabeth auf.
Sie sah ihn an mit Blicken, in denen mehr irgend etwas Anderes als Erstaunen zu liegen schien; sie fixirte ihn groß, starr, mit einem Ausdruck von Zerstreutheit … es hatte beinahe den Anschein, als ob sie das, was er sprach, gar nicht anhöre, ihn nur sprechen sehe. Ihr Gesicht hatte dabei all seine gewöhnliche leise Röthe verloren; aber es zeigte nichts von Aengstlichkeit und Verlegenheit, wie am heutigen Morgen, nur Staunen und fast Entrüstung.
„Elisabeth!“ rief er jetzt leidenschaftlich aus, ihr seine Hand hinstreckend, „und Sie sagen mir nichts … Sie haben kein einziges gütiges Wort für mich nach all der Qual, die ich Ihnen geschildert habe? …“
„Was soll ich Ihnen sagen auf dies Alles? Sie haben keine Frage daran geknüpft, auf die ich antworten müßte … Gottlob … thun Sie es auch nicht!“
„Elisabeth! das lautet unsäglich hart – das ist grenzenlos grausam!“
„Lassen Sie uns dies Gespräch enden,“ versetzte sie, und diesmal zitterte ihre Lippe, als sie sprach, „ich kann Ihnen nur sagen, daß es mich unaussprechlich unglücklich macht. Verlangen Sie nicht mehr von mir zu hören!“
„Und doch weiß ich es, ich muß von Ihren Lippen ein anderes Wort hören, denn es würde mich tödten, ohne ein anderes von Ihnen gehen zu müssen.“
„Nicht diese leidenschaftlichen Ausdrücke, Herr von Markholm, sie wirken auf mich nicht, aber Sie thun mir wehe, sehr wehe … mehr als ich Ihnen sagen kann, Ihnen sagen darf!“
Sie stützte die Stirn auf ihre Hand und Markholm sah, daß in ihre Wimpern feuchte Tropfen traten.
„Wenn Sie mir eine Wohlthat erweisen wollen, so verlassen Sie mich!“ sagte Elisabeth.
„So? … ohne eine andere Antwort … ohne eine leiseste Hoffnung?“
Elisabeth winkte ihm mit der Hand zu gehen … er konnte nicht anders, er mußte sie allein lassen … er mußte gehen … ohne Hoffnung.
„O mein Gott … ist das denn möglich?“ rief Elisabeth, als sie allein war, aus, die Hände wie in Verzweiflung zusammenschlagend, „ist es denn möglich, kann ein Mann für einen andern werben und in der folgenden Stunde uns glauben machen wollen, er selbst liebe uns … und das vermag Markholm – er, auf den ich Berge gebaut hätte … welcher Abgrund liegt da vor mir! Markholm! Kann ein Mann so an dem jämmerlichen irdischen Besitz hängen? War es nicht Alles, Alles Lüge, was er sprach … kam es nicht deshalb so schön, so langsam, so gesucht über seine Lippen wie eine Liebeserklärung, die er für einen seiner Romane ausarbeitet … hätte eine wahre Leidenschaft nicht anders, ganz anders gesprochen? Ein Mann wie Markholm – von einer redlichen Neigung beseelt – wie ruhig, wie selbstbewußt, wie sicher, daß jedes Weib auf Erden stolz darauf sein müßte, von ihm gewählt zu werden, hätte er gesprochen: ich biete Dir mit treuer Neigung meine Hand, mache mich glücklich, indem Du die Deine hineinlegst! So hätte eine wahre Neigung aus ihm gesprochen, schlicht und einfach wie der Ton der Wahrheit ist …. O mein Gott, welche bittere, bittere Stunde der Enttäuschung ist dies für mich! Auf wen noch bauen, auf welches Menschen Wort noch vertrauen nach dieser Stunde!“
Sie versank in tiefes schweigendes Sinnen, aus dem sie nach langer Zeit mit dem plötzlichen Ausruf: „Wenn es wahr wäre … es wäre zu fürchterlich, was ich ihm angethan! Aber nein, nein, nein … ein Mann, der liebt, kann nicht werben für den andern … o, mein Leben gäb’ ich für nur einen Blick in sein Herz!“ –
Max wartete lange, sehr lange auf des Onkels Rückkehr… Max war in aufgeregtester Spannung über das Ergebniß der Unterredung zwischen Markholm und Elisabeth, obwohl er sich zehnmal gesagt hatte, daß er völlig gleichgültig dagegen sei, daß der Onkel schlichten könne, was er angestiftet, daß er, Max, nun und nimmermehr sich zu einer Transaction auf Kosten seiner Neigung hergeben werde.
Maxens Ruhe war doch nicht so unerschüttert, wie er sich vorsagte. Max hatte seine Eitelkeit so gut wie jeder Andere, und es wäre wunderbar gewesen, wenn er die Möglichkeit, daß Elisabeth von Morgenfeld mit ihrer güterreichen Hand einen schmucken Jüngling wie ihn beglücken wolle, nicht als eine über seinem Haupte schwebende Gefahr betrachtet hätte, und der Onkel, hing er nicht mit dem zähen Familiensinn eines Poeten an jenen Gütern? Ihre Bedeutung ließ sich dieser Güterfrage auch gar nicht absprechen … sie fiel in’s Gewicht! Ach ja, sehr, sehr – der menschliche Dualismus, über den der Onkel unlängst Betrachtungen angestellt, fehlte auch in Maxens Brust nicht; da war allerdings eine recht aufrichtige treue Neigung für seine Elisabeth – aber der heimtückische Verstand hatte darüber nicht die Fassungskraft für die störende und beunruhigende Thatsache verloren, daß Landgüter ein ganz unberechenbar werthvoller Besitz sind!
Es wurde dunkel und der Onkel kam nicht. Die Zeit des Abendessens kam… Markholm erschien noch immer nicht.
„Das ist seltsam!“ sagte sich Max besorgt, „seine Freundschaft mit diesen Morgenfelds wird nicht gleich so innig geworden sein, daß sie ihn zur Nacht dabehalten haben! Es wäre das jedenfalls ein übles Omen für Dich, armer Max … aber ganz gewiß hätten sie dann wohl herübergeschickt und auch Dich, die Hauptperson bei der Sache, eingeladen!“
Beunruhigt ging Max, um den Onkel zu suchen … er ging den gewöhnlichen Weg nach Haus Markholm, bis an die [324] Stelle am Ende des Waldes, wo man den Edelsitz sich über seiner Wiesenfläche emporheben sah … das Haus lag im Mondschein dunkel und massig da; nur aus ein paar Fenstern im ersten Stock schimmerte mattes Licht. Max wanderte zurück, ohne vom Onkel etwas wahrzunehmen.
Als er dem eignen Hause wieder nahe war und durch den Mittelpfad des Gartens darauf zuschritt, sah er in dem durch eine Lampe erhellten Salon den Schatten eines Mannes sich vor den Fenstern hin- und herbewegen.
Er athmete erleichtert auf.
„Da ist er!“ sagte er, „in seinem Eisbärentrab im Zimmer auf und ab!“
Hastiger schritt er auf das Haus zu, und als er in den Salon trat, rief er aus:
„Gott sei gelobt, daß Du wieder da bist … ich war besorgt um Dich; Du bist so entsetzlich lange geblieben … hast Du so lange mit Elisabeth Morgenfeld zu verhandeln gehabt?“
„Nicht ganz so lange,“ erwiderte Markholm, indem er in seinem Auf- und Abschreiten blieb und das Gesicht den Fenstern zuwandte, wie um den forschend auf ihn gerichteten Blicken seines Neffen zu entgehen.
„Aber so sprich, lieber Onkel … welche Nachricht bringst Du von ihr?“
„Du kannst Dich vollständig beruhigen, ich habe Alles in’s Gleiche gebracht!“ versetzte Markholm so tonlos wie eben. Dabei ging er in das dunkle Nebencabinet, wo er zu ruhen pflegte, und warf sich hier auf die Chaise longue nieder.
Max sah ihm einen Augenblick erstaunt nach. Dann folgte er ihm und sagte:
„Onkel, willst Du nicht soupiren? es ist fast neun Uhr!“
„Soupire nur. Ich mag nicht! Laß mich allein!“
„Lieber Onkel, Du bist todtenblaß, wie ich eben sah, Du siehst verstört aus … ich kann mich nicht dabei beruhigen, daß Du mich fortschickst … Dir ist etwas zugestoßen. Bist Du unwohl geworden …? soll ich Dir –“
„Unwohl!“ lachte Markholm bitter auf, „in der That! Wenn den Menschen der ganze Daseinsjammer überfällt, so ist’s kein Wunder, daß ihm unwohl dabei wird! Geh und laß mich!“
„Onkel, lieber Onkel,“ rief Max, dessen ganze Zärtlichkeit für seinen zweiten Vater erwacht war, stürmisch aus, „wie kann ich Dich verlassen! Sag mir, ich bitte Dich, was Dir geschehen ist, was ich thun kann … ?“
„Du kannst nichts daran thun. Du kannst mir nur wohlthun, indem Du mich allein lässest!“
„Aber mein Gott, wenn Du mir doch anvertrauen wolltest, was … Du hast eine Scene, einen heftigen Streit mit Morgenfelds gehabt.“
„Nun so ungefähr … glaub’ das immerhin … man hat mich dort ein wenig zur Thür hinausgeworfen!“
„Ist das wahr?! Bei Gott, Onkel,“ brauste Max auf, „ich werde mich mit Morgenfeld schießen … oder, wenn nicht mit ihm, mit seinem Sohn …“
„Du bist ein thörichter Knabe … willst Du Dich schießen, so müßtest Du’s mit ihr, mit dieser Elisabeth thun.“
„Mit ihr? Sie hat Dich doch nicht – Onkel,“ rief Max, plötzlich von einem Blitz des Verständnisses durchzuckt, aus, „Du liebst Elisabeth und sie hat Dich zurückgewiesen …“
„Nun ja, und nun Du es weißt, laß mich allein.“
„Ahnt’ ich’s doch, dacht’ ich’s doch,“ sagte Max, „aber weil Du heut Morgen für mich warbest, gab ich natürlich den Glauben auf; wer hätte es danach noch denken können? Also doch! Und trotzdem hast Du für mich geworben? Armer, guter Onkel. Aber hör’ einmal, Onkel,“ rief Max mit verändertem Tone fast vorwurfsvoll aus, „das ist aber auch eine seltsame Geschichte, am Morgen wirbst Du für mich und am Nachmittage für Dich, das ist eine Art zu verfahren, wie sie mir noch nicht vorgekommen; wie kann man denn auf ein Mädchen so losstürmen, was mußte sie von Dir glauben, wie konntest Du ihr zumuthen, sogleich an Deine Neigung zu glauben, nachdem Du eben ihre Neigung für einen Andern gefordert! Onkel, Onkel, Du bist aber auch seltsam!“
Drei Jahre sind es heut’ gerad’,
Da kamen zusammen wir
In diesem Saale, im vollen Staat
Siebenunddreißig Officier’;
Die führten wir zum Strauß.
Aus diesem Saal, ’s ist nun drei Jahr,
Da rückten wir fröhlich aus.
O welch ein großer Tag war der,
Wie funkelte so hell und hehr
Die scharfgeschliffne Braut!
Wie funkelten uns zu Stolz und Lust
In der Sonne Glanz und Strahl
Und die siebenunddreißig von Stahl!
Von den tausend Bajonetten nun
Zweihundert halten noch Stand,
Denn Hunderte in den Sümpfen ruhn,
Und andere Hundert – treu und brav,
Die schleppen – verkrüppelt und wund,
Durchs Leben sich noch, und neiden den Schlaf
Der Todten im blutigen Grund.
Da kam aus dem Schlachtgewühl
Der Rest zusammen – noch elf an der Zahl,
Für siebenunddreißig Stühl’.
Zwei hinkten an Krücken nur fürbaß,
Aber hoch erhob die eine das Glas
Zum Toast: „Unser Banner und Land!“
Und mit Tränen füllte sich jeder Blick,
Zu viel Stühle standen ja leer –
Nur die Gläser langten sie her,
Und schweigend schenkten sie wieder ein
Und hoben den Trank zum Mund:
„Den Todten“ brachten sie still den Wein,
(Schluß.)
Die erste Leipziger Zeit Otto Ludwig’s ist für die Erklärung seiner späteren geistigen Richtung so wichtig, daß wir den Briefen, die er damals an seinen Onkel Otto nach Eisfeld schrieb, noch einige gerade in dieser Beziehung Mancherlei andeutende Stellen entnehmen müssen.
