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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[337]

No. 22. 1865.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der bairische Hiesel.
Volkserzählung aus Baiern
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Auch von seinen Genossen zog Hiesel sich mehr zurück als früher; der einzige, der ihm fast nie von der Seite wich, war der Bube, der, in seiner Anhänglichkeit mit dem treuen Tiras wetteifernd, ihn wie dieser auf Schritt und Tritt begleitete, ein zweiter, nicht minder ergebener, nimmer ruhender Wächter. Der Knabe hatte keinen andern Gedanken, als Hiesel zu dienen und für ihn zu sorgen – seitdem dieser die Stricke an seinen Händen zerschnitten und ihn befreit hatte, stand ihm Hiesel wie ein Held und Herrscher vor Augen, und er begriff nicht, wie irgend Jemand sich erkühnen konnte, seinem Gebieter nicht zu gehorchen. Ein Wink Hiesel’s war ihm ein unverbrüchliches Gebot, und weil dieser so viele Ergebenheit wohl zu würdigen wußte und ihn oft zum Vertrauten geheimer Pläne und Unternehmungen machte, ward er gar bald von Manchem aus der Bande mit scheelen Blicken angesehen und als Zwischenträger verdächtigt, der Rede und That der Andern belausche, um sie ihm zu hinterbringen. Ein Zug von Tücke und hämischem Uebermuth in seinem Wesen diente nur dazu, den Argwohn zu befestigen; er grollte Jedem, der sich Hiesel nicht so unbedingt unterwarf, wie er es gethan. Offenheit, Wärme und Herzlichkeit hatte er für Niemand als für ihn.

Auch diesmal war Anderl nicht weit; er saß etwas seitwärts, um Hiesel nicht zu stören; er putzte Lauf und Schloß seiner Büchse mit dem Aermel blank und streichelte den Hund, der ihm den Kopf auf die Kniee gelegt hatte, mit unverwandten Augen den Herrn beobachtend. Dazu summte er einen Absatz eines Volksliedes, das ihm, er wußte nicht wie, in die Kehle kam; Hiesel stimmte leise mit ein, es ging Etwas wie eine Ahnung durch seine Seele, daß des Liedes Inhalt auch ihm gelte … es lautete so:

Jetzund geht’s an’s Abschied Nehma,
Die schö’ Zeit is gar:
Mußt Di halt nit drüber gräma,
Schau, sie werd’ schon wieder kemma (kommen)
Auf ein ander’s Jahr!

Das Knurren des Hundes unterbrach den Gesang; es war das Zeichen, das er zu geben pflegte, wenn ein Bekannter nahte. Der Sternputzer kam heran, aber nicht im gewöhnlichen grünen Schützenrock, sondern im Gewand eines mit Arzneien, Mithridat und andern Hausmitteln herumziehenden Quacksalbers. „Da bin ich wieder,“ rief er und setzte seinen Arzneikasten, der ihm an einem Riemen am Halse hing, behutsam in’s Waldgras nieder. „Hole der Teufel das Herumwandern! Es ist nichts zu machen mehr mit den Leuten, sie fangen an, allzu gescheidt zu werden!“

„Hast Du die Kundel nicht angetroffen?“ fragte Hiesel. „Ich habe sie ausgeschickt, um neuen Proviant zu kaufen, sie sollte schon lange zurück sein!“

„Hab’ sie mit keinem Aug’ gesehn,“ entgegnete der Quacksalber, „gehört hab’ ich wohl, daß sie in der Nähe sein muß, überall hab’ ich erfragt, daß die Kramer-Kundl dagewesen ist. aber überall bin ich erst nach ihr eingetroffen… Es ist nicht richtig, Hauptmann, es ist wieder was im Werk gegen uns, ein paar Compagnieen Soldaten stehen keine zwei Stunden von uns, dort hinterm Wald …“

„Sag’s dem Tiroler, Bub!“ rief Hiesel, „und dem Studele, sie sollen ihre Büchsen nehmen und gegen den Wald hin eine kleine Bürsch’ machen … Wir haben doch genug Kugeln und Pulver?“

„Gewiß,“ entgegnete Anderl lachend, „wenn nur die zehnte trifft, kommt uns in acht Tagen kein Scherg, kein Jäger und kein Soldat auf den Leib! Aber das Papier zu den Kugelpfropfen geht aus, ich hab’ schon einen Fetzen von meinem Hemd gerissen und damit geladen!“

„Was bringst Du sonst?“ fragte Hiesel, während Anderl pfeifend tiefer in den Wald dem Platze zuging, wo eine dünne Rauchsäule über den Wipfeln aufstieg und den Lagerplatz der Bande verkündigte.

„Nicht viel Gutes,“ antwortete der Sternputzer und reckte sich gähnend im Grase. „Du mußt nächstens exemplum statuiren, Hauptmann, das Bauernvolk fängt an, es an dem gebührenden Respect ermangeln zu lassen! Erst diesen Morgen war ich da drüben auf dem Einödhof, und wollte ein Frühstück haben … es war Niemand daheim, als die Bäuerin, die wollte nicht wissen, was sich in ihrem Küchenkasten befand, und wollte mich mit einer Schüssel blauer Milch abfertigen und mit einem Stück Schwarzbrod, wie man es dem verlornen Sohn einmal vorgebrockt haben mag! Sie kannte mich, und doch mußt’ ich erst an die Büchse schlagen, eh’ es ihr einfiel, daß sie noch eine Flasche Kirschgeist im Schranke stehn hatte und ein Stück Rauchfleisch!“

„Es ist Eure eigne Schuld, wenn Euch unfreundlich begegnet wird,“ rief Hiesel unwillig aus, „Ihr wißt nit umzugehn mit dem Bauernvolk!“

[338] „Ohe amice!“ sagte der Quacksalber. „Ich war anfangs so freundlich, so zuckersüß, wie weiland bei einem Professor, den ich günstig stimmen wollte, in examine ein Auge zuzudrücken … es half Alles nichts! Erst das argumentum ad hominem, das Klirren der Büchse, die ich unterm Rock versteckt hatte, schlug durch! Ich sage Dir, statuire ein exemplum oder die Reputation ist beim Teufel!“

„Warst Du bei dem Kranzwirth in Pfersee und bei dem Gerber?“ fragte Hiesel, wie ausweichend.

„Freilich, aber der Gerber ist ein Schuft! Ich weiß gewiß, daß ich ihm nach und nach wenigstens zwanzig Hirschdecken in’s Haus gebracht habe, er aber leugnet’s und will nur zehn bekommen haben. Zwanzig lumpige Gulden warf er mir hin und sagte, ich sollte nicht wieder kommen, er verdiene nichts bei dem Geschäft und könne nichts mehr wagen, die Polizei und das Gericht gingen dem Handel gar zu unerbittlich auf die Haube …“

„Wir werden auf andern Absatz denken müssen,“ sagte Hiesel, „aber wie war’s mit dem Kranzwirth?“

„Der ist, wenn möglich, ein noch größerer Hallunke!“ erwiderte der Sternputzer. „Er könne seine Gäste nicht mit lauter Wildbrät füttern, sagte er; ich sollte mich meiner Wege scheeren, er sei uns nichts schuldig, und wenn ich nicht in Güte ginge, es sei eben Mannschaft im Ort, dann wollt’ er mir Beine machen lassen!“

„Frecher Kerl!“ rief Hiesel. „War ich doch selbst dabei, wie wir ihm die drei Rehe und den wilden Eber über die Planke in seinen Hof geworfen haben!“

„Er will nichts davon wissen! Was man ihm heimlich in den Hof werfe, sagte er, das könne auch ein Anderer heimlich wieder mit sich nehmen! Ich habe mich aber erkundigt und habe erfahren, daß er das Wild wohl gefunden, aber, um sich einzuschmeicheln, an den Förster abgeliefert hat!“

„Was? Das von mir erlegte Wild?“ rief Hiesel zornig. „Nun, ich will ihm nächstens einen Besuch machen und ihm sagen, was das heißt!“

Der Sternputzer zuckte die Achseln. „Was wird’s helfen?“ sagte er. „Auch dort herum liegt die ganze Gegend voll Soldaten … das Dringendste ist und bleibt, exemplum statuiren und dafür sorgen, daß die Cameraden nicht Noth leiden und den guten Muth nicht verlieren!“

„Wo nur die Kundl bleibt!“ murmelte Hiesel, indem er wie unwillkürlich an seinen gegen frühere Tage gar sehr verschrumpften Leibgurt fühlte. „Es ist mir unbegreiflich … aber was besinn’ ich mich lang! Da drunten liegt ja das Dorf mit dem blinden Gockel, den ich sehend gemacht, und wo ich den Bauern wieder zu dem schweren Strafgeld verholfen habe – das ist so gut, wie eine Schuld, die ich ausstehn habe! … Geh’ hinunter in das Dorf,“ fuhr er, sich zu dem Quacksalber wendend, fort, „such’ den Bauer aus, der damals mit uns gegangen ist in’s Amthaus … sag’ ihm einen schönen Gruß von mir! Der bairische Hiesel hat ihnen damals aus der Noth geholfen, jetzt sollen sie mir wieder helfen … wenn jedes Haus einen Gulden beisteuert, ist es nicht der zehnte Theil von dem, was ihnen der Amtmann abgenommen hat … ich verlang’ es auch nit geschenkt, nur leihen sollen sie mir das Geld, es kommen wohl wieder andere Zeiten und dann werden sie sehn, daß der kein schlechtes Geschäft gemacht hat, der dem bairischen Hiesel borgt!“

„Ich will reden wie Cicero!“ rief der Sternputzer lachend und eilte davon. „Will auch sehn, ob ich dem alten Filz mit seinen Aepfeln nicht ein kleines gaudium machen kann.“

Hiesel wollte ebenfalls dem Lagerplatze zu, als er von der andern Seite den Ton streitender Stimmen vernahm: es war Studele, der in heftigem Wortwechsel mit dem Buben unter den Bäumen hastig herankam. Er war roth im Gesichte und seine Aufregung um so erkennbarer, jemehr er sonst in Allem eine gesetzte Ruhe zu bewahren wußte. „Nun,“ rief ihnen Hiesel verwundert entgegen, „Ihr werdet doch nicht uneins miteinander werden, jetzt wo es gerade am nöthigsten ist, daß wir zusammenhalten?“

„Das sag’ dem Buben, Hiesel, und nicht mir!“ erwiderte Studele heftig, „Leg’ ihm das saubere Handwerk, Du brauchst keinen Spion unter uns!“

„Ich bin kein Spion!“ rief der Bube in keckem, drohendem Tone entgegen, „aber wer ein schlecht’s Gewissen hat, der fürcht’t sich, wenn man ihm hinter seine Schliche kommt!“

Studele ward noch ergrimmter, aber er hielt an sich. „Du bist mir zu wenig, als daß ich mich an Dir vergreifen möcht!“ rief er. „Du bist dem Schulmeister zu früh davon gelaufen, aber ich erleb’ es wohl noch, daß die Ruthe über Dich kommt!“

Der Bub verzog höhnisch den Mund und blinzte den Zürnenden von der Seite an. „Hab’ keine Sorg’ um meinen Buckel,“ sagte er, „ich geh’ nit unter die Soldaten!“

Studele ward todtenbleich; die Erinnerung an die erlittene schmachvolle Strafe war die immer schwärende Wunde seines Innern. „Mach’, daß Du mir aus den Augen kommst, Creatur,“ rief er, „oder es wird nicht gut! Wehr’ dem Buben seinen Uebermuth, Hiesel, oder er macht noch Alles von Dir abspenstig!“

„Still!“ sagte Hiesel und trat mit dem Ansehen eines Herrschers zwischen die Streitenden, „ich will nichts mehr davon hören! Vertragt Euch miteinander, ich will es haben, und Du, Studele, nimm dem vorwitzigen Buben ein keckes Wort nit so übel … er meint es gut mit mir auf seine Art, wie Du auf die Deine! … Was habt Ihr miteinander?“

„Ich will Dir’s erzählen, Hiesel,“ rief Anderl eifrig, „Du sollst es dann sagen, ob er mich einen Spion nennen darf … Weißt Du’s noch, wie wir neulich die drei Soldaten getroffen haben, die sich verdingt hatten, den Bauern bei der Grummet-Ernte zu helfen? Wir hatten sie wieder erkannt: es waren solche, die schon gegen uns gestreift hatten, drum haben wir sie gefaßt! Du hast gesagt, wir sollten ihnen den gewöhnlichen Denkzettel geben, und bist Deiner Wege gegangen … wie wir aber über die Kerle her wollten, die wir gebunden und hinter den Zaun geworfen hatten, da waren sie fort – der Studele hat ihnen die Stricke abgenommen und sie entwischen lassen!“

„Warum hast Du das gethan?“ fragte Hiesel befremdet.

„Es waren Soldaten von dem Regiment, bei dem ich gedient hab’,“ war die ruhig gegebene Antwort, „von derselben Compagnie, bei der ich gestanden bin …“

„Und die Dich mit Spießruthen verhauen haben?“ rief Hiesel rasch. „Und denen hast Du zum Dank dafür durchgeholfen?“

„Die armen Bursche haben nur gethan, was sie thun mußten … ich weiß, es ist ihnen gewiß schwer genug angekommen … und dann war einer darunter, der ist aus derselben Gegend gebürtig, wo ich daheim bin, ein guter Bursch, der mich immer gern gehabt hat … er hat oft seinen letzten Bissen mit mir getheilt …“

Hiesel ergriff seine Hand und schüttelte sie. „Bist ein ganzer Kerl, Studele,“ sagte er herzlich, „ich wollt’ ich hätt’ ein halbes Dutzend Cameraden, wie Dich! … Aber das kann doch nicht der Grund Eures Zwistes sein?“

„O, die Hauptsache kommt noch!“ rief Anderl. „Wie Du mich vorhin fortschicktest, den Tiroler und den Studele aufzusuchen, da machte sich der Eine gleich mit seinem Stutzen auf den Weg; von dem da aber war nichts zu sehn und zu hören, er sei gegen den Hügelabhang vorgegangen, sagten die Andern. Ich geh’ ihm also dahin nach, und wie ich so nach allen Seiten herumgucke, da seh’ ich einen Musketier, der sich hinter das Gesträuch versteckte und gegen uns heranstrich. Hollah, hab’ ich gedacht, und schlich mich sachte hin, bis ich ihn auf’s Korn nehmen konnte … auf einmal aber wär’ mir der Stutzen bald aus der Hand gefallen vor Verwunderung, denn wie man eine Hand umkehrt, war der Musketier nicht mehr allein … ein Mann war bei ihm, der ganz vertraulich mit ihm redete … Ich hab’ mir die Augen ausgewischt, ob mich denn das Licht nicht blend’t, aber es war nit anders, es war kein anderer Mensch, als der Studele …“

Hiesel hörte in steigender Spannung zu; Studele stand vollkommen ruhig.

„Mußt doch wissen, was die Zwei so heimlich miteinander auszumachen haben, hab’ ich mir gedacht … wie ich aber just so nahe war, daß ich’s hätt’ hören können … da hat ein Ast geknackt, auf den ich getreten bin … sie bemerkten mich, im Hui war der Soldat davon, der Studele aber sprang auf mich los, hat mich anpacken wollen und hat mich geschimpft …“

„Und darf man nit wissen, was Du mit dem Soldaten verhandelt hast?“ fragte Hiesel ernsthaft.

„Hättest den Spitzel da nicht gebraucht, um das zu erfahren,“ erwiderte Studele, „auch ohne das wär’ ich jetzt schon bei Dir, um Dir zu sagen, was geschehen ist … Der Soldat ist der nämliche gewesen, dem ich durchgeholfen hab’; mein Schlafcamerad [339] in der Casern’! Der ganze schwäbische Kreis hat seine Mannschaft aufgeboten gegen uns … eine halbe Compagnie ist unterwegs gegen uns: da hat’s dem guten Kerl keine Ruh’ gelassen, er hat mir’s vergelten wollen, daß ich ihm beigestanden bin … auf die Gefahr hin, daß er, wenn er erwischt wird, seiner Lebtag den Karren schieben muß, hat er sich weggeschlichen, um mich zu warnen … hat mir auch sonst noch eine wichtige Nachricht gebracht …“

„Was für eine Nachricht?“

„Mein Schlafcamerad hat’s gar wohl gewußt, warum ich’s in dem Soldatenrock nit ausgehalten hab’ und immer wieder desertirt bin … ich hab’s nit ertragen können, den ganzen Tag in der Casern’ oder auf dem Exercirplatz sich hudeln zu lassen; wär’s nur in’s Feld gegangen, ich wär’ gewiß nit davongelaufen. Die Nachricht, die er mir gebracht hat, ist die, daß es wieder losgeht, daß es wieder Krieg giebt! Wie und warum, das weiß ich nicht, aber der alte Fritz von Preußen rührt sich wieder und seine Werber sitzen schon in Ulm …“

Ueber Hiesel’s Mienen ging eine rasche Bewegung, doch er schwieg.

