Die Gartenlaube (1865)/Heft 16
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No. 16. | 1865. |
(Fortsetzung.)
Der Rothe lachte laut auf. „So, so!“ sagte er, „und der Fremde, den Du Dir aus dem Lech aufgefischt hast, schaut so aus, wie Du’s verlangst? Wie ein rechtschaffener Mann? Meinetwegen, aber die Flausen, die Du Dir da in Kopf gesetzt hast, Kundel, die vergehn schon wieder! Warum wolltest Du eine Duckmäuserin werden und das lustige Leben um ein trauriges vertauschen? Wenn es gar ist, ist’s gar … was hast nachher davon, wenn Du bei Lebzeiten Dir das Maul gewischt hast? Es steht Dir auch nimmer an, Kundel, das Anstellen mit der Rechtschaffenheit: Du bist schon zu tief hinein ’gangen, es nutzt Dich nichts, und wenn Du zehnmal umkehren willst, Du bleibst doch die schöne Kundel und das Waldhaus bleibt verschrien als eine Spitzbubenherberg!“
„Dann verkauf’ ich Alles,“ erwiderte sie hastig, „und gehe anderswohin, wo mich Niemand kennt!“
„Wirst Dich schon anders besinnen!“ fuhr der Rothe mit frechem Hohne fort. „Müßtest weit gehn, Kundel, wenn Dir das Gered’ nicht nachkriechen sollt! Wirst Dich schon noch besinnen! Ich kenn’ das von mir selber, ich weiß schon, daß man solche Tag’ hat, wo die Grillen zu singen anfangen, die sie einem auf der Schulbank und in der Christenlehr in Kopf gesetzt haben – aber es ist nichts dahinter und halt’ nit an. Wie sie mich eingehauselt haben und hab’ Werg spinnen müssen, da ist mir auch schwach geworden; ich hab mir vorgenommen, ich wollt’ ein ehrlicher Mensch werden und mich mit der Arbeit fortbringen. In meiner Heimath war nichts zu machen, da hat mich Alles gekannt und Niemand hat etwas von mir wissen wollen … da hab’ ich mir um einen andern Namen umgeschaut und bin nach Ulm zu einem reichen Kaufmann, der hat mich als Fuhrknecht eingestellt und hat mir einen ganzen Frachtwagen voll Waar’ gegeben, die mußt’ ich nach München fahren. Er hat alles Zutrauen zu mir gehabt …“ setzte er, nachdem er getrunken, lachend hinzu, „natürlich … die Zeugnisse, die ich ihm gezeigt und die ich einem Andern abgenommen hatte, die waren gar zu gut! Im Anfang ging es auch herrlich, aber in die Länge hab’ ich’s nicht aushalten können, den ganzen Tag in Hitze und Kälte neben dem Wagen herzutraben, den Gaulen Wist und Hott zuzurufen und am End’ ein paar Gulden einzustreichen, während ich dem Herrn in die Tausende verdient hab’ … da ward’s mir zu dumm und ich bin davon gelaufen und jetzt such’ ich den Bobinger auf … Du kennst ihn ja, den alten Fuchs, der in allerhand Verkleidung durch’s Land streicht, bald als Krämer, bald als Jäger, manchmal gar als Capuziner … der hat auf Mariengeburtstag Alles, was ein freies Leben gern hat, in den Augsburger Wald zusammengerufen, da soll’s dann in’s Große gehn, weil sie dem Einzelnen das Leben so sauer machen … da will ich auch hin!“
„Glück auf den Weg,“ sagte Kundel sich erhebend. „Gute Nacht; ich bin schon zu Hand, eh’ Du fortgehst … also sperr’ ich die Thür’ zu, wenn Du doch auf der Bank bleiben willst; es ist so Ordnung im Haus …“
Der Rothe widersprach nicht, obwohl er von dieser Hausordnung bisher noch nie etwas wahrgenommen hatte; gleichgültig rollte er eine Decke in einen Bündel, um sie als Kopfkissen unter den Kopf zu legen, und streckte sich auf die Bank – kaum war jedoch der Schlüssel im Schlosse umgedreht, als er schon wieder am Fensterchen lauerte. Er sah Kundel die Thür zu dem Gemach des Unbekannten vorsichtig öffnen, eintreten und hinter sich schließen; schnell besonnen, öffnete auch er das nach der Rückseite führende Fenster, stieß den Laden auf und zwängte sich rasch und geschmeidig, wie eine Eidechse, zwischen den Eisenstangen hindurch, die als Gitter angebracht waren. Im Nu stand er dann vor dem ebenfalls auf den Hofraum führenden Fenster des Gemachs und schwang sich an der Mauerbrüstung hinauf, um das oben in den Laden geschnittene Luftloch zu erreichen, durch welches er das Zimmer überblicken konnte.
Es war nur schwach beleuchtet. Kundel stand am Bette, in welchem ein Mann schlafend lag; das Gesicht konnte der Späher nicht sehen, weil es etwas abgewendet und das Mädchen sorgfältig bemüht war, zu verhüten, daß kein Lichtstrahl auf sein Gesicht falle und ihn erwecke. Sie beugte sich leicht über den Schläfer und sah ihn lange mit dem Ausdruck des Wohlgefallens und zärtlicher Neigung an. Ein Hund lag am Fuße des Bettgestells auf dem Boden; den Kopf auf die Pranken niederkauernd blickte er zutraulich empor; er war mit dieser Erscheinung vertraut und wußte, daß sie seinem Herrn nichts Uebles bedeute. „Ich habe recht gerathen,“ dachte der Lauscher, „ich weiß jetzt, wie viel es da geschlagen hat … wenn ich ihn nur sehen könnte, damit ich wüßte, wie der rechtschaffene Mann aussieht, der die Kundel so geschwind auf andere Gedanken gebracht hat …“ Vergeblich strengte er seine an das Spähen gewöhnten Augen an; erst als Kundel sich entfernte und in der Thür zurückblickend sich noch einmal umwendete, fiel der Lichtschein so hell auf [242] den Schlafenden, daß er das Gesicht unterscheiden konnte; war es auch etwas bleich und angegriffen, hatte er es doch auf den ersten Blick erkannt und mußte an sich halten, um nicht aufzuschreien oder in lautes Lachen auszubrechen. Auflauschend horchte er gespannt, bis im Hause die Schritte verhallt waren und eine Thür am andern Ende geschlossen wurde; in einem Fenster oben ward Lichtschein sichtbar und verlosch nach einer Weile.
Vorsichtig pochte er jetzt an den Laden; dumpfes Knurren des Hundes antwortete. Der Mann im Bette fuhr auf. „Was giebt es?“ rief er. „Wer ist das?“
„Ich bin’s, Hiesel,“ flüsterte es vom Fenster her, „mach’ auf, Hiesel … der Rothe ist’s …“
„Was willst Du von mir? Wie kommst Du hieher?“
„Mach’ nur erst auf – wegen Deiner komm’ ich, wir können doch nicht so durch’s Fenster reden …“
Hiesel war aufgestanden und öffnete; mit einem Satz war der Fuhrmann neben ihm. „Mach’s kurz,“ rief Jener, „was willst von mir?“
„Wie kannst nur fragen!“ entgegnete dieser. „Weißt etwa nimmer, daß übermorgen Maria Geburt ist und wir im Augsburger Wald sein müssen?“
„Du vielleicht – ich hab’ nichts dort zu schaffen.“
„Wär’ nit übel!“ rief der Rothe wieder. „Hast Du’s in München, wie wir in dem gewissen Haus kurfürstliches Brod gegessen haben, nicht mir und dem Tiroler und den Andern allen versprochen, daß Du bei uns bleibst, daß Du gewiß nicht fehlst im Augsburger Wald?“
Hiesel sah ihn einen Augenblick zweifelnd an; er schwankte, ob es gerathen sei, dem Burschen die Wahrheit anzuvertrauen. Die Tage des gezwungenen Stillliegens hatten ihn zu längerem Nachdenken über sich und seine Zukunft gebracht; die Ereignisse der letzten Tage, die Ermahnungen des Pfarrers hatten in ihm nachgeklungen, und auch im Fiebertraume war es Monika’s liebevolles Bild gewesen, das ihn umgaukelte. Bei ruhiger Ueberlegung war ihm die Möglichkeit aufgetaucht, daß der Ueberfall der Werber doch vom Pfleggerichte allein ausgehen konnte, daß die Einladung nach München vielleicht doch etwas Wahres enthielt. Der Sicherheit wegen hatte er bisher darauf verzichtet, Monika und den Seinen Nachricht von sich und seinem Aufenthalte zukommen zu lassen; jetzt, bei vollständiger Genesung, wollte er es nachholen und damit die Nachricht verbinden, daß er nach München gegangen sei, beim Kurfürsten sein Glück zu versuchen. „Wenn ich mich nun anders besonnen hätt’?“ antwortete er nach einer Weile. „Wenn ich das Wildschützenleben aufgeben wollt’?“
Der Rothe zuckte zusammen; er vernahm zum zweiten Male eine solche Aeußerung und es war erklärlich, wenn er darin einen naheliegenden Zusammenhang erkannte. Es war ihm unerträglich, sehen zu müssen, daß Andern gelingen sollte, sich aufzuraffen, wo ihm die Kraft dazu gemangelt hatte; jedes Mittel galt, dies zu verhindern, und da er vorher mit dem offenen Aussprechen seiner Gesinnung nicht glücklich gewesen, war er rasch entschlossen, es mit Lüge und Verstellung zu versuchen. „Ja, ja,“ sagte er traurig, „wer das zuwegen bringt, hat ganz recht! Ich hab’s auch gewollt, aber ich hab’ kein Glück … mein Herr hat erfahren, wer ich bin, und hat mich davongejagt – alles Bitten und Betteln hat nichts geholfen … vielleicht bist Du glücklicher, dann hast Du doch etwas davon, daß Du Dein Versprechen nit haltest!“