Aus diesen Briefen (die übrigens tagebuchartig gehalten sind und nur durch die gemüthlichen Ueberschriften: „Liebster Herr Bester“ oder „Lieber dicker Herr“ ihre Bestimmung verrathen) ersehen wir, daß Otto Ludwig 1839 auf 40 einen für ihn sehr schlimmen Winter verlebt hatte. Er schreibt „Ich glaube, [326] wären noch zwei Wintermonate gewesen, ich wäre gestorben. Ich konnte keine Musik mehr hören, es war, als wenn mein Kopf zerspringen und alle Nerven zerreißen müßten; hatte sogar zuletzt eine Art Abscheu und Angst vor Allem, was Musik heißt. Da kam der Frühling und da – bin ich aus meiner Winterpuppenverwandelung ausgekrochen als ein wenn auch nicht schöner, doch fröhlicher Schmetterling. Eine auffallendere Verwandelung ist mir noch nicht vorgekommen, als die meine. Eine Fülle von Kraft und Entwürfen ist wieder in mir, die Farbe ist wieder da, auch die Körperkraft und das Bischen Uebermuth, das ihr Begleiter ist, stellt sich wieder ein.“ – In dieser glücklichen Stimmung denkt der frische Geist vor Allem an die eigene Zukunft. Er will durch Schriftstellern sich die Mittel erwerben, um seinen Aufenthalt in Leipzig möglichst gut benutzen zu können.
Näher motivirt er diese Sorge in folgender wichtigen Briefstelle: „An meinem Geburtstage zählte ich meine Jahre zusammen und siehe, es waren deren siebenundzwanzig. Ich wollte mich überreden, zu viel gezählt zu haben, aber die Probe zeigte mir, daß ich richtig gerechnet. Kam nun dazu, daß ich in jenen Tagen eine gichtartige Steifheit in meinen Fingern fühlte, was mich so gleich auf den Gedanken meiner musikalischen Zukunft lenkte. Zur Composition gehört die praktische Fertigkeit auf einem Instrument wenigstens nothwendig. Uebung auf dem Klavier war mir daher eine Hauptsache, und ich glaube, da schon etwas vorgerückt zu sein. Nun die Geschichte mit den Fingern, die sich wiederholen könnte oder bleibend werden, dann die mit meiner Natur in Widerspruch stellende Hauptthätigkeit in der Musik im Winter und das Mißverhältnis meines Naturells und Charakters mit der gegenwärtigen Richtung der Musik ließen mir’s zweckmäßig erscheinen, zugleich aus Vorsorge einen andern Stab für die Zukunft zu ergreifen, und deßhalb beschloß ich, weil mir doch außer der Musik und Schriftstellerei schwerlich ein andrer Stand offen stehen wird, als der Lehrstand, was mich etwa zu seiner Ergreifung befähigen möchte, nicht außer Acht zu lasten.“
Ist hier der Vorbau gegen zukünftige Noth in einer Weise beplant, die uns zeigt, wie ernst Otto Ludwig es mit dem Leben nahm, so ergreift uns doch noch viel mehr die höhere Sorge, die er für die Freiheit seines schaffenden Wirkens hegte. Der ganze edle Otto Ludwig tritt uns entgegen in den Worten: „Die sich – in Folge meiner so bedingten Gesundheit – mir aufdrängende Gewißheit einer nicht mehr so langen Lebensdauer, als die Pläne, die mich bis jetzt beschäftigt, erfordern, dazu Ansprüche an das Leben, die mit Gewalt jetzt so laut und dringend werden, als ich sie sonst zurückgewiesen, und die den Boden, aus dem sie wachsen, mit in jener Gewißheit haben, bestimmten mich, zunächst auf eine gesicherte Existenz zu denken, die nicht glänzend zu sein brauchte, einestheils, weil ich jetzt sehe, wie wenig Bedürfniß ich dennoch eigentlich habe, anderntheils, weil ich durch schriftstellerische Arbeiten mit der Zeit eine nicht unbedeutende Nebenerwerbsquelle vor mir sehe. Dazu kam der innere, genau genommen eigentlich der Hauptgrund, daß ich selbst in musikalischer und schriftstellerischer Hinsicht dann freier gestellt bin. Ist dies nicht mein einziger Fond, so muß ich der herrschenden Richtung nicht schmeicheln, sondern bin in Stand gesetzt, wahrhaft Gutes und Dauerndes je nach dem Maße meines Talents zu leisten, Und Das war es ja, was ich von je wollte, nicht die Schmeichelei des äußern Ruhms, sondern die innere Beruhigung, die aus dem Bewußtsein quillt, nicht was lockte, sondern was man sollte, gethan zu haben.“
Wahrlich, wenige Männer sind unter weniger günstigen Verhältnissen einem solchen selbstgegebenen Gebot des Gewissens und der Ehre treuer geblieben, als Otto Ludwig.
Noch bezeichnet er zwar die Schriftstellerei als eine „Nebenerwerbsquelle“, berichtet seinem Onkel, daß er so eben eine Erzählung „das Hausgesinde“ geschrieben und an Ferdinand Stolle nach Grimma für die „Eilpost“ geschickt habe, und daß dieser so freundlich gewesen sei, dieselbe, damit sie rascher zum Druck komme, selbst an Herloßsohn für den „Kometen“ abzugeben, aber zugleich deutet er bereits auf das höchste Ziel seiner Zukunft hin: „Auf das Drama“ – schreibt er – „habe ich große Hoffnung gesetzt; von allen Seiten beginnt man, es zu fördern und in seine alten Rechte einzusetzen, wozu vornehmlich die Verdorbenheit der Oper Anlaß sein mag … Solche Zeiten sind gut, das Talent erkennen und würdigen zu lassen. Deshalb hab’ ich die Hälfte meiner Zeit dem Studium und praktischen Versuchen in diesem Fache gewidmet. Eine Kunst, die jung wieder aufsteht, trägt auch ihre Priester höher und kräftiger empor, denn die Bewegung ist die Mutter des Werdens.“
Ungern trennt man sich von den jugendfrischen und hoffnungsfrohen Briefen; aber der Raum gebietet Sparsamkeit; vielleicht ist es uns später einmal vergönnt, aus diesen und anderen Reliquien des edlen Geistes noch einen Nachtrag in der Gartenlaube zu bringen.
Das Jahr 1840 sah in Otto Ludwig noch einen eifrigen Studenten der Musik, wie Studienhefte und Compositionen bezeugen; der Winter von 1840 auf 41 wurde jedoch entscheidend für die Berufswahl des armen von Leiden Gemarterten. Er selbst erzählt uns, ohne näheren Aufschluß zu geben über das gänzliche Fallenlassen der musikalischen Studien, den weitern Verlauf seines Lebens von dieser schweren Nervenkrankheit an in folgender Kürze: „Ich kann keinen Ton Musik ertragen, muß davon, wenn ich eine Geige höre, und kehre auf ein Jahr (1841) zu meinem Onkel zurück, bei dem ich mich erhole. Im Jahre 1842 gehe ich von Neuem nach Leipzig, 1843 nach Dresden, kann zu größeren Sachen keinen Verleger finden. Dann lebe ich wechselsweise in dem Dorfe Garsebach in Natureinsamkeit, in Meißen und Dresden. In dieser Zeit erschienen Novellen von mir in Journalen; 1846 werde ich bei Gelegenheit eines Trauerspiels, das ich ihm zur Veurtheilung sandte, mit Eduard Devrient in Dresden bekannt. Die Aufführung des Stücks, dessen Held ein exilirter Pole, wird durch den posener Aufstand unmöglich gemacht. Von da an fördert mich Devrient’s Theilnahme und Aufmunterung, und er ist’s, der mein Debüt als Schauspieldichter möglich gemacht hat, indem er den ,Erbförster’ auf die Bühne brachte.“
Es ist sehr erfreulich, daß aus dieser zweiten Leipziger und der Meißner Zeit Otto Ludwig’s sein Freund August Kretzschmar den Lesern der Gartenlaube (No. 14) ein so lebendiges Bild vom Wandel und Schaffen des Dichters bieten konnte; von jetzt an, wo ein neuer Kreis von gleichstrebenden Freunden sich ihm anschloß, fließen die Eisfelder Quellen über ihn spärlicher. Dennoch waren seine Beziehungen zu den alten Jugendgenossen in der Heimath die innigsten geblieben; wie vertrauensvoll er ihnen den Einblick in sein ebenso stilles wie rastloses Vorwärtsringen eröffnete und wie energisch und zielfest dieser selbst war, dafür möge wenigstens eine Stelle seiner späteren Briefe zeugen.
Otto Ludwig’s Dresdener Freunde erzählen, daß er Novellistisches nicht aus innerem, sondern meist aus äußerem Drang geschrieben habe, ja daß selbst seine größeren Schöpfungen, die „Thüringer Naturen“ und „Zwischen Himmel und Erde“ hauptsächlich dem Einflusse Berthold Auerbach’s auf ihn ihre Vollendung verdankten; dem Drama gehörte seine ganze Seele. Das Schicksal seines ersten dramatischen Werks „Die Rechte des Herzens“ erzählt er selbst. Trotzdem nun um dieselbe Zeit sein Herz sich der Liebe ergeben hatte, so konnte doch die Sehnsucht nach einem eigenen Heerd ihn nicht verführen, der trefflich honorirten dramatischen Mode des Tags zu huldigen. Er wich keinen Augenblick von seiner hohen Bahn, bis endlich der „Erbförster“ ihm die Bühnen erobert hatte. Auf diesen Erfolg konnte er den Bau häuslichen Glücks zu gründen wagen. Da er nicht sächsischer Bürger werden wollte oder konnte, so mußte seine Braut, Emilie Winkler aus Meißen, Bürgerin von Eisfeld werden. Er wandte sich deshalb an die Behörde seiner Vaterstadt, und der Freude über die Bereitwilligkeit, mit der seinem Wunsche in ehrendster Weise entsprochen wurde, gab er in folgendem (an den jetzt verstorbenen Registrator Ambrunn gerichteten) Briefe Ausdruck, der in Dresden am 25. December 1851 geschrieben ist:
„Wie ich mich gefreut und wie ich Euch, Ihr lieben Menschen, meine Dankbarkeit nicht blos mit Worten möchte bezeigen, das will ich nächstens in einem besondern Brieflein ausführen … Ich hoffe, Ihr seid zu diesen Feiertagen so gut auf dem Zeug, als mir möglich ist. Meine Braut ist’s und ich selber bin’s so ziemlich; ich muß mir schon wieder gefallen lassen, daß mich die Leute einen robusten Menschen nennen. Hat doch selbst ein Mal Hofmaler Oehme, ein lieber Freund von mir, mich für ein Bild von gesundem Menschen gehalten, ehe er mich genauer kennen lernte.
„Meine Arbeit ist freilich wohl die Hauptursache meiner Kränklichkeit; ich habe mir ein großes Ziel gesetzt, nämlich: das männliche Princip in unsere deutsche Dichtung nicht allein, sondern [327] auch in unser Leben wieder hereinzuführen, welches Goethe und Schiller gänzlich aus ihr herausgethan. Ihre Poesie umfaßt nur eine Seite der menschlichen Natur, die weibliche, d. i. die Tugenden ihrer Helden sind negativ, weibliche: Fassung, Anstand, Würde; aber für die Affecte, die Kant (? im Original undeutlich) die wackeren nennt, die eigentlichen männlichen, ist kein Platz bei ihnen, sowohl in ihrer Praxis, als in ihrer Theorie. Die Schiller’sche Philosophie kennt nur eine Art menschlicher Größe, die passive. Klar wird Dir, was ich meine, durch die eine Frage werden: Kannst Du Dir z. B. Luther von Schiller oder Goethe behandelt denken? Sie würden seine männliche in eine weibliche Größe haben umwandeln müssen, um ihn zum Helden eines Stücks brauchen zu können. Aber darüber ein ander Mal; ich wollte nur sagen, daß solch ein neues Leben, das man der Nation zuwenden möchte, erst in uns selber sich zur Wirklichkeit durchkämpfen muß und daß ein solcher Kampf eine Riesennatur verlangt. – Den Sommer werde ich an einigen Idyllen ausruhen …“
Auch von diesem Briefe gilt, was oben über die an seinen Onkel gesagt ist. Es sind vertraulichste Mittheilungen aus seiner Einsamkeit, sie werfen einen Lichtschimmer auf das Dunkel, in welchem diese bisher für das Auge der Oeffentlichkeit lag; wie in der Beleuchtung eines Blitzstrahls sehen wir den sinnenden Dichter, der nach dem Weg zur Seelengesundheit seines Volkes forscht; darin liegt der hohe Werth dieser Briefe. Von diesem Standpunkt aus beurtheile man diese Aussprüche, das Urtheil über sie wird dann nicht falsch werden und uns kein Vorwurf wegen der Mitteilung derselben treffen.
Außerdem zeigen diese Briefe, in welch’ innigem Verhältnis; Otto Ludwig stets mit seinen lieben Eisfeldern blieb. Und daß dieses Band auf der andern Seite ebenso fest gehalten wurde, dafür zeugt am schönsten Folgendes. Des Dichters Hochzeitstag rückte heran. Siehe, da wurde im Schießhaussaale zu Eisfeld das alte Theater wieder aufgebaut, wer von den alten Musikanten, Dilettanten, Sängern und Sängerinnen noch lebte oder noch für die ehemalige Rolle paßte, eilte aus der Stadt und von den Bergen und aus den Thälern herbei, in die Lücken traten neue Kräfte ein, die Proben weckten wieder, wie einst, die helle Begeisterung aller Theilnehmenden, und so gingen denn nach fünfzehn Jahren „die Geschwister“, das liebste poetisch musikalische Erstlingswerk des nun gefeierten Dramatikers, noch einmal über die Breter. Aus der Einnahme wurde eine Hochzeitsgabe bestritten, welche den Dichter als ein Gruß aus der Heimath an seinem Ehrentage überraschte.