„Ich will Dir was sagen, Hiesel,“ fuhr Studele nach kurzem Innehalten fort und trat ihm näher, als habe er ihm ein Geheimniß zu vertrauen. „Das Wort ist mir in den Sinn gefahren, wie der Funken in’s Pulver … es brennt lichterloh und läßt mir keine Ruhe mehr … ich will fort, Hiesel, will nach Ulm, Handgeld von den Werbern nehmen und in den Krieg marschiren …“

Mit einem Blick der Ueberraschung und des Vorwurfs sah ihm Hiesel in’s Gesicht und faßte nach seiner Hand. „Du willst mich verlassen?“ rief er. „Der beste von allen meinen Cameraden will von mir gehn’?“

„Das will ich nit, Hiesel … ich mein’, wir sollten erst recht beisammenbleiben: ich mein’, Du solltest mit mir gehn, Hiesel, und auch fortmarschiren …“

Hiesel ließ seine Hand fahren. „Was fallt Dir ein?“ sagte er. „Haben wir’s nit Alle einander versprochen und zugeschworen, daß wir nit von einander lassen, so lang ein lebendiger Blutstropfen in uns ist?“

„Ich weiß nit, Hiesel … aber mir kommt’s vor, als wenn das Versprechen uns nimmer lang binden sollt’ … als wenn’s mit uns zu End ging’ und Alles auseinander fallt … es ist am End’ gescheidter, wir gehn freiwillig, eh’ wir müssen …“

„Ich nicht!“ erwiderte Hiesel fest. „Und wenn’s noch schlimmer stünd’, als es steht, von mir soll Niemand sagen, daß ich die Courage verloren hab’ … daß ich das, was ich mir vorgenommen hab’, nit hätt’ ausführen können, und wenn Alle gehn, will ich der letzte sein!“

„Red’ nit so, Hiesel! Hast doch oft gesagt, daß Du gern ein Kriegssoldat werden möchtest!“

„Das ist früher gewesen,“ erwiderte Hiesel düster, „damals waren noch andere Zeiten, das ist lang zu spät!“

„Es ist nit zu spät, versuch’s nur, Hiesel, und geh’ mit mir! Bei den Werbern kennt uns Niemand … wir sind gute Schützen, sie werden nit so genau nachfragen und nehmen uns gewiß …“

„B’hüt Dich Gott!“ sagte Hiesel kurz, „ich bleib’ da!“

„Hiesel!“ rief Studele warm werdend, „ich kann nit so von Dir gehn! Ich hab’ Dich gern, es kommt mich zu hart an, wenn ich denken soll, daß ein Kerl wie Du, der wohl zu was Besserem auf der Welt ist, vielleicht zu Grund gehen muß auf eine schlechte, elende Weis’! Im Krieg kann Jeder Alles werden, Du könntest Dich aufschwingen, wer weiß, wie weit, könntest zu Ehren kommen …“

„Zu Ehren kommen?“ entgegnete Hiesel stolz. „Ich brauche nicht zu Ehren zu kommen, denn ich hab’ meine Ehr’ nit verloren! Meine Ehr’ ist der Stutzen da, meine Ehr’ ist, daß ich bei dem aushalt’ bis in den Tod! Ich bin ein Wildschütz ’worden und hab’ gewußt, was ich thu’ … ich will ein Wildschütz bleiben!“

„Ein Wildschütz?“ erwiderte Studele mit Bedeutung. „Wenn’s nur das wär’, meinst, mich brächten dann vier Ross’ von Dir weg? Hab’ ich’s nit auch so im Sinn gehabt, wie Du? Aber der Nam’, den sie uns geben, ist ganz ein anderer.“

Hiesel sah ihn durchdringend an. „Und wie ist der Nam’, den sie uns geben?“ fragte er.

„Ich mag’s Dir nit sagen … lies es selbst!“ entgegnete Studele und zog einen breiten Zettel mit großen gedruckten Buchstaben aus der Waidtasche hervor. „Solche Placate haben sie heut in allen Dörfern ausgetheilt und an allen Kirchthüren und Wirthshäusern angeschlagen.“

Es war ein Steckbrief des Gerichts zu Dillingen gegen Mathias Klostermair, der bairische Hiesel genannt, und gegen seine Bande – Niemand solle sie beherbergen, Niemand ihnen Nahrung reichen bei schwerer Strafe; ein Preis von tausend Gulden war ausgesetzt auf den Kopf des Räuberhauptmanns.

Hiesel las, ohne daß eine Wimper seines Auges zuckte. „Räuberhauptmann!“ sagte er dann. „Ich hab’ es vorher gewußt, daß es einmal so kommen wird – aber was liegt daran, wie mich diejenigen nennen, die dem Volke feind sind, wie mir? Ich bin der Freund des Volks und das giebt mir einen andern Namen … Nimm, Anderl! Das ist ein prächtiges starkes Papier … das giebt treffliche Kugelpfropfen … Lad’ mir meinen Stutzen, Bub’ … ich will ihnen den Räuberhauptmann als Antwort zurückschicken!“

„O Hiesel, Hiesel, nimm es nicht zu leicht!“ rief Studele bittend, während Anderl lachend das Placat zerriß und die Büchse lud. „Ich kann Dir nicht sagen, wie es mir schwer ist um’s Herz … Ueberleg’ Dir’s noch einmal und geh’ mit!“

„Eilt’s denn gar so sehr?“ rief der Bub’ und ließ den Ladstock aus dem Rohre springen. „Wir müssen es uns doch erst überlegen! Jetzt können wir nit fort … die Soldaten sind in der Näh’, wir warten, bis sie kommen, das Davonlaufen überlassen wir Andern!“

Studele machte unwillkürlich eine Bewegung, als wollte er die Büchse von der Schulter reißen; er besann sich aber und erwiderte finster: „Ich red’ nit mehr mit Dir – das Davonlaufen wirft mir im Ernst Keiner vor, und Du danke Gott, wenn Dir nicht einmal das Herz mehr im Leib’ zittert, als mir! … Ich will jetzt gleich gehn und die Streif’ nit abwarten und ich glaub’, es ist keine Schand’, wenn ich es sag’: der bairische Hiesel wird auch ohne mich mit den Soldaten fertig – ich aber will nit meinem alten Schlafcameraden als Feind gegenüberstehen und ihm vielleicht zum Dank eine Kugel in sein gutes Herz schießen … Du verstehst mich, Hiesel, nit wahr? Ich geh’ – und wenn’s denn wirklich sein muß, daß ich allein gehen soll … so b’hüt’ Dich Gott!“

„B’hüt’ Gott …“

„Darfst mir wohl die Hand geben,“ fuhr Studele fort, da Hiesel unbeweglich stand und finster zu Boden sah. „Ich hab’ manches Mal nit Ja gesagt zu dem, was Du gesagt hast und gethan … aber ehrlicher hat’s Keiner mit Dir gemeint, als ich! Solltest wohl meine Hand fassen, Hiesel, und – nimmer loslassen!“

Schweigend reichte ihm Hiesel die Hand und ging dem Lagerplatze zu; Studele schaute ihm nach, bis er unter den Bäumen verschwunden war. –

Als Hiesel dem Lagerplatze der Bande näher kam, sah er eben den Sternputzer von seiner Sendung in’s Dorf zurückkehren.

„Nun,“ rief er dem Heraneilenden entgegen. „Klingt es schon in Deiner Tasche? Sind die Bauern schon unterwegs, uns entgegen zu laufen?“

„Hab’ nichts davon verspürt!“ erwiderte der Sternputzer. „Exemplum statuiren, Hauptmann – ich sag’ es noch einmal, sonst ist die Reputation verloren!“

„Hast Du mit den Bauern gesprochen? Haben sie die Lumperei nit gleich zusammengelegt? Sie haben … es kann nit anders sein!“

„Laß mich nur erzählen, Hauptmann … ich kam in’s Dorf und habe mich schon von fern darauf gefreut, dem alten Mauthner einen Streich zu spielen; ich hab’ die Aepfel noch nit vergessen, die er uns nit vergönnt hat, aber wie ich hinkam, war’s nichts damit, das Haus war nach allen Seiten verschlossen und die Läden zu … Hm, dacht’ ich, wird ihm wohl der Geizteufel den Kragen umgedreht haben, und ging weiter; war aber kaum ein paar Schritte weit, als ich einen Mann spornstreichs quer über die Felder laufen sah … war’s richtig mein Alter! Er hatte feinere Augen gehabt, als ich, hatt mich kommen sehen und sich bei Zeiten aus dem Staube gemacht! Im Dorf wollt’ mir’s auch nit scheinen, als wenn sie Triumphpforten für uns bauen [340] wollten … ich hatte meinen Schützenrock angezogen, um mich in Respect zu setzen; jedes Kind kennt den Rock auf fünfzig Stunden im Umkreis – aber Niemand kam heraus, mich zu begrüßen, und wo sich ein Kopf am Fenster sehen ließ, da war er wie der Blitz wieder verschwunden!“

„Aber der Bauer … ich glaub’, es war der Kirchenpfleger … was sagte der?“

„Der? Nicht viel, Hauptmann. Erst sah er mich an, als ob ich böhmisch mit ihm gered’t hätte … dann kratzt’ er sich hinter den Ohren und fing zu husten an … er könne das nit übernehmen, sagte er dann; er wisse im Voraus, daß die Bauern nichts geben würden, sie könnten auch nit vor Armuth und dürften nit, es sei vom Gericht verboten, dem Hiesel und seinen Leuten etwas zu geben, und wenn er mir gut rathen könne, so sollt’ ich machen, daß ich aus dem Dorf käme, eh’ der Amtmann von mir hörte …“

„Das … das hat der Bauer gesagt?“ stieß Hiesel hervor. „Das hat er gewagt, dem bairischen Hiesel als Antwort zu sagen?“

In optima forma!“ erwiderte der Sternputzer. „Siehst Du’s nun ein, daß nichts übrig bleibt, als exemplum statuiren?“

Hiesel war eine Secunde lang wie außer sich und biß sich fast die Unterlippe wund. „Brecht auf, Wildschützen!“ rief er dann. „Wir gehen hinunter in das Dorf – ich hab’ Euch eine Mahlzeit versprochen und Ihr sollt sie haben, so wahr ich Euer Hauptmann bin! Kommt, Cameraden, die Antwort muß ich selber hören!“

Mit wildem Geschrei drängten sich Alle um den Führer und stürmten dem Dorfe zu.

„Da bin ich,“ rief Hiesel, in’s Wirthshaus tretend, dem Wirthe entgegen, der ihn mit kriechenden Bücklingen, die grüne Schlegelkappe in der Hand, empfing. „Du kennst mich doch?“

„O … freilich …“ stammelte der Wirth, „wer sollt’ den Herrn Hiesel nicht kennen? Was verschafft mir die besondere Ehr’?“

„Dumme Frag’ für einen Wirth!“ erwiderte Hiesel. Aufgetragen, was Küche und Keller vermag – wir bleiben über Nacht bei Dir und wollen’s uns wohl sein lassen! … Nun, wo fehlt’s?“ fuhr er auf, als der Wirth noch immer zögernd auf einem Flecke stehen blieb und nur mit weit ausgestrecktem Arm furchtsam nach dem Spiegel deutete, an welchem das Dillinger Placat, weithin leserlich, angebracht war. „Ist es nichts, als das?“ rief Hiesel lachend. „Dafür kann geholfen werden – was man gezwungen thut, dafür kann einem kein Haar gekrümmt werden, also frisch, Cameraden! Damit dem Wirth nichts zu Leid’ geschehen kann, nehmt ihm die Schlüssel des Hauses ab, postirt Euch in Küche und Keller – bis morgen ist das Haus mein und ich bin der Wirth! Schreibt aber Alles auf das Genaueste auf, – morgen rechnen wir ab und zahlen; morgen haben wir Geld genug und ein Paar von Euch gehen und schaffen mir den Kirchenpfleger her – mit dem hab’ ich ein Wörtel zu reden!“

Das war ein Auftrag, wie er den wilden Gesellen nicht willkommener werden konnte. Lachend fielen sie über den Wirth her, zogen ihm den Schlüsselbund, den er unter der weißen Brustschürze verborgen hatte, hervor und stürmten unter Jubel und Geschrei in die verschiedenen Gelasse des Hauses. Die Einen stiegen in den Keller, um die Fässer zu proben, und riefen bald herauf, sie hätten dasjenige schon herausgefunden, auf dem die schwarze Katze sitze; Andere schäkerten mit den Mägden in der Küche und schürten ein Feuer an, daß es zum Kamin emporloderte, wieder Andere wühlten zur Verzweiflung der Wirthin im Wäschschrank, um das Tafelgedeck und die Tischzeuge hervorzusuchen, die sonst nur bei einer großen Hochzeit oder gar bei einer Primiz zu paradiren gewohnt waren. Die Wirthin konnte den Jammer nicht mit ansehen und schloß sich weinend in die hinterste Kammer ein, der Wirth wurde mitgeschleppt und mußte, so sauer es ihm ankam, in das Lachen einstimmen: er wagte nicht, die schonungslosen und gewaltthätigen Gesellen noch mehr zu reizen.

Der Hauptmann wehrte ihnen nicht ab; in unruhiger, hastiger Bewegung schritt er selbst in der Stube hin und wieder. Schon Studele’s Entfernung hatte ihn mehr ergriffen, als er es äußerlich gezeigt; die Entdeckung über die schlechte Gesinnung seiner Genossen hatte die Erregung gesteigert, durch die Nachricht von der Weigerung der Bauern war sie zur Erbitterung geworden – es bedurfte nur noch eines Anstoßes, so brach die Zornwuth los, die ihn wohl manchmal in besonders leidenschaftlichen Augenblicken übermannte.

„Bist Du der Kerl,“ rief er dem kreidebleichen Kirchenpfleger zu, der, von zwei Schützen geschleppt, hereinwankte, „bist Du’s, der sich untersteht, dem bairischen Hiesel mit dem Amtmann zu drohen?“

Ehe der Mann etwas zu erwidern vermochte, erschien schreiend und weinend sein Weib, das ihm gefolgt war, in der Thür und versuchte sich hineinzudrängen. „Laßt mir das Weib nit herein!“ rief Hiesel wild. „Wir haben nichts mit Weibern zu thun, schafft mir sie fort … Bitten und Betteln hilft nichts! Wenn sie ihren Mann retten will, soll sie machen, daß in fünf Minuten das Geld auf dem Tisch liegt, sonst steh’ ich für nichts!“

(Fortsetzung folgt.)




Dichter, Patriot und Prophet.
Von Carl Frenzel.

Soeben hat Italien ein glänzendes Fest gefeiert. Sechshundert Jahre sind vorübergegangen, daß in Florenz der erste und größte Dichter des italienischen Volkes geboren wurde, und wieder wollte es das Schicksal so, daß ihm die erste großartige Feier gilt, welche das geeinigte und von fremden Drängern befreite Italien den Musen bringt. Nicht in dem Maße ist Dante’s Dichtung in seinem Vaterlande volksthümlich geworden, wie bei uns die Schiller’sche; seine Verse, die bei seinen Lebzeiten Eseltreiber, Handwerker und Frauen des Volks gesungen haben sollen, verloren im Lauf der Jahrhunderte etwas von ihrer Deutlichkeit; wie sein ganzes Gedicht, die göttliche Komödie, wurden auch ihre einzelnen Schilderungen schwerer verständlich. Dante’s Werke blieben fast ausschließlich in den Händen der Gelehrten, der Hochgebildeten, erst allmählich gewinnen sie in der Gegenwart tiefere Wurzeln im Volke selbst. Aber die Masse der Italiener verehrt in Dante auch weniger den erhabenen Dichter, als den Patrioten. Ihr verkörpert Dante die Einheit des Vaterlandes. Er hat das erste Wort von dem einigen Italien, von dem Gegensatz dieses Landes zu den fremden Barbaren gesprochen. Was Cavour und Garibaldi jetzt vollendet, Dante hat es gewollt, geträumt. Die Formen, in denen sich diese Einigung vollzog, konnte er nicht voraussehen; in seiner Zeit war von einem Königreich Sardinien, von einem stillen Bunde aller Edlen vom Norden zum Süden der Halbinsel keine Spur; er suchte nach seiner Bildung und in den Anschauungen des Mittelalters den Einiger Italiens in einem römischen Kaiser, der, wie Augustus, von Rom aus die beruhigte Welt regiere. Die Grundgedanken seiner politischen Ueberzeugung verbinden ihn dagegen auf das Innigste mit den jetzigen italienischen Patrioten; Einheit des Landes, eine Kirche ohne weltliche Macht: das sind seine und ihre Ziele. Italien ehrt bei diesem Jubelfeste in Dante nicht nur den Dichter, sondern zumeist, wie es einem zum politischen Bewußtsein erwachenden Volke geziemt, den Vaterlandsfreund; neben dem Lorbeerkranz trägt er die Bürgerkrone.