Ueber Hiesel’s Angesicht flog es dunkelroth, es zuckte ihm in den Händen, aufzuspringen und den Burschen an der Kehle zu fassen. „Wer sagt das?“ rief er. „Wer untersteht sich und will sagen, daß der Hiesel einmal sein Wort nit gehalten hat?“
„Du bist wunderlich,“ entgegnete wie verwundert der Rothe. „Hast Du nit selber gesagt, Du hast Dich anders besonnen? Ist das was Andres, als daß Du Dein Wort brichst?“
„Sag’ mir das nit noch einmal, Rother,“ rief Hiesel mit zorngedrückter Stimme, „oder es nimmt kein gutes End’ mit Dir! … Ich hab’s versprochen, in den Augsburger Wald zu kommen, und ich geh’ hin, und wenn ich angebunden wär’ … aber ich geh’ nur hin, um Wort zu halten; ich will nit bleiben, sondern will’s Allen sagen, daß ich vom Wildschützenleben Abschied nehm’, und will ihnen zureden, daß sie’s auch so machen …“
„Die Müh’ kannst’ Dir sparen, Hiesel,“ sagte der Rothe. „Das Zureden wird nichts helfen. Was sollten die Leut’ alle anfangen? Es ist nirgends ein Platz für uns – von allen Seiten sind wir verfolgt und eingekreist, die Jäger halten alle zusammen, drum müssen wir es auch so machen. Die Jäger treiben’s alle Tag’ ärger, erst vor einigen Tagen haben sie in Münsterhausen einen Bauern, den sie für einen Wildschützen gehalten, Abends, wie er beim Essen gesessen ist, mitten unter seinen Leuten und seinen Kindern durch’s Fenster erschossen …“
Hiesel hatte sich halb angekleidet und warf sich unruhig wieder auf sein Lager. „Die Mordbuben!“ rief er erregt. „Und uns wollen sie Spitzbuben nennen?“
„Ho, das ist noch gar nichts!“ entgegnete der Rothe, der seine Nachricht wirken sah. „Im Burgauischen haben sie neulich einen armen Teufel erwischt, der eine Grube gegraben hat, daß sich das Wild drin fangen soll. Was haben sie gethan? Sie sind nit faul, binden dem Kerl Hände und Füße, werfen ihn in die Grube, füllen sie aus und graben ihn so lebendig ein … Wie gefallt Dir das, Hiesel?“
Hiesel’s Erregung stieg. Alle Vorsätze, der Schutzvogt des Landvolks zu sein, traten als ebenso viele zürnende Vorwürfe vor seine Seele; er schämte sich und klagte sich selbst der Feigheit an, weil er das Werk aufgeben und nur an sich selbst denken wolle … „Und wird daraus, was will,“ rief er entschlossen, „eh’ ich ’was für mich selber thu’, geh’ ich mit in den Augsburger Wald!“
„Ho, ich hab’ mir’s wohl gedacht!“ rief der Rothe. „Jetzt bist Du der alte Hiesel wieder! Das hätt’ weiter kein Gespött’ und Gered’ abgegeben, wenn es geheißen hätt’: ,der bairische Hiesel ist auch zum Kreuz gekrochen!‘ ,Ja, warum denn?‘ hätt’ ein Anderer gefragt, und ,Narr,‘ hätt’s hinwider geheißen, ,wie Du fragst! Ein paar Weiberaugen haben schon ganz andere Dinge zu Stand’ gebracht!‘“
„Wer … wer sagt das?“ schrie Hiesel aufspringend und packte ihn am Halse.
„Nun, nun, erwürge mich nur nicht!“ rief der Rothe, innerlich triumphirend, weil er den Grund von Hiesel’s Unwillen völlig errathen zu haben glaubte. „Niemand sagt das! Ich hab’ Dir nur zeigen wollen, wie die Leut’ reden könnten … Also, es bleibt dabei – wir gehn in den Augsburger Wald; auf was warten wir denn noch? Komm Hiesel, richt’ Dich zusammen, wir machen uns gleich auf den Weg!“
„Nein,“ erwiderte dieser, „ich muß bis zum Tag warten. Die Leut’ in diesem Haus haben mich aufgenommen und gepflegt, wie ein eignes Kind – ich geh’ nit fort, ohne Dank und Ade zu sagen …“
„Meinethalben – wirst wohl wissen, ob Du Ursach’ hast dazu … ich kann warten – also gute Nacht, Hiesel, morgen früh geht’s in den Augsburger Wald.“
Rasch schwang er sich wieder aus dem Fenster, kehrte auf dem frühern Wege wieder in die Zechstube zurück, legte sich auf die Bank und entschlief bald, ruhig und fest, wie mit dem besten Gewissen und auf dem bequemsten Lager.
Der Morgen graute kaum, als der nach Hause kommende Wirth, an der verschlossenen Thür rüttelnd, seinen Unwillen darüber äußerte, wem denn die neue Einrichtung in den Sinn gekommen, das Gastzimmer zu sperren, noch dazu, wenn Gäste darin seien. Kundel eilte herbei und öffnete, wie mit Blut übergossen, daß sie auf der Unwahrheit betreten worden, der Rothe aber that, als habe er nichts gehört, und ließ sich mit dem Wirth in’s Gespräch ein. Kundel stand am Schenktisch und begann, Krüge auszuschwenken. Als der Wirth die Stube verließ, näherte sich ihr der Rothe. „Bist mir doch nit etwa gar bös wegen gestern Abend?“ sagte er höhnisch. „Ich hab’ mir Deine Wort’ überlegt und hab’ lang’ nit schlafen können d’rüber … aber ich hab’s eingesehn, daß Du Recht hast; ich will’s auch noch einmal probiren und rechtschaffen werden – dafür aber mußt Du mir versprechen, daß Du mich einlad’st, wenn Du Hochzeit machst …“
„Ich wunder’ mich, daß Du noch da bist,“ erwiderte das Mädchen, ohne nach ihm umzusehen. „Hab’ gemeint, Du hättest es so eilig und müßtest in aller Früh’ fort?“
„Das wohl – ich hab’ mir’s anders überlegt und einen Cameraden gefunden.“
„Einen Cameraden? Wo denn?“
„Das kannst leicht errathen, wirst wohl wissen, was für Leut’ im Hause sind … Schau, Kunde – Du hast gemeint, wie fein Du Deine Sache anstellst, wenn Du mich einsperrst, aber Du [243] hast vergessen, daß es auch noch Fenster giebt und Luftlöcher in den Fensterläden …“
Das Mädchen ließ die Krüge aus den Händen sinken und sah ihn starr an. „Wen meinst’?“ fragte sie, kaum hörbar. „Den Jäger? Den Kranken?“
„Denselben, über den sich eine Gewisse hingebeugt hat, als wenn sie ihn mit den Augen verschlucken wollt’!“
„… Der wär’ ein Camerad von Dir?“
„Das will ich meinen! Hab’ ihn überall gesucht und schon fast verloren gegeben. Hab’ schon kurfürstliches Brod mit ihm gegessen!“
„Mit dem Fremden?“
„O, das ist ein ganzer Kerl! Ein Muster von einem Jäger! Ein rechtschaffener Mann, wie Du ihn nur verlangen kannst!“
„… Wer ist es?“
„Der bairische Hiesel!“
Sie richtete sich auf, als wollte sie Hand an den Burschen legen. „Schlechter Kerl,“ sagte sie bebend, „das ist nit wahr! Gesteh’s ein, daß Du gelogen hast …“
„So frag’ ihn selbst! Da ist er!“ erwiderte er, auf Hiesel zeigend, der eben in die Thür trat. „Guten Morgen, Hiesel! Schon reisefertig? Ich bin jeden Augenblick bereit!“
Wie versteinert starrte das Mädchen den Wildschützen an, dann murmelte sie einige Worte vom Frühstück, das sie besorgen wolle, und wankte aus der Stube. Das Frühstück erschien auch bald, aber nicht Kundel brachte es, sondern der Wirth. Es war bald verzehrt und die Zeit zum Aufbruche da. Hiesel hatte dem Wirthe Dank und Abschied gesagt und wollte nicht fort, ohne auch seiner treuen Pflegerin ein Lebewohl zugerufen zu haben, aber sie war nirgends zu sehen. Vergebens schallte die mächtige Stimme des Wirths rufend durch das Haus; vergebens wurde in Haus und Hof jeder Winkel durchsucht – sie war verschwunden. Endlich war keine Zeit mehr zu versäumen, der Rothe drängte und mahnte an die Weite des Weges und daß sie einen Vorsprung haben müßten, ehe überall die Jäger aus den Federn gekrochen kämen. Hiesel blieb nichts übrig, als dem Wirthe Dank und Gruß für das Mädchen aufzugeben und baldige Wiederkehr zu verheißen. Verstimmt schritt er in den Morgennebel hinein; aus den Augen des Rothen leuchtete tückische Freude.
Vom Giebel des Hauses, von einer verborgenen Stelle aus, sahen den Dahinschreitenden zwei Augen nach, überströmt von Thränen der Leidenschaft, der Liebe und der Erbitterung; ein Herz schlug ihm nach, in dem noch einmal eine edle Regung sich aufgebäumt, um sich aus denn Schlamme emporzurichten, in den sie versunken war und in den sie sich, da die Stütz’ gebrochen, an der sie sich anzuklammern versucht, zurückgleiten fühlte, tiefer und unheilvoller als zuvor.