Von dieser Zeit an hat die Außenwelt so wenig Notiz von Otto Ludwig’s innerem Leben erhalten, als er selbst sich um diese Außenwelt zu bekümmern schien. Er zog sich auch in dem lebenvollen Dresden in die altgeliebte Einsamkeit einer Gartenwohnung zurück, die nun seine Familie ihm versüßte. Wie oft wohl die Sorge an das stille Haus gepocht hat? Nur seine vertrautesten Freunde mögen das wissen. Die deutsche Welt sah nur, was aus ihm hervorging, und das wäre des glänzendsten Lohnes würdig gewesen. In England und Frankreich würde man die Werke eines solchen Dichters mit Gold aufgewogen haben: in Deutschland mußte dieser selbe Dichter, als verzehrende Krankheit eine Saite um die andere seiner unsterblichen Harfe zerriß, von einer kärglichen Gabe der Schillerstiftung sein und der Seinen Leben fristen, er, der der deutschen Nation die „Makkabäer“ gedichtet und ihr „Zwischen Himmel und Erde“, das gewaltigste, reinste und vollendetste Seelengemälde geschenkt hat, das unserer Literatur zur ewigen Zierde gereicht.
Aus dieser Zeit, wo Otto Ludwig’s Dichterruhm, seine stillen Familiensorgen und seine Krankheit gleichen Schrittes zu steigen begannen, rührt das Bildniß her, das wir unseren Lesern im Holzschnitt mittheilten und von welchem ein Eisfelder Photograph, Pefold, für die Verehrer des Dichters billige Photographien bereit hat. Es entspricht noch nicht der Schilderung, welche Waldmüller, der mit Heydrich, Auerbach und Freytag zu den Vertrautesten seiner späteren Jahre gehörte, aus der letzten Zeit von ihm entwirft. Er sagt: „Otto Ludwig’s äußere Erscheinung war seit vielen Jahren durch sein schmerzhaftes Uebel entstellt. Seine übermittelgroße Gestalt hatte keine Haltung; er ging schon vor fünf bis sechs Jahren langsam und mühsam, wie ein Greis; die klugen, gutmüthigen, braunen Augen hatten ihren Sehwinkel mehr und mehr verengt; das dunkelbraune Haar hing ungelockt bis weit über die Wangen hinab; seine Arme waren stockmager, weniger das Gesicht, in welchem eine lange, kräftige Nase alle übrigen Züge beherrschte; brauner Vollbart, ungepflegt, der Cultur nicht zugänglich, wie sein Haupthaar, vollendete das Absonderliche seiner Erscheinung.“ – Wenn auch ein Schmerzenszug aus dem Antlitz unseres Portraits nicht zu verwischen ist, so dringt doch noch aus dem Auge jene Kraft, welche eine „Heiterethei“ erschaffen konnte, und die Lippen unter dem starken Schnurrbart sind noch über jede Schalkheit freudig zu lächeln fähig. Das ist noch der Otto Ludwig, der in seinen „Thüringer Naturen“ in der Lust an körperkräftigen und herzensrüstigen Menschen schwelgt, in dem selbst ein Stück Heiterethei spukt und der damals sicherlich dem ganzen deutschen Volke solche Gesundheit und mit ihr die Entschlußfestigkeit des Schlagwortes wünschte: „Und so ist’s, und nu ist’s fertig!“
Wie im Jahre 1827 „die Geschwister“ in Hildburghausen und Meiningen die Hebel der Geschickswendung für Otto Ludwig in Bewegung gesetzt hatten, so wirkten, in entsprechender Progression, der Siegeslauf des „Erbförsters“ und das Erscheinen der „Makkabäer“ für ihn an zwei Hauptpunkten dramatischen Lebens. Geibel suchte ihn zur Uebersiedelung nach München zu bewegen; und als O. Ludwig diese Einladung ausschlug, weil er das Klima Münchens fürchtete, stellte der Großherzog von Weimar ihm die Wahl des Ortes in seinem Lande frei, wo er dem gefeierten Dichter ein passendes Haus bauen wollte. Auch zu dieser Wahl konnte O. Ludwig sich nicht mehr entschließen. Am liebsten wäre er nach Nürnberg gezogen: aber wie in seiner Jugend die Armuth, so hielt nun die Krankheit ihn an der Scholle fest, bis sie ihn deckte.
Sein Hinsiechen war ein langsames, zähes und um so erschütternder für seine Freunde, je deutlicher sie die Gleichzeitigkeit des körperlichen und geistigen Absterbens wahrnahmen. Der Tod erlöste ihn von aller Pein in diesem Jahre, in welchem er, wie er im schwersten Leid noch scherzte, „sein fünfunddreißigjähriges Krankenjubiläum“ beging, am Februar, und er starb mit den Worten auf den Lippen, welche die Summa seines ganzen Lebens zogen: „Ueber Eins möchte ich nur noch im Klaren sein.“
„Welch’ einen holden Inhalt barg diese Lazarushülle! Wie eigenartig alle seine Anschauungen, wie bescheiden, wie einfach, wie großartig kindlich sein ganzes Verhältniß zu den Dingen! Welch ein unverwüstlicher, völlig unbewußter, nie des rechten Worts ermangelnder Humor, selbst noch auf seinem Schmerzenslager!“
– – „Die unerschütterliche Charaktergröße, der ruhige Gleichmuth, die milde schöne Ergebung, mit der er ohne Klage, ohne alle Verbitterung bis zuletzt seine Qualen ertrug, sie waren das sprechendste Zeugniß von der innern Wahrheit seines im vollsten Sinne mannhaften Heldenlebens und Strebens. Was für eine Welt von Geisteskraft und Klarheit, welch’ ein Reichthum des Gemüths und reinster Güte des Herzens geht der Kunst, dem Vaterlande und den Seinen mit diesem Tage verloren!“ So sprachen zwei Stimmen aus Dresden an seinem Todestage.
Der literarische Rang Otto Ludwig’s ist der höchste, den er erringen konnte. Als Dramatiker gehört er zur kleinen Gruppe der Repräsentanten bestimmter Richtungen und Culturphasen des höhern Dramas; als poetischer Erzähler nimmt er eine nicht weniger hohe Stelle ein. Gedruckt sind außer dem Genannten (die Dramen „Der Erbförster“ und „Die Makkabäer“, die Erzählungen „Zwischen Himmel und Erde“ und „Thüringer Naturen“) nur einzelne Novellen und Gedichte in Zeitschriften erschienen. Desto reicher ist sein literarischer Nachlaß an dramatischen, novellistischen und lyrischen Schätzen, zu dessen Herausgabe ein besonderes Comité in Dresden zusammengetreten ist, das wir hiermit auf die noch in den Händen der in diesem Artikel genannten Eisfelder Freunde des verewigten Dichters befindlichen Poesien und Compositionen aus früherer Zeit aufmerksam machen. Der Nachlaß erscheint zum Besten der Hinterbliebenen Otto Ludwig’s, seiner Wittwe, seiner beiden Söhne und seiner kleinen Cordelia. Ist es nöthig, daß die Gartenlaube ihren Lesern die regste werkthätige Theilnahme für eines solchen Dichters geistige und leibliche Kinder als eine deutsche Ehrenpflicht erst ans Herz legt? Gewiß nicht! Wie jüngst für Marggraff’s blonde Lockenköpfchen, so warm wird auch für diese Dichterkinder die liebende Sorge deutscher Männer und Frauen sich bethätigen: man wird dem Gefühle gerecht werden, daß die Nation an den Kindern gut zu machen hat, was sie dem Vater schuldig geblieben ist.
[328]
Von Albert Grün.
Als ich wieder in den ersten Stock des Arbeiterhauses kam, wo das Mädchen, zum ersten Mal ein wenig verlegen, Schildwacht vor einer Thür hielt, deren Bedeutung mir nur dadurch klar wurde, äußerte ich meine Verwunderung darüber, daß die Wohnungen nicht nur geräumig und zweckmäßig, daß sie auch so trocken, hell und gesund seien.
„Das glaub’ ich,“ erwiederte sie; „die hat auch der Baumeister Müller nicht allein gemacht, der Dr. Clavel hat geholfen. Und wir,“ setzte sie mit Selbstgefühl hinzu, „halten sie auch im Stande.“
„Das sehen wir,“ sprach herzutretend der Pfarrer; „nur können Sie und die Mutter dabei schwerlich außer dem Hause arbeiten.“
„Die Mutter wohl,“ lautete die Antwort; „sie ist Monatsfrau bei einem Fabrikanten. Aber ich nicht, und ich möchte auch nicht. Es ist doch viel schöner, für Küche und Wäsche, Haus und Garten zu sorgen, und es kommt auch mehr dabei heraus. Man bewegt sich, ist sein eigener Herr, hat Freud’ an seiner Sach’, und wenn man fertig ist, ruht man aus und strickt oder liest auch einmal – besonders im Sommer, im Garten.“
„Was lesen Sie denn?“ fragte ich neugierig.
„Der Vater,“ entgegnete sie die Treppe hinabsteigend, „hat Bücher aus der Bibliothek, aber ich lese meine eigenen, die hier im untern Zimmer stehen.“ Und eintretend schlug sie einen kleinen Vorhang in der Ecke zurück, hinter dem eine Bibel, ein Gesangbuch, Pfeffel’s Fabeln, Schiller’s Tell, Otte’s Schweizersagen und ein Band von Stöber’s Alsatia neben der schönen Magelone und dem Käthchen von Heilbronn standen.
„Herrlich,“ rief der vollständig versöhnte Pfarrer aus, „ihr habt ja Alles, was noth- und was wohlthut. Aber wie viel Miethe bezahlt ihr denn jährlich für die schöne Wohnung?“
„Miethe?“ wiederholte das Mädchen mit beleidigter Gedehntheit. „Das Haus ist unser!“
„Dann war,“ wagte ich jetzt zu forschen, „der Vater wohl von Haus aus begütert?“
„O nein, wir waren ganz arm,“ antwortete sie mit größter Offenheit. „Ich weiß noch, wie wir in Straßburg, wo der Vater Commissionär war, in der Rue du Foulon wohnten, die nicht so breit war, wie das Zimmer hier, dumpf und stickig. Die Mutter konnte mitten am Tage nicht nähen. Unsere zwei Löcher, für die wir hundert Franken Miethe zahlen mußten, waren so schmutzig, daß man sie gar nicht rein bringen konnte, und die Strohsäcke und Unterbetten faulten darin. Und neben uns wohnte eine Familie, die hatte nur eine Stube und ein Bett, in dem oben die Alten und unten die Kinder lagen. Hu, es war schrecklich! und als der Vater es nicht mehr aushalten wollte und wir hierher nach Mülhausen zogen, war’s die ersten Jahre nicht viel besser. In der Spinnerei, wo er Arbeit gefunden hatte, verdiente er nur wenig, weil er die Sache noch nicht recht verstand, und die Wohnungen in der Stadt waren ebenso theuer und fast so schlecht wie in Straßburg. Erst als die Cité, die Arbeiterstadt, gebaut wurde, fing für uns das Leben an, und jetzt sind wir Gott sei Dank auch Menschen, wie andere Leut’.“
„Aber ihr mußtet,“ warf ich ein, „doch schon viel gespart haben, ehe ihr daran denken konntet, hier ein Haus zu kaufen.“
„Ei bewahre,“ sagte sie, „kaum zweihundert Franken, die sich die Mutter in einem Jahre mit Waschen und Scheuern verdient hatte und die der Kaufcontract kostete.“
„Aber das Haus selbst“ – beharrte ich – „was kostet denn das?“
„Weiß nicht,“ zuckte sie die Achseln; „ich glaube dreitausend dreihundert Franken. So viel hat wenigstens mein Schatz, der Maschinenbauer, den Sie droben gesehen haben, von seinem Einstandsgelde für ein ganz gleiches bezahlt, in dem jetzt seine alte Mutter mit ein paar Miethern wohnt, bis er wiederkommt; dann heirathen wir und ziehen zu ihr.“
„Und werdet glücklich sein!“ setzte ich vertrauensvoll hinzu.
„Aber dein Vater, wer gab dem ein solches Capital?“
„Niemand,“ lächelte sie; „er hat das so nach und nach bezahlt. Ich kann’s nicht expliciren, aber er muß jeden Augenblick kommen. Es ging ganz von selbst, und die Anschaffung der neuen Möbel obendrein. Aha“ – wandte sie sich plötzlich dem Fenster zu, auf das ein flüchtiger Schatten fiel – „da ist der Vater.“
Der Kleine, den wir ganz vergessen hatten, sprang an die Hausthür und kam hüpfend an der Hand eines Mannes zurück, der mir wunderbar imponirte.