Dante wurde im Mai 1265 zu Florenz geboren. Langsam war die Stadt, zu beiden Seiten des Arno gelegen, zu Wohlstand und politischer Bedeutsamkeit aufgewachsen. Mehrere Stunden vom Meer entfernt, hatte sie nicht den schnellen Aufschwung erlangt, den Pisa, Genua, Venedig durch die Kreuzzüge genommen. Während der große lombardische Städtebund, Mailand an seiner Spitze, mit dem Kaiser Friedrich dem Rothbart um Freiheit und Unabhängigkeit kämpfte, schlugen sich die Florentiner auf engem Gebiet, das etwa zehn Meilen im Umkreis betrug, mit dem Landadel der Umgegend, der von seinen Burgen aus ihren Handel hinderte, ihre Marken mit Plünderungen heimsuchte. Der Reichthum der Stadt beruhte auf ihrer Wollfabrikation: im Verlauf des dreizehnten

[341]

Dante bittend vor Kaiser Heinrich dem Siebenten.
Originalzeichnung von H. Plüddemann.

[342] Jahrhunderts wurde Florenz das Manchester des Mittelalters. In Dante’s Tagen zählte man in der Stadt dreihundert Fabriken, die jährlich einmalhunderttausend Stücke Tuch lieferten und mehr als zwanzigtausend Menschen den Lebensunterhalt gewährten. Mit der Industrie stieg das Geldgeschäft, die Florentiner waren die ersten Wechsler in Europa. Große Summen häuften sich so in der Stadt an; mit dem Reichthum erwachte in den Bürgern der Sinn für die Künste, stattliche Gebäude, Rathhäuser, Paläste, Kirchen entstanden; die Malerei Giotto’s schmückte die Wände, die Altäre. Eine lange Reihe von Dichtern, Künstlern, Gelehrten verherrlichte Florenz, ein Genius trat gleichsam dem andern auf die Fersen. Es schien, als könne in dieser Stadt so wenig als in Athen das Genie aussterben. Der Ruhm und die Schönheit haben ihre Wohnstätte hier aufgeschlagen. Von diesem Erdenfleck aus sind der Menschheit mit die höchsten und tiefsten Anregungen gekommen. Neben Dante lebten hier Boccaccio, Macchiavelli, Galilei, Alfieri; der italienische Vorläufer unseres Luther, Savonarola, predigte auf diesen Plätzen, Raffael, Michel Angelo, Benvenuto Cellini haben diese Kirchen und Paläste mit ihren Kunstwerken geziert.

Der Führer aber dieser erlauchten Geister ist Dante. Wenn die Heimath ihm ihr Gepräge aufgedrückt, so gab er dafür den edelsten ihrer Kinder in seinem Gedicht eine unerschöpfliche Quelle des Erhabenen und Tiefsinnigen, aus der Alle – sein größter Nachfolger Michel Angelo nicht am wenigsten – geschöpft. Florenz erschien im Vordergruud der italienischen Entwickelung, als das Geschlecht der Hohenstaufen mit Conradin ausstarb und der Kampf der Ghibellinen und Guelfen seine welthistorische Bedeutung verloren hatte. Hier wie überall in den italienischen Städten theilte sich die Bevölkerung in zwei ursprünglich scharf gesonderte Classen: die Patrizier, der Adel, der aus der Landschaft in die Stadt eingewandert war, und die Popolani, Handwerker und Arbeiter, die sich zuerst um die Kirchen, im Schutz des Bischofs angesiedelt hatten, Eingewanderte aus fremden Städten, Hörige, welche der harten Herrschaft ihres Grafen entflohen und hinter den Mauern der Stadt ein Asyl gefunden und bald in Folge der vielen Fabriken die zahlreichste Classe geworden waren. Zwischen den adligen Geschlechtern und den Arbeitern bildete sich ein eigentlicher Bürgerstand in vielen Abstufungen von dem reichsten Wechsler bis zu dem ärmsten Schuster aus. Er hatte das Regiment der Stadt in Händen. Aus den Zünften, in die er sich theilte, wurden die Prioren, die neben dem Richter (Podestà) und dem Befehlshaber der Miliz (Capitano del Popolo) die Verwaltung der Stadt führten, gewählt. Da sie zum Gewerbestande gehören mußten, war der Adel, sofern er nicht in die Zunftrollen, als Arzt, Wechsler, Tuchhändler eingetragen, von der Regierung ausgeschlossen. In diesem durchaus bürgerlichen Gemeinwesen hatten weder die Edelleute noch der eigentliche Arbeiterstand politische Rechte. Mit der Einführung der Priorenverfassung endete auch der langandauernde Streit der Ghibellinen und Guelfen. Die eigentliche Bevölkerung war in Florenz von jeher guelfisch gesinnt, dem Kaiser und dem Adel abgeneigt. Durch die Schlacht bei Campaldino, 11. Juni 1289, in der Dante in der ersten Reihe der Reiter mitfocht, sicherten sich die Florentiner das Uebergewicht über die ganze ghibellinische Partei in Toscana, die an jenem Tage besiegt und gesprengt ward.

Dante’s Familie gehörte zu dem guelfischen Adel der Stadt. Sein Vater, Alighiero degli Alighieri, war ein Rechtsgelehrter, wenn auch kein hervorragender Mann, doch wohl begütert. Von seiner zweiten Frau, Donna Bella, wurde ihm Dante geboren, unter dem Zeichen der Zwillinge, woraus die Astronomen dem Kinde einen ausgezeichneten Ruhm in den Wissenschaften prophezeit haben sollen. Zwar starb der Vater dem Knaben früh, aber die Mutter sorgte in edelster und einsichtigster Weise für seine Erziehung. Der damalige Geheimschreiber der Republik, Brunetto Latini, ein gelehrter und hochgebildeter Mann, unterrichtete ihn; auf einem Damme der Hölle begegnet in seinem Gedicht der Dichter seinem Lehrer und geht eine Strecke gesenkten Hauptes, „wie einer, der verehrend wandelt“, neben ihm her. Brunetto sagt ihm: „Folg’ Deinem Stern, der Hafen des Ruhmes soll Dir dann sicher sein,“ und Dante erwidert darauf:

„Wär’ mein Gebet erfüllt,
Wärst menschlicher Natur Du nicht entnommen,
Denn nie entschwindet Dein Bild meinem Sinn.“

Von jeher soll Dante ernsten und in sich gekehrten Sinnes gewesen sein; Boccaccio sagt in seiner Lebensbeschreibung des Dichters, schon in der Jugend habe er sich den kindischen Beschäftigungen abgeneigt erwiesen, und nachdem er die ersten Elemente der Wissenschaft in seiner Vaterstadt selbst erlernt, habe er sich zum Studium der alten Dichter, des Virgil, Horaz und Statius gewandt, dann in Bologna und Padua Philosophie getrieben und sich endlich in die Geheimnisse der Theologie versenkt. Von einem systematischen Studium in unserm Sinne ist nicht die Rede; nach jeder Richtung und in jeder Weise war damals die Wissenschaft beschränkt. Selbst das Alterthum kannte man nur aus den römischen Schriftstellern. In ihnen, in der Bibel und den Büchern der Kirchenväter zeigt Dante eine erstaunliche Belesenheit und mag darum in einer Zeit, wo Lesen und Schreiben noch Etwas wie einen magischen Zauber um sich bewahrten, als eine Leuchte der Gelehrsamkeit angestaunt worden sein. Diese ernsteren Studien ertödteten aber seine Neigung zu den schönen Künsten nicht; ausdrücklich bemerkt wieder Boccaz, daß er der Freund jedes damals berühmten Sängers und Musikers gewesen. Ebenso zeichnete Dante selbst und soll öfters den berühmten Maler Giotto, den Vater der modernen Malerei, in seiner Werkstatt aufgesucht haben.

Mit den besten Dichtungen der provençalischen Dichter, deren Sprache damals von Südfrankreich aus sich über die Lombardei und bis nach Mittelitalien verbreitet hatte, darin Richard Löwenherz von England so gut wie Friedrich der Rothbart einen und den andern Vers versucht, war er vertraut, ihre Liebes- und Schlachtlieber klingen in ihm wieder. Diese Gedichte sind von stärkerem Einfluß auf seine eigenen ersten Versuche in der „Vita nuova“, dem „Neuen Leben“, gewesen, als die Dichtungen Virgil’s und Horaz’s. Jene Vermischung sinnlicher und übersinnlicher Liebe, das Bestreben, die irdische Geliebte zu einer himmlischen Gestalt zu erhöben, in eine Allegorie zu verflüchtigen, die seit Dante und Petrarca die ganze italienische Liebeslyrik kennzeichnet, läßt sich als auf ihre erste Ursache auf die Troubadourlieder zurückführen. Ohne Zweifel trugen der Mariencultus, die in Italien vielverbreiteten Marienlieder – Franciscanermönche haben die meisten gedichtet – ein gutes Theil zu dieser Verschmelzung des Irdischen und Himmlischen, der Leidenschaft und der Andacht bei. Dante mußte nun ein eigenes, so nie wieder dagewesenes Geschick erfahren, daß bei ihm Wahrheit, Selbsterlebtes, echter Schmerz wie echte Freude wurde, was bei den Andern nur Traum und phantastische Erdichtung, halb Gefühl und halb Spielerei war.

Noch ein Knabe – er zählte neun Jahre – sah er, an einem Frühlingstage 1274, ein liebliches Kind, Beatrice, die siebenjährige Tochter Folco Portinari’s. Seit dieser Stunde faßte er eine glühende, inbrünstige Liebe zu ihr. Oefters noch begegnete er ihr in den Gassen der Stadt, in den Kirchen. Sie grüßte ihn freundlich, wenn sie vorüberging, wechselte auch wohl ein und ein anderes Wort mit ihm. Näher traten sie einander nicht; Beatrice heirathete einen edlen Florentiner Simone dei Bardi und starb in jugendlichem Alter, am 9. Juni 1290, etwa ein Jahr nach jener Schlacht bei Campaldino, in der Dante seinen ersten Ritterdienst gethan. Diese verklärte, idealistische Liebe, in der die Geliebte zugleich zur begeisternden Muse des Dichters wird, giebt einen Grundton für die gesammte Dichtung Dante’s ab; in seinen ersten Sonetten und Canzonen feiert er die irdische Beatrice, die er mit leiblichen Augen gesehen, mit der er geredet, „das neue, edle Wunder“. In der „göttlichen Komödie“ ist Beatrice eine lichtverklärte Heilige, die Verkörperung der Theologie, höchste Wissenschaft und höchste Liebe zu Gott zusammen. Omnis beatitudo nostra, „meine ganze Seligkeit“ nennt sie Dante, die in der Höhe und dem Glanz des Himmels den Freund beschützt, ihm den Virgil zum Begleiter durch die Hölle sendet, auf der Spitze des Fegefeuerberges sich zu ihm gesellt und nun seine Führerschaft durch das Paradies übernimmt. Nicht ist Beatrice nur eine allegorische Gestalt, sie ist der holde Schatten, der im irdischen Leben eine kurze Frist lang das Ewige und Himmlische verkörperte.

In einem thätigen, bürgerlich einfachen Leben suchte Dante den Schmerz über Beatrice’s Verlust zu vergessen. Er ward in die Rolle der Aerzte eingetragen, vermählte sich mit einer Dame aus dem Geschlecht der angesehenen Donati, Gemma, und widmete seine Fähigkeiten dem Dienste seiner Vaterstadt: eine schlichte, ehrenfeste Natur, entfernt von den Uebertreibungen und genialischen Sprüngen, die wir in der Jugendgeschichte anderer Dichter bemerken. Die Regierung benutzte ihn mehrmals zu Gesandtschaften. [343] Inzwischen aber loderte schon die kaum erstickte Wuth der Parteiung in Florenz wieder in lichten Flammen auf. Die vornehmsten Geschlechter der Stadt waren die Donati und die Cerchi. Von älterem patricischen Adel mochten die Donati sein, dafür besaßen die Cerchi größere Reichthümer, sie waren geschickte Handelsleute und Fabrikanten. Sie kauften und ummauerten den Palast der Grafen Guidi, der gerad an die Häuser der Donati stieß. Das nahm das Haupt jener Familie, Corso Donati, übel, in dem Etwas von einem Tyrannen schlummerte; „sollen wir das dulden?“ rief er in der Geschlechtsversammlung. Zwischen ihm und den Cerchi kam es darauf in den Gassen, bei den Festen zu den feindseligsten Berührungen.

Vieri dei Cerchi war zwar ein kluger, mäßiger und furchtsamer Mann, aber zu seiner Freundschaft hielt sich auch Guido Cavalcanti, ein Dichter und heißblütiger Ritter. Auf offener Straße warf der einmal einen Wurfspieß auf Corso Donati, denn er beschuldigte diesen, daß er ihm heimlich nach dem Leben gestellt habe. In dieser Unruhe befand sich Florenz, als ein neuer unglücklicher Umstand den schon drohenden Ausbruch des Bürgerkriegs herbeiführte. Die kleine toscanische Stadt Pistoja war von wildem Parteizwist gleichfalls zerrissen; das hervorragendste Geschlecht der Cancellieri hatte sich in zwei Stämme gespalten, in die Neri, die Schwarzen, und die Bianchi, die Weißen, beide von unversöhnlichem Hasse wider einander entflammt. Um den Frieden in Pistoja herzustellen, rief die Regierung von Florenz die Häupter der Neri und Bianchi zu sich; die Cerchi nahmen die Weißen, die Donati die Schwarzen bei sich auf. Die Folgen waren leicht vorauszusehen; die mühsam zurückgehaltene Feindschaft der beiden Geschlechter wurde jetzt zu einem unlöschbaren Brande entzündet, ganz Florenz, wenige besonnene und friedliche Männer ausgenommen, trennte sich in zwei Factionen, die Weißen und die Schwarzen.

Inmitten dieser Kämpfe stand Dante. Mit den Donati war er durch seine Heirath verwandt, mit einigen unter ihnen, Forese Donati und dessen Schwester Picarda auf das Zärtlichste befreundet; seine politische Neigung zog ihn dagegen zu den Cerchi; mit Guido Cavalcanti sah man ihn Arm in Arm. Obgleich Cavalcanti zehn Jahre älter war, als er, verband beide die gleiche Liebe zur Dichtkunst, eine schwermüthige Weltanschauung, die in den Gedichten beider durchbricht, dieselbe politische Parteistellung. Vom 15. Juni zum 15. August des Jubeljahrs 1300 – der Papst Bonifaz der Achte feierte das Jubiläum zu Rom – saß Dante mit Dino Campagni unter den sechs Prioren der Stadt. Um den Frieden zu erhalten, beschloß man die Häupter sowohl der Weißen als der Schwarzen zu verbannen. Aber die Parteilichkeit der Regierung für die Weißen zeigte sich bald; denn als Guido Cavalcanti zu Sarzana, wohin man ihn geschickt, an einer pestartigen Krankheit starb, rief man die andern Verbannten, unter dem Vorwand der schlechten Luft Sarzanas, zurück. Da merkten die Donati, daß sie nur gewaltsam ihre Heimkehr nach Florenz erzwingen würden, und suchten durch das Wechslerhaus der Spini geheimes Einverständniß mit dem Papste anzuknüpfen. Unter den Weißen fingen an sich ghibellinische Anschauungen geltend zu machen. Noch gab es in Toscana viele Edelleute, die den kaiserlichen Tendenzen huldigten. Je näher den Weißen die Gefahr von den Schwarzen und dem Papste drohte, desto enger schlossen sie sich an diesen kriegsbereiten Landadel an. Schon aber war Bonifaz der Achte mit den Donati über das Verderben der Weißen einig geworden. Damals rückte ein französischer Prinz, Carl von Valois, mit einem Heerhaufen durch Toscana, seinem Verwandten, dem Könige von Neapel zu Hülfe, der mit den Sicilianern im Kriege lag. Diesen bestimmte der Papst zum Friedensstifter zwischen den Parteien in Florenz. Um das Aeußerste von der Stadt abzuwenden und Bonifaz den Achten günstiger für die Bianchi zu stimmen, ging Dante als Gesandter nach Rom.