Am zweitnächsten Tage war in der Nähe des ungeheuren Augsburger Stadtwaldes eine eigenthümliche lebhafte Bewegung wahrzunehmen, die wohl auch den Jägern nicht entgangen wäre, hätte nicht die Nachricht, die Wildschützen hätten sich in’s Burgauische gezogen, sie sicher gemacht und die Mehrzahl angelockt, sich die Lustbarkeiten nicht zu versagen, welche vom Besuch des Friedberger Jahrmarkts zu erwarten wären. In sorgloser Sicherheit sah man allerlei befremdliche und unheimliche Gestalten von allen Seiten dem Walde sich nähern und dem Theile desselben zueilen, welcher der Münsterbann hieß. Gegen die Mitte des ungeheuren Forstes hin erhob sich ein kleiner buchenbewachsener Hügel aus riesigen Föhren, unter denen das Unterholz zum fast undurchdringlichen Dickicht verwachsen war; es war ein vergessenes Stück ungelichteten Urwaldes. Der Hügelabhang war frei und vor demselben that sich eine kleine sonnenlichte Blöße auf. Sturm oder Blitz mochten vor Jahrhunderten ein paar der gewaltigen Bäume niedergeworfen haben; an deren Wegräumung hatte Niemand gedacht, so waren sie in sich vermodert und vermorscht, daß nichts mehr von ihrem Dasein zeugte, als die abgesprengten übermoosten Wurzelstöcke, während auf der kleinen Lichtung junge Buchenschößlinge über die schmalen Halme der Waldgräser, über Farrenbüschel und Erdbeerpflänzchen, emporwuchsen. Der Ort hieß Am Heidenbühel; in dem Namen war noch die einzige Ueberlieferung erhalten, daß der Hügel in der Vorzeit zu Begräbnissen gedient oder daß auf ihm eine germanische Opferstätte gestanden haben mochte.
Eine Anzahl wilder und verwegen aussehender Männer war daran, die Lichtung zu einem bequemen Lagerplatz zuzurichten; mit den Hirschfängern wurde auf der einen Seite das Gebüsch gelichtet, während man nebenan im Schatten Steine und Moos zusammentrug, um ein paar ansehnliche Fäßchen vor dem Einfluß der Sonne zu schützen und kühl zu erhalten. Unweit davon waren Einige beschäftigt, eine Stelle vom Rasen zu reinigen und mit herbeigeschlepptem Reisig Feuer anzuzünden, Andere hatten sich daran gemacht, einen frischgeschossenen stattlichen Zwölfender auszuweiden und zu zerwirken, damit zum Trunk der Wildbraten nicht fehle.
Aus dem Grase des Hügels sprang ein nackter mächtiger Felsblock vor, so recht geeignet, zum Mittelpunkte und zum Rednersitze zu dienen, falls einer der Anführer zu den Andern zu sprechen Verlangen hätte. Am Fuße desselben hatte sich eine Schaar gelagert und ließ unter eifrigem Gespräch nicht minder eifrig eine Korbflasche voll Branntwein in die Runde gehen.
Eben trat, die Büchse auf der Schulter, ein starker junger Mann von vierschrötiger Gestalt und mit aufgedunsenem rothen Gesicht zu den Versammelten.
„Juch hei, bin auch da!“ sprach er und wandte sich dann zu einem schmächtigen Burschen in abgerissener städtischer Kleidung mit einem abgelebten vergilbten Gesicht, das noch dazu durch ein ansehnliches blaues Muttermal entstellt war:
„Gelt, Blauer, hast’s auch nicht aushalten können in Deiner Kanzlei? Hab’s selber erfahren, daß die Luft nicht bekommt in den Malefizschreibstuben. – und da ist mir’s zur rechten Zeit noch eingefallen, daß ich als Student, dazumal in Ingolstadt, wo sie mich relegirt haben, berühmt war wegen meiner Sicherheit im Schießen und daß sie mich den Sternputzer nannten, weil ich einmal eine Kerze hart am brennenden Docht abgeschossen habe. Holla, dacht’ ich, versilberte die paar Scharteken, die ich noch hatte, kaufte mir den Stutzen da und will’s als Wildschütz tentiren. Wollen’s dem verruchten Jägergesindel gehörig eintränken, das uns so auf den Dienst paßt.“
Er nahm dem Nächsten die Flasche ab, that einen tüchtigen Zug und wollte gerade ein altes Studentenlied anstimmen, als sich die Baßstimme des am Feuer als Koch Beschäftigten vernehmen ließ. Es war ein großer Mann in breitkrämpigem Hut und brauner Lodenjacke, unter welcher der grüne Hosenträger vorsah. „Ein Capitalhirsch!“ rief er. „Das ist ein Ziemer, wie ihn kein Reichsprälat auf die Tafel kriegt… der zergeht Einem auf der Zunge, und schaut Euch einmal an, wie ich ihm die Kugel mitten auf’s Blatt gesetzt habe, als wie abgezirkelt!“
Sie traten näher und bewunderten an der ausgespannten Decke die Sicherheit des Schusses. „Das ist kein Wunder,“ sagte der Sternputzer, „Ihr Tiroler könnt alle das Schießen, wie die Enten das Schwimmen, wenn sie nur aus dem Ei kriechen! Aber es wär’ schon bald an der Zeit, daß die Andern kommen … der Schneider und der Hansel fehlen noch – das Sonnenwirthle und den Lissabonerbäcken hab’ ich auch noch nicht gesehn … und wo bleibt denn vor Allen der Kretzenbub, der Bobinger? Der der Erste am Platz sein sollte, ist wohl gar der Letzte!“
„Der Rothe ist auch noch nicht da!“ erwiderte herumblickend der Blaue. „Aber wenn man den Fuchs nennt, kommt er gerennt! … Schaut einmal, was dort unter den Haselstauden so herausleuchtet … ist das nicht die Feuerperücke von dem rothen Spitzbuben?“
„Freilich ist er’s!“ riefen die Andern, „und noch Einer kommt mit ihm … den kenn’ ich aber nicht …“
„Ich auch nicht,“ sagten der Blaue und der Sternputzer, ein Anderer aber rief freudig: „Soll ich denn meinen Augen trauen? Das ist ja der bairische Hiesel!“
„Warum nicht gar!“ entgegnete der Student. „Der Hiesel hat ausgejagt, das ist eine alte Geschichte! Vor einiger Zeit haben ihn kaiserliche Werber in den Lech gesprengt und erschossen …“
„Und er ist es doch!“ rief Jener und eilte dem Kommenden entgegen. „Es giebt keinen Zweiten auf der Welt, der so ausschaut!“
Der Name des Ankommenden flog wie ein Lauffeuer durch die ganze Versammlung; Alle drängten sich herbei, den gefürchteten Wildschützen und Bauernvertheidiger zu sehen, in dem Viele einen alten Bekannten und Schicksalsgenossen begrüßten. Der Tiroler trug ihm einen Prachtschnitt seines eben fertig gewordenen Hirschziemers [244] zu, der Sternputzer bot ihm die Flasche, der Blaue schüttelte ihm die Hand, während die Andern sich dessen Abenteuer und Streiche erzählten, seine Gewandtheit und Kühnheit und sein gutes Herz rühmten, das Keinem ein Leides geschehen lasse, als den Jägern und ihren Genossen. Hiesel war von der überstandenen Krankheit noch etwas abgespannt; die Wanderung hatte nicht beigetragen, sein gedrücktes Gemüth freier zu machen; der Empfang der Wildschützen aber war in seiner Wildheit von so unverhohlener Freude erfüllt, daß er unwillkürlich seinem Stolze schmeichelte und Hiesel mit einem Lächeln befriedigter Eitelkeit die Begrüßung hinnahm und erwiderte.
Um seinen rothen Begleiter kümmerte sich Niemand; nur der Blaue zog ihn mit freudiger Vertraulichkeit bei Seite.