Groß und hager von Gestalt, trug er rings um das längliche, blasse, bis zur Strenge ernste Gesicht einen kurzen, graumelirten Bart, der, jetzt ruhig anliegend, sich offenbar einmal gesträubt hatte. Hose, Jacke und Kappe von grauem Tuch machten bei seiner straffen Haltung den Eindruck vornehmer Einfachheit; fast dachte man an einen Engländer auf Reisen, an einen Baron im Jagdkleide. Und in der That fühlte man auf der Stelle, daß man hier kein Bild „der Menschheit, welche abgehärmet an des Bedürfens Karren zieht,“ daß man ein Wesen voll Ueberlegung und Charakter vor sich hatte – mit einem Worte: seines Gleichen, wenn nicht noch mehr. Die ganze Erscheinung, der man den siegreichen Kampf mit des Geschickes Mächten ansah, erzwang Respect.
Er grüßte ohne alle Demuth und fixirte uns mit einer Miene, in der das englische „Mein Haus ist meine Burg“ deutlich zu lesen war. Es schien mir fast, als müßte Einer von uns Aehnlichkeit mit Jemand haben, den er nicht liebte, als erblicke er in mir der Brille wegen eine spionirende Kellerratte (wie man im Elsaß die Agenten der Getränksteuer nennt) oder fürchte für seine Tochter. Sobald ihn diese indeß über den Zweck unserer Anwesenheit aufgeklärt und in den Stand des Gesprächs eingeweiht hatte, war er wie umgewandelt, rückte uns – woran das Mädchen nicht gedacht – Stühle hin, setzte sich ebenfalls und erklärte mit ruhiger Besonnenheit:
„Sie werden wissen, daß die Gesellschaft, die unsere Cité gegründet, ihre Häuser ohne allen Nutzen genau zum Kostenpreise verkauft. Das allein aber würde Unsereinem nicht viel helfen, denn wer hat so ohne Weiteres über Tausende von Franken zu verfügen? Die Hauptsache ist also, daß sie vom Erwerber im Augenblicke des Ankaufs keinen Heller fordert, sondern ihm gestattet, die mit 5% zu verzinsende Kaufsumme in ganz kleinen monatlichen Abzahlungen zu entrichten. Nachdem der Käufer dem Staate die auf dem Kaufe lastenden Steuern bezahlt, braucht er der Gesellschaft für ein Haus von 2400 Franken einschließlich der Miethe nur 18, für eins von 3000 nur 23 Franken monatlich zu zahlen, und wenn er das vierzehn Jahre ordentlich fortgesetzt, so ist das Haus vom Grundstein bis zur Dachspitze sein.“
„Und die Arbeitslöhne,“ fragte mein Begleiter, „sind so, daß man diese Abzahlungen erschwingen kann?“
„O ja,“ erwiederte der Mann, „wer nicht liederlich ist oder besonderes Unglück hat, kann sich leicht so einrichten. Die niedrigsten Löhne sind die in den Webereien, wo ein Mann täglich 1¾–2, monatlich also 46–52 Franken gewinnt; in den Spinnereien kommt der Arbeiter schon auf 52–65 und in den Gießereien und Maschinenfabriken noch viel höher, ja bei besonderer Geschicklichkeit auf 130 oder gar 180 Franken. Hilft nun, wie das bei Familien gewöhnlich ist, eine Frau verdienen, die es in der Fabrik oder sonstwo zu 1–1¼ täglich bringt, oder ein erwachsenes Kind, so hat die Sache augenscheinlich keinen Anstand. Auch zahlen nicht nur alle Käufer pünktlich; die meisten warten die vorgeschriebenen vierzehn Jahre gar nicht ab, sondern zahlen voraus und gewinnen so zugleich die 5procentigen Zinsen der zu früh entrichteten Summen, die man ihnen in den Zahlbüchlein gewissenhaft abzieht. Freilich,“ fuhr er fort, „zahlt man als Käufer monatlich 5 Fr. mehr, als der bloße Miether für eine schlechte Baracke in der Stadt, aber der Ertrag des Gärtchens, den man dreist auf 40–50 Franken jährlich [329] schätzen darf, gleicht das fast wieder aus. Und wäre dem nicht so, was würden die fünf Franken monatlich, wenn man sie vierzehn Jahre lang in die Sparkasse legte, eintragen? Nicht einmal 1500 Franken, wogegen man jetzt ein Haus erwirbt, das nach denselben vierzehn Jahren vielleicht einen Werth von 8–10,000 Franken hat. Schon nach sechs Jahren sind Häuser von 3000 zu 4000 Franken wieder verkauft worden.“
„Da sollte doch,“ meinte ich, „Niemand in der Cité miethen, sondern Jeder gleich kaufen, um den Miethzins nicht erst Jahre lang umsonst zu geben.“
„Manche mögen wirklich nicht gleich können,“ entgegnete der Arbeiter. „Andere sind eben, was sie sind. Aber auch ihnen leistet die Gesellschaft allen möglichen Vorschub. Nach den Statuten darf die Miethe 8% des Kostenpreises betragen; obgleich man nun nicht mehr als 7% nimmt, schreibt man doch dem Miether, der sich hinterher zum Kaufen entschließt, Alles wieder gut, was er jemals über 5% gezahlt hat.
„Wahrhaft christlich!“ rief der entzückte Pfarrer aus, der unser Eisenbahngespräch wohl rein vergessen hatte.
„Ich mein’s auch!“ bestätigte mit herzlicher Stimme der Andre, „und doch – sollten Sie es glauben? – doch wichen die Arbeiter anfangs scheu zurück. Sie, die für ihre abscheulichen Schlupfwinkel in der Stadt oft 25% des Hauswerthes als Miethe zahlen mußten – wie ich denn selbst noch vor vier Jahren ein Haus gekannt habe, das 2500 Fr. Miethe trug und für 10,000 Fr. öffentlich verkauft wurde! – sie waren mißtrauisch, weil es ihnen unglaublich vorkam, daß sie Hauseigenthümer, Herren werden sollten. Ein Kniff, meinten sie, stecke dahinter, ungefähr wie wenn ihnen unentgeltliche Landstrecken in Südamerika oder im Monde angeboten würden; man wolle sie ausbeuten, hieß es, sie unter polizeiliche Aufsicht stellen, und was weiß ich noch sonst. Erst nach und nach näherten sie sich, versuchten, fanden ihre Furcht lächerlich und nun ging’s wie der Wind. 1856 wurden nur 5, 1857 schon 52, 1858 gar 110 Häuser gekauft und in diesem Augenblicke sind es 580, während nur 112 von Miethern bewohnt werden und kein einziges leer steht.“
„Mich wundert das anfängliche Zaudern um so mehr,“ bemerkte ich, „da bei den vier großen Zimmern ein Bewohner, der keine zahlreiche Familie hatte, den größten Theil des Zinses ja durch Wiedervermiethen einbringen konnte.“
„Entschuldigen Sie,“ widersprach der Arbeiter, „ohne besondere Erlaubniß der Gesellschaft ist das nicht gestattet, obgleich manche Wohnungen fünf Zimmer haben. Und ich glaube, das ist in der Ordnung. Wenn Einer z. B. eine junge Frau oder eine große Tochter hat und wollte Männer in’s Haus nehmen – – “
„Oho,“ unterbrach ihn das Mädchen ungeduldig, „das wäre nicht gleich so gefährlich. Aber Mancher würde aus Geiz sein Haus so voll stopfen, daß Alles, was die Herren so gerühmt haben, Luft und Platz und Reinlichkeit verloren gingen und wir am Ende wieder wie die Heringe aufeinandergepackt säßen.“
„Auch das ist richtig,“ fuhr der Vater fort, „und deßhalb erlaubt man das Untervermiethen an eine kinderlose Familie nur, wenn der Hauptmiether selbst nicht zu viele Leute hat. Um aber die ganze Wahrheit zu sagen, muß ich hinzusetzen, daß auch der Käufer, der sein Haus bezahlt hat, in den ersten zehn Jahren nicht wieder verkaufen darf, es sei denn an einen andern Arbeiter.“
„Zu dieser Beschränkung des Eigenthums,“ fuhr ich mit angeborenem Freiheitstrotz dazwischen, „sehe ich denn doch keinen Grund.“
„Aber ich,“ betonte kräftig der Arbeiter. „Nur so kann, vor der Hand wenigstens, die überall lauernde Speculation abgehalten werden, die unsre Häuser, sobald sie in ihre Hände fielen, im Nu so vertheuern würde, daß Unsereiner sie gar nicht mehr bezahlen könnte. Wäre es vollends erlaubt, was zum Glück auch nicht der Fall ist, die gekauften Gärten in Bauplätze zu verwandeln, so würden wir bald wieder da sein, wo wir sonst waren: reiche Capitalisten hätten große Häuser, und wir bezahlten die schlechteste Ecke mit schwerem Gelde, mit unsrer Gesundheit und Allem, was wir vom Leben haben. Ich fürchte manchmal, es kommt später doch noch dahin, und das verdirbt mir manche Nacht.“
Die letzten Worte waren mit so traurigem Ernste gesprochen, daß ich meinen leichtfertigen Einwurf bereute. Nur um uns Alle zu befreien, fragte ich scherzend, was denn aber die Junggesellen machten, wenn man sie mit Frauen und Mädchen nicht unter Einem Dache dulden wolle.
„Die liebt man überhaupt nicht in der Cité,“ sprach der Mann unfreundlich; „sie stören allzu leicht die Ruhe auf den Straßen, wie den Frieden der Familien. Für die, die brav sein wollen, giebt es allerdings ein Hotel garni.“
„Und da finden sie auch ihren Tisch?“ erkundigte sich der Pfarrer.
„Das nicht,“ berichtigte Jener; „haben Sie denn den Restaurant an der Place Napoléon nicht gesehen?“
„Gesehen wohl,“ erwiderte ich, „aber von den Einrichtungen kennen wir noch nichts.“
„Also Wasch- und Badehaus, Bäckerei, Bibliothek, Salle d’adile: das Alles ist Ihnen fremd?“
Wir nickten Beide; Einer von uns mußte bei den Prachtausdrücken den Mund leise zum Lächeln verzogen haben, denn der Mann stand mit den Worten auf: „Ich will Sie, da ich eine Stunde frei bin, begleiten und weiß gewiß, daß Sie die Namen in kürzester Frist nicht mehr lächerlich finden.“
Er nahm seine Mütze vom Tisch und mahnte zum Aufbruch.
Der verlegene Blick, mit dem der Pfarrer und ich uns aufstehend ansahen, wäre einem Psychologen leicht verständlich gewesen. Wir wußten nicht, wie wir für die freundliche Aufnahme, die uns hier zu Theil geworden, danken sollten, und da ich der Führer in dieses Labyrinth gewesen war und deshalb für Pflicht hielt, auch den Faden der Ariadne zu suchen, so fragte ich, zu dem Mädchen gewendet, tölpelhaft genug, ob ich dem Kanarienvogel am Fenster etwas schenken dürfe. Die Angeredete stand verdutzt.
„Wir füttern unsre Vögel selbst,“ sagte der Vater mit einem verweisenden Blicke, vor dem ich das Auge niederschlug. „Und nun kommen Sie, denn viel Zeit habe ich nicht übrig.“
Wir gehorchten – das ist das einzige richtige Wort – und hätten nicht einmal gewagt, seiner Tochter scheidend die Hand zu reichen, wäre dieser Vertraulichkeit nicht dadurch die Spitze abgebrochen worden, daß wir zuvor dasselbe Manöver mit dem kleinen Buben machten. Doch riskirte ich im Abgehen einen Gruß an den schmucken Artilleristen, der mit schallendem Lachen angenommen und mit keckem Gegengruße an „die Frau Liebste“ erwidert wurde.
Als ich, der Letzte von uns Dreien, in’s Freie trat, sah ich meinen Pfarrer in lebhaftem Gespräche mit dem Arbeiter dahinwandeln. Sie gingen wie Cameraden, und mich freute das so unbändig, daß ich lieber auf jede Theilnahme an der Unterhaltung verzichtete und um ein Dutzend Schritte zurückblieb. Sie merkten das erst vor der Treppe des Wasch- und Badehauses und erwarteten mich dort. Eintretend gewahrten wir eine Reihe der saubersten Bade-Cabinete, zehn an der Zahl, in jedem entweder eine metallene Wanne oder eine mit Porcellan ausgeschlagene Einsenkung. Früher kostete hier das Bad einschließlich der Wäsche 20 Centimes, was aller Welt etwas zu viel schien; doch benutzten im Jahre 1861 z. B. 7000 Personen die Anstalt, manchmal 180 in Einem Tage. Im October 1863 setzte man den Preis auf 15 Cent. herab; aber man kann nicht sagen, daß die Frequenz in entsprechendem Mäße zugenommen hatte, denn aus den Notizen des Badewärters ersah ich, daß 1864 nicht mehr als 9700 Bäder genommen wurden. Für die Bevölkerung der Cité ist das offenbar zu wenig, auch wenn man die im Freien genommenen Bäder hinzudenkt, und unser Arbeiter wird wohl Recht gehabt haben, indem er den Preis noch immer zu hoch fand. Man könnte, meinte er, das Bad ohne Wäsche, da dann nur das Wärmen des Wassers Kosten verursachte, zu 5 Cent. ausbieten und die Leute auffordern, ihr Trockentuch selbst mitzubringen. Ich berichte das treulich, weil der so verbreitete Vorschlag möglicher Weise Gutes stiften kann, sei es in Mülhausen oder anderswo.