In seiner Abwesenheit rückte Carl von Valois, da die Prioren nicht den Muth hatten, die Thore vor ihm zu schließen, in Florenz ein; den Eid, den er geleistet, die Verbannten nicht in die Stadt zu führen, brach er; Corso Donati kehrte mit seinen Anhängern heim. Mehrere Tage wütheten Mord, Brand und Plünderung in Florenz, die Bianchi wurden verjagt. Gegen Dante erließ der neue Podestà Lante Gabrielli am 27. Januar 1302 diese Sentenz: „Dante Alighieri wird zu achttausend Livres und zweijähriger Verbannung verurtheilt, weil er gegen die Aufnahme Herrn Carl’s von Valois gesprochen und wider Recht Geld in seinem Priorate genommen“; am 10. März ward dieser Spruch dahin verschärft: „Wenn Dante das Gebiet der Republik betritt, so soll er des Feuertodes sterben.“ So stieß Florenz, „die Stiefmutter voll wenig Liebe“, ihren besten Sohn von sich. Dante gehörte nicht nur zu den Häuptern der Weißen, er war auch sonst eine bekannte Persönlichkeit in der Stadt. Schon hatte er die ersten Gesänge der „Göttlichen Komödie“ in Umrissen, die er später änderte und ausführte, vollendet; viele Stellen daraus gingen von Mund zu Mund; die Leute des Volkes sangen sie. Einem Töpfer, der bei seiner Arbeit einzelne Verse in arger Verstümmelung sang, soll Dante den Kram zerschlagen haben: „Ich mißhandle Deine Werke, wie Du meine.“ Nicht besser erging es einem Eseltreiber, der zwischen den einzelnen Versen seinem Thiere immer ein „Hussah!“ zuschrie. Dante war ein ernster, schwermüthiger, jähzorniger Mann; kein Freund des Volkes in unserm Sinne. „Seines Wesens wegen,“ sagt ein Chronist, „war er ziemlich schnöde, anmaßend und stolz, und wie ein Philosoph, der sich nicht um leutselige Sitten bekümmert, wußte er mit Laien nicht wohl umzugehen.“ Er hatte eben ein hohes Gefühl seines Werthes und die Ahnung, daß er ein besonderer Mensch sei. Stets ging er in adliger Kleidung, seine Haltung war edel und fein. Ein langes, bräunliches Gesicht, ausdrucksvolle Augen, eine Adlernase und die vorstehende Unterlippe, der schwarze Bart und das krause Haar, der nachdenkliche Ausdruck seiner Züge mögen ihm von jeher etwas Auffälliges gegeben haben. Die Kinder sollen sich vor ihm gefürchtet haben und die Frauen von Verona, wenn er an ihnen vorbeischritt, raunten sich zu: „Da kommt der Mann, der in der Hölle gewesen.“

Die schroffen Seiten in Dante’s Charakter bildeten sich in der Verbannung noch stärker und herber aus. Von jenem Januar 1302 bis zu seinem Tode ist sein Leben eine lange, unstäte Irrfahrt; er lernte nun, „wie schwer es ist, fremde Stiegen zu steigen; wie salzig fremdes Brod schmeckt; wie es im Elend keinen bitterern Schmerz giebt, als die Erinnerung früher genossenen Glücks.“ Anfangs versuchten die Bianchi, und er in ihrem Kriegsrath, sich in Toscana zu halten und von Arezzo aus eine günstige Gelegenheit zum Ueberfall der Vaterstadt abzuwarten. Aber alle Versuche schlugen fehl; mißmuthig trennte sich Dante von ihnen. An die Gemeinde von Florenz richtete er einen Brief: „Was habe ich dir gethan, mein Volk?“ worin er sich rechtfertigt und um Aufhebung der ihn verdammenden Sentenz bittet. Da keine Antwort darauf erfolgte, verließ er Toscana und eilte nach Verona, wo Bartolommeo della Scala ein starkes Regiment in prächtiger Hofhaltung führte. In Dante schlug eine ruhelose Ader; einmal aus dem heimathlichen Boden entwurzelt, losgerissen von Allem, was er liebte, woran er mit den festesten und heiligsten Banden der Seele hing, irrte er, von innerer Unruhe getrieben, durch die Lombardei, kehrte nach Toscana zurück und erschien dann wieder in Bologna und Padua. Nirgends fühlte er sich dauernd gefesselt. Ausschließlich gab er sich theologischen Studien und der Vollendung seines großen Gedichts hin. Der Ruhm, den die theologische Facultät der Pariser Universität genoß, führte ihn dorthin; er soll hier Baccalaureus geworden sein, gelesen, disputirt und alle nöthigen Schritte gethan haben, um Doctor der Theologie zu werden, nur habe es ihm am Gelde gefehlt, diese Würde zu erlangen.

Aus seinen friedlichen Beschäftigungen ward Dante durch die Nachricht gerissen, der neuerwählte Kaiser Heinrich der Siebente rüste sich zu einem Römerzuge. Noch einmal, in aller Stärke, erwachte die politische Leidenschaft in ihm. In drei Büchern, de Monarchia betitelt, sucht er in lateinischer Sprache – denn er wendet sich nicht, wie in seinem Gedicht, an das Volk, sondern an die Gelehrten – seine politischen Anschauungen darzustellen und zu begründen. Freiheit und Frieden seien die ersten Bedürfnisse des Menschengeschlechts zur Erreichung seiner Bestimmung. Nur dann seien sie zu erlangen und zu bewahren, wenn ein Einziger, der Kaiser, die Oberherrschaft über Alle führe. Dadurch werden die einzelnen Staaten, Fürstenthümer und Republiken nicht vernichtet, der Kaiser schlichtet die Zwistigkeiten unter ihnen und beschützt den Schwachen wider den Uebermuth des Stärkeren. Er ist die allgemeine Sonne der Gerechtigkeit. Diese kaiserliche Herrschaft schreibt sich aber von dem Imperium des römischen Volkes über die Welt her. Christus selbst habe dies anerkannt, unter Augustus sei er geboren worden, unter Tiberius habe er gelitten, [344] beide Mal habe er sich dem römischen Imperium unterworfen. Diese Macht stamme von Gott, von ihm und nicht vom Papste sei sie abzuleiten. „Weil aber der Mensch nicht blos der irdischen Glückseligkeit, sondern auch des ewigen Heils bedürfe, so sei für diesen letzten Zweck der Papst eingesetzt und dem gemäß gezieme es sich, daß der Kaiser dem Papste, wie der Erstgeborene dem Vater, Ehrfurcht beweise.“

Dante setzte ideale, unausführbare Hoffnungen in die Wiederaufrichtung des Kaiserthums. Schon längst aber genügte das Kaiserthum den neuen politischen Zuständen nicht mehr, die Umwandlung der Gesellschaft forderte andere staatliche Formen. Die drei Blüthen des Mittelalters, das Papstthum, das Kaiserthum und die Ritterschaft, waren im Welken begriffen. Der Römerzug Heinrich des Siebenten erinnert darum an die Thaten Don Quixote’s: er will ein Gestorbenes wieder lebendig machen, gesprungene Triebfedern noch wirken lassen. Wie einst Johannes der Täufer dem Erlöser, so bereitete Dante durch seine „Monarchia“ und begeisterte Flugschriften, die er an die Völker und Fürsten Italiens erließ, seinem Helden den Weg. „Trockene, o du schönste der Jungfrauen,“ schreibt er, Italien meinend, „deine Thränen und lege die Miene der Traurigkeit ab, denn er ist da, der fromme Heinrich, der zweite Moses, welcher sein Volk frei machen wird vom Druck der Aegypter“ – vom Joche der Schwarzen, von der Last der Volksherrschaft.

In der Lombardei war es, wo Dante die Zusammenkunft mit dem Kaiser hatte, um diesen, den Ausländer, fußfällig anzugehen, mit starker Hand dem Parteigetriebe in Florenz ein Ende zu machen. Diesen bezeichnenden Moment hat der ausgezeichnete Dresdener Künstler zum Gegenstande unserer Abbildung gewählt. Während nun Heinrich von Stadt zu Stadt zog, um kleine Fehden zu schlichten und die Parteien zu versöhnen, die zum Schwert griffen, sobald er den Rücken gewandt, eilte Dante ihm voraus nach Toscana, 1311, und saß im Thurm von Porziano einige Wochen lang in ehrenvoller, leichter Gefangenschaft, da die Grafen von Porziano im obern Arnothale, nur wenige Meilen von Florenz, einen Feind der mächtigen Stadt nicht wohl durch ihr Gebiet ziehen lassen durften. Von hier aus schrieb er dem Kaiser einen zornigen Mahnbrief, er solle nicht länger in der Lombardei zögern, Toscana versäumen. „Erröthe also, daß Du Dich von einem kleinen Winkel der Erde festhalten lässest, Du, den die ganze Welt erwartet. Möchte es der Weisheit des Augustus nicht entgehen, daß die toscanische Tyrannei sich befestigt im Vertrauen auf Deine Säumniß und daß sie täglich den Trotz der Bösen aufreizt, neue Kräfte sammelt und Frechheit auf Frechheit häuft!“ Wie hört man aus jedem Wort den italienischen Parteimann heraus, der um jeden Preis seine Gegner vernichten und in die Vaterstadt, aus der er vertrieben, heimkehren will! Seine Heftigkeit erbitterte im nothwendigen Gegensatz die herrschende Partei in Florenz: durch das Gesetz des Podestà Baldo d’Apuglione wurden beinahe alle Verbannte im April 1311 zurückgerufen, Dante schloß man von dieser Gnade aus. Der Kaiser aber ging nicht auf Florenz los; er begab sich nach Rom, wo er die Kaiserkrone aus den Händen eines Cardinallegaten empfing, und als er am 19. September 1312 vor der Arno-Stadt erschien, mußte er nach kurzer Zeit die Belagerung wegen der Schwäche seines Heeres aufgeben; binnen Jahresfrist starb er, am 24. August 1313, in Buonconvento am Fieber.

Mit dem Tode des Kaisers erlosch für Dante jede Hoffnung auf die Verwirklichung seiner politischen Ideale. Eine zwiespältige Kaiserwahl zerriß Deutschland, die Päpste ließen sich dauernd in Avignon nieder, in Italien wütheten nach wie vor Nachbarfehden, Parteikämpfe ohne Ende. Wieder irrte Dante von Ort zu Ort, verweilte jetzt an dem Hofe Can Grande’s in Verona, dann bei Guido Novello da Polenta in Ravenna. Einmal bot sich ihm Aussicht zur Heimkehr nach Florenz; Freunde hatten sich für ihn bei der Regierung verwandt, aber die Bedingungen, unter denen man ihm die Rückkehr gestatten wollte, verletzten sein hochgesinntes Herz; er sollte sogleich begnadigt werden, wenn er eine gewisse Geldsumme zahlen und öffentlich Abbitte thun würde. Darüber schrieb er zurück: „Fern sei’s von einem Manne, der Gerechtigkeit predigt, Geld denen zu zahlen, die ihm Unrecht gethan; fern sei von einem Manne, der sich der Philosophie ergeben, die feige Demuth irdisch gesinnter Herzen, daß er sich wie ein Schmachbedeckter zur Buße stelle. Ich kehre mit Ehren heim – oder nie! Kann ich das Licht der Sonne und der Gestirne nicht überall erblicken? Brod wird mir nicht mangeln.“ Stolz, starr, in sich verschlossen war dieser Mann. Can Grande lachte einmal über seinen Hofnarren und wandte sich mit halb vorwurfsvoller Frage an den Dichter: „Warum kann mich nur dieser Thor unterhalten und Du nicht, mit all’ Deinem Witz?“ – „Gleich gesellt sich zu Gleich,“ entgegnete ihm Dante. Die Mönche eines in düsterer Einsamkeit in den Apenninen gelegenen Klosters fanden ihn öfters in ihren Kreuzgängen auf und niederwandeln. „Was suchst Du hier?“ fragte einer verwundert den ihm fremden Mann. „Den Frieden,“ antwortete er. Die längste Zeit verweilte er in Ravenna, hier soll er, nach Boccaccio’s Erzählung, sich mit dem Studium der italienischen Sprache und Literatur beschäftigt und Schüler herangebildet haben. Hierher kamen auch zwei seiner Kinder, die bis dahin bei der Mutter in Florenz verweilt – eine Tochter, die Nonne in Ravenna ward, und Jacopo, sein zweiter Sohn, in dessen Armen er starb; der älteste, Pietro, hatte ihn in die Verbannung begleitet. Dante verschied in Ravenna am 14. September 1321. Im Dichterschmuck, mit dem Lorbeerkranz wurde seine Leiche von den angesehensten Bürgern in die Hauptkirche getragen, der Herr der Stadt, Guido Novello, hielt ihm die Leichenrede. Fünfzig Jahre nach seinem Tode errichteten die Florentiner einen Lehrstuhl an ihrer Universität, Dante’s Gedicht zu erklären, und wünschten seine Leiche von Ravenna herüberzubringen. Jene Stadt aber wollte die Gebeine des größten Dichters nicht aus ihren Mauern lassen.

Ueber die Bedeutung der „göttlichen Komödie“, der dichterischen Hauptschöpfung Dante’s, ist viel gestritten; die einen haben nur Allegorien darin sehen wollen, die andern sie ein politisches Gedicht genannt. Zuletzt ist dann noch behauptet worden, die „göttliche Komödie“ sei das Geheimbuch der ghibellinischen Partei gewesen. Jedem Leser aber fällt auf, daß sowohl in der Hölle wie im Fegefeuer sich Ghibellinen und Guelfen finden, daß Dante mit großer Gerechtigkeit gegen seine Zeitgenossen verfuhr. Der sündige Mensch sieht in der Hölle alle Laster, die ihn im irdischen Leben beflecken können; den steilen Berg des Purgatoriums hinanklimmend erkennt er seine Fehler und Schwächen und wird, je weiter er steigt, je mehr seine Reue und die Süßigkeit der Betrachtung in ihm zunimmt, desto edler und heiliger. Die Schilderung des Paradieses, die sich daran knüpft, entbehrt jedes menschlichen Interesses, sie ist ein künstlicher, in Verse gebrachter Tractat über die mittelalterliche Theologie, der von den Zeitgenossen des Dichters am meisten von den drei Theilen der „göttlichen Komödie“ bewundert wurde. In diesen Rahmen hat nun Dante seine Erfahrungen, Kenntnisse, Anschauungen gebracht; Alles, was ihn je beseelte, Liebe, Freundschaft, tödtlicher Haß, seine kaiserlichen Ideale, seine politische Leidenschaft, sein Trotz, sein Stolz, die Männer, denen er begegnete, die Künstler, die er ehrte, sein Gegensatz zu den Päpsten und dem Dogma von der weltlichen Macht der Kirche: hier lebt es, unvergeßlich, in glühenden Farben. In diesem Sinne ist die „göttliche Komödie“ auch ein politisches Gedicht. Nur thut man dem Dichter unrecht, wenn man über diese einzelnen Anspielungen den ethischen und moralischen Charakter des Ganzen vergißt. Der Retter und Heiland Italiens, dessen er so oft erwähnt, ist nicht nur ein politischer Befreier des Landes, ein Staatsmann oder ein Feldherr; bei Dante verbindet sich der Gedanke der politischen Wiederherstellung des Imperiums zugleich mit dem einer vollständigen, sittlichen Wiedergeburt des Menschengeschlechts. Darum ist er ein Dichter für alle Zeiten und Völker; haben auch „das Fegefeuer“ und „das Paradies“ für uns Nordländer, die einer andern Auffassung des Christenthums huldigen, nach sechs Jahrhunderten an Glanz und Bedeutsamkeit verloren, so bleibt doch „die Hölle“ eines der mächtigsten Werke, welche der dichterische Genius geschaffen. Den Italienern aber ist Dante Dichter, Patriot und Prophet zugleich. Das einige Italien, das er herbeisehnte, vor den Augen derer, die jetzt leben, erhebt es sich wie ein Phönix aus der Asche und der Knechtschaft von Jahrhunderten. An Dante wie an unserm Schiller wird es offenbar, daß die Kunst, um zu wirken, um wahrhaft von Geschlecht zu Geschlecht fortzuleben, ein Vaterland haben und sich an die ewigen Ideen der Freiheit und der Menschlichkeit anschließen muß.



[345]
Die Ruhestätte eines Ruhelosen.

Gewiß erinnern sich viele Leser der Gartenlaube noch mit Vergnügen der fesselnden Novellen „Husar und Pandur“, Jahrgang 1860, Nr. 45, und „der Festungscommandant“, Jahrgang 1861, Nr. 3, in denen Levin Schücking in bekannter meisterhafter Weise die abenteuerlichen Schicksale eines berühmten und berüchtigten Pandurenobersten schilderte; ich darf daher wohl auch auf allgemeines Interesse zählen, wenn ich jetzt von der letzten Ruhestätte dieses Ruhelosen erzähle. –

Seit einiger Zeit in Brünn lebend, hatte ich schon längst Lust verspürt, einmal die merkwürdigen Grabgewölbe unter dem dortigen Capuzinerkloster zu besichtigen, die sich den Katakomben unter der Wiener St. Stephanskirche an die Seite setzen lassen, und nach manchen Bemühungen endlich von dem Capuzinermönche Benno Benesch die Erlaubniß erwirkt, mich auf zwei bis drei Stunden in der Klostergruft einschließen zu dürfen, um die einzelnen wohlerhaltenen Leichname und die Gewölbe skizziren zu können. Er ging mit seinen schlürfenden Stiefeln, seinen klirrenden Schlüsseln und seiner triefenden Wachskerze vor mir her, den niedrigen dunklen Klostergang entlang, an dessen Wänden die schrecklichen, mottenzerfressenen, durchlöcherten und schwarzgeräucherten Caricaturen verschiedener Päpste hingen. Ich fröstelte in dem kalten Schatten. Der Weg führte jetzt abwärts. Hier ging’s viele, viele Stufen hinunter. Wir befanden uns schon unter der Erde. Nun durchschritten wir einen langen, kahlen Raum, der mit zerbrochenen Engeln, Altarüberresten und Orgeltrümmern angefüllt war. Jetzt kam wieder ein enger, niedriger Gang, den man nur gebückt durchschreiten konnte. Dann ging’s wiederum abwärts, und nun kreischte ein Schlüssel in einem rostigen Schlosse und eine Kette rasselte. Die schwere Thür drehte sich, warme, trockene Moderluft qualmte uns förmlich entgegen: wir standen auf den Stufen der Gruftgewölbe.