Noch hatten die Schützen sich nicht wieder gelagert, als im Walde ein Schuß fiel, daß Alles in Hast zu den Waffen stürzte. Ein langer sonnengebräunter Bursche kam in athemloser Eile aus dem Dickicht hervor: es war der Lissabonerbäck’, so genannt, weil er weit auf der Wanderschaft gewesen und mehrere Jahre in Lissabon zugebracht hatte. „Was giebt’s?“ rief es ihm entgegen. „Sind Jäger in der Näh’? Wo ist der Bobinger? Warum kommt er nicht mit Dir?“
„Aûf den Bobinger,“ erwiderte der Bursch, sich in’s Gras werfend, „braucht Ihr nimmer zu warten – der kommt nimmermehr! Auf dem Weg hierher sind uns heute Strickreiter unter gekommen: da haben wir uns in die Felder geduckt und an den Wald hingeschlichen, aber sie müssen uns doch gesehen haben. In dem Wald sind Jäger gesteckt, der erste Schuß ist ihm in den Rücken gegangen, mitten durch’s Herz … es hat ihn nur so hingeworfen … er hat keinen Schnaufer mehr gethan und ich hab’ den Weg gehörig unter die Füß’ genommen, damit Ihr’s doch wißt und nicht umsonst wartet …“
Die unvermuthete Nachricht verfehlte auch auf die verwilderten Gemüther der Schützen ihren Eindruck nicht: sie standen einige Augenblicke stumm und blickten einander rathlos an. „Ei was stehn wir da, wie die Schaf’ wenn’s donnert!“ rief dann der Student. „Das kann einem Jeden alle Stund passiren und geht für’s Sterben hin! Der Kretzenbub ist ein gar gemüthlicher Kerl gewesen – wir wollen’s den Jägern heimzahlen!“
„Was wollen wir aber?“ sagte der Blaue. „Der uns zusammengerufen hat, ist todt – es wird wohl das Beste sein, wir gehn wieder auseinander!“
„Und laufen wieder heim in die Kanzlei?“ schrie der Sternputzer. „Schreiberseele, die Du bist! Was der Bobinger gekonnt hätte, bringen Andere auch zu Stand! Wir müssen zusammenhalten – die Jäger in all den verschiednen Territorien thun es auch; sie müssen sich vor uns fürchten, oder wir sind verloren, und wie den Bobinger putzen sie Einen nach dem Andern weg!“
„Das sag’ ich auch!“ rief ein Anderer. „Kann der Kretzenbub unser Hauptmann nicht sein, so wählen wir uns einen andern, und um den brauchen wir nicht lang zu suchen … der bairische Hiesel soll unser Hauptmann sein!“
„Ja, ja, der bairische Hiesel soll unser Hauptmann sein!“ lärmten Alle wild durcheinander, nur der Sternputzer biß sich auf die Unterlippe und der Rothe schrie darein: „Seht erst zu, daß Ihr die Rechnung nicht ohne den Wirth macht! Fragt ihn doch erst, ob er mit Euch halten will!“
„Warum soll er nicht wollen?“ schrie es entgegen. „Warum wär’ er sonst da? Er muß!“
Hiesel sprang vor den Andrängenden zurück und hob sein Gewehr; Tiras, zum Sprunge bereit, fletschte knurrend die Zähne. „Wer will mich zwingen?“ rief Hiesel. „Wer will mir vorschreiben, was ich thun muß? Ich bin freiwillig hergekommen und will meinen freien Willen haben und behalten wie Jeder! … Der Rothe hat recht gesagt – ich will nicht Euer Hauptmann sein, ich will nicht mehr mit Euch halten – und hieher bin ich nur gekommen, um denjenigen, denen ich’s versprochen hab’, mein Wort zu halten und Euch zu zeigen, daß ich mich nit fürcht’, Euch Allen das in’s Gesicht zu sagen, was ich vorhab’ … Ich kann’s Euch nit erzählen, was ich erlebt hab’ in den letzten Tagen, aber das sag’ ich Euch, daß es mich um zehn Jahr’ älter gemacht und mir das ganze Gemüth gepackt hat … Ich will das Wildschützenleben aufgeben und ein rechtschaffener Mensch werden …“
„Ein rechtschaffener Mensch!“ höhnte der Rothe. „Ich weiß, woher der Wind geht! Du bist ein Narr worden, Hiesel… stell’ Dich und versteck’ Dich, so gut als Du willst, sie finden Dich doch heraus!“
„So geh’ ich in ein andres Land …“
„Das ist erst das Rechte!“ rief der Lissabonerbäck. „Ich kann ein Lied davon singen! Arbeiten darf man in der Fremde wie ein Vieh, aber sonst bleibt man alleweil’ ein Fremder! Laßt ihn nur gehn, Cameraden, wenn er’s erfahren will… es giebt noch andere Leute; hat wohl die Courage verloren, weil der Kretzenbub so geschwind ist abgethan worden …“
„Kerl!“ rief Hiesel und wollte auf den Burschen anlegen, „Du willst dem bairischen Hiesel Courage lehren!“
„Schieß zu!“ erwiderte dieser frech, „wenn Du meinst, Du kannst es damit beweisen!“
„Frieden unter einander!“ rief der Tiroler dazwischentretend. „Der Hiesel muß unser Hauptmann werden oder wir geh’n auseinander und schauen, wie wir uns durchschlagen, bis Jeden seine Kugel trifft … der Hiesel wird sich’s wohl überlegen!“
„Das denk’ ich auch,“ sagte der Student, „er’ wird sich erinnern, was das ganze Land von ihm sagt: daß er nicht ein gewöhnlicher Wilddieb ist, sondern daß er Krieg führt mit den Jägern und Schergen, daß er den Bauern helfen und die Landesherren zwingen will, daß sie die unsinnigen Gesetze aufheben und das Wild frei geben und einen Jeden, der nicht von Adel ist, auch für einen Menschen gelten lassen!“
Hiesel stand bewegt, aber sein Entschluß wankte nicht, so sehr auch Alles auf ihn einstürmte, so lockend und nahe das langgewohnte freie Wildschützenleben vor ihn trat … das geträumte Häuschen mit den grünen Läden und der aus der Thür ihm entgegen winkenden Gestalt überstrahlte mit mildem Glanze alle andern Bilder, die vor seinem Innern auftauchen wollten. Noch hatte er seinen Entschluß nicht ausgesprochen, als eine der ausgestellten Wachen ein Zeichen gab; der Student eilte hin und kam bald mit einem zerlumpten Bauernknaben zurück. „Der Bub will zu Dir, Hiesel,“ sagte er; „er sagt, er sei schon drei Tag unterwegs, Dich zu suchen …“
Der Knabe war rasch auf Hiesel zugeeilt und hatte seine Hand gefaßt. „Da bist Du wirklich,“ sagte er, „jetzt ist es gut – jetzt geh’ ich nimmer von Dir! Kennst mich nimmer?“ fuhr er fort, als Hiesel ihn verwundert betrachtete. „Glaub’s wohl, hast mich auch nur einen Augenblick geseh’n … weißt, dort am Erdweg, wo die Jäger mich bandelt haben und wo Du mir die Strick’ abgeschnitten hast …“
„Du bist es? Und was willst Du bei mir?“
Eine Illustration zu dem modernen Cäsarenthum.
Unheimliche Stille lag über der Stadt Stralsund, als die Nacht des 31. Mai 1809 ihre Schatten herabsenkte. Das blutige Treffen zwischen den Schaaren Ferdinand’s von Schill und den Soldaten der Holländer und Dänen unter General Gratien war ausgefochten worden. Achtzehnhundert Todte und Verwundete rötheten das Straßenpflaster mit ihrem Blute. Unter der offenen Halle des Rathhauses lag, mit einem Stück Segeltuch bedeckt, die Leiche des kühnen Schill auf einer der dort befindlichen Fleischbänke; unkenntlich durch Säbelhiebe, Stiche und Quetschungen war der Leichnam des unglücklichen Reiterführers.
Durch die Fenster der Jacobskirche schimmert matter Lichtglanz. Ein dumpfes Gemurmel tönt hervor und die Thüren des Gotteshauses sind mit Posten umgeben, die an einzelnen Stellen ihr Bivouacfeuer angezündet haben. In jener Kirche befinden sich 557 Gefangene vom Schill’schen Corps. Unter ihnen sind die elf berühmten Officiere, die vier Monate später auf dem Mordplatze
[245]zu Wesel unter den Kugeln der französischen Schützen ihre freien Seelen aushauchen sollen. Zu den Ohren dieser erschöpften, aus manchen Wunden blutenden Krieger war die Nachricht von der glücklichen Capitulation des Lieutenants von Brünnow gelangt. Er hatte sich durchgehauen mit hundertundfünfzig Mann, sechszehn Officieren und fünf Trompetern. Gratien mußte dem Heldenmuthe seinen Beifall zollen. Er gewährte den freien Abzug nach Preußen, obwohl er mit 3000 Mann die kleine Schaar im weiten Kreise vor der Stadt, wohin sie sich mit ihren Schwertern Bahn gemacht, umstellt hatte.
Die Glücklichen – sie zogen hinweg von der Stätte des Unheils, und beklommen, auf ihre Wunden blickend fragten sich die Gefangenen in der Kirche: „Was wird mit uns werden?“ Schon am folgenden Tage trennte man die Officiere von der Mannschaft. Auf die Fragen und Berufungen, wonach sie sich als in die Capitulation Brünnow’s mit eingeschlossen betrachteten, entgegnete Gratien: daß sie keinen Theil an dem Vertrage hätten, doch werde ihnen kein Leid geschehen. Dies beruhigt Officiere und Mannschaft. Aber am 4. Juni Morgens – Trommelschlag, Waffengerassel. Tiefe Stille rings umher! Ein Windstoß braust gegen die Fenster der Kirche – er führt den Schall einer gräßlichen, rollenden Salve mit sich – er trägt ihn zu den Gefangenen. Was war das? Am 4. Juni hat der Lieutenant Petesson aus der von ihm angelegten Batterie am Knieger Thore, [246] die er tapfer vertheidigt, geendet. Die Militair-Commission hat ihn erschießen lassen. Seine heulende Frau, seine vaterlosen Kinder irren durch die Straßen. Hält man so das Versprechen? „Was wird mit uns werden?“ fragen sie wieder.
Am 10. Juni erhalten sie Gewißheit. Gratien zieht mit seiner Division von Stralsund ab. Er führt die Gefangenen mit sich. Die Menge wird in zwei Transporte getheilt. Den ersten Transport geleitet das sechste, den zweiten das neunte holländische Infanterie-Regiment. Die Kranken und Schwachen werden auf Wagen geladen, die Rüstigen marschiren nebenher. Noch immer schwebten sie in Ungewißheit wegen des ihrer harrenden Schicksals. Was ihnen den schmachvollen Transport, die Pein der Gefangenschaft erleichterte, das war die treue, sich offen kund gebende Theilnahme der deutschen Landsleute. Wie scheußlich handelten die sie transportirenden Holländer! Schon in Braunschweig mußte ein großer Theil der braven Leute mit Kleidungsstücken und Wäsche durch die mitleidigen Bürger versorgt werden; die frechsten Bemerkungen, der grausamste Spott geißelten die unglücklichen Anhänger Schill’s. Immer weiter führte man sie hinweg von der heimathlichen Stätte. Die Zusammentransportirten begannen während des Marsches auf Mittel und Wege zur Befreiung zu denken. Der Trompeter Böck, ein verschlagener, kecker Bursche, versuchte einige Male seinen Peinigern zu entrinnen. Schon war er glücklich in der Klappe eines Kamines der Sacristei zu Salzgitter verborgen, dann hatte er sich auf einen Glockenthurm geflüchtet, sich ganz und gar mit Schiefer bedeckt – beide Male ward er ertappt. Wie? Es ist traurig zu erzählen, durch einen seiner Cameraden, der ihn verrieth. Das Elend machte so selbstsüchtig, die Schmach so nichtswürdig, daß der Genosse den Freund verrieth, weil er nicht so glücklich als dieser sein konnte. Dann kam unter der kleinen Truppe ein heroischer Gedanke auf. Sie verabredeten sich leise und heimlich über die Escorte herzufallen, den Häschern die Waffen zu entreißen, sich durchzuschlagen und lieber auf dem Platze bleiben als in so quälenden Fesseln schmachten zu wollen. In jenen Tagen bestanden die Soldaten, welche sie bewachten, aus Westphalen. Deutsche knebelten ihre Landsleute auf fremden Befehl. Viele der Schill’schen meinten, die Landsmänner würden sich nicht allzusehr wehren. Man verabredete ein Losungswort. Einer sollte drei Mal in kurzen Absätzen das Wort: „Vos! Vos! Vos!“ ausrufen. Beim dritten Rufe sollte Alles auf die Wachen stürzen. Die Wuth, die Verzweiflung verdarben den Anschlag, denn die durch Kolbenstöße und Bajonnetstiche zum Aeußersten gereizten Gefangenen der Haupt-Colonne fielen beim ersten Rufe über ihre Peiniger her. Dadurch ward der Angriff geschwächt, die hinten marschirenden Soldaten gewannen Zeit sich zu sammeln, man überwältigte die Empörer. Abends zog die traurige Schaar über die Haide dahin, und die Hände eines Jeden waren mit Hanfstricken geknebelt.