Links von den Badezimmern führt eine steinerne Treppe in’s Waschhaus hinab, eine hölzerne hinauf zu Trockenstube und Speicher. Das mit Steinplatten belegte Waschhaus enthält Plätze für vierzig Wäscherinnen; jede hat ein Standbret unter den Füßen, ihren Krahnen sammt Bütte und Waschbret für sich, und vergütet für zweistündige Benutzung des aus einer benachbarten Spinnerei herübergeleiteten heißen Wassern nur 5 Cent., für die zahllosen Neuigkeiten, die dort umherschwirren, gar nichts. Auch drängt man sich herzu; im Winter sollten täglich gegen 200 [330] Frauen hinkommen, und wenn die Zahl der jährlich dort abgehaltenen Wäschen seit 1861 nur von 16,000 auf 18,500 gestiegen ist, so liegt der Grund tröstlicher Weise in dem seither eröffneten zweiten Waschhause. Daß aber auch hier ein Uebelstand herrscht, läßt sich schwer übersehen; so hoch der mit Dach- und Seitenfenstern versehene Raum auch ist, Augen, Haut und Lungen leiden unter dem sich anhäufenden Dampfe, der zugleich auf die Riechnerven nichts weniger als angenehm wirkt und, sich an den Wänden als Wasser absetzend, das ganze Local dauernd feucht macht. Man sollte sagen, unsre Zeit, die in dieser Beziehung Alles kann, müßte da leicht Rath zu schaffen wissen.
Prächtig aber ist der von unten auf geheizte Trockenofen mit seinen dreiunddreißig Querstangen, die in bequemster Weise herausgezogen, mit Wäsche behängt und wieder eingeschoben werden können. Daß man seine Benutzung mit 50 Cent. per Stunde bezahlt, ist nicht mehr als billig, und doch hat man auch für Diejenigen gesorgt, denen jeder Preis zu hoch sein und die Zeit zum Abwarten des Ofens fehlen dürfte. Für sie ist der Allen unentgeltlich zugängliche, auf beiden Seiten mit Jalousien versehene Speicher, wo die Wäsche in freier Luft trocknet, ohne daß Jemand dabeizustehen braucht. Leider soll es vorkommen, daß Frauen mehr Wäsche abnehmen, als sie aufgehängt hatten, und das Zurückbringen des Überschusses im Drange der Geschäfte vergessen. Um diesem Uebel abzuhelfen, schlug ich vor, nur Engel in der Cité zuzulassen; der Arbeiter aber meinte ziemlich trocken, man brauche den Speicher blos in schließbare Verschläge zu theilen und die Schlüssel jedesmal beim Hausmeister abgeben und wiederfordern zu lassen. Da sich der Pfarrer auf seine Seite schlug, so war ich überstimmt.
Aus der General-Reinigungs-Anstalt waren wir bald in dem imposanten Institute für leibliche und geistige Ernährung der Arbeiter angekommen, denn das ringsum frei an der Place Napoléon liegende große Gebäude mit zierlich in Schweizerstyl aufgeführtem Treppenüberbau und reizendem Gärtchen davor, auf das wir direct zuschritten, enthält Bäckerladen, Restauration und Bibliothek, letztere allerdings mit einem besondern Eingange. Ich hatte gehört, daß man dort spottwohlfeil essen könne, und mir eine beliebige, leidlich unsaubere Spelunke mit abschreckenden Beispielen von Aufwärtern und einer Art von Speisen gedacht, die den unschätzbaren Vorzug habe, schon vor dem Genusse satt zu machen. Wie ward ich enttäuscht! Durch ein breites Vorhaus, auf dessen linker Seite der freundliche Brodladen liegt, während sich auf der rechten eine kolossale Küche mit blitzend blanken Heerden, Geschirren und Köchinnen in’s Unendliche verliert, gelangten wir in den lichten Speisesaal, der durch einen auf die gegenüberliegende Hinterthür zuführenden, von manneshohen Breterwänden eingefaßten Gang in zwei gleiche Hälften getheilt ist. Jede Hälfte ist so breit, daß zwischen zwei Reihen in die Quere gestellter Tische noch ein bequemer Durchgang bleibt. Der ganze Raum faßt 250 Personen und muß doch dann und wann zu klein sein; wenigstens deutet darauf das von der Verwaltung vorbehaltene Recht, jedem Speisenden nur einen halbstündigen Aufenthalt zu gestatten. Und in Wahrheit mich wundert, daß nicht halb Mülhausen dort zu Mittag ißt. Denn mit einer Abonnementskarte versehen, die vierteljährlich nur 75 Cent. kostet und bei Familien von jedem beliebigen Mitgliede benutzt werden kann, oder gegen ein Eintrittsgeld von 5 Cent. pro Mahlzeit findet man dort das gesundeste, appetitlichste und schmackhafteste Essen zu einem für die dortigen Verhältnisse fabelhaft billigen Preise. Eine schwarze Tafel an der Wand trägt das Verzeichniß der vorhandenen Speisen, und Jeder wählt nach Herzensgelüsten. Die fette Suppe kostet 10, das Rindfleisch 15, das Gemüse 10 Cent., und die Portionen sind so wohlgemessen, daß selbst ein Habgieriger unter Beifügung eines Stückes Brod zu 5 Cent. mit diesen drei Gerichten auskommen, also für 40 Cent. vollständig diniren kann. Ist er vielwillig, wählerisch, so wird er zwar die magere Suppe zu 5 Cent. Andern überlassen, hat aber noch eine Auswahl zwischen Ragout oder Boeuf à la mode zu 15, Braten zu 25 und Salat zu 10 Cent.; ja für weitere 10 Cent. bekommt er sogar Käse als Nachtisch, und wenn er gar anspruchsvoll ist, für 15–20 Cent. einen halben Schoppen guten, reinen Wein. Man sieht, der verwöhnteste Bürger – und die Anstalt darf Jeder benutzen, weil das offenbar in ihrem eigenen Interesse liegt – brächte es schwerlich dahin, mehr als einen Franken zu verzehren; die Arbeiter aber, die früher kaum Sonntags einmal Fleisch essen konnten, müssen sich in ein wahres Paradies versetzt fühlen.
Der deutschen Lehrerversammlung ein erster Gruß.
Die meist sonnig verklärten Tage der Pfingsten, die so manchen stillen Arbeiter, der sonst das ganze Jahr hindurch in der staubigen Werkstatt steht oder am alten, liebgewonnenen Schreibtische sitzt, hinausziehen in die frischen, grünen Wälder oder auf die luftigen Berge, werden auch in vielen treuen, deutschen Lehrerherzen die Sehnsucht erwecken, den heimathlichen Heerd, das Schulzimmer – den Zeugen mancher Sorgen und Mühen – zu verlassen und sich zu mischen unter die Schaaren der fröhlichen Pfingstreisenden. Aber nicht lediglich deshalb, um die Brust voll zu schöpfen von milder, warmer Frühlingsluft, werden die Lehrer den Wanderstab ergreifen, sondern um sich, beseelt von der ihnen in die Hand gegebenen Sache der Jugenderziehung und von dem Gedanken, im vereinten Streben die Aufgabe zu erfassen, anzuschließen an den großen Lehrerkreis, der sich in der Pfingstwoche dieses Jahres in Leipzig bilden wird. Schon vierzehn Mal haben sie sich aus allen Gauen Deutschlands in verschiedenen Städten zusammengefunden und trotz aller ungünstigen Verhältnisse früherer Zeiten fest aneinander gehalten, tüchtig gearbeitet an der Bildung ihrer selbst, sowie der ihnen anvertrauten Jugend und wacker gekämpft für die Interessen ihres so oft verkannten Standes. Selten hat wohl einer von ihnen eine solche Versammlung verlassen, der nicht neue Anschauungen und Anregungen erhalten hätte, dessen Herz nicht, wie sehr auch immer in den einzelnen Theilen des gesammten Vaterlandes die Schulverhältnisse verschieden sein mögen, von neuer Liebe für seinen Beruf erwärmt worden wäre, der sich nicht lebhaft als Glied eines großen Ganzen gefühlt hätte, das weiter reicht, als die Marksteine seines Gaues.
Von Jahr zu Jahr ist das Interesse, das die gesammte deutsche Lehrerschaft an ihren alljährlichen Versammlungen nimmt, gestiegen, und wenn schon die zuletzt in der Pfingstwoche 1863 zu Mannheim abgehaltene mehr als zweitausend Theilnehmer zählte, so dürfte diese Zahl von der in Leipzig bevorstehenden noch bei Weitem überschritten werden. Die alte Meß- und Universitätsstadt, die so manches Gewühl gesehen und in deren Straßen sich so verschiedene Menschengruppen bewegt haben, nimmt gewiß nicht weniger freundlich auch die Lehrer auf, die hier tagen wollen, und es steht sicher zu erwarten, daß die Bürgerschaft Leipzigs, die bei Gelegenheit der Feier der beiden nationalen Feste, welche das Jahr 1863 brachte, bewiesen hat, wie sehr sie ihren alten Ruhm der Gastfreundschaft zu wahren versteht, auch den von auswärts kommenden Theilnehmern an der fünfzehnten allgemeinen deutschen Lehrerversammlung ein gastliches Obdach gewähren wird. Zwar wird die Versammlung kein äußeres Festgepränge zur Schau tragen und durch ihre Vorträge und Besprechungen dem, der der Schule und ihren Bestrebungen ferner steht, wenig Interesse abgewinnen, gewiß aber wird Angesichts derselben Mancher, der längst der Jugend- und Schulzeit entwachsen, sich wieder lebhafter derselben erinnern und vielleicht im Herzen eines treuen Lehrers gedenken, der einst seine Jugendbildung leitete.
Als daher die Versammlung durch ihren Vorstand bei der städtischen Behörde in Leipzig anfragte, ob ihr erlaubt sei, hierher ihren Fuß setzen zu dürfen, ward diesem Wunsche freundlichst gewillfahrtet und ein aus einer Anzahl Lehrer und lehrerfreundlicher Bürger bestehendes Comité läßt sich mit allem Eifer die [331] Ausführung der nothwendigen Vorarbeiten zur Versammlung angelegen sein, die im vorigen Jahre wegen der politischen Verhältnisse, welche einen großen Theil fleißiger Besucher aus dem nördlichen Deutschland fern gehalten hätten, ausgesetzt wurde.
Die Lehrer Deutschlands haben diesmal Leipzig zu ihrem Versammlungsorte gewählt, nicht blos deshalb, weil diese Stadt sich von allen Seiten am leichtesten erreichen läßt, sondern auch, weil das Schulwesen derselben, weithin bekannt wegen seiner guten Einrichtungen, einer genaueren Kenntnißnahme von Seiten einer größeren Anzahl von Lehrern werth sein dürfte. Und dieselben werden sich freuen, wenn sie finden, wie die Bürgerschaft der Stadt, deren Rührigkeit und Wohlhabenheit sich von Jahr zu Jahr gesteigert haben, auch nicht zurückgeblieben ist in der Sorge für die Jugendbildung; sie werden zugeben, daß mit vollem Rechte Leipzig einer der ersten Plätze unter den deutschen Städten in Bezug auf die Sorge für die Schule eingeräumt werden muß. Denn nicht allein, daß die Stadt aus eigenen Mitteln zwei Gymnasien, eine Handels- und eine Realschule erhält, sie hat auch das Elementarschulwesen durch die zahlreich besuchten Bürger-, Frei- und Armenschulen so vollständig in die Hand genommen, daß von eilftausend Schülern noch nicht eintausend in Privatanstalten unterrichtet werden, während doch in vielen andern Städten, wie z. B. in Hamburg, das Privatschulwesen weit umfangreicher ist, als das öffentliche. Die Opfer, welche die Stadt Leipzig besonders in neuerer Zeit für ihre Schulen gebracht hat, legen ein herrliches Zeugniß von dem Interesse der Bürgerschaft für das Erziehungs- und Unterrichtswesen ihrer Jugend ab und beweisen, wie die Leipziger das wohl beachtet haben, was einst Luther den Rathsherren aller Städte deutschen Landes an’s Herz legte: „daß sie die größte Sorge auf’s junge Volk haben möchten, weil ja das einer Stadt bestes und allerreichstes Gedeihen, Heil und Kraft sei, daß sie viel feiner, gelehrter, vernünftiger, ehrbarer, wohlgezogner Bürger habe, die darnach Schätze und alles Gut sammeln, halten und recht gebrauchen können.“
Da es nun die Volksschule mit einer Seite des deutschen Culturlebens zu thun hat, die der Stolz der Nation und die sicherste Bürgschaft für ihre Stellung in der Zukunft ist, und da sich in ihrer Geschichte das Streben des deutschen Volkes nach allgemeiner Bildung abspiegelt, so dürfte es nicht ohne Interesse sein, in kurzen Zügen einen Ueberblick über das öffentliche Volksschulwesen in Leipzig zu geben und zu zeigen, wie es sich aus den früheren, bescheidenen Anfängen allmählich zu dem großen, organischen Ganzen, das es in unseren Tagen repräsentirt, herangebildet hat. Wird doch ein Jeder leicht einen ähnlichen Entwickelungsgang anderwärts nachweisen können und erkennen, daß nicht durch Einflüsse von außen her, sondern allein aus dem Bildungstriebe des Volkes die gemachten Errungenschaften hervorgegangen sind.