Das Brünner Capuzinerkloster wurde erst im siebenzehnten Jahrhundert an der Stelle des vom Grafen Magni zu diesem Zwecke geschenkten Hauses erbaut, nachdem das frühere vom Landeshauptmann Berka gestiftete Kloster bei der Schwedenbelagerung rasirt worden war. Seine Gänge und Gewölbe (welche auf Leichname denselben austrocknenden und conservirenden Einfluß haben, wie verschiedene andere aus diesem Grunde berühmte Grabgewölbe) sind daher nicht katakombenartig, sondern in dem gedrückten, gepreßten Style der Renaissancezeit gebaut, so daß man darin eben zur Noth aufrecht stehen kann.

Der Frater gab mir jetzt seine triefende Wachskerze in die Hand, wünschte mir eine gute Unterhaltung und verschwand durch die schwerfällige Thür, die er lärmend zuschlug und mit dem kreischenden Schlüssel verschloß. Ich war eingeschlossen. Ich hörte, wie sich seine schlürfenden Tritte durch die Gänge und über die Stiegen entfernten … immer schwächer und schwächer … zuletzt war Alles still. Ich war allein mit den Todten. Ich stieg die wenigen Stufen hinab und hob das Licht über meinen Kopf empor, um eine kleine Uebersicht zu bekommen – aber es war vergebens. Die dunstige Flamme erhellte nur einen Umkreis von drei bis vier Schritten, alles Andere war in dichte Finsterniß gehüllt. Ich watete in tiefem Moder und stieß schon beim dritten Schritte an einen hohltönenden, leicht verrückbaren Körper. Es war ein ausgetrockneter Leichnam. Zehn bis zwölf Leichname, querüber auf die nackte Erde gelegt, nahmen den ganzen Fußboden dieses ersten Gewölbes ein. Man konnte kaum an ihnen vorbeigehen, man mußte über sie hinwegsteigen. Die Körper waren sämmtlich lang ausgestreckt; die Haut grau und wie Leder anzufühlen. Die Züge der Gesichter waren deutlich erhalten. Sogar die Angendeckel waren gut erkennbar und die mit einer schwarzen Masse angefüllten, halb geöffneten Augenhöhlen machten den Eindruck eines sehenden Auges. Die Kleider waren sämmtlich in Staub zerfallen und nur hie und da klebte ein farbloser Fetzen an den eingetrockneten Gliedern. Die Arme waren bei Vielen krampfhaft verdreht, die Hände geballt oder ineinander verschlungen. Hier lag Einer, dessen Augen weit aufgerissen waren; man konnte beinahe, so seltsam es klingt, die schwarze Pupille in den schwarzen Augenhöhlen erkennen. Der Mund war übermäßig weit aufgerissen – der Mann mußte mitten in einem Schrei gestorben sein. Das Gesicht wird mir unvergeßlich bleiben. Man hörte beim Anblick desselben gleichsam den unterbrochenen Schrei durch die Todtenstille gellen. Man hörte ihn, sage ich, denn die weit geöffneten Augen, die gespannten, krampfhaft verzerrten Züge, der aufgerissene Mund zeigten unabweislich, daß diese Leiche schrie – nur der Laut fehlte, der mit dem letzten Lebenszucken in dieser hochgeschwellten Brust gewissermaßen eingefroren war. Mir kam unwillkürlich der närrische Dornröschen-Gedanke, der Mönch da müsse beim Tone der Gerichtsposaune mit diesem verspäteten Schrei erwachen.

Ich stieg über die Leichname, so gut es ging. Hie und da war ein Arm oder ein Bein abgetreten, welches mir unter den Füßen krachte, als wäre ich auf zusammengerolltes, sprödes Leder getreten. Da in der Ecke lag ein Haufen von zerfallenen Leichen: einzelne Arme, einzelne Schenkel, einzelne Köpfe, einzelne Hände, einzelne Füße. Ich wollte mich eben auf diesem improvisirten Sitze niederlassen, als ich einen morschen Sargdeckel erblickte, dessen mürbes Holz mich noch zur Noth tragen konnte. Nachdem ich die verschiedenen Körper flüchtig skizzirt hatte, trat ich in das noch tiefer liegende zweite Gewölbe. Hier lagen Frauenleichen in Holzsärgen. Einer der kleinen zartgeformten Köpfe trug noch einen Kranz von modrigen Papierblumen. An den Beinen einer Gräfin D… klebten lange Stücke weißen zerfaserten Seidenstoffs. Die kleinen zierlichen Lederschuhe dieser Leiche waren zersprungen und von den Füßen gefallen. Auch die hohen Holzstöckel derselben ragten noch aus dem Moder des Sarges hervor. Jene halbzerfallene Dame hielt einen Rosenkranz zwischen den Fingern, der seltsamer Weise ebenso farblos und so zu sagen von derselben Masse geworden war, wie die Finger selbst. Ich durchwanderte das Gewölbe und trat in das nächstfolgende. Hier lag, wie ich wußte, der Leichnam des Pandurenführers Trenck.

Schon einmal war ich mit lustigen säbelklirrenden Officieren hier unten gewesen; wir hatten gelacht und derbe Witze gerissen, waren über die Todten gestrauchelt, hatten gelangweilt umhergestiert und waren gähnend wieder fortgegangen, ohne daß wir einen Eindruck oder eine Erinnerung mitgenommen hätten. Wie anders jetzt, wo ich hier allein eingeschlossen war, wo nichts, nicht das Summen einer Fliege, nicht das Säuseln eines Lüftchens, nicht einmal mein eigener, im Moder erstickter Schritt die tiefe Stille unterbrach! Da in der Mitte stand der riesige Sarg. Ich steckte das Licht zwischen die festgeschlossenen Finger eines wohlerhaltenen Mönches und hob den schweren Deckel des Sarges, der polternd herabfiel und eine Wolke von Moder aufwirbelte. Ich setzte mich auf den schmalen Rand und mußte mich mit den Händen auf den Leichnam stützen. Der Leib fühlt sich an wie hohl; die lederartige Haut läßt sich zusammendrücken und pressen, als ob sie mit Luft gefüllt wäre. Sie hat so zu sagen gar keine Farbe, blos die unbeschreibliche nüancelose Moderfarbe, die durch keinen Pinsel wiederzugeben ist. Die Füße sind nach rückwärts gedreht, ebenso sind die Hände krampfhaft gekrümmt. Die Haut ist faltig eingesunken.

„Gedenke, daß Du Staub bist!“ Hunderttausend Variationen sind über dies Thema bereits vorhanden. In jedem Romane, in jedem Drama, worin eine Gruft vorkommt, werden über die Vergänglichkeit des Irdischen Monologe und Betrachtungen vom Stapel gelassen, und ich habe nicht die Absicht, zu einem so verbrauchten Thema mein verspätetes Scherflein beizutragen. Ich weiß selber kaum, welch seltsamer Schauer mich ergriff, welche Gedankenjagd in meinem Kopfe wirbelte, als ich den riesigen Körper emporhob und ihn zwischen meinen schwachen Händen haltend betrachtete, als sei er eine Puppe. Dieser schlotternde hohle Arm hatte widerspenstige Rebellen zermalmt wie ein Spielzeug; diese zerkrümmte Hand hatte mit einer Bewegung Tod und Verderben gespendet und hatte sich in rauchendem Blute gebadet; dieser gebrochene Fuß hatte mit seinem wuchtigen Tritte die heiligen Gefäße der geplünderten Kirchen zertreten; dieser Körper hatte dem Schwerte, dem sprühenden Pulver und dem Meuchelmorde getrotzt, und jetzt konnte eine Bewegung meines kindischen Armes dieses ganze stolze Gerüst zerbrechen wie ein Stück morsches Holz. Wehre Dich, Held! Wehre Dich, trotziger Riese! Zerschmettre mich, den Zwerg, der mit Dir spielt! … Nichts. Staub, Asche und Ohnmacht. Todt ist todt.

[346] Ich legte den Körper sanft zurück. Die Zeichenmappe lag unbeachtet an meiner Seite. Mein Haar berührte den kopflosen Rumpf[1], wie ich mich sinnend über ihn neigte. Die Todtenstille wurde kaum hörbar durch das Pochen meines Herzens unterbrochen und lag über mir und auf mir wie ein einschläferndes Summen. Ich träumte, und die Jahre schwanden und die Zeit flatterte mit schwerem bleiernem Flügel nach rückwärts in dieser stillen Stunde, welche den todten Helden und den für sein Seelenheil betenden Träumer in einer einsamen, von der Außenwelt abgesperrten, regungslosen Gruppe vereinigte.

Franz Freiherr von der Trenck, dem die brennende Sonne Calabriens bei der Geburt schon das Blut erhitzte und dessen glühende Leidenschaften selbst nicht von dem Eise Rußlands abgekühlt und geklärt werden konnten, war körperlich ein Musterbild männlicher Vollendung und moralisch ein Conglomerat aller erdenklichen glänzenden und abscheulichen Eigenschaften. Seine Schönheit und seine Stärke waren bei seinen Lebzeiten sprüchwörtlich. Sein echter Heldenmuth, sein Unternehmungsgeist, seine Geschicklichkeit im Beherrschen und Bezähmen der rohesten Gemüther, seine Geistesgegenwart sowie seine großartigen Sprachkenntnisse machten ihn zu einem unbezahlbaren Feldherrn und Parteigänger, während seine unmenschliche Grausamkeit ihn dem Abscheu seiner Zeitgenossen preisgab. Ein Mord war für diesen in den wilden Kriegszeiten von aller Verantwortung freien Mann ein Zeitvertreib wie jeder andere. Freilich waren die von ihm kurz und gut massacrirten Leute meistens Räuber, Harumbaschas, Rebellen und Spione, und so mancher Mord wird durch die Nothwendigkeit und die Umstände entschuldigt; aber die Mönche, die er braten, die Gefangenen, die er sozusagen stückweise umbringen ließ, setzen ihn den wahnsinnigen Kaisern des Alterthums zur Seite.

Nichts entflammt und entzügelt ein von Natur grausames Gemüth mehr, als Macht und Straflosigkeit. Man kann annehmen, daß Trenck zuletzt selbst jedes Urtheil und jedes Augenmaß für seine Gräuelthaten verlor, da Niemand sich zu widersetzen wagte. Trenck war ein Wüthrich; daß aber die parteiische Nachwelt seine bittere Reue im Kerker, seine Bekehrung und seinen frommen Tod im Mönchsgewande für Komödie, für Heuchelei hält und den sterbenden Helden zu einem Tartüffe stempeln will, ist beinahe ebenso unverzeihlich wie die Grausamkeiten des Panduren. Ein Mann wie Trenck, der sich in’s Verderben stürzte, weil er sich nicht bezwingen, weil er nicht heucheln, weil er mit seinem wilden, offenen Naturell sich nicht verstellen konnte, soll auf seinem Sterbebette mit Reue und Buße eine meisterliche Komödie gespielt haben … aus dem einfachen Grunde, um seine Gefangenwärter zum Besten zu haben! Ein trauriger Grund und ein trauriges Terrain für einen Mann, der Kaisern und Königen mit seiner derben Offenheit getrotzt hatte! Ist es nicht vielmehr ganz natürlich, daß ein wildes, aber unverfälschtes und einfältiges Naturell, sobald seine Kraft und sein Glauben an die eigene Unfehlbarkeit gebrochen sind, in der Religion ein Asyl sucht und zu finden glaubt? Daß er Hand an sich selbst legte, daß er sich durch Gift tödtete, ist wohl anzunehmen – aber das war in den Augen des gebrochenen Kriegers keine Sünde: der Löwe entsetzte sich mehr vor der Gefangenschaft als vor dem Tode – der Heros fürchtete sich mehr vor der Unthätigkeit als vor der Auflösung.

Mit seinem Gotte war er in seinem einfältigen, naiven, kindischen Gewissen bald versöhnt: „Herr, vergieb mir, ich wußte nicht was ich that; strafe die Spitzbuben, die mich in’s Verderben stürzten, und sei meiner armen Seele gnädig!“ Und der liebe Gott – nicht der Gott der Pfaffen oder der Juden oder der Türken oder der Feueranbeter oder sonst welcher Religionsgenossenschaft, sondern unser Aller lieber Vater im Himmel, der seine Kinder nicht nach menschlichen Satzungen und Geboten, sondern nach ihrem armen kurzsichtigen Herzen und nach ihrer schwachen, der Zeit und den Umständen sklavisch unterworfenen Natur richtet, hat ihn gewiß erhört. In einem schmucklosen Sarge liegt die ruhige Hülle eines irrenden Mannes. Das Herz ist ausgebrannt, der Körper ist zu einem Lederfetzen eingetrocknet. Die sündenbefleckte Maschine hat Ruhe, und die arme irrende Seele brennt hoffentlich in keinem päpstlichen Feuerpfuhle, sondern ist bei dem gütigen Herrn, welcher die Vergebung und das Leben ist.

E. V.




Der Lustgarten im Hofe.

Nur Wenige sind in großen Städten so glücklich, einen Garten am Hause oder in der Vorstadt zu besitzen, wo sie die frische Luft genießen, sich der Blumen und der Natur erfreuen können. Die Reichen entfliehen im Sommer der Stadtatmosphäre und eilen in Bäder und frische Waldgegenden; aber die minder Bemittelten, vor Allem die durch Geschäfte oder ein Amt Gefesselten sind fest an die heimathliche Scholle gebunden. Und doch verlangen auch sie aus den vier Wänden, so oft der Beruf es erlaubt. Die Einen besuchen die städtische Promenade (wenn eine vorhanden und nahe genug ist), die Andern öffentliche Gärten; allein Vielen will weder das Eine, noch das Andere so recht behagen.

Fast noch mehr fallen die Kinder in’s Gewicht. Sie haben keinen Platz, wo sie in freier Luft spielen können, weil man nicht Lust hat, sie Gassenkinder werden zu lassen. Dennoch aber ist der reichlichste Aufenthalt in freier Luft für Kinder die Grundlage körperlicher und geistiger Gesundheit.[2] Was ich bisher sagte, werden Viele einsehen, aber keine Möglichkeit der Abhülfe erkennen; es soll daher die Aufgabe der folgenden Zeilen sein, darzulegen, wie Höfe und Gebäude zu Gärtchen eingerichtet werden können. Sehr viele Hausbesitzer haben hierzu Gelegenheit. Man wird sich erinnern, in einer oder der andern Stadt an Kaffeehäusern und bessern Bierwirthschaften nette Gartenhöfe gesehen zu haben, welche den angenehmsten Eindruck machten, so daß man darin mit Behagen einige Nachmittags- oder Abendstunden zubringen mag. Sie sind in der Regel nichts Anderes, als ein ärmlicher Kiesplatz von Laubengängen umgeben, welche zugleich die Nachbargebäude und die Besucher fremden Blicken verbergen. Man hat also mit den einfachsten Mitteln einen für Viele höchst angenehmen Aufenthalt geschaffen. –

Ein anderes weiteres Beispiel sind die Gärtchen von Pompeji, deren in neuerer Zeit eine große Anzahl ausgegraben worden sind und deren Einrichtung bei einigen noch vollständig zu erkennen ist. Das volkreiche Pompeji hatte wenig Raum, aber ein Gartenhof (Peristyl) durfte nicht fehlen. Solche Anlagen muß man zum Muster nehmen. Der Verfasser hat schon manchen früher von den Bewohnern gemiedenen, häßlichen Hof in den zierlichsten Garten umgewandelt, den man in der schönen Jahreszeit förmlich als Sommerwohnung benutzt. Dazu gehört weder besondere Kunst, noch großer Aufwand, sondern nur die Fähigkeit, aus der Localität den größtmöglichen Vortheil zu ziehen. Für’s Erste darf der Hof nicht zu lang und schmal und nicht allseitig von zu hohen Gebäuden umgeben sein, er muß wenigstens einen Sonnenstrahl erhaschen können, wenn auch die Sonne fast nie den Boden erreicht. Dies gehört weniger zum Gedeihen der Pflanzen, als zum Wohlbefinden der Besucher. Ganz enge, düstere, von vier Stock hohen Gebäuden umgebene Höfe, wie man sie noch so oft in alten Vierteln großer Städte findet, sind völlig ungeeignet zu solchen Gartenanlagen. Vor Allem muß man sämmtliche Wände mit Schlingpflanzen bekleiden, wozu sich besonders wilder Wein, Aristolochia und die amerikanischen wilden Reben empfehlen; an warmen Südmauern kann man auch edle Reben, an niedrigen Mauern muß man eine Menge Schlingpflanzen anbringen. Sind die umgebenden Gebäude zu hoch, um sie zu begrünen, so stelle man ringsum einen nach innen offenen Laubengang her, welcher den Blick von dem Hofe abhält. Zuweilen wird der Hof von Nachbargebäuden begrenzt, welche die Schlingpflanzen nicht dulden oder von denen Fenster in den Hof gehen. In diesem Falle errichtet man ein freistehendes Geländer für Schlingpflanzen so weit von der Nachbarwand ab, daß allenfalls eine Baureparatur dahinter vorgenommen werden kann.