Wieder ward ihnen ein freudiger Tag in Frankfurt a. M. bereitet. Durch lange Gassen von weinenden Menschen zogen sie, aber die Frankfurter ließen es nicht bei den Thränen bewenden. Sie achteten keine Gefahr, keine Drohung, sie liefen zum Commandanten, und endlich ward ihnen gestattet, den deutschen Fechtern eine ansehnliche Geldsumme, manches Kleidungsstück und eine gute Zufuhr von Lebensmitteln überreichen zu dürfen. Abends schwammen die Gefangenen in Kähnen den Main hinunter; endlich trug der alte Vater Rhein seines gefesselten Landes gefesselte Söhne und im Glanze der untergehenden Sonne funkelte gluthroth die Kuppel des Domes von Mainz. Die Boote legten an. „Aux armes!“ „Halte là!“ tönt es vom Ufer. Eine lange Reihe Infanterie spinnt sich den Kai entlang, an ihren Czakos blitzen die kaiserlichen Adler. Die Schill’schen Krieger sind von jetzt ab nicht mehr unter deutscher Bewachung, sie werden an Frankreich abgegeben. Das Loos wird vielleicht doppelt hart, aber die Schmach hat an Gewicht verloren. Es sind wenigstens fremde Henker, welche ihre Blicke an dem Unglück weiden, ihre rohen Fäuste in den Rücken der Ermatteten bohren. Aber noch in Seesen hatte ein westphälischer Corporal dem Gefreiten Schultze den Kolben in den Rücken gestoßen, daß er ohnmächtig niedersank, worauf der Schurke ihn mit Hieben zum Weitergehen zwang, bis der Lieutenant herbeikam und mit den Worten: „Schäm’ Er sich, Bube! wir haben deutsche Landsleute vor uns,“ den Niederträchtigen bei Seite schleuderte.
Der Commandant von Mainz ließ sich die Gefangenen vorführen. Seine Reden klangen nicht tröstlich. Diese napoleonischen Soldaten betrachteten die Schill’schen Reiter als eine Heerde von Freibeutern. Wahrscheinlich aus diesem Grunde wies man ihnen als erstes Quartier in Mainz den Holzthurm an. Es war dasselbe Gefängniß, in welchem einst der Raubmörder Schinderhannes und seine Genossen gesessen hatten. Und darum den Säbel geschwungen für Deutschlands Befreiung vom Joche des Fremden? Darum geblutet, verhöhnt, verlassen?
Der Trompeter Böck kam beim Einsperren in das Gefängniß zunächst der Wand zu sitzen. Das enge Gelaß war nämlich dergestalt mit Menschen gefüllt, daß die Meisten über einander lagen. Böck bemerkte bald, daß unten am Fuße der Mauer ein großes Loch befindlich sei. Er fühlte, von Hoffnung auf Freiheit getrieben, weiter um sich und kroch zuletzt in eine Höhlung, welche groß genug für ihn war. Leider fand er gleich, daß kein Ausweg vorhanden, doch verschaffte ihm die Entdeckung wenigstens eine ruhige Nacht. Am folgenden Tage erfuhr er, daß die Höhlung von dem berüchtigten Spießgesellen des Schinderhannes, dem schwarzen Jonas, gebrochen worden sei, um von da aus zu entwischen. Als später Böck seine Schicksale erzählte, pflegte er immer zu sagen: „Und darin hab’ ich ehrlicher Leute Kind geschlafen.“ Die Kost der Gefangenen war hier Brod, dicker Hirse in Wasser gekocht mit einer starken Zuthat von Salz, – offenbar deshalb so reichlich dazugethan, damit die noch im Besitze von Geld Befindlichen dem Concierge sein saures Bier und den schlechten Wein abkaufen sollten.
Bald darauf erhielten die Eingekerkerten Ordre nach Metz. Es hieß, der Courier, welcher diese Ordre gebracht, sei zugleich der Ueberbringer eines General-Pardons gewesen, denn eigentlich hätten sämmtliche Gefangene in Mainz erschossen werden sollen. Nun koppelte man die Schill’schen Leute in Abtheilungen von je zwanzig Mann zusammen und escortirte sie durch Gensd’armen über Landshut, Kaiserslautern und Zweibrücken; hier war es, wie der Oberjäger Grund erzählt, wie Böck und viele Andere bestätigen, wo der Concierge des Gefängnisses sie mit Hohnlachen empfing. „Nun, Banditen,“ rief er, „in den Hohlwegen geht Euer Handwerk, aber auf freiem Felde nicht. Wenn aber nur erst den Hauptmann der Teufel geholt hat, kommt die Bande nach.“ Hier war es, wo einem braven, kernigen Husaren mit langem Barte der Bart gezaust ward; hier war es endlich, wo Grund, der bei furchtbarer Hitze für sich und seine schmachtenden Cameraden Wasser verlangte, die scheußliche Antwort hören mußte: „Für Euch Räuber ist kein Wasser da. Ihr müßt verhungern, verdursten oder gerädert werden.“ Als Böck um einen Topf bat, sich Wasser zu schöpfen, rief ein Sergeant: „Sauft aus dem Trog, Canaillen.“ Sie erhielten endlich die Erlaubniß aus dem Viehtroge trinken zu dürfen. Ueber Metz ging der traurige Marsch nach Verdun, woselbst in der Todtenkammer Quartier gemacht wurde, und voll der trübsten Ahnungen langte die Colonne in Sedan an.
Bittres Loos! schreckliches Tagwerk! und doch ist ihnen hier eine unnennbare Freude bereitet. Sie finden die zweite Abtheilung ihrer Leidensgefährten, die auf anderen Wegen hierhergelangt sind; mit diesen Leuten sind die elf Officiere gekommen. Die ersten, welche die Neuangekommenen freudig begrüßten, waren Carl und Albert von Wedell, Friedrich von Trachenberg und Daniel Schmidt, lauter junge, blühende Männer, strotzend von Kraft und Lebensmuth. „Kinder,“ rief Carl von Wedell, „Kinder, wie seht Ihr aus?“ Das war ein Jubel, ein Händedrücken. Kein Unterschied des Standes, der Stellung zog seine hemmende Schranke, es waren Waffenbrüder – Unglücksgenossen, die sich hier zusammenfanden in der Ferne, inmitten ihrer Henker. Dieses Unglück schien geringer, denn sie konnten sich umarmen, sie stärkten sich gegenseitig, sie richteten sich an einander auf. Lange gönnte man ihnen das Zusammensein nicht, die Gensd’armen trennten sie.
„Lebt wohl, brave Cameraden,“ rief Trachenberg, „Euer Schicksal wird nicht so hart sein wie das unsrige.“
Böck sagte: „Mein Lieutenant, wissen Sie denn schon Ihr Urtheil?“
„Nein,“ sagte Fleming düster lächelnd, „aber soviel ist gewiß, daß wir erschossen werden.“
Die Soldaten fuhren entsetzt zusammen, unwillkürlich perlten Thränen über die braunen Wangen.
„Das ist nicht möglich,“ riefen sie, „das darf, kann nicht geschehen.“
[247] „Garde à vous!“ brüllte die Wache und trat unter die Freunde. Sie waren getrennt – getrennt für dieses Leben.
„Adieu, Cameraden, jenseits sehen wir uns wieder,“ rief Albert v. Wedell.
Man führte die Soldaten zur einen, die Officiere zur andern Thür hinaus. Am folgenden Tage escortirte man die Elf nach Wesel. Sie hatten sich nicht getäuscht, sie bluteten Alle. Unbegreiflich bleibt es, daß kein Versuch gemacht wurde zu entrinnen. Ist auch der im Gefängnisse zu Geldern geflissentlich verlorene Schlüssel vielleicht eine Sage, so viel ist gewiß, die Bewachung war absichtlich eine sehr nachlässige, selbst noch in dem letzten Nachtquartiere zu Geldern hatte man die Gefangenen in ein schlechtes Arrestlocal gebracht, von wo aus sie um so leichter entspringen konnten, da preußisch gesinnte Bürger ihnen Unterstützung versprochen hatten. Es scheint, als hätten diese elf Männer den Tod gesucht, als hätten sie es für ihre Sendung gehalten, den Lebenden im Hinblick auf die bald erscheinenden Tage der Rache zu zeigen, wie man für Vaterland und Freiheit in den Tod gehen muß.
Zwei ebenfalls zum Tode bestimmte Cameraden blieben verschont. Es waren die Officiere Heinrich von Wedell und von Zaremba, früher bei Dodendorf gefangen. Zaremba rettete eine Krankheit; später gab ihn Napoleon frei. Als der Kaiser im Jahre 1811 seinen Einzug in Wesel hielt, stieg er im Gouvernementsgebäude ab. Tags darauf besuchte er die Citadelle, wobei ihm die Gefangenen vorgestellt wurden. Am Ende des linken Flügels stand Zaremba. General Hogendorp machte den Kaiser besonders darauf aufmerksam. Napoleon trat dicht zu dem Officier und ihn scharf fixirend sagte er: „Vous étiez aussi de la bande de Schill?“
Zaremba antwortete mit Würde und überreichte eine kurze Bittschrift, welche der Kaiser sofort las. Er steckte das Papier in seine Brusttasche und ließ den Schimmel vorführen. Sich auf das Pferd schwingend, sagte er dann kurz, aber nicht ohne ein gewisses Wohlwollen, indem er das Bein über den Sattel hob: „Vous êtes libre.“
Zaremba machte die Feldzüge von 1813–15 mit und ward nachher Intendantur-Rath zu Breslau.