Die Volksschule nach unsern jetzigen Begriffen, die sich der Bildung und Erziehung jedes einzelnen Kindes ohne Unterschied annimmt, war dem ganzen Mittelalter noch fremd und ist erst ein Ergebniß der neueren Zeit. Bis zur Reformation war die Jugenderziehung zumeist in den Händen der Geistlichen und wurde nur in den an den Klöstern und Kirchen errichteten Schulen gepflegt; so in Leipzig in der St. Thomas- und in der später gegründeten Nicolaischule.
Erst gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts, als sich eine größere Theilnahme für die Kinder aus ärmeren Ständen zeigte, die im Allgemeinen weder die erwähnten beiden sogenannten lateinischen Schulen besuchen, noch sich Privatunterricht erzeugen konnten, der nach und nach in Leipzig ziemliche Ausdehnung gewonnen hatte, wurden die Anfänge zu den Bürger- und Volksschulen, wie sie noch jetzt bestehen, gemacht. Es fanden sich wohlwollende Bürger, wie der Kaufmann Schwabe, der Graf Hohenthal, der Buchhändler Wendler, die aus eignen Mitteln Schulen stifteten und Lehrer besoldeten. So ehrenvoll für die Stifter diese Bestrebungen waren, so blieben sie doch unzureichend. Erst der unermüdlichen Thätigkeit des in jeder Beziehung um Leipzig hochverdienten Bürgermeisters Dr. Müller und den rastlosen Bemühungen des edlen Superintendenten Dr. Rosenmüller, der 1785 von Gießen nach Leipzig berufen wurde, war es vorbehalten, einen tüchtigen Grund zum Elementar- und Bürgerschulwesen in Leipzig zu legen. Ihr Werk war insbesondere die Gründung der Rathsfreischule, in welcher Kinder vermögensloser Eltern zweckmäßigen Unterricht erhalten sollten. Sie ward am 16. April 1792 mit einhunderteinundsiebzig Schülern und Schülerinnen eröffnet und ihre Organisation und Leitung dem bekannten Pädagogen Karl Gottlieb Plato anvertraut. Reges Leben und Streben beseelte bald Lehrer und Lernende. Lange Zeit ist diese Schule ein Vorbild für die andern Anstalten geblieben, die später errichtet wurden und gleiches Ziel mit ihr verfolgten, und wenn auch nicht dem Namen, so doch in der That und ihrem Plane nach die erste Bürgerschule der Stadt gewesen. Plato’s, seiner Mitarbeiter und Nachfolger Verdienste um die Bildung der Stadt sind niemals vergessen worden, und ihre Namen erwecken noch heute Achtung und Dankbarkeit in Tausenden. Schon dreiundsiebzig Jahre besteht die Anstalt, mit der seit einiger Zeit die 1787 vom Buchhändler Wendler gegründete Freischule vereinigt ist, in voller Thätigkeit, und es gehen täglich gegen achthundert Kinder, von neunzehn Lehrern in vierzehn Classen unterrichtet, in ihr ein und aus. Sie wird jetzt von dem als Lehrer und Collegen gleich hochgeschätzten Director Schott geleitet.
Die schönen Erfolge, die in dieser Schule erreicht wurden, erregten auch in dem bemittelten Bürgerstande den Wunsch, einer ähnlichen Anstalt für ihre Kinder sich bedienen zu können. Es bleibt stets eine interessante und wichtige Aeußerung der damaligen Zeit und ein schönes, ehrenvolles Zeugniß für das ernste Streben nach einer tüchtigen Jugendbildung, als am 25. Febr. 1795 die Obermeister von fünfundzwanzig Innungen, die gesetzlichen Vertreter der Bürgerschaft, an den Rath die Bitte richteten: „Derselbe wolle, aus ganz besonderer Milde und Güte, zur Bildung der Jugend, sowohl männlichen als weiblichen Geschlechts, ihnen eine allgemeine Bürgerschule, in welcher die Kinder gegen ein billiges Schulgeld einen ebenso wohlthätigen als zweckmäßigen Unterricht in dem Maße, als die armen Kinder in hiesiger Freischule erhalten, genießen können, zu schenken gnädig und hochgeneigt geruhen.“ Das Gesuch ward berücksichtigt und, nachdem Riß und Voranschlag zu einem der Stadt würdigen Schulhause gemacht worden waren, im nächsten Jahre der Beschluß gefaßt, eine allgemeine Bürgerschule auf der alten Moritzbastei, auf der Südseite der Stadt, zu errichten. Man hoffte, einen Theil der früheren Festungswerke als Grundmauern des neuen Gebäudes benutzen zu können, hatte sich aber doch in deren Stärke geirrt und mußte einer Senkung durch riesige Gewölbe vorbeugen. Daher kam es, daß der Bau gewaltige Summen verschlang und man Bedenken trug, ihn fortzusetzen. Doch die Innungen, von denen das erste Gesuch ausgegangen war, wünschten dies dringend, trotzdem ihnen eröffnet wurde, daß die Kosten bis zur Vollendung und Einrichtung der Schule wohl leicht sich auf mehrere Tonnen Goldes belaufen dürften. Das Haus war kaum zur kleineren Hälfte fertig, als man an die Eröffnung der Schule dachte. Der Rath ernannte Ostern 1803 zum Director der neuen Anstalt den zeitherigen Gymnasial-Rector in Bautzen Ludwig Friedrich Ernst Gedike, der sich schon in mehreren bedeutenden Lehrämtern in Berlin, Breslau und zuletzt in Bautzen durch seine großen pädagogischen Gaben, durch seine Gelehrsamkeit und die Reinheit seines Charakters ausgezeichnet hatte. Im zweiundvierzigsten Jahre seines Lebens stehend, kam er nach Leipzig und setzte seine ganze volle Manneskraft daran, die neugegründete Schule zu einer tüchtigen Bildungsstätte deutschen Bürgerthums zu machen.
Erst am 2. Jannar 1804 konnte die Schule mit 265 Kindern eröffnet werden, deren Zahl aber im Laufe des Jahres noch auf 600 stieg. Die Urtheile über die Anstalt lauteten von Seiten der Bürgerschaft sowie der speciellen Fach- und Berufsgenossen immer günstiger und erfreulicher, so daß sie bald ähnlichen Schulen in andern Städten als Muster aufgestellt werden konnte. Der Bau des Mittelgebäudes und des linken Seitenflügels war noch nicht vollendet, als am 19. October französische Truppen die Stadt besetzten. In der nun folgenden Drangsalszeit konnte nichts für den Ausbau dieser Theile geschehen, und erst seit dem Jahre 1833 steht das Haus in seiner jetzigen Gestalt da und bietet in derselben eine der schönsten architektonischen Zierden der Stadt dar, wie dies das Hauptbild unserer Illustration zeigt. Als die Octobertage von 1813 hereinbrachen, ward sogar die Schulanstalt aufgelöst und das Gebäude mit allen Räumen in ein großes Militärhospital verwandelt. Erst im Juni des folgenden Jahres, nachdem am 4. März die letzten russischen Reconvalescenten das Schulhaus verlassen hatten, konnte
[332][333] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [334] es von Lehrern und Schülern, die mittlerweile in verschiedenen Privatlocalen unterrichtet worden waren, wieder bezogen werden. Von nun an nahm die Anstalt ihren Fortgang bis zu Anfang der dreißiger Jahre. Um diese Zeit ging man nach den vielfachen Veränderungen, die das Jahr 1830 im politischen und socialen Leben hervorgerufen hatte, auch daran, die Leipziger Bürgerschule einer zeitgemäßen, durchgreifenden Reform zu unterwerfen. Da sich der greise Gedike dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen fühlte, legte er 1832 sein Amt nieder und überließ seinem jungen, kräftigen Nachfolger, dem bisherigen Schuldirector in Elberfeld, Dr. Karl Christoph Vogel die bevorstehende Reorganisation der Anstalt. Ueber dreißig Jahre hat dieser edle, reichbegabte Mann, der leider schon vor zwei Jahren heimgegangen ist, im Dienste der Leipziger Bürgerschule gearbeitet und diese zu einer weithin anerkannten Höhe gehoben. Von nah und fern kamen Lehrer und Regierungsabgeordnete, um die Einrichtungen und die verschiedenen Lehrmethoden, die der in jeder Hinsicht geniale Vogel eingeführt hatte, kennen zu lernen, und keiner der Besuchenden ist gewiß unbefriedigt geschieden von der Anstalt und von ihrem liebenswürdigen Director, dessen Name auch in weiteren Kreisen nicht allein durch seine zahlreichen Schriften, sondern auch durch seinen Sohn, den unglücklichen Afrikareisenden Dr. Eduard Vogel, bekannt geworden ist.
In der ersten Bürgerschule erhalten jetzt über eintausendsiebenhundert Kinder, getheilt in vierunddreißig Classen, den nöthigen Unterricht, der von vierzig Lehrern und sechs Lehrerinnen besorgt wird. Leider ist auch schon der rüstige und gewandte Bulnheim, der nach Vogel’s Tode zum Director erwählt wurde, diesem bald in’s Grab nachgefolgt und soeben erst Dr. Paul Möbius zum Director ernannt worden.
Die Ueberfüllung der ersten Bürgerschule rief schon vor sechsundzwanzig Jahren die Gründung einer zweiten hervor, die, auf der Nordwestseite der Stadt in der Nähe des Theaters erbaut, zur Zeit von mehr als eintausend Schülern besucht wird. An ihr wirken außer zwei Lehrerinnen dreiundzwanzig Lehrer. Director ist Dr. Reuter, ein kinder- und lehrerfreundlicher, besonders von Liebe für die Naturwissenschaften begeisterter Mann. Bei dem Wachsthum der Stadt und bei dem immer größer werdenden Interesse der Einwohner an den öffentlichen Schulanstalten, machte sich im Jahre 1849 die Errichtung der dritten Bürgerschule nothwendig, die, nachdem sie sich drei Jahre lang mit Miethlocalen hatte behelfen müssen, erst 1852 in ihr gegenwärtiges Gebäude, gegenüber der Johanniskirche in der östlichen oder Dresdner Vorstadt, übersiedelte. Die außerordentlich starke Frequenz dieser Anstalt, die in den Jahren 1861 und 1862 die Schülerzahl von zweitausendfünfhundert erreichte und zum großen Theil in dem geringen Schulgeldsatze begründet war, wies dringend auf die Erbauung neuer Schulen hin.
Deshalb ward im Jahre 1862 in der westlichen Vorstadt, bekannt unter dem Namen des Reichel’schen Gartens, die vierte und im vorigen Jahre im südlichen Anbau, der sich längs der Zeitzer Straße hinzieht, die fünfte Bürgerschule eröffnet. Während die dritte noch gegenwärtig von eintausendsechshundert Kindern besucht wird, zählt die vierte gegen achthundert und die letzte und jüngste erst fünfhundert Schüler. An allen drei Anstalten wirkten bis zu Ostern dieses Jahres in sechszig Classen siebenundsiebenzig Lehrer und fünf Lehrerinnen. Als Director ist an der dritten Bürgerschule Dr. Ramshorn thätig, der sich abgesehen von seiner Lehrerwirksamkeit auch durch mehrfache schriftstellerische Arbeiten bekannt gemacht hat. Die vierte Bürgerschule leitet Dr. Hauschild, der als Gründer des modernen Gesammtgymnasiums und einer höheren Töchterschule, zweier noch jetzt blühenden Privatanstalten, sowie als pädagogischer Schriftsteller die rühmlichste Anerkennung auch in weiteren Kreisen erworben hat. Dr. Bornemann, dem als langjährigem Vorsitzenden des Leipziger Lehrervereins wegen seiner geistigen Regsamkeit, seiner collegialischen Liebe und Treue die Leipziger Lehrerschaft großen Dank schuldet, ist zum Director der fünften Bürgerschule ernannt worden.
Die Sorge für die Erziehung und den Unterricht der Kinder der ärmeren Classen hat sich vor Allem die Armenanstalt angelegen sein und schon am 7. Januar 1804, nur wenige Tage nach Eröffnung der ersten Bürgerschule, die Armenschule in’s Leben treten lassen. Lange Zeit mußte sich dieselbe mit Miethlocalen begnügen, ehe sie ihr eignes Haus erhielt, und als auch dieses bei dem alljährlich sich steigernden Zudrange nicht mehr ausreichte, wurden vor einigen Jahren zwei prachtvolle Gebäude, das eine auf der Südostseite, das andere am Westende der Stadt gelegen, aufgeführt, in denen nahe an dreitausend Schüler Unterricht erhalten. Den vereinten Anstrengungen der Behörden und Lehrercollegien ist es gelungen, daß auch die Armenschulen wetteifern können mit jeder guten Volksschule; sind sie doch selbst die ersten Anstalten in Leipzig gewesen, die dem Turnunterrichte durch Schulturnplätze und pädagogisch gebildete Turnlehrer größere Sorgfalt zuwendeten, als bisher an Schulen üblich war. Ehrend muß vor Allen des um’s Armenschulwesen höchst verdienstvollen Directors Krauß gedacht werden, der mit Umsicht und Geschick lange Zeit die Anstalt allein dirigirte, bis vor drei Jahren dieselbe getheilt und als selbstständiger Director der zweiten Armenschule der frühere College von Krauß, Schöne, ernannt wurde.