[347] Selbst wenn ein Theil des Hofes zu gewerblichen Zwecken oder zum Einfahren von Wagen benutzt werden muß, kann häufig noch ein Stückchen als Gärtchen abfallen; und wenn es nur zwei Quadratruthen wären, so läßt sich da noch ein hübscher Platz daraus machen. Sollte ein ganz zu Gartenzwecken verfügbarer Hof unverhältnißmäßig lang sein, so muß er auf eine sichtbare Weise getrennt werden, sonst wird die Anlage unschön; man müßte denn durch Pflanzungen eine Perspektive herstellen können. Diese Trennung bewirkt man am einfachsten durch ein mit mehreren Logen durchbrochenes Geländer, durch welches man zwar die andere Abtheiluug sieht, aber nicht ganz übersieht, ein Kunststück, welches, beiläufig gesagt, in jedem regelmäßigen Garten von solcher Form gute Dienste thut. Ist der Hof groß, so schadet auch eine unregelmäßige Form nicht, indem man dann Baumanpflanzungen zur Verdeckung anlegen kann. Dieses sollte überhaupt zur Beseitigung der Einförmigkeit (nämlich überall blos Schlingpflanzen) in großen Höfen an fensterlosen Wänden immer geschehen. In Pompeji war ein solches Verdecken der Wände durch gute Pflanzen ebenfalls gebräuchlich, und man hat sogar gemauerte erhöhte Erdbeete, gleichsam Steintröge, zur Aufnahme von Gewächsen gefunden, wo der vulcanische Boden kein tieferes Pflanzen gestattete. Diese Gewächse müssen natürlich dicht und schmal von Wuchs sein, damit sie gut decken, sich nicht stark ausbreiten und sich allenfalls beschneiden lassen.

Die Einrichtung eines solchen Hofgärtchens kann natürlich nur einfach, muß sogar einfach sein. In der Hauptsache wird der ganze Platz als ein längliches Viereck von Rasen mit einzelnen Gebüschen behandelt, um welches sich gerade Wege ziehen. Diese können, wenn der Raum nicht zu eng ist, unter nach innen ganz offenen Laubengängen hinführen; letztere sind jedoch wegzulassen, wenn die Höfe nicht wenigstens vierzig Fuß breit sind, weil sie sonst zu dunkel machen. In diesem Falle genügt auch ein Laubengang an der sonnigsten Seite. Einen der Laubengänge sollte man oben bedecken, damit man bei Regen im Trockenen gehen kann. Ist der Platz groß und besonders lang, so wird ein Querweg, nach Befinden ein zweiter angebracht. Die Hauptsache ist, daß die grünen Plätze in der Mitte möglichst groß werden. Ein offenes Gartenhäuschen oder ein bedeckter Sitzplatz ist fast unentbehrlich, wenn man wirklichen Genuß vom Garten haben will. Kann dasselbe eine hübsche Ansicht bilden, wie z. B. ein von Säulen getragenes Dach, so vermehrt es den Reiz des Gartens; jedoch vermeide man jede auffallende, prunkende Architektur, wenn nicht die Mauer, vor welcher es angebracht ist, vollständig mit Grün verdeckt werden kann.

Oft kann man aus einem Raume in einem anstoßenden Gebäude einen Gartenpavillon machen, indem man die vordere Wand herausnimmt und durch eine Glaswand ersetzt. Kann ein Springbrunnen angebracht werden – was immer in der Mitte zu bewirken ist – so erhöht dieser den Reiz der Anlagen wesentlich. Die Wege müssen so angelegt werden, daß man sie jederzeit trocken begehen kann. Ich würde unter allen Umständen zur Anlage von Asphalt- oder Cementwegen rathen, welche immer trocken sind und deren Instandhaltung keine Arbeit verursacht. Was die Anpflanzungen betrifft, so sind diese durch die Oertlichkeit sehr bedingt. Große Bäume müssen in unserm deutschen Klima ganz vermieden werden, wenn nicht der Hof sehr groß und von niedrigen Gebäuden umgeben ist. Die Nachahmung der römischen Platanenhöfe ist daher nur in besonders heißen, sonnigen Lagen zulässig. Große Bäume machen in eingeschlossenen Höfen den Boden feucht, die Luft dumpfig und verhindern das Aufkommen kleinerer Pflanzen. Schatten geben die Häuser und Laubengänge genug. Ist der Raum nicht beengt, oder können gewisse Wände aus irgend einem Grunde nicht begrünt werden, so werden sie durch eine schmale Pflanzung verdeckt. Auf dem Rasenplatze werden besonders schöne Gehölze regelmäßig angepflanzt, jedoch nicht zu viele, denn die ganze Anlage muß offen und leicht gehalten werden, damit düstere Eindrücke, die sich bei mangelhaftem Licht so leicht bilden, vermieden werden. Die verwendeten Holzarten sollten vorzugsweise immergrüne sein, und es gestattet die geschützte Lage die Anpflanzung mancher, welche in freiern Gärten bedeckt werden müssen, z. B. Kirschlorbeer, Alpenrosen, Chinesische Cypressen, Taxus, des baumartigen Buchsbaums, der Cypresse von Californien (Cupressus Lawsoniana) und von Notkasund (Thujopsis), der verschiedenen Wachholder und Lebensbäume, der kleineren Nadelholzbäume und anderer immergrüner Gehölze; sie müssen die Hauptmasse der Pflanzungen ausmachen. Man pflanze jedoch nicht zu viele Lebensbäume, weil diese im Winter ein häßliches braunes Grün haben.

Rasen wird in vielen Höfen wegen Mangel an Licht nicht gedeihen, müßte wenigstens jedes Jahr durch Raigras angesäet werden. Dafür bilde man immergrüne Plätze aus Sedum, Epheu und Immergrün. Für Blumen ist der Hof wegen fehlender Sonne ungünstig, doch giebt es dennoch viele Blumen, welche auch im Schatten gedeihen und es finden sich auch Plätze, wohin die Sonne im Sommer die meiste Zeit über scheint. Hat man viele Topfgewächse, so werden sie sämmtlich im Garten aufgestellt. Große Töpfe oder Kübel sollten in den Boden gesenkt werden, damit man die Gefäße nicht sieht.

Wer den Hof nicht missen kann, möge ihn wenigstens verzieren, indem er einen Baum pflanzt, um darunter zu sitzen, einen trockenen ungepflasterten Spielplatz für Kinder herstellt, häßliche Ecken, Schmutzwinkel und Düngerstätten mit Gebüsch oder Schlingpflanzen verdeckt. So hat man mindestens einen angenehmen Anblick, wenn man über den Hof geht oder von oben auf ihn hinab blickt. Der Hof ist in vielen Häusern ein widerlicher Schmutzplatz, wo nur üble Gerüche zu Hause sind; aber man versuche es nur mit der Verschönerung, so wird es in vielen Fällen gelingen, und die Gesundheit und das Behagen der Bewohner können dabei nur gewinnen.

Wer aber reich ist, gehe noch weiter und nehme das römische Viridarium und Peristyl zum Muster. Ich will versuchen mit wenigen Worten ein Bild davon zu geben. Das römische Haus war bekanntlich ein längliches Viereck, welches ein Hof von allen oder wenigstens von drei Seiten umgab und nach welchem sich fast alle Fenster und Thüren öffneten. War das Gebäude groß, so wurde dieser Hof in zwei oder drei Abtheilungen getrennt, was entweder durch einen schmalen mit Säulen durchbrochenen Querbau oder eine Säulenhalle bewirkt wurde, die man durch Vorhänge verschließen konnte. Das Atrium (der vorderste Raum) war in großen Häusern oben ebenfalls offen, hatte in der Mitte ein Wasserbecken, welches sich von den Dächern füllte, zuweilen aber auch einen Springbrunnen. Die zweite Abtheilung war das Peristyl oder der eigentliche Garten. Hatte der Hof drei Abtheilungen, so waren sie verschieden, jedoch immer gartenmäßig geschmückt. Das Bassin in der Mitte, zugleich Fischbehälter, durfte nie fehlen. Rings um diese Räume zogen sich Säulengänge, zuweilen zwei übereinander, z. B. in Pompeji im sogenannten „Hause des Faunus“ („Casa del Fauno,“ auch „Casa di Gotha“ genannt), welche jedoch oft an den hintern Seiten fehlten. Diese, sowie die Mauern wurden mit lebhaften Farben bemalt und stellten oft künstliche Landschaften oder eine scheinbare Fortsetzung des Gartens vor. Der Säulengang war zuweilen mit niedrigem vergoldeten Gitterwerk vom Gartenhofe getrennt, oder es waren an den Seiten prächtige Vasen und Töpfe mit Pflanzen aufgestellt. Die Mitte des Platzes wurde fast immer von einen Bassin, häufig Springbrunnen, eingenommen. Lauben und bedeckte Sitzplätze, besonders mit Lagern zum Speisen eingerichtet, fehlten niemals. Blumen scheinen wenig vorhanden gewesen zu sein und zur Zeit des größten Gartenluxus unter den Kaisern waren wohl die meisten Bäume und Gebüsche künstlich geschnitten. Doch fand man zuweilen eine dritte Hofabtheilung als eine kleine Baumwildniß behandelt, welche reich mit Geflügel, besonders mit Singvogeln bevölkert war. Die Platane war der beliebteste Baum und fast in jedem Gartenhofe zu finden. Die Wege des Gartens bestanden, wie wir noch in Pompeji sehen, aus einer Art Steinguß. Wer sich einen Begriff von der Schönheit römischer Gartenhöfe machen will, besuche Potsdam, wo wir in Klein-Glienicke, Charlottenhof und an der Friedenskirche gelungene Nachahmungen sehen.

Hermann Jäger.



[348]
Am Sarge eines wahren Republikaners.
Amerikanische Original-Correspondenz der Gartenlaube.
Von Adolph Douai.
New York, Ende April 1865.

Der Tod Abraham Lincoln’s durch die Hand eines Meuchelmörders infolge einer Verschwörung, welche zugleich gegen das Leben aller seiner Cabinetshäupter und des Obergenerals Grant gerichtet war, ist Ihren Lesern aus den Tagesblättern bekannt. Es war ein betäubender Schlag für das ganze Volk. Seit diesem Trauertage des 15. April leben wir in einer so all­gemeinen und tiefgehenden Aufregung; daß die Behauptung gerecht­fertigt ist, die Nation habe eine große Schule durchlaufen, eine unvergeßliche Lehre erhalten, und daß man alle die wichtigen Fol­gen davon noch kaum ermessen kann.

Abraham Lincoln ist als ein Blutzeuge seiner und unserer Sache gestorben. Die dankbare Nachwelt wird Alles vergessen, was ihm zu seinen Lebzeiten Uebles nachgesagt worden ist, und nur sein fleckenloser Ruf, sein gewissenhafter, großherziger Cha­rakter und seine weltgeschichtlichen Handlungen werden in der all­gemeinen Erinnerung fortleben. Wir selbst haben zu denen ge­hört, welche ihn früher oft hart tadelten; allein schon vor seinem Tode und noch mehr seitdem sind Beweisstücke an das Licht ge­kommen; welche ihn glänzender rechtfertigen, als wir jemals für möglich gehalten hätten. Es steht heute schon so ziemlich fest, daß die Welt in ihm einen ihrer größten und besten Männer ver­loren hat, der nur deswegen eine Zeit lang in Unbeliebtheit selbst bei vielen seiner Gesinnungsgenossen fallen konnte, weil er mit seltener Bescheidenheit und Zurückhaltung Manches verhüllte, was zu seinen Gunsten sprach, solange diese Schweigsamkeit durch die gefährliche Lage des Landes geboten schien. So sehr ihm auch alle glänzenden Eigenschaften der gewöhnlichen Sorte „großer Männer“ fehlten, durch welche das Urtheil der Menge so leicht sich bestechen läßt, so gewiß ersetzte er dieselben durch andere, welche ihn hervorragend zu den überaus schweren Pflichten seines Amtes befähigten, besonders durch eine seltene Besonnenheit, eine uner­schütterliche Festigkeit, eine fast völlige Unabhängigkeit der Ent­schließungen, eine genaue Kenntniß der Eigenthümlichkeiten seines Volkes, eine stete Bereitwilligkeit, Alles zu prüfen und das Beste zu behalten, eine unermüdliche Arbeitskraft, eine Reinheit der Sit­ten von fast kindlicher Art, einen gänzlichen Mangel an Hochmuth und Selbstüberhebung bei aller natürlichen Würde in der Vertre­tung eines großen Volkes und einer großen Sache und eine auf­ richtige Achtung vor dem ausgesprochenen Mehrheitswillen. Er war die fleischgewordene Demokratie mit allen ihren Tugenden, aber ohne deren augenfälligste Mängel und Rohheiten. Er war der getreueste Repräsentant des großen amerikanischen Mittelstan­des von angelsächsischer Abstammung mit deiner Gesetzesliebe, sei­ner Abneigung vor Ueberstürzungen bei allem rüstigen Fortschritts­trieb, seinem ruhigen und doch dabei schalkhaften und humoristi­schen Ernste und seiner unbestechlichen Freiheitsliebe. Das erklärt uns seine große Volksbeliebtheit einer- und manche räthselhafte Handlungen seines öffentlichen Lebens andererseits.

Das Vertrauen der unionstreuen Mehrheit des Volkes in ihn, seinen Scharfsinn, seine Tugenden und seine getreue Vertre­tung des amerikanischen Volkswillens war deshalb am Ende sei­ner ersten und beim Beginne seiner zweiten Amtsverwaltung un­begrenzt und ging soweit, daß in der Presse und im Volksmunde der Gedanke sich Bahn brach, man müsse ihm ganz allein ohne Dreinreden des Congresses die Verfügung über alle diejenigen Maßregeln überlassen, welche die sogenannte Reconstruction betref­fen, d. h. die Wiederherstellung der rebellischen Staaten zu ihrer vorigen Stellung innerhalb der Union, die Bestrafung der etwa zu Bestrafenden, die Begnadigung der etwa zu Begnadigenden, die Uebergangszustände, durch welche der unionsfeindliche Geist des Südens in sein Gegentheil gefahrlos umgewandelt werden sollte. Gewiß, ein so großartiger Fall von allgemeinem Vertrauen steht einzig in der Geschichte da, zumal hier, wo er von einem auf seine Selbstbestimmung so eifersüchtigen, freien und einsichtsvollen Volke erwiesen wurde. Vielen unter uns Fremdgebornen wurde es angst und bange bei diesem bedenklichen Vertrauen und bei der fast sicheren Aussicht, daß Präsident Lincoln – ganz gewiß im Sinne der riesigen Volksmehrheit – den unterworfenen Rebellen die großmüthigste Behandlung angedeihen lassen und dadurch dem übermüthigen Junkergeiste des Südens neuen Vorschub leisten werde. Aber ehren nicht diese Versöhnlichkeit und jenes Vertrauen gleich sehr den Präsidenten wie das Volk?

Ein politischer Meuchelmord, an einem solchen Manne be­gangen, und der Versuch desselben, gegen alle seine Verwaltungs­häupter gerichtet, mußten natürlich das Volk tief erschüttern und einen Umschwung in seiner Anschauung hervorrufen. Mit merk­würdigem Einmuth erhob sich das Volk aller Parteien zur lauten Wehklage, zur entrüsteten Verdammung der scheußlichen That und des giftigen Geistes, der sie wie den ganzen Sonderbund hervor­gerufen. Augenblicklich standen, ohne Befehl von oben herab, alle Geschäfte bis auf die unerläßlichsten still, hüllten sich die Bürger in Trauerkleidung und behängten fast ohne Ausnahme durch’s ganze weite Land ihre Wohnungen mit Floren und anderen Ab­zeichen tiefster Trauer. Die Wenigen, welche über den Meuchel­mord zu frohlocken wagten, wurden auf der Stelle niedergeschlagen, oder den Gerichten vorgeführt, wo sie sofort zu längerer Zucht­hausstrafe verurtheilt wurden. Nie, selbst nicht in der unvergeßlichen Zeit nach dem 19. April 1861, war die Nation so einig, so voll des heiligen Unwillens über das große Verbrechen, welches die Sonderbündler an ihr begangen. Daß die Hand, welche nach so langer Schonung endlich die Rebellion niedergeworfen hatte und gleich darauf eine allgemeine Amnestie unterschreiben wollte, welche segnen wollte, die ihr geflucht hatten, daran durch ver­schworne Meuchler gehindert werden sollte – das war der ganzen Nation ein Fingerzeig der Vorsehung, wie wenig so entmenschten Geschöpfen gegenüber Großmuth am Platze sei, welche nur eine Sprache verstehen: die der Peitsche und der unerbittlichen Strenge. „Gerechtigkeit, strenge Gerechtigkeit!“ ist heute der einmüthige Wahl­spruch dieses ganzen Volkes, sie erscheint ihm endlich um so mehr als eine politische und sittliche Nothwendigkeit, je mehr es vorher von Versöhnlichkeit übergesprudelt hatte.