Heinrich von Wedell, später General und ein hochgefeierter Soldat in preußischen Diensten, saß vierzehn Monate in Sedan, dann ward er weiter transportirt. Wir werden ihn bald mitten unter seinen Leidensgefährten antreffen.
In Sedan hatten die Gefangenen ein etwas milderes Loos. Namentlich erregte die schreckliche Lage derselben bei dem weiblichen Geschlechte viel Mitleid. Es wurde ihnen anständiges Gefängniß in der Caserne bewilligt und sogar Tabakrauchen gestattet. Der Trompeter Böck componirte einige Tänze, wofür ihm und seinen Cameraden ansehnliche Geschenke von Victualien und Getränken dargebracht wurden.
Am 18. December traten sie ihren Marsch an. Leider wurden die Unglücksgenossen getrennt. Ein Theil der Colonne ging früher ab. Sie gaben den Zurückbleibenden das Versprechen auf die Wände der Gefängnisse mit Kreide niederzuschreiben, was sie über die Schicksale erfahren würden, die ihnen bereitet werden sollten. Nun überkam die Bleibenden schon eine Vorahnung der Plagen, welche ihrer warteten. Am 31. December erschien ein Gensd’arm mit einem Sacke in der Hand. In dem Sacke klirrte und rasselte es. Der Mann zog plötzlich Ketten hervor, schloß zwei und zwei der Unglücklichen aneinander, befestigte dann vier Mann an einer Kette und befahl ihnen auf zweirädrige Karren zu steigen. In dem nächsten Gefängnisse angelangt, suchten die Geängstigten an den Wänden herum, ob nicht irgendwo eine versprochne Nachricht zu entdecken sei. Endlich fand Böck eine solche. Ein Schrei des Entsetzens entfuhr ihm, seine Kniee schlotterten, seine Haare sträubten sich. Auf der rußigen Kerkerwand standen mit Kreide die Worte: „Wir kommen auf 25 Jahre nach Toulon auf die Galeere!“ Todtenstille herrschte in dem düstern Gemache. Diese Männer hatten oft genug dem Verderben in’s Antlitz geschaut – aber das war zu viel. Erschossen, in Ketten geschmiedet werden, in finsterer Casematte fern von den Lebenden sitzen müssen, deportirt werden nach unwirthbaren Inseln – das Alles konnten sie ertragen, darauf waren sie vorbereitet, sie hatten es vielleicht erwartet – aber die Genossen von Räubern, Mördern, von dem Auswurfe der Menschheit werden zu sollen, angeschmiedet zu werden an das Laster, an die personificirte Verruchtheit, weil sie, einem edlen Drange folgend, das Schwert gegen Deutschlands Unterdrücker geschwungen – das konnte ihr Gehirn nicht fassen, das hielten sie für einen schrecklichen Traum. Einer nach dem Andern las die unheilverkündende Schrift, Alle glaubten, ein Spuk habe sie geäfft. In einer Art von Betäubung taumelten sie von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt.
In Saint Michel begegneten ihnen Bauerweiber, welche gegen die Gefangenen die Zungen ausstreckten, was die Verhöhnten durch eine gleiche Pantomime erwiderten. Im Nu riefen die Weiber den Janhagel des Fleckens zusammen; Steine, Koth, Knittel flogen auf die Unglücklichen, das Gedränge ward so dicht, daß endlich die Gensd’armen mit der flachen Klinge auf die Bande der Angreifer einhauen mußten. So kam man nach Lyon. Hier geschah das Furchtbare schon mit weniger Zurückhaltung. Die Schill’schen wurden mit Sträflingen zusammengeschlossen. Zwar waren es noch keine todeswürdigen Verbrecher, aber der Arm des Gesetzes hatte sich doch schon nach ihnen gestreckt. Böck ward mit seiner rechten Hand an die linke eines französischen Deserteurs geschlossen. Es war ein guter Camerad. Er erzählte dem Trompeter, wie er bestimmt wisse, daß sie nach Toulon auf die Galeeren gebracht werden sollten. Er beschwor ihn zu desertiren, und gab ihm als sicherstes Mittel die Fingirung einer Krankheit an. Der Trompeter überlegte sich den Vorschlag und in Vienne, wo sie erfuhren, daß der Kaiser Napoleon sich vorbehalte über die Dauer ihrer Gefangenschaft noch Befehle zu ertheilen, daß die 25jährige Haft also noch nicht bestimmt sei, beschloß der Trompeter sich krank zu stellen. Er marschirte noch bis Valence mit und meldete sich hier als krank. Er ward in’s Lazareth gebracht. Ein Arzt erschien und, wahrscheinlich um sich ein Ansehen zu geben, erklärte er den Patienten für unfähig zum Weitermarsche. Uebrigens blieben die Gefangenen eine Zeitlang in Valence. In dem Lazarethe hatten Nonnen die Abwartung der Kranken übernommen, Böck hatte sich durch Pflege der Blumen in dem Zimmer der ersten Schwester deren Zuneigung erworben. Die frommen Damen trugen ihm den Posten eines Klostergärtners an. Er zauderte aber nicht lange. Das Unglück hatte ihn mit seinen Cameraden so eng verbunden, daß er um keinen Preis sie allein ziehen lassen mochte, er schämte sich seiner Verstellung und als die Stunde des Abmarsches kam, meldete er sich gesund und zog mit den Brudern dem Elende entgegen. In Carpentras nahm der Maire die Gefangenen sehr freundlich auf. Er ließ sie herrlich bewirthen und zwar deshalb, weil sie Preußen waren. Sein Vater hatte zur Zeit der Revolution in Magdeburg Zuflucht gefunden und war von den Preußen sehr gut gehalten worden, aus Dankbarkeit labte der Sohn die Unglücklichen.
Ein feuchter Nebel, eine stinkende Luft umgab die Colonne, als sie in eine belebte, an der See gelegene Stadt zog. Gaffende Müßiggänger umringten die Marschirenden, durch enge, bald aufsteigende, bald sich niedersenkende Gassen wanden sich die Leidensgefährten. Endlich machten sie auf einem großen Platze Halt. Sie waren in Toulon. Das Ziel ihrer Reise war erreicht. In Toulon ist der größte Bagno. Sie mußten in einer Reihe sich aufstellen. Der Sergeant klingelte an der Thür eines großen Hauses. Ein widerwärtig aussehender Mann trat heraus und überlas die Papiere. Als er fertig war, sagte er kurz: „Ins Arsenal.“ Von nun an war das Loos der Schill’schen gezogen.
Je näher sie den verhängnißvollen Mauern kamen, je fürchterlicher ward ihre Angst. Immer scheußlichere Gestalten kamen ihnen entgegen. Ueber das Steinpflaster hin klirrten die Fußketten von Galeerensklaven. Die Gesichter dieser Elenden verriethen Jammer und Noth. Sie trugen rothwollene Mützen; auf den rothen Jacken, den leinenen Beinkleidern waren die Buchstaben GAL (Galérien) gedruckt. Man hatte sie immer Zwei und Zwei mit den Füßen zusammengeschlossen, hinter ihnen ging ein Mann mit einem Ochsenziemer.
Die Schill’schen Soldaten überlief ein Schauer. Man führte sie an eine Schwungbrücke, welche die Gefangenen überschritten. Als sie dieselbe hinter sich hatten, waren sie vorläufig geschieden aus dem Leben, aus der menschlichen Gesellschaft. Sie waren nur noch Geschöpfe mit Zahlen statt der Namen, die sie einst getragen; sie waren die Genossen der Feinde des menschlichen Wohls, die Kettenbrüder der Scheusale, welche nur zwischen viehischer Arbeit und der Peitsche des Aufsehers ihre Tage hinbringen. Die Brücke [248] führte an das Bollwerk, von hier aus sollten sie in den Bagno transportirt werden.
Da noch ein Mal, kurz vor dem Scheiden aus dem menschlichen Verbande, vor dem Hinabsteigen in eine Höhle, die vielleicht fürchterlichere Qualen bereitet, als die von fanatischen Gehirnen erzeugte, in der Satan und seine Dämonen ihr Wesen treiben sollen, da fällt ein Tropfen lindernden Balsams in die Seelen dieser Unglücklichen. Zahlreiche Zuschauer haben sich eingefunden, man sieht die gefangenen, geschmähten Soldaten. Sie tragen noch, wenigstens größten Theils, ihre verwitterte, schäbige Uniform, das Todeskleid ihres irdischen Glückes; ihre Häupter sind noch von den Czakos bedeckt, von denen zwar die Fetzen herabhängen; es ist der Moment, den unsere Abbildung darstellt.
Aber in all diesem Plunderstaat schreiten sie stolz einher, die Schill’schen Männer. Jeder sieht ihnen an, daß die schmachvolle Behandlung ihren Muth nicht gebeugt, daß sie nicht murren über die Leiden, daß sie nur seufzen und in ohnmächtiger Wuth mit ihren Ketten rasseln ob der Schmach, die ihnen angethan wird durch die Gemeinschaft mit der Bevölkerung des Bagno. Und wie sie nun ernst, eine Thräne zerdrückend, einen leisen Gruß dem fernen Vaterlande zusendend, durch die Menge wandeln, wankenden Schrittes – denn der Fuß dieser Freien kann sich an die Kette noch nicht gewöhnen, er ist nur gefesselt in dem Bügel seines Sattels gewesen, wenn der Reiter auf muthigem Rosse dahinsauste in den Kampf, über die Flur beim Schmettern der Trompete – wie sie so dahinwandeln, drängt sich die Masse heran. Das Elend, die Würde haben sich vereint, um einen Schrei des Erbarmens, der Entrüstung ertönen zu lassen. Man naht den Gefesselten, man sucht ihre Hände zu ergreifen, man ruft ihnen Worte des Trostes zu, man bietet den Verschmachteten kühlen Trunk – in Feindesland ein freundlicher Gruß, ein Blick, ein Zuruf des Mitgefühls. Schamvoll blicken die französischen Männer jene geschändeten Krieger an, schmerzerfüllt heben die Weiber ihre Blicke zu ihnen empor, jammernd sehen es die Kinder. Das war ein Tropfen Balsams in die Seelen, die zerrissenen. Die Soldaten Schill’s haben Menschen gefunden, die Thränen weinen über das harte Loos oder die den Blick zur Erde senken voll Scham über die kleinliche Rache des großen Kaisers. Das erhebt sie, die Dulder, das läßt sie ihr Haupt stolzer tragen, und während der Sergeant und die Soldaten das Andrängen der Menge verhindern, schreiten sie, an einander geklammert, sich stützend, den Booten zu. Die Ruder werden eingesetzt; „abgestoßen!“ tönt das Commando. Pfeilschnell fliegen die Barken über die Wogen. Wenige Minuten später –, ein ungeheures Thor öffnet sich. Schill’s Soldaten sind im Bagno von Toulon.