Es darf wohl erlassen werden, genauer auf die innere Einrichtung der Leipziger Schulen einzugehen, die hierin im Wesentlichen, wenigstens was die Bürgerschulen betrifft, nicht von einander abweichen. Die Schulbehörde hat sich jederzeit bemüht, Männer zu ihrer Leitung zu berufen, welche sich als gute Erzieher schon bewährt haben, und ihnen Lehrer an die Seite zu setzen, die ganz von der Aufgabe ihres Berufes erfüllt sind. Die Bürgerschaft hat kein Opfer gescheut, die freundlichen und zweckmäßig eingerichteten Unterrichtsstätten mit allen nothwendigen Lehr- und Hülfsmitteln auszustatten und den Lehrern durch stete Anerkennung ihres Wirkens das arbeitsvolle und mühereiche Leben zu erleichtern. Recht erfreulich ist es, wahrzunehmen, wie sich unter der Bürgerschaft eine immer größere Theilnahme an der Erziehung kundgiebt. Davon zeugen die verschiedenen Erziehungsvereine, welche in den letzten Zeiten entstanden sind, dafür bürgen auch die Sitzungen der Stadtverordneten, von denen wohl selten eine abgehalten wird, ohne daß dabei der Schulen gedacht würde. Immerhin ist das ein gutes Zeichen, die wackern Bürger bauen an ihrem eigenen Ruhme und an der Zukunft ihrer Stadt, denn so lange ihre Schulen treu gepflegt werden und Pflanzstätten echt religiösen Sinnes und wahrer Bürgertugend sind und bleiben, so lange wird auch die Blüthe Leipzigs nicht welken.
Der Amtmann hatte noch immer Lust zu zögern, aber seine Frau warf sich schreiend vor ihn hin, als sie bemerkte, daß Hiesel an seiner Büchse zu rasseln begann … „Um aller Heiligen willen,“ flüsterte sie ihm zu, „thu’, was er verlangt, sonst sind wir Alle verloren!“
Es blieb kein anderer Ausweg; der alte Diener wurde gerufen und kam bald mit einem vollen Geldsack zurück. Hiesel winkte einen der Wachposten herbei. „Da, nimm,“ sagte er, „und bring’ es den Leuten, denen es gehört … und so Gott befohlen, Herr Amtmann! Laß sich der Herr aber ja nicht in Sinn kommen, den Bauern wegen dessen, was ich für sie gethan, auch nur ein Haar zu krümmen oder ihnen wohl gar das Geld wieder abzunehmen – ich erfahr’s auf der Stelle und komme wieder, und dann kommen wir nicht so gut auseinander! B’hüt’ Sie Gott, Frau Amtmännin, und wenn Sie für die Zukunft sich einen solchen Schrecken ersparen will, so rede Sie Ihrem Mann [335] zu, daß er beim Rechten bleibt und das gemeine Volk nicht plagt … Geb’ Sie mir die Hand darauf! Thu’ Sie’s immerhin,“ setzte er lachend hinzu, da sie etwas zögerte, „meine Haut ist nicht so fein, wie die Ihrige, aber eben so gut!“ Er drückte und schüttelte der zarten Frau tüchtig und derb die Hand, warf die Büchse über die Achsel, pfiff seinem Tiras und schritt davon.
Einige Tage später wimmelte die ganze Gegend von Soldaten; man hatte ein paar Compagnieen aus den nahen Städten aufgerufen: sie kamen nach dem Feste und zogen unverrichteter Dinge wieder ab, denn Hiesel war mit seinen Genossen schon über zehn Meilen entfernt und hatte sich in den damals fast undurchdringlichen Kemptner Wald geworfen. Der Amtmann hatte nicht übel Lust, es die Bauern entgelten zu lassen, aber die Sache war ruchbar geworden, die benachbarten Herren riethen freundschaftlichst, das Volk nicht zum Aeußersten zu treiben: so blieb die Strafe uneingetrieben, Hiesel’s Name war mit neuem Glanz umgeben, die Losung aller Bedrängten, der stete stille Schrecken aller kleinen Dränger und Gewaltherren.
Die Wildschützen, von dem weiten, anstrengenden Wege ermüdet, wollten es sich erst bequem machen und sich erholen, eh’ an neue Unternehmungen gedacht werden sollte. Die Ruinen der alten Ritterburg Sulzberg, südlich vor dem Kemptner Walde gelegen, waren zum Ruheplatz erkoren und auch ganz geeignet – ein weitläufiges Trümmerwerk, damals noch umfangreicher und besser erhalten, als jetzt, wo nur noch ein gewaltiger viereckiger Thurm sich über das grüne Hügelland erhebt, als gelte es, die nahen Berge Tirols und die Schweizer Alpen zu beobachten.
Wer damals die Ruine betreten, der hätte wohl ein befremdlich, aber doch ein buntes Bild geschaut, voll Farbenreiz und von wilder Schönheit überstrahlt. In dem ehemaligen Schloßhofe waren die Wilderer zwischen Trümmern und aufwachsendem Gebüsch gelagert; in einer windfreien Ecke loderte ein lustiges Feuer. Lachen und Singen erschallte, als wär’ es eine Schaar fröhlicher Menschen, die aus der Stadt gezogen, in freier Natur einmal einen freien Tag zu leben, nicht eine Bande ausgestoßener Flüchtlinge, die längst dem Kerker verfallen und dem Henkerbeile.
Am Eingange des Hauptthurmes saß Hiesel, neben ihm der treue Anderl, zu Beider Füßen der unzertrennliche Tiras, der mit unverwandten Blicken einen jungen, städtisch gekleideten Mann beobachtete, der, auf einem Mauerstück sitzend, eine Mappe auf den Knieen ausgebreitet hielt und zeichnete. Es war der Maler Lander aus Augsburg, der sich die Mühe nicht hatte verdrießen lassen, den Kreuz- und Querzügen des berühmten Wildschützen zu folgen, um sein Portrait zu erhalten. Hiesel war anfangs bedenklich gewesen und hatte einen Fallstrick dahinter gefürchtet, der benutzt werden solle, um ihn überall, wo er erscheine, gleich kenntlich zu machen; seine Eitelkeit hatte aber über die Bedenklichkeiten gesiegt, als der Maler ihm erzählte, wie alle Welt nach seinem Bilde begierig sei und wie es dann in den Städten in den Schaufenstern der Läden ausgestellt sein werde mitten unter den Conterfeis von Potentaten und Kriegshelden. Hiesel plauderte mit dem Maler und erzählte von seinen überstandenen Abenteuern und Gefahren: es war eine Schwäche von ihm, daß er es gern sah, wenn man ihm zuhörte und ihn bewunderte.
Als der Maler eben seine Arbeit der einbrechenden Dämmerung wegen einstellen mußte, trat Einer der Seinigen hinzu und gab dem Hauptmann einen unmerklichen Wink, daß er etwas Besonderes zu melden habe. „Sie ist schon wieder da,“ flüsterte er, als sie hinter eine umgestürzte Wand getreten waren, „die Person, die uns überall verfolgt, sie läßt nicht von uns, wenn Du sie nicht einmal anhörst und selber weiter schickst.“
„Aber was will sie denn?“ fragte Hiesel. „Wer ist sie?“
„Was sie will, das will sie nur Dir selber sagen; aber auf mein Andringen hat sie mir ihren Namen gesagt: es ist die Wirthskundel vom Waldhaus …“
Auch diesmal war vor Hiesel der Gedanke an Monika aufgestiegen, dennoch war er nicht unangenehm überrascht, als er diesen Namen hörte: war es doch der seiner treuen Pflegerin, die er ohne Abschied verlassen und, durch sein Wanderleben abgehalten, nicht mehr wieder gesehen hatte. Er eilte der von dem Genossen bezeichneten Stelle zu; an einem offenen Platze unter den Bäumen saß das Mädchen und sah in den beginnenden Abend, der es mit seinem reichsten Lichte übergoß. Es kam ihm vor, als habe er sie nie so schön gesehen. Als sie seinen Schritt vernahm, sprang sie auf und stand vor ihm, auf den Wangen ein noch zarteres Roth, als alles Licht der Sonne auf den bleichen Grund zu malen vermocht hatte. Die gewandte Dirne stand befangen, als er vor sie trat, und fand kein Wort des Grußes; aus ihrer Verwirrung stieg ihm die erste Ahnung dessen auf, was ihren Schritt an seine Spur geheftet und sie zu ihm geführt haben mochte. In eigenthümlicher Erregung vernahm er, als sie auf seine Frage zögernd und erst nach und nach Muth gewinnend erzählte, wie die Einsamkeit im Hause des Vetters ihr unerträglich geworden, wie sie sich in die Welt hinausgesehnt und sich vorgenommen, das freie Leben der Wildschützen zu theilen. Sie wolle bei ihnen bleiben und ihre Wirthschafterin sein. Was sie sagte, war keine Lüge, und doch war es die Wahrheit nicht. Als Hiesel fort war, hatte sie erst gefühlt, wie sehr ihr Herz an ihm hing, sie hatte sich erst darüber gegrämt, daß auch der Mann zu den Ausgestoßenen gehöre, bei dessen Anblick ihr zum ersten Male eine Ahnung aufgegangen, was wahre Liebe ist, dann rüttelte sie an ihren Vorsätzen, einen andern Lebensweg einzuschlagen, und das leichte Gebäude stürzte ein – war es ja doch nur um dessen willen gebaut worden, den sie dadurch zu erringen geglaubt. Sie verhöhnte sich selbst, daß sie solche Gedanken gehabt, sie erkannte einen Wink des Schicksals in dem Geschehenen, daß sie bestimmt sei, zu den Verworfenen zu gehören – sie sträubte sich auch nicht mehr gegen den Gedanken, aber sie wollte auch den Preis erringen, um welchen sie sich selber verloren gab.
Hiesel durchschaute wohl den Grund dieser Anhänglichkeit; sie bewegte ihn und erfüllte ihn mit Mitleid; die Stelle, an welcher Monika’s Bild eingeprägt, war die einzige noch unentweihte seines Gemüths. Er verbarg, was er dachte, und wies Kundel freundlich aber ruhig zurück. „Das geht nicht, Kundel,“ sagte er. „Du mußt eine sonderbare Vorstellung von unserem Leben haben; wir sind ein unstetes Volk, das keine Wirthschafterin braucht. Geh’ wieder zu Deinem Vetter, ich mein’s gut mit Dir; zum Dank für Deine Wart’ und Pfleg’ kannst’ die Nacht bei uns bleiben, morgen aber soll Dich der Mann da in Deine Heimath führen und da bleib’ … wie ich’s kann, will ich in die Gegend kommen und Dich heimsuchen …“ Er winkte Jenen herbei; Kundel stand mit niedergeschlagenen Augen, traurig und ohne Widerstreben ließ sie sich hinwegführen.
Der Wildschützen-Hauptmann kehrte nicht zu seinen Genossen zurück. Er setzte sich auf einen waldigen Vorsprung des Schloßhügels und sah der Sonne zu, wie sie vollends hinunterging. Dichtes Gewölk zog sich wie eine schwarze Mauer am Horizonte hin; als der Feuerball dahinter niedersank, flammte es auf wie ein Meer von rothglühendem Metall und warf einen unheimlichen Gluthschein über die weite Landschaft. Hiesel gewahrte es nicht; er saß in Sinnen verloren, bis es dunkelte. Auch in ihm war es düster und nächtlich geworden. Da kam der Mond über den Bergen herauf – das eine Licht in der Nacht, wie in seinem Innern die Erinnerung an das wackere Mädchen, dem er sein besseres Selbst zu eigen gegeben, das ihn geliebt und doch von sich gestoßen. Aber die Erinnerungen schwammen und schwebten durcheinander, und neben Monika’s reinem Bilde tauchte eine verlockende Gestalt auf … er sah sie wie durch einen Fiebertraum über ihn gebeugt seinen Athemzug belauschen, sah in dunkle Feueraugen, in Augen, aus denen ein Gefühl sprach, nach dem sein Herz begehrte …
Da rauschte es durch den nächtlichen Wald … aufspringend glaubte er ein Gewand unter den Bäumen verschwinden zu sehen … er eilte nach.
Die Wolkenwand war hoch in den Himmel heraufgerückt und bedeckte den Mond.
Der Höhenpunkt war erreicht – das Gestirn des Glücks begann zu sinken.