Ich wünschte den Lesern der Gartenlaube, sie hätten Zeugen dieses erhabenen nationalen Aufschwunges im tiefsten Schmerz und in der begeistertsten Einigkeit sein können. Es ist das Größte mit, was man erleben kann, ein ganzes großes, freies Volk in seiner Majestät zu sehen, den Pulsschlag eines freien, nationalen Lebens durch Berührung mit jedem einzelnen Bürger in raschere Bewegung gesetzt zu fühlen und Zehntausende überall, allüberall eine Gesinnung, einen Willen, ein Bewußtsein gemeinsamer Größe und Bestimmung aussprechen zu hören. Ich weiß, solche Begeiste­rung und solche allgemeine tiefe Trauer halten nicht lange an, aber sie belehren außerordentlich Viele und bringen sie auf bessere Wege, die jeder anderen Belehrung unzugänglich waren. Ein solcher Grad des Parteihasses, wie er bis vor Kurzem unter uns herrschte, dürfte nie wieder entbrennen, zumal die Hauptwurzeln des bisherigen Zerwürfnisses durch den Untergang der Sclaverei und des südlichen Junkerthums beseitigt sind.

An Stelle einer Beschreibung der Leichenfeierlichkeiten bei Ein­holung der Ueberreste Abraham Lincoln’s, von der wir hier so­ eben zurückkommen, auf ihrer langen Reise von Washington über Baltimore, Harrisburg, Philadelphia, New-York nach Springfield im Staate Illinois, der ehemaligen Heimath des Verewigten, wo sie beerdigt werden sollen – an Stelle dieser wohl noch nie über­botenen Feierlichkeiten, welche Ihre Leser schon aus den Tages­blättern haben entnehmen können, gestatte ich mir nur einige ein­schlagende Bemerkungen. Eine aufrichtigere, freiwilligere Trauer um einen Dahingeschiedenen in hoher Stellung ist nicht wohl denkbar. Wenn man die Turbulenz hiesiger Volksmassen kennt, so fällt dem Beobachter zunächst die feierliche, ernste Stille dieser Massen bei Abraham Lincoln’s Leiche auf. In den Augen der stärksten Männer sind Thränen zu sehen, den Sängern, welche überall, wo es Gesangvereine giebt, die anlangende Leiche empfangen, stockt die Stimme beim Klagegesang, den Leichenrednern versagt die Rede. Aeußerungen des naivsten und ungeheucheltsten Schmerzes sind allerwärts zu hören, von Keinen aber so rührende

[349]

Abraham Lincoln.

wie von den befreiten Negern, die zahlreich sich in die nördlichen Städte gerettet haben, und von den invaliden Kriegern, welche doch so manches Todesfalles Zeuge gewesen sind. Es ist eine all­gemeine Bemerkung, welche sich Begegnende mit einander austau­schen, daß die empfangenen Eindrücke in ihnen gar nicht aufhören wollen nachzuklingen, um der gewohnten Alltagsruhe Platz zu geben. In solchen Stimmungen sucht und findet das Volksgemüth Erleichterung durch große Entschlüsse, die es für die Zukunft nerven. Die Lehre, welche des großen und guten Lincoln Tod hier einem Jeden gegeben hat, ist: „neue opferwillige Liebe zum Vaterlande und unerbittliches Zusammenhalten gegen alle seine Feinde!“ Wahrlich, keines Gewaltigen Hingang hat je solche Wirkung erregt, und solch eine Leichenfeier mag von jedem Kaiser beneidet werden!

Kein Wunder, daß die Schreckenskunde von diesem Todes­falle an der Börse kein Steigen des Goldpreises zur Folge hatte und daß das neue Nationalanlehen fast doppelt so starke Abnahme als früher findet (vier bis sechs Millionen täglich, meist in Be­trägen von Fünfzig- und Einhundert-Dollar-Appoints).

Hier noch einige Züge des Charakters unseres todten Präsidenten, [350] welche noch wenig bekannt sind. Abraham Lincoln ist so arm gestorben, wie er sein Amt angetreten hatte. Wir wissen, daß er einen ganzen Jahresgehalt von 25,000 Dollars dem Staatsschatze geschenkt hat, wenn nicht mehr. Er entnahm während seiner ganzen Amtsdauer überhaupt nie mehr daraus, als er dringend brauchte, um dem Schatzsecretair die Mittel zu wichtigeren Zahlungen nicht zu schmälern, und verwandte öfters seine geringen Ersparnisse zum Ankaufe von Unions-Schuldscheinen, um ein gutes Beispiel zu geben.

Sein Leben war oft, ja fortwährend bedroht gewesen, seit er Präsident geworden war. Die Verschwörung ist bekannt, welche ihm bei seiner ersten Durchreise durch Baltimore am 1. März 1861 das Leben rauben wollte. Er wußte, daß seitdem im Auf­trage der Jefferson Davis’schen Regierung nicht weniger als vier Mal Anschläge auf sein Leben der Reife nahe gewesen und nur durch ein Zusammentreffen von Umständen vereitelt worden waren. Trotzdem litt er nie, daß umfassende Vorkehrungen zur Sicher­stellung seiner Person getroffen wurden, die ihn vom täglichen Umgange mit allen Schichten des Volkes hätten abschneiden müssen. Wir wissen jetzt aus guter Quelle, daß er noch voriges Jahr auf einer Reise nach Westpoint die Straßen von New-York allein und zu Fuße durchwandelt hat, wo er doch doppelt soviel bittere Feinde als Anhänger zählte. Als er am 3. April d. J. fast ohne Be­gleitung in dem eben gefallenen Richmond einritt und ihn Jemand auf die Gefahr eines Meuchelmordes und die traurigen Folgen desselben für das Land aufmerksam machte, antwortete er nichts als: „In den Händen des Vicepräsidenten (seines Nachfolgers) sind die Geschäfte des Landes vollkommen sicher.“

Der merkwürdigste und am längsten verkannte Zug an ihm war der, daß er, obwohl rasch entschlossen„ wo es rasches Han­deln galt, doch alle wichtigeren Schritte lange und reiflich über­legte. Er pflegte allen denen, welche ihm zu Maßregeln riethen, die er hernachmals ausführte, so viele gegentheilige Gründe zu entwickeln, daß es den Anschein gewann, als sei er ein Gegner dieser Maßregeln. Es geschah dies aber nur, um Alles zur Sprache zu bringen, was sich für und wider die Sache geltend machen ließ. War dies längere Zeit hindurch und Vielen gegen­über geschehen, so faßte er (und in den wichtigsten Fällen) seinen Entschluß, ohne vorher sein Cabinet um Rath zu fragen, weil er die Verantwortlichkeit dafür Niemandem als sich selbst aufbür­den wollte, und so erschienen seine Entschlüsse gewöhnlich uner­wartet und plötzlich. Hierher gehören z. B. alle seine Botschaften in der Emancipationsfrage, welche sein eigenstes Werk sind. Ein­mal gefaßte Beschlüsse machte er nie rückgängig, so wohl hatte er sie vorher überlegt, trotzdem daß er sonst so gutherzig und schwach erschien.

Bei einem so wenig ehrgeizigen Manne mußte es auffallen, daß er selbst seine Wiederwahl im Jahre 1864 betrieb, oder wenigstens seine Beamten für sich in diesem Sinne wirken ließ. Wir waren einer von denen, welche ihm dies zum Vorwurf machten. Das Räthsel ist seitdem gelöst. Bei der genauen Kenntniß des amerikanischen Volkscharakters„ welche er besaß, wußte er, daß unter den unionstreuen Bewerbern um die Präsidentschaft im Jahre 1864 keiner mehr Aussichten hatte als er selbst und daß jede Zersplitterung der unionstreuen Stimmen vermieden werden mußte, sollte die Union gerettet werden, und nur durch Aufstellung des stärksten Candidaten vermieden werden konnte. Die „Unionsligue“, eine geheime Verbindung von mehr als einer Million Unionstreuer, hatte ihn schon im Anfange dieses Jahres zu ihrem Can­didaten ausersehen. Diese Candidatur ausschlagen hieß den Wahl­sieg der Unionstreuen gefährden und die Emancipation in Frage stellen, die Union selbst auf’s Spiel setzen. Der Ausgang hat seine Voraussicht gerechtfertigt. Außerdem hielt er einen Wechsel der Administration während der Dauer des Bürgerkrieges für ge­fährlich und verglich einen solchen mit dem Verfahren jenes Mannes, „der die Pferde wechseln wollte, während er einen mäch­tigen Strom zu überschreiten hatte“. – Das werthvollste Zeugniß, welches wir jetzt besitzen, mißt ihm durchaus keinen persönlichen Ehrgeiz während jener Wahlbewegung bei. Bezeichnend hierfür ist eines von jenen guten Witzworten, durch welche er sich so sehr populär gemacht hat. Bekanntlich war er unerschöpflich im Er­zählen von Anekdoten, welche er bei passenden Gelegenheiten an Stelle einer Antwort vortrug, und die er mit der stehenden Ein­führung begann: „Das erinnert mich an eine Geschichte, welche ich einmal gehört (oder erlebt) habe.“ Als man ihm nun im Sommer des vorigen Jahres viel von seinen günstigen Wahlaus­sichten sprach, meinte er gutmüthig: „Es scheint, die Strömung geht durchaus in derselben Richtung, wie in der Straße von Gibraltar, in welche der atlantische Ocean hineinströmt, obwohl man das Gegentheil erwarten sollte.“

„Wissen Sie nicht, Herr Präsident,“ fiel hier einer der An­wesenden ein, welcher ihm den Glauben beibringen wollte, daß eine große Anzahl Unionstreuer gegen seine Wiederwahl wirkten, „wissen Sie nicht, daß es damit ist, wie mit dem mittelländischen Meere, welches nach neueren Entdeckungen eine starke Unterströ­mung aus der Straße von Gibraltar hinaus besitzt?“

„Ist es so?“ erwiderte Lincoln sehr ruhig, „nun, das erinnert mich allerdings an keine Geschichte, die ich je gehört hätte.“

So war der schlichte Mann, der sich ohne alle glänzende Begabung rein durch eigene Anstrengung und gewissenhafte Pflichterfüllung zu einer der stolzesten Stellen in der Welt hinaufgear­beitet und der in derselben, groß wie keiner seiner Vorgänger in gewissenhafter Pflichterfüllung, das schwer gefährdete Leben der Nation vom Untergange gerettet hat. Ein „selbstgemachter Mann“, wie es die englische Sprache schön bezeichnet, war er der beste sinnbildliche Vertreter einer „selbstgemachten Nation“.

Sein Nachfolger, der bisherige Vicepräsident Andrew Johnson, ist es kaum minder. Geboren 1811 im Staate Nordcarolina in den ärmlichsten Umständen, war er zuerst Schnei­dergesell, lernte erst von seiner Frau, einem trefflichen Weibe, lesen und errang durch eiserne Ausdauer und Willensstärke nach und nach eine politische Stellung nach der andern, bis er Reprä­sentant in der Gesetzgebung von Tennessee (zweimal) wurde, wohin er ausgewandert war, und dann, trotz der bitteren Feindschaft der großen Sclavenhalter-Aristokratie, Gouverneur dieses Staates und Senator im Unionscongresse. Er war von jeher ein Vertreter der ärmeren Weißen des Südens gegenüber dem Sclaven-Junker­thume und hat den Haß desselben reichlich empfunden, die Ge­brechen der Verfassung der südlichen Staaten aus eigener trauriger Erfahrung kennen gelernt. Wie er im Congreß von jeher einer der eifrigsten Verfechter der „Heimstätte-Bill“ und beim Ausbruche der Sonderbündelei deren schärfster Gegner war, so bewährte er sich seit 1862 als Militär-Gouverneur des eroberten Tennessee, das ihm seine Rückkehr zur Unionsgesinnung verdankt. Man sagte ihm nur die Schwäche nach, daß er am 4. März 1865 bei seiner Einführung als Vicepräsident im Senat des Congresses im trunkenen Zustande gewesen sein sollte. Diejenigen aber, welche ihn genauer zu kennen behaupten, erklären jene Thatsache dahin, daß er, als Mitglied eines Mäßigkeitsvereins, seiner Vereinspflicht stets getreu, an jenem Morgen einen betäubenden Trank erhalten – man spricht sogar in parteifeindlicher Absicht. Die Nation kommt ihm mit einem ehrenden Vertrauen und einer einmüthigen Unterstützung entgegen und erwartet von ihm Strenge gegen die verantwortlichen Häupter des Sonderbundes, Milde gegen die verführten und unterdrückt gewesenen südlichen Massen. Und wenn irgend Jemand der ge­eignete Mann ist, um die richtigen Mittel zur schnellen Beruhigung des Südens zu finden, so ist es der Südländer und arme Weiße Johnson, welcher aus eigener Erfahrung weiß, daß „Aristokraten nichts lernen und nichts vergessen“ und daß unerbittliche Strenge gegen sie Barmherzigkeit gegen die von ihnen so lange unterdrückten Schwarzen und ärmeren Weißen des Südens und eine Wohlthat für das ganze Land ist.

Auch so noch freilich wird die gerechte Strenge eines demo­kratischen Volkes weit zurückbleiben hinter jener, mit welcher in anderen Ländern Hochverrath an der Monarchie heimgesucht zu werden pflegt. Die durchgreifendste Maßregel wird höchstens darin bestehen, daß allen thätigen Rebellen das Stimmrecht und die Wählbarkeit entzogen wird, während nur den eigentlichen Häuptern Vermögens-Einziehung droht, der Strang aber ganz Wenigen – die ihn verdient haben.



[351]
Der Erbstreit.
Von Levin Schücking.
(Schluß.)

Markholm fühlte sich durch Maxens Worte sehr betroffen. Aber er schwieg.

„Es war ja ganz natürlich, daß sie sich darein nicht finden konnte,“ fuhr Max eifrig fort, „Du hättest das, was an diesem Morgen geschehen, erst in den Hintergrund treten, erst aus ihrem Gedächtniß verlöschen lassen müssen; wie konnte sie Dir denn glauben, Du liebtest sie, wenn …“

„Wahrhaftig, Du magst Recht haben,“ lachte Markholm bitter auf, „man kann ja den Frauen Alles glauben machen, nur die Wahrheit nicht.“

„Ach,“ sagte Max, der über das tiefe Leid seines Onkels auf das Schmerzlichste betroffen war und deshalb seinem Unmuth über das, was ihm dabei selbstverschuldet schien, nicht gebieten konnte, „Onkel, Du kannst gar nicht über Mädchen mitreden, das zeigst Du ja dadurch, wie Du’s so grenzenlos verkehrt bei ihnen anfängst! Romane kannst Du schreiben, wundervoll, Liebesintriguen spinnen, so ideal und fein und schön wie möglich, aber wenn Du Dich in die Praxis einlassen willst, so … nun, Du leidest genug darunter, und ich glaube in der That, viel zu viel; wenn Du den weiblichen Charakter kenntest, Du würdest gewiß nicht allen Muth fahren lassen! Ich weiß nicht, was zwischen Euch vorgefallen ist, aber ich glaube nicht, daß ein Mann, wie Du, gleich zu verzweifeln braucht, seine erste Werbung werde wie auch immer aufgenommen. Was hat sie denn gesagt? Zur Thür hat sie Dich hinausgewiesen? Ah bah! Das ist gerade ein gutes Zeichen!“

„Das ein gutes Zeichen?“ sagte Markholm, die Schulter zuckend. „Die Behauptung ist neu!“

„Nun ja, das beweist Leidenschaft, heftige Erregung … Sturm, wenn Du nur erst Sturm erregt hast, was willst Du mehr? Vielleicht hat es sie innerlich gekränkt, empört, daß Du durch Deine Werbung so rasch nach der andern sie um den Glauben an Deine Aufrichtigkeit gebracht hast; vielleicht hat sie Dir gezürnt, weil Du sie zweifeln gemacht an Dir, weil der Zweifel an Dir ihr etwas Schmerzliches ist …“

„Ach, thörichtes Zeug; spare Deinen Athem. Es bleibt mir nichts übrig, als diese Gegend zu verlassen und in der Welt Betäubung zu suchen. Ich bin zu tief getroffen!“

Max fand seinen Onkel für seine Trostgründe unzugänglich. Er ging, ihm Wein zu holen, und beredete ihn mit Mühe, etwas davon zu seiner Stärkung zu sich zu nehmen.

Markholm erhob sich dann.