Die Aufnahme in diese Höhle des Elends und Lasters war schon entsetzlich. Nachdem die Uniformen oder sonstigen Kleider ihnen förmlich vom Leibe heruntergerissen waren, bekleidete man die Soldaten Schill’s mit den Anzügen der Sträflinge. Statt der Nummer ihrer Regimenter oder Bataillone hatten sie das Zeichen Gal. auf Rock und Beinkleid. Dann führte man sie an das Sclavenschiff „Lazare“. Durch die enge Luke stieg Einer nach dem Andern auf das Deck. Die Angekommenen wurden wie Thiere in einem Pferch gezählt. Derjenige, welcher dieses Geschäft verrichtete, hatte das Aussehen eines Teufels. Es war ein Corse, fast nußbraun im Gesichte, seine Lippen mit dicken, schwarzen Gewächsen bedeckt; jeder der Schill’schen Männer erhielt einen furchtbaren Hieb mit der Peitsche durch dieses Ungethüm. Als sie das Deck betraten, sahen sie sich zwischen zwei Reihen Galeerensclaven gestellt. Die rechter Hand trugen rothe – die links Stehenden schwarze Bagnouniform. Auf den schrillenden Ton einer Pfeife trat vollständige Ruhe ein. Zur Freude der Unglücklichen schlugen plötzlich laut und vernehmlich die Töne der deutschen Sprache an ihre Ohren, der Namensaufruf erfolgte und der Rufer sprach deutsch. Er war Sträfling wie die Andern, aber er schien den Armen ein Engel.
Als die grauenvolle Musterung vorüber war, ertheilte man den Befehl nach dem Hinterdeck zu gehen. Bei der Wendung fühlte Böck einen Händedruck und erkannte in einem der schwarzgekleideten Sclaven seinen ehemaligen Wachtmeister. „Gerechter Gott!“ flüsterte der Trompeter. „Du bist es?“ „Still,“ wimmerte der Gefragte „hier findest Du lauter Cameraden.“ Als Böck die Sträflinge genauer betrachtete, entdeckte er, daß die meisten der Schill’schen Soldaten, die vor ihm nach Toulon gekommen waren, in den Kleidern der Galeerensclaven steckten.
Es nahte der schrecklichste Augenblick. Die Gefesselten wurden gezwungen sich zu setzen, der erste Knecht (Chaloupier) zog unter der Ruderbank eine sechsundzwanzig Pfund schwere Kette hervor, deren unterstes Ende mit einem Ring versehen war. Diese Ringe wurden um die Füße der Unglücklichen gelegt und nun begann das Einschmieden. Mit jedem Schlage zogen sich die Herzen der Dulder krampfhaft zusammen, der Seelenschmerz überwand die körperliche Pein; wenn der Hammer, von dem Ringe abspringend, mit schwerer Wucht den nackten Fuß traf, zuckten die Geschändeten nicht. Sie waren durch das Elend stumpf gemacht gegen die Gewalt des Schmerzes; dann folgte das Rasiren der Haare, dann erhielten sie in hölzernen Trögen ein spärliches, schlecht zubereitetes Essen, dann führte man sie an das Bassin, wo sie, bis zu den Hüften im Wasser stehend, pumpen mußten und noch an demselben Tage das gräßliche Schauspiel der Zermalmung eines Menschen durch die Pumpen genossen. Endlich kam die Nacht, der Schlaf senkte sich auf diese armen, gequälten Seelen nieder, und auf der harten Bank ruhten die Leidensgenossen und träumten von der fernen Heimath; sie schliefen Alle sanft, nur zuweilen ertönte ein leises Wimmern, wenn der Eisenring die Knöchel blutig rieb, oder wenn der Mitgefesselte die Kette scharf anzog. Fortwährend patrouillirte der Profoß zwischen den Reihen der Schläfer und zuweilen traf ein Hieb seiner Peitsche Diesen oder Jenen, der die Stille der Nacht durch Geheul unterbrach. Die Schill’schen Männer bemerkten wohl, weshalb diese Züchtigungen in der Nacht erfolgten, die nur alte Sträflinge trafen, deren Verworfenheit die Feder nicht schildern kann. Am Morgen verließen die meisten Sclaven unter scharfer Bedeckung das Schiff, und die Neuangekommenen wurden mit ihren Cameraden allein gelassen. Böck fand hier unter Andern auch die Söhne des Marketenders vom Schill’schen Corps wieder. Man hatte diese Knaben an die Kette der Galeerensträflinge geschmiedet. Einer von ihnen war erst eilf Jahre alt!!! Von dem gräßlichen Einerlei, von den haarsträubenden Episoden im Kerker, auf dem Arbeitsplatze, von den widerwärtigen Krankheiten und Zufällen aller Art könnte umfangreich und erschütternd geschrieben werden. Die Geschichte jedes Einzelnen dieser edlen Gefangenen ist ein Register von Anklagen gegen die Tyrannei ihrer Henker. Dennoch hielten sich diese Männer von Eisen aufrecht, sie trösteten sich gegenseitig mit der Hoffnung auf bessere Zeiten, sie weinten vor Unwillen, wenn sie das Schicksal Anderer betrachteten, ohne ihres eigenen zu gedenken. Ein solcher Schmerz bemächtigte sich ihrer, als Heinrich von Wedell in Sclavenkleidern nach Cherbourg transportirt wurde, um unter seinen übrigen Leidensgenossen, welche dort eingekerkert waren, die schmachvolle Arbeit des Bagnoverbrechers zu verrichten.
Erst zwei Jahre später trat eine Besserung des harten Looses ein. Massena verwendete sich für die Unglücklichen, und so hatten sie das Glück von den Galeeren auf die Inseln versetzt zu werden. Porqerolles, Isle de Levant und Porteros nahmen die Soldaten Schill’s auf. War auch die Arbeit eine harte – sie saßen doch nicht angeschmiedet an die Bänke der Galeeren, sie sahen doch den Himmel, das Meer und athmeten die reine, entzückende Luft der Hyérischen Inseln. Wohl brauste das Meer gegen die Küsten und brachte Grüße aus dem fernen Vaterlande, die Verlassenen meinten wenigstens, es rufe ihnen die Brandung Worte der Liebe und Erinnerung zu. Noch immer aber kein rettender Engel, der sie hinüberführte über die schäumenden Wogen. Da endlich am 9. Mai des Jahres 1814 schallt es durch die Lüfte: Freiheit! Freiheit! Es ist ein süßer Klang, ein Klang, der beginnt wie Äeolsharfentöne und immer weiter und mächtiger anschwillt wie Donnergebrause und Posaunenton. Sie können diese Töne kaum ertragen, die Unglücklichen, Geschändeten. Das Gefühl des Glückes überkommt sie so plötzlich, daß es sie niederschmettert. Sie glauben zu träumen, und erst als sie erfahren, wie die Kraft einer halben Welt den Gewaltigen gestürzt, dessen Wink sie in Fesseln geschlagen, da fallen sie nieder, im Uebermaß der Freude umarmen sie ihre Henker.
Ein großer Theil der Schill’schen Männer machte, aus der Gefangenschaft erlöst, den Feldzug des Jahres 1815 mit. Die 1809 Entkommenen sah man fast alle in den Reihen der Kämpfer von 1813–15. Man mag das Verfahren Schill’s und seiner Genossen beurtheilen wie man will: sie sind die Ersten gewesen, welche den großen Aufruf der allgemeinen Befreiung in die geknechtete [249] Welt schleuderten. Um die Häupter dieser Männer zieht sich aber außerdem noch der Glanz einer romantischen und zugleich wilden Poesie. Ihre Schicksale auf dem Kampfplatze in Sieg und Niederlage, ihre Leiden in der Gefangenschaft, ihre Befreiung lassen sie den Augen der Nachwelt gleich fabelhaften Gebilden erscheinen, und nur wenn man hier und dort noch einen jener wackern Männer, alt, gebeugt, in geachteter, oft hoher Stellung sich bewegend, erblickt, wird man daran erinnert, daß die Schill’schen Reiter wirklich dereinst das deutsche Land durchflogen, den blitzenden Säbel in der Rechten; begeisterte Söhne des Vaterlandes, als ihre Klingen die Feinde niederschlugen; duldende Märtyrer der Freiheit, als die Kette der Galeerensclaven an ihren Füßen klirrte.
Es giebt Dinge, Stätten, Menschen, deren bloße Namen schon uns mit dem Reize einer geheimnißvollen Poesie anwehen und unsere Phantasie zu den überschwänglichsten Gebilden verlocken. Einen solchen Zauber übt unter andern jener vielgenannte Hochpaß, der in den Penninischen Alpen aus dem Rhonethale des Wallis über den Großen St. Bernhard in’s Piemont hinüberführt. Sein tausend Jahre altes Hospiz, fast beständig in Schnee und Eis vergraben; die menschenfreundlichen Mönche, die es bewohnen, mit ihren klugen rettenden Hunden, von deren Intelligenz uns so manche rührende Geschichte überliefert ist; das grausige Todtenhaus, die Morgue, mit den unverwesten Leichen der auf dem Hochpfad verunglückten Wanderer – das Alles verwebt sich in unserer Vorstellung zu einem unbeschreiblich romantischen Ganzen.