Es war im Spätherbst. Unter einer mächtigen Buche am Waldesrand saß Hiesel und sah über abgeräumte Saatfelder hin auf die weit gedehnten Wälder des Lechgebiets, dem er sich allmählich wieder genähert hatte; er dachte, Baierns Forsten einen Besuch zu machen, nachdem er bisher hauptsächlich in Schwaben, im Allgau, bis nach Ulm und im Würtembergischen gehaust. Aus einem grünen Waldstrich sah der Kirchthurm des Dorfes empor, [336] an dessen Hahn er noch kürzlich seine Büchse erprobt hatte; über die Stoppeln wehten und flogen schon die weißen Fäden der Feldspinnen; baldige Kälte verkündend, schwebte hoch oben ein Dreieck von Wildgänsen dem Süden zu, das Buchenlaub hatte bereits begonnen sich zu röthen, und einzelne vorzeitig dürr gewordene Blätter fielen schon zu den Wurzeln nieder, aus denen sie ein kurzes Sommerleben gesogen.
Hiesel war nicht mehr der Alte. Mit dem steten Brüten und Aussinnen neuer Entwürfe für die Zukunft, mit dem Bestreben, eine augenblicklich unangenehme Gegenwart zu überdauern, war eine immer dunklere und verschlossenere Stimmung über ihn gekommen; der Gesang war fast ganz verstummt; die Fröhlichkeit seines Gemüthes, die in der letzten Zeit doch noch manchmal in der tollen Lust einer überreizten Stimmung zum Durchbruch gekommen, war erstorben; eine beinahe feindliche Scheu hielt ihn ab, mit Menschen zusammenzutreffen – es war wohl das peinigende, wenn auch sich selbst kaum eingestandene Bewußtsein, daß er ihnen nicht mehr angehörte, daß auch das letzte reine Band, das ihn noch mit Welt und Menschen zusammengehalten, entweiht und zerrissen war.
Kundel war nicht bei der Bande geblieben, hatte sie aber auch nicht wieder verlassen; sie hielt sich fortwährend in deren Nähe und in stetem Verkehr mit ihr; als Lumpensammlerin mit einem kleinen Kram von Faden, Häkchen und Band durchzog sie die umliegenden Gegenden und konnte auf diese Weise leicht Alles, woran den Genossen gelegen war, in verdachtloser Weise erkunden und ihnen mittheilen. Wenn sie ferne war, fühlte Hiesel sein Gemüth wie von einer schweren Last befreit, er glaubte von ihr los zu sein und kein Verlangen schien ihn an sie zu binden; wenn sie aber wiederkam, wenn er ihre glühende, unverhehlte und unerschütterliche Neigung sah, wenn er sich geliebt sah, wie sein im Grunde weiches Herz es sehnend verlangte und niemals erreicht zu haben glaubte – dann ermattete sein Widerstreben und die alten Bande umschlangen ihn wieder. Wollte der Gedanke an Monika vor ihm auftauchen, so hielt er mit Gewalt das Bild der ernsten Mahnerin fern; er verlachte sich selbst, daß er noch ihrer gedenke, während sie doch für ihn unwiederbringlich verloren war – sie hatte die flüchtige Neigung, wenn sie ja eine solche empfunden, sicher längst besiegt, hatte ihn vergessen und saß wohl schon geraume Zeit als behäbige stattliche Bäuerin auf dem Baumüllerhofe. Ihm war es nicht vergönnt, ein eigenes Plätzchen als Garten einzufrieden und sich einen dauernden Blumenflor darin zu ziehen – warum sollte er die Blume nicht pflücken, die wie eine wilde, glühende Heckenrose willig und üppig an seinem einsamen Waldpfad emporrankte?
Ein deutscher Mann in Rußland. Obgleich der Schein stark gegen uns ist, sind wir Deutsche doch das mächtigste und eroberndste Volk. Wir haben bereits viel mehr Colonien als Großbritannien, mehr als wir ahnen. Daß sie nicht vom „engeren Vaterlande“ her regiert und, mit Kriegs- und andern Zuschüssen unterstützt, in Schranken, in Abhängigkeit erhalten werden, ist – im Ganzen und Großen genommen – eben ihr Vorzug.
Die Deutschen haben sich bereits rund um die Erde herum angesiedelt und sind überall mehr oder weniger Träger und Missionäre der Cultur in Kunst und Industrie, in Wissenschaft und Leben geworden, Apostel des praktischen Kosmopolitismus. Dies wird mit der Zeit auch „zu Hause“ bekannter und eine Quelle des heimischen Patriotismus und Selbstgefühls werden.
Im russischen Reiche gehören den Deutschen bereits die bedeutendsten Cultursphären von den höchsten Staatsbeamten an bis zu den Bäckern, die allein weißes Brod backen dürfen. Deutsche Wissenschaft, deutsche Kunst, deutsche Lehrer, Aerzte, Apotheker, Literaten und Gelehrte und Lehrende aller Art treten überall von der Memel bis zum Amur, von den Nordpolargegenden bis zur tropischen Hitze Neurußlands mehr oder weniger zahlreich und bedeutend hervor. Der deutsche Kaufmannsstand in St. Petersburg, Moskau, Odessa etc. zählt die größten und geachtetsten Firmen zu den seinigen. Am reichlichsten und mannigfaltigsten sind die Deutschen in der russischen Hauptstadt vertreten. Hier ist der Mittelpunkt der großen deutsch-kosmopolitischen Colonie Rußlands. Hauptsächlich aber ist es eine deutsche Zeitung in Petersburg, welche die liberale, die Sclavenketten zerbrechende Politik der jetzigen Regierung gegen die altrussische, aristokratische Reaction vertritt und sich den Feinden der Freiheit bereits als ein gefürchteter Gegner erweist.
Den Mittelpunkt dieser deutschen literarischen Wirksamkeit in Rußland bildet Dr. Friedrich Clemens v. Meyer, kaiserl. russ. Hofrath, Eigenthümer und Chef-Redacteur der deutschen St. Petersburger Zeitung, Lector an der kaiserlichen Universität, in Deutschland selbst nur sehr Wenigen als Dichter und Schriftsteller bekannt, während seine Bedeutung und Wirksamkeit in unserem russischen Deutschland sehr rasch gewachsen ist und noch fortwährend zunimmt. Dr. Meyer ist ein zäher, kräftiger Westphale, geboren 1824 in der Hauptstadt des kleinen Fürstenthums Waldeck, Arolsen, das so vielen berühmten Männern das Leben gab, wie Kaulbach, Rauch und Drake in der Kunst, den beiden Bunsen, dem Diplomaten und Gelehrten und dem berühmten Chemiker, dem Arzt Stieglitz und Stieglitz, dem größten Bankier Rußlands.
Nach tüchtigen Studien wurde Meyer 1845 Hauslehrer in Curland, verlebte hierauf eine Zeit lang in Dorpat, wo er unter Anderm die „Statistik des esthnischen Volkszustandes“ (Leipzig 1851) schrieb, und begab sich im Sommer 1851 in die russische Hauptstadt, wo er schon im folgenden Jahre von der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zum Redacteur der deutschen „St. Petersburger Zeitung“ gewählt wurde. Das neue Leben in Petersburg führte eine Anzahl deutscher, poetisch und politisch angeregter Männer zu engerem Anschluß zusammen. Es bildete sich ein Verein deutschen Schaffens und Wirkens, der noch jetzt existirt, obgleich mehrere bedeutende Mitglieder durch den Tod abgerufen wurden. Namentlich fanden sich in diesem Vereine viele dichterische Kräfte zusammen, so daß sie zwei Jahrgänge eines deutschen Petersburger Musen-Almanachs mit sehr poetischen „Schneeflocken“ füllten. Wer sich die Mühe giebt, die russisch deutschen „Schneeflocken“ mit den deutschen Almanachs-Blüthen zu vergleichen, wird sich unserer Flora im russischen Reiche gewiß freuen. Die deutsche Cultur in andern Ländern ist zum Theil viel älter und zahlreicher als die in Rußland, allein noch nirgends hat es die Muse im Auslande zu solcher Zahl echter Jünger gebracht. Immer aber bleibt von der vielseitigen Wirksamkeit Meyer’s die Redaction und geistige Versorgung der St. Petersburger Zeitung die bedeutendste und am weitesten wirkende. Zunächst füllte er das Blatt mit einem reichen Schatze wissenschaftlicher und literarischer Stoffe, die den Deutschen in Rußland bis dahin ziemlich fremd und schwer zugänglich geblieben waren. Auch die durch manche originelle Schöpfung ausgezeichnete russische Literatur wurde durch seine Zeitung erst den Deutschen in Rußland und später besonders durch eine Sammlung uns Allen zugänglich. Es ist das in drei Banden erschienene „Magazin für Kunde des geistigen Lebens in Rußland“.
Mit der Regierung des jetzigen Kaisers begann das neue Rußland, damit für die St. Petersburger Zeitung wie für die ganze russische Presse die noch in Werden und in Verwirklichung begriffene Aera. Zugleich wurde Meyer unabhängiger Eigenthümer der Zeitung, deren politische Wirksamkeit, namentlich durch die logisch-scharfen und deutsch-patriotischen, wie russisch-emancipationskräftigen Leitartikel des Herausgebers und Redacteurs, seitdem immer an Bedeutung gewonnen hat. Durch kräftiges Wort für die Emancipations-Pläne des Kaisers und als deutscher Mann zog er sich vor Allem den Haß und die Verfolgung der altrussisch-aristokratischen Partei zu. Die Angriffe derselben wurden lange fortgesetzt, aber der westphälische deutsche Mann und Gelehrte ließ sich in seiner zähen Natur und Charakterfestigkeit nicht einschüchtern und hat nun im Wesentlichen erreicht, was er wollte und für recht und nothwendig hielt. Er hat die russischen Schreier zum Schweigen gebracht und – was mehr ist – die Deutschen in Rußland zum Bewußtsein ihrer Weltmission,[2] zum Gefühl ihrer Nationalität und Achtung, Wahrung und Pflege derselben ermuntert und ermannt. Es ist besonders eine Frucht seiner Wirksamkeit, daß sie einerseits sich in deutschem Wesen und Walten immer mehr fühlen und zusammenfinden lernen, und andererseits die Emancipations-Pläne der Regierung und ihren doppelten Kampf gegen die feudale Aristokratie und eine selbst von den liberalsten Patrioten gemißbilligte extreme Partei moralisch und materiell unterstützen. Das heißt mehr, als es scheinen mag, da eine große Menge Deutscher als Beamte, Generäle, Häupter großer industrieller Etablissements und Handelsfirmen durch materielle wie intellectuelle Mittel einen sehr bedeutenden Einfluß ausüben.
Seit dem 1. März ist die Zeitung auch mit dem Ministerium den Auswärtigen in amtliche Verbindung getreten, was insofern für die deutsche Presse von Wichtigkeit ist, als diese nun durch die deutsche Petersburger Zeitung direct die auswärtige Politik Rußlands kennen lernen und die betreffenden Nachrichten als amtlich verbürgt aufnehmen kann.
Von dem deutschen Leben in Rußland wollen wir nur zwei Beispiele anführen. Die durch Meyer angeregte Schillerfeier ward nicht nur überall mit Begeisterung aufgenommen und begangen, sondern brachte auch sechstausend Rubel für die Schillerstiftung zusammen, ein Beitrag, der von keiner anderen deutschen Colonie erreicht worden ist. Sodann ward die Uhlandfeier durch Meyer’s Anregung und seine wahrhaft begeisterte Rede (wovon wir Abdrücke in deutschen Journalen gelesen) eines der erhebendsten Feste in der russischen Hauptstadt.
Der deutsche Mann in Rußland, der so Vieles erreichte, steht jetzt in der Blüthe seiner Wirksamkeit und Kraft, geehrt und geliebt von unzähligen Anhängern und Freunden, gefürchtet von den Feinden der Sclavenbefreiung und den panslavistischen Fanatikern. Er erfreut sich einer schönen Häuslichkeit an der Seite einer treuen Gattin und als Vater aufblühender Kinder. So persönlich, bürgerlich und geschäftlich glücklich und kräftig in die Mitte einer weiten segensreichen Wirksamkeit gestellt, hinterläßt er in uns das Bild eines verdienstvollen, Deutschland ehrenden, bedeutenden und zukunftreichen Pioniers und Apostels der weltgeschichtlichen Mission der Deutschen auf einem der wichtigsten Posten des Kosmopolitismus.
- ↑ Die siebenunddreißig Officiere des 103. Regiments des nordamerikanischen Unionsheeres vereinigten sich vor dem Ausrücken zu einem Festmahle. Nach dreijährigem Kriege trafen sie wieder zusammen, in dem nämlichen Saale; für alle siebenunddreißig waren Gedecke gelegt – aber es sind nur noch elf Cameraden, die übrig geblieben! Ueber alle Worte ergreifend muß die Scene dieser Feier gewesen sein, denn sie begeisterte einen gemeinen Soldaten, einen Irländer von Geburt, seinen Gefühlen in dem vorstehenden Gedichte Luft zu machen, das zwar in Form und Ausdruck nichts weniger als vollendet, doch von überwältigender Wirkung ist und besser als manche lange Schilderung das Furchtbare dieses Bruderkriegs veranschaulicht. Die Redaction
- ↑ Die Deutschen in Rußland vertreten ganz eigentlich den in Rußland selbst unentwickelt gebliebenen intelligenten Bürgerstand.