„Laß uns zur Ruhe gehen, Max,“ sagte er. „Ich werde mich am besten fassen, wenn ich allein bin. Unterdeß beruhige Dich. Ich werde vielleicht bald die alte Resignation wiederfinden, den Sinn und die Stimmung, in der ich früher oft mit Platen mir sagte:

‚Mir, der ich bin ein wandernder Rhapsode,
Genügt ein Freund, ein Becher Weins im Schatten,
Und ein berühmter Name nach dem Tode!‘

Vielleicht! Gute Nacht!“

Markholm machte in der That am folgenden Tage hastige Zurüstungen zur Abreise. Maxens Ferien nahten sich dem Ende und er wollte ihn in die Stadt begleiten. Er war bleich und schweigsam, er sah aus wie tief erschöpft. Max freute sich, daß die körperliche Thätigkeit, welche jene Zurüstungen erforderten, ihm wider Willen eine Art Zerstreuung gewährte. Im Uebrigen sah Max, daß er ihm keine Stütze sein könne, und so ging er gleich nach Tische zum Pfarrhaus hinüber; er wollte die Sache mit seiner Elisabeth besprechen, er wollte sehen, was sich thun lasse, wenn seine Freundin mit Elisabeth Morgenfeld spreche und ihr den entsetzlichen Gemüthszustand Markholm’s in möglichst rührenden Worten schildere.

Kurze Zeit, nachdem Max gegangen, kam der Gärtnerbursche, den Markholm am vorigen Tage gesehen; er brachte einen Brief und ging gleich wieder; der Antwort bedürfe es nicht, sagte er.

Markholm riß mit zitternden Händen den Brief auf; es war eine klare, große und männlich feste Handschrift, in der er die Worte las:

„Ich habe gestern erkannt, wie sehr Ihnen der Besitz Ihrer Familiengüter am Herzen liegt, und dies Verlangen ist so natürlich, so wohl berechtigt, daß ich Ihnen nicht den leisesten Vorwurf machen darf. Und doch soll Eugen Markholm keinen ähnlichen Schritt wieder um dieser Güter willen machen! Ich habe einen festen Entschluß gefaßt. Nach der Verzichtleistung meines Bruders fallen mir einst diese Güter zu. Sobald dieser Augenblick eintritt, werde ich dieselben, ich verspreche Ihnen das auf Ehre und Gewissen, sofort an Sie übergehen lassen und Ihnen unverkürzt übergeben. Ich habe eine Aspectanz auf eine Stiftstelle und meinen Theil am Allodialvermögen meiner Eltern. Dies genügt mir vollkommen, ist mehr, als ich bedarf, viel mehr. Sie können mit dem besten Gewissen diese Ueberlassung eines Besitzes annehmen, welcher Ihnen von Rechtswegen, ich bin davon überzeugt, gehört, und ich wünsche, daß Sie es thun, ohne Dank.

Elisabeth von Morgenfeld.“     

Markholm las diese Zeilen, einmal, zweimal, dann ballte er das Papier krampfhaft zusammen und schleuderte es mit einem Ausruf des Zornes in die Ecke.

„Noch eine Beleidigung obendrein!“ sagte er dann und warf sich wie niedergeschmettert in seinen Stuhl, um lange, das Haupt auf die Hand gestützt, auf seinen Schreibtisch niederzustarren. Endlich erhob er das Haupt, stand langsam auf und holte das zerknitterte Papier aus der Ecke zurück, worin es lag. Er glättete es und legte es vor sich auf den Tisch.

„Es ist bei alledem seltsam,“ sagte er sich. „Sie ist gereizt, sonst würde sie nicht so beleidigend sein – tief gereizt!“

Markholm dachte an das, was gestern Abend Max zu ihm gesprochen.

„Und dennoch,“ fuhr er in seinem Selbstgespräch fort, „schenkt sie mir die Güter, sie giebt mir so ohne Weiteres zwei Rittergüter, ohne einen Dank zu verlangen! Als ob ich sie nehmen würde, ihre Rittergüter!“ Er ergriff die Feder und warf hastig die folgende Antwort nieder:

„Ich war tief, tief verletzt, ich war grenzenlos elend. Ihr Brief giebt mir einen Trost. Er zeigt mir, daß wir uns nicht verstehen, gründlich nicht verstehen. Ich danke Ihnen. Die Uebertragung Ihrer Güter werde ich natürlich nicht annehmen. Ich würde sie nicht annehmen, auch wenn sie nicht in so beleidigender Weise geboten würde. Auch dann nicht; es konnte keine Rede davon sein!

Eugen von Markholm.“     

Er sandte dieses Billet sofort an Elisabeth ab. Nach einer Weile machte er sich Vorwürfe darüber.

„Du hättest nicht so brüsk sein sollen,“ sagte er sich … „wenn Max Recht hätte … diese seltsame Gereiztheit … wenn sie meine Hand ausschlägt, wozu dann noch beleidigen! Aber eine männliche Antwort war dennoch die beste!“

Markholm ging in’s Freie. Er warf seine Blicke auf das hübsche kleine Haus zwischen seinen Obstbaumwipfeln, auf diese ganze einsam gelegene freundliche Einsiedelei, die so ganz wie für das Traumleben eines vereinzelten Mannes, eines Dichters geschaffen, der die Welt ihn fliehen sieht und die Hand nicht heben mag, um sie sich festzuhalten.

„Es hätte ein Hafen für mich sein können,“ sagte er sich, „aber das Schicksal will es nicht. Wer trägt die Schuld? Niemand, als ich selber! Mit meinem thörichten Herzen, das ich eingeschlummert wähnte und das jetzt der Sturm wieder ergriffen hat, der es nicht rasten läßt, der es wieder hinauspeitscht in Wirbel und Betäubung! Wer mir dies Alles noch vor wenigen Tagen gesagt hätte … ich hätte ihn verlacht! O, welch eine Welt ist in uns, die wir selber nicht kennen! Und wie seltsam, daß es Menschen giebt, gewiß eine Fülle von Menschen, welche niemals zur Erkenntniß dessen kommen, was in ihnen ist, bei denen es durch ihr ganzes Leben schlummern bleibt! Wozu ist es dann da? Soll es in andern späteren Existenzen aufblühen, oder bleibt es ein todter Werth, den die Natur verschwendet hat? Wie sie die Seelen verschwendet hat, die, für einander geschaffen, sich niemals finden und deshalb ungeweckt und unbefruchtet und ewig unfruchtbar bleiben! Seltsame Räthsel der Existenz!“

[352] Er wanderte lange draußen umher … er vermied die Wege, die er früher betreten, durch die Wiesen, durch sein Gehölz … er schritt über die Ackerfluren an den Rainen entlang; erst die Dämmerung mahnte ihn an die Heimkehr; so kam er an dem Pfarrhof vorüber, an der hinteren Hecke, welche den Garten des Pfarrers von der Feldflur trennte. Markholm sah zwei Gestalten in den dunkelnden Schatten der Obstbäume auf- und abgehen, die eine war Max; das Mädchen neben ihm mußte Elisabeth Kramer sein … sie war freilich keine Mythe, dies junge, schlanke Wesen, das neben Max elastisch, als wenn sie den Boden unter ihren Füßen nicht fühle, einherschritt, das Haupt mit den blonden Ringellocken zu ihm emporgewandt.

Beide waren viel zu sehr in das, was sie sich zu sagen hatten, versunken, um etwas von dem melancholischen gebeugten Manne wahrzunehmen, der so nahe bei ihnen, nur durch eine Hecke getrennt, vorüberschritt.

„In Anderer Glück sein eigenes finden!“ sagte sich Markholm einen Augenblick stehen bleibend, um sie zu betrachten, „wer es könnte! Giebt es so selbstverleugnende Naturen? Wenn man selber das Glück des Andern geschaffen hat … ja, dann vielleicht! Aber wenn es nur der ewige Spiegel des Glücks ist, das man selber nicht fand … ist es dann möglich?“

Er kam in seiner Wohnung an … die Zimmer, in denen tiefes Abenddunkel herrschte, waren öde und leer und kalt. Er klingelte und die Dienerin kam, das Kaminfeuer zu entzünden; währenddeß trat er in sein neben dem Salon liegendes Zimmer, um die Lichter auf dem Schreibtisch zu entzünden, er wollte versuchen, ob er in der Arbeit Vergessen finden könne.

In diesem Augenblick hörte er die Glasthür, die in den Garten führte, sich öffnen … ein leichter Schritt nahte sich durch den Salon … Markholm’s Herz schlug plötzlich so hoch auf, als ob es ihn ersticken wolle; er setzte die eben aufflammende Kerze mit zitternder Hand nieder und wandte sich –

„Elisabeth!“ rief er aus.

Es war Elisabeth. Aber wie eigenthümlich sah sie aus! So blaß, so scheu, so ganz anders als sonst, wenn sie ihn mit ihren großen fragenden selbstbewußten Blicken ansah. Sie stand neben der offenen Thür, deren Schwelle sie eben überschritten, an der Wand, die Hände hinter sich, als ob sie einen Anhalt suche an der Wand oder sich nicht weiter in den Raum hineinwage.

„Elisabeth!“ rief er noch einmal, „Sie?“

„Verzeihen Sie mir … es ist so spät … schon dunkel … ich muß auch gleich zurückkehren … aber Ihr Bote erzählte, daß Sie Anstalten zur Abreise träfen … ich mußte Sie noch einmal sehen … ich … ich glaube, daß ich Ihnen Unrecht gethan … es ließ mich nicht ruhen … daß wir uns nicht verstehen sollten!“

„Elisabeth … Sie so vor mir wie eine um Verzeihung Bittende … was könnten Sie mir zugefügt haben, was dies nicht für ewig aus meinem Gedächtniß löschte!“

Er hatte ihr die Hand gereicht, und als sie die seine nahm, führte er sie zurück in den Salon, an die wärmende Flamme des Heerds.

„Lassen Sie sich an meinem Heerde nieder, und dann … gewiß wir werden dahin kommen, uns zu verstehen!“

„Ich habe Ihnen Unrecht gethan, ich glaube es. Ihr Brief hat mir die Augen geöffnet. Sie haben mich nicht täuschen, nicht hintergehen wollen. Was Sie für Ihren Neffen sprachen, war das Ergebniß eines harten und schweren Kampfes mit sich selbst.“

„Bei Gott, das war es!“ rief Markholm aus, „das war es!“

„Und dafür muß ich Sie nur um so mehr achten, Markholm … und … sehen Sie, ich bin keine leidenschaftliche Natur, ich kenne die Accente der Leidenschaft nicht; ich konnte Sie deshalb so völlig falsch beurtheilen, ich konnte glauben, Sie handelten aus Beweggründen, die Ihrer nicht würdig waren. Ihre Zeilen zeigten mir, wie tief mein Irrthum war … wie thöricht mein Mißtrauen, wie vergebens der ganze Schmerz gewesen, der mich erfaßt hatte, weil ich zweifeln müssen an Ihnen! Verzeihen Sie es mir, ich habe so sehr darunter gelitten! Ich bin ein thörichtes Geschöpf … aber wenn Sie mich wollen, so wie ich bin, mit einer ehrlichen Neigung, mit dem aufrichtigen Verlangen mich ganz dahin zu geben für Ihr Glück, mit der Ueberzeugung, daß mir kein größeres Glück je werden kann, als das Bewußtsein für das Ihre zu leben … dann … da ist die Hand, um die Sie geworben haben!“

Markholm war keines Wortes mächtig … er wäre gern vor ihr auf die Kniee gesunken, wenn sie ihn nicht so groß und ruhig ernst und doch mit weicher inniger Hingebung angesehen hätte, daß er sich schämte, seiner Leidenschaftlichkeit nachzugeben … er nahm nur ihre Hand und umschloß und drückte sie mit seinen beiden, und sagte nach Athem ringend:

„Elisabeth, die Götter meines Heerds hören Ihr Gelübde und – meinen Schwur.“




Blätter und Blüthen.

Ein Käfer als Lebensretter. Im Jahre 1793 irrte ein Mann von etwa dreißig Jahren, verkleidet und verlassen, den Schrecken der Revolution entflohn und überall mit dem Tode bedroht, in Frankreich umher. Seine Lieblingswissenschaft, die Insectenkunde, war das Einzige, was ihm in so trüben Tagen Erheiterung schaffte. Wo er nur hinkam, da sammelte und beobachtete er Insecten. So kam er denn auch in die Nähe von Bordeaux, und hier ereilte ihn endlich das längst gefürchtete Schicksal, gefangen zu werden. Vor den Thoren der Stadt überfiel ihn eine Schaar zerlumpter, fanatischer Weiber und brachte ihn in das Gefängniß. Schon nach sechs Stunden war sein Proceß entschieden, da er frei und offen gestanden, wer er sei; schon am nächsten Tage sollte das Todesurtheil an ihm vollzogen werden. Während er seine Mahlzeit hielt, erzählte ihm sein Kerkermeister von den Hinrichtungen, die bis jetzt stattgefunden, kam dabei auch auf den Präsidenten des Gerichts zu sprechen und bemerkte dabei, daß dieser sich keine andere Erholung von seinem blutigen Amte gönne, als im Freien herumzuschweifen und Schmetterlinge und Käfer zu suchen.

Dies err[e]gte natürlich sogleich die Aufmerksamkeit des Gefangenen und schnell gefaßt nahm er einen seltenen Käfer aus seiner kleinen Sammlung und steckte, indeß der Kerkermeister erzählte, dies Insect geheimnißvoll mit einer Nadel unten an den Pfropfen seiner Flasche. Dem Kerkermeister war dies nicht entgangen, er vermuthete darin wahrscheinlich etwas Gefährliches, sagte zwar nichts, eilte aber mit der Flasche und dem Käfer sogleich zum Präsidenten. Bald darauf sah man Letzteren und den Gefangenen, Alles um sich her vergessend, als Freunde und nicht als Richter und Verurtheilten lange beisammen sitzen. Der Käfer hatte den jungen Mann, wie er gehofft, gerettet. Er erhielt von dem Präsidenten Geld, Empfehlungsschreiben und die besten Zeugnisse seiner republikanischen Gesinnung. Der Gerettete war der später so berühmte Naturforscher Pierre André Latreille, der am 6. Februar 1833 als Professor der Entomologie am Museum der Naturgeschichte in Paris starb.




Des alten gemüthlichen Dorfbarbiers letztes und schönstes Büchlein ist unbestritten sein Erinnerungsbüchlein, das er in Folge seines Rücktritts als Dorfbarbier, unter dem Titel: „Die Familie des Generals von Pulverrauch oder ein Flüchtling auf dem Lande, herausgegeben von Ferdinand Stolle,“ seiner neunzehnjärigen getreuen Kundschaft übergeben hat. Dr. Feodor Wehl in der sächsichen constitutionellen Zeitung sagt darüber: „Der Verfasser schreibt wie mit dem Pinsel des Malers. Das Grün der Birken, der Wiesen, das Blau des Himmels, die lachende Buntheit der Baumblüthe, der blitzende Sonnenschein, der dämmernde Mondstrahl, die tausend Blümchen im Gras – das Alles hat Stolle reizend über seine Erzählung auszubreiten verstanden. Sie ist wirklich wie ein Frühlingsgedicht, wie ein blühendes Eden, in welches das deutsche Gemüth und der deutsche Humor eine köstliche Landpartie unternehmen. – Wahrlich es muß Jedem wohl werden um’s Herz, der dieses Buch liest. Es ist ein echt deutsches Buch, ein Buch, das alle Mißklänge des Lebens harmonisch austönen macht. Wenn man es liest, ist es einem, als läge man draußen im Freien im Grase und höre die Bienen summen, die Lerchen jubeln, die Blätter wehen, die Quellen rauschen, kurz als läse man den Frühling selbst.“

Das Dresdner Journal äußert sich unter Anderm: „Zu besonderem Danke ist aber der Lehrerstand dem Verfasser verpflichtet, denn in dem Lehrer Reinhold ist das Leben und Wirken eines berufsfreudigen Schulmannes so würdig und anziehend geschildert, daß gewiß in den Kreisen, die sich sonst um die fortgeschrittene Pädagogik nicht kümmern, geläuterte Ansichten über die Bedeutung der Volksschule Raum gewinnen werden. Ungemein ergreifend ist ein Lehrergreis geschildert. An ihm kann man wahrnehmen, daß der Umgang mit Kindern dem Leben noch Frühlingsduft im Alter und dem Sinne eine kindliche Einfalt giebt. Der gesunde und kernhafte Humor erhöht den Werth des Buches gar wesentlich, und eine Figur wie z. B. die des Schneidermeisters Wetz darf man sicher zu den Prachtexemplaren deutscher Novellistik auf komischem Gebiete zählen. In Summa führt Stolle’s Dichtung von Neuem den Beweis, wie über allem poetischen Leben zugleich ein sittliches stehen soll, und so möge denn dieses Erinnerungsbüchlein, in dem Ernst und Scherz erquicklich Hand in Hand gehen, allseitig verdiente Beachtung finden.“


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Der Kopf des Leichnams wurde von angeblichen Verwandten des Todten fortgenommen.
  2. Man vergleiche den Aussatz: „Städteverschönerung und Kinderwohl“ in Nr. 7 Jahrgang 1863 von demselben Verfasser.