Die Wirklichkeit stimmt freilich nicht in allen Stücken mit diesem Bilde zusammen; dennoch aber wird Jedem der Moment, da er zum ersten Male als Gast einzog in das Hospiz des heiligen Bernhard, ein unvergeßlicher sein. Stundenlang ist er im Zickzack mühsam aufgestiegen, bald diesseit, bald jenseit der wilden Drause; stundenlang, bereits von der elenden Schenke von Proz an, die einsam daliegt in der unheimlichen Steinwüste des welthistorischen „Engpasses von Marengo“, ist jede Spur von Vegetation hinter ihm zurückgeblieben; stundenlang bilden nackter Fels und schmutziger Moränenschutt seine einzige Umgebung, – da mit einem Male hört er ein Glöcklein hell durch die Lüfte schallen; er blickt auf, vor ihm zwischen den düstern Granitwänden schwebt, wie von Wolken getragen, der massive hohe Steinwürfel des Klosters, das lang erhoffte Rastziel. Wenn ihm dann ein paar der mächtigen gelbbraunen Hospizdoggen schnobernd und schweifwedelnd entgegenspringen; wenn die Schelle durch den Kreuzgang hallt, den neuen Ankömmling zu verkünden; wenn ihn schließlich am Portale einer der schwarzröckigen Chorherren vom Orden des heiligen Augustin mit französischer Artigkeit bewillkommnet, – er fühlt sich überwältigt von dem Eindruck von Ort und Scene, für die er in seinen Reiseerinnerungen vergeblich nach Vergleichen sucht.
Im Sommer, wenn der Fremdenstrom, der sich alljährlich über die Schweiz ergießt, seine Wellen auch über den Bernhard spült, entfallet sich ein gar buntes Leben auf dem eisumstarrten Berge. Tag um Tag kommen dann aus Martigny im Norden und aus Aosta im Süden stattliche Cavalcaden heraufgezogen mit Saumrossen und Maulthieren, mit Dienern und Courieren, die das Obdach des Klosters ansprechen; im Refectorium schwirrt’s polyglottisch durcheinander von Schweizern, Deutschen, Engländern, Russen, Franzosen; die gastlichen Mönche machen mit weltmännischer Liebenswürdigkeit die Honneurs ihres Hauses und in den untern Gelassen thun sich die Führer und Treiber und die ärmeren Wanderer gütlich mit den Knechten des Stiftes, zugleich aber auch die unglücklichsten aller menschlichen Geschöpfe, welche zu den stereotypen Gästen des heiligen Bernhard gehören, jene unheimlichen Cretins, die dem untern Rhone- und dem grandiosen Thale von Aosta eine so traurige Staffage verleihen.
Welch anderes Bild aber im Winter! Was für eine furchtbare Einsamkeit alsdann für das Häuflein Mönche oben, achttausend Fuß hoch über der See bei sibirischen Kältegraden, – eine Abgeschiedenheit, gräßlicher als das Schweigen von La Trappe! Unter haushoher Schneelast liegt weithin die Landschaft, eine einzige augenblendende weiße Grabdecke, aus welcher kaum die obersten Spitzen der riesenhohen Stangen emporragen, welche den Saumpfad einfassen, – und doch ist auch im Winter der Paß betreten, allerdings nicht von Touristen, nur ab und zu von einem Landmann aus Piemont oder aus dem Wallis, einem Handwerksburschen, einem Drehorgelkünstler oder Murmelthierbesitzer, einem Weinsäumer, wohl gar von einem verlassenen, bettelnden Weibe.
Gewiß mag es reich die Mühe lohnen, sich einmal auch dies Winterbild aus den Penninischen Hochalpen zu beschauen; man muß aber Dr. Noë sein, der, wie er den Lesern dieses Blattes so meisterhaft beschrieben, in der Sylvesternacht mutterseelenallein zwischen den Tiroler Schneehörnern umherirrte, oder jenes Original von Briten, ein Mitglied des waghalsigen Alpenclubs jedenfalls, das sich jählings in den Kopf setzt, einmal, nicht wie landüblich im August, sondern im März durch die Schweizer Berge zu streifen – wenn einen der Gedanke schon an derlei Winterplaisir nicht unter Hautschauern und Haarsträuben in die Ecke am warmen Ofen scheuchen soll.
Nach manchem mißglückten Versuche, nach vielerlei unfreiwilligem Aufenthalt durch Wind und Wetter, sitzt dieser kühne Albionsohn zu Anfang April des vorigen Jahres endlich richtig und leibhaftig im Hospiz des St. Bernhard, von den frommen Augustinern gastlichst aufgenommen und sorglichst verpflegt; doch – „die Partie war im Grunde langweilig zum Sterben“. Also berichtet unser Engländer in einem vielgelesenen Londoner Journal, dem wir, einmal abweichend von dem alten Grundsatze der Gartenlaube, ihren Lesern nur Originales zu bieten, die nachstehenden Einzelnheiten nacherzählen, um, wie es einer Zeitschrift geziemt, vor allen Dingen – zeitgemäß zu sein. Was aber kann zeitgemäßer erscheinen in diesen schönen Märztagen von 1865, wo der Winter mit störriger Zähigkeit seine Herrschaft zu behaupten strebt, der Schnee zu Mauern sich anhäuft auf Weg und Steg und alle Bahnzüge in seinen undurchdringlichen Schichten stecken bleiben, als ein Artikel, in welchem Eis und Schnee und Frost und Kälte die Hauptrollen spielen?
Alle Stoffe der Unterhaltung waren erschöpft – schreibt der Wintergast auf dem Bernhard weiter –, sämmtliche berühmte Alpenzüge vom Karthagerfeldherrn bis zu Macdonald mit seinen Dragonern besprochen, kritisirt, erörtert; das unglückliche Piano schier zu Tode gemartert mit allen erdenklichen Walzer- und Polkaklängen und selbst die Orgel zu profanen Märschen gezwungen worden, ich sah mich am Ende meiner Ressourcen, – da, in der Frühe des vierten Morgens meiner Hospizwinterfrische, begaben sich zwei denkwürdige Ereignisse. Erstens hatte der Himmel sich plötzlich ausgeschält aus den dicken Nebeln, die uns seither, wie auf einem Isolirschemel, von der Welt abgeschnitten hatten, und zweitens kam uns die Kunde, daß eine Gesellschaft italienischer Holzschnitzler auf ihrer Wanderung nach dem jenseitigen Rhonethale glücklich bis nach St. Remy, der piemontesischen Grenz- und Zollstation, etwa eine Stunde unter der Jochhöhe, vorgedrungen war. Hier hatten gestern Abend zwei von dem Trupp den Einfall gehabt, sich von der Karawane zu trennen und in einer dem Kloster gehörigen Sennhütte, die jetzt leer und verlassen stand, die Nacht zuzubringen. Heut’ Morgen war der übrige Theil des Zugs nach dieser Hütte nachgekommen, – allein, merkwürdig, entsetzlich! da war Niemand zu finden, auch kein Anzeichen vorhanden, welches darauf hinwies, daß jemand während der Nacht hier gewesen. Der frischgefallene Schnee hatte überdies alle Spuren der beiden Wanderer verweht; es galt darum kein Säumen. Sofort war ein Bote nach dem Kloster vorausgesandt worden, um Meldung von dem Vorfalle zu bringen und die Aufsuchung und, wenn noch möglich, Rettung der beiden Verirrten zu veranlassen.
Tiefer denn je lag im letzten Frühjahr der Paß im Schnee vergraben, selbst von den oben erwähnten zehn bis zwölf Fuß hohen Pfählen, die an den erhabensten Stellen des Pfades errichtet sind, um im Winter die Grenzen desselben zu bezeichnen, ließ sich nichts mehr erblicken, und nur mit der äußersten Anstrengung war es dem Boten gelungen, sich zum Hospiz aufzuarbeiten.
[250] Wir saßen eben beim Kaffee, als er eintrat. Ohne eine Minute zu verlieren, denn die Zeit drängte, standen vier der ehrwürdigen „Väter“ von ihrem Mahle auf, um zunächst ihre Kleidung zu einem Kampf mit den Elementen geschickter zu machen. Zwei der Chorherren schnallten sich Ranzen mit den nöthigen Provisionen auf den Rücken, der dritte versah sich mit einem starken Seil und der vierte schulterte eine handfeste Axt, mit der erforderlichen Falles Stufen in das Eis gehauen werden sollten.
Mit höchster Spannung sah ich den Vorbereitungen zu, mit denen man sich auf das Liebeswerk rüstete; ich brannte vor Verlangen, der Expedition mich anzuschließen, mochte mich aber nicht ohne Weiteres zum Begleiter anbieten, weil ich aus eigner Erfahrung weiß, welch’ gerechtes Bedenken der geschulte Alpengänger trägt, Jemanden an gefährlichen Unternehmungen Theil nehmen zu lassen, von dessen Bergtüchtigkeit ihn noch keine Proben überzeugt haben.
Pater Christoph, dessen freundliche Zuvorkommenheit mancher Tourist in dankbarer Erinnerung hegen wird, schien zu ahnen, was in mir vorging.
„Der Herr ist jedenfalls kein Neuling in Gletscherfahrten,“ frug er, „und hilft uns wohl die Unglücklichen aufsuchen?“
Man kann sich denken, daß ich Ja sagte und versprach, in fünf Minuten zum Abmarsch bereit zu sein.
Die Klosteruhr hatte eben acht Uhr geschlagen, da uns die Nachricht von dem Begebniß wurde, und noch war es nicht halb neun, als wir über die Eisdecke des Sees den Südabhang des Berges hinabschritten. Zwei der berühmten Bernhardshunde trotteten neben uns her; ihr ganzes Thun und Gebahren wollte indeß nicht recht der Vorstellung entsprechen, die in meiner Einbildung von diesen Thieren lebte. Mir schwebte nämlich jenes bekannte Bild vor, auf welchem eine Bernhardsdogge zu sehen ist, wie sie, eine Weinflasche und einen Speisekorb um den Hals, mit ihren Pfoten den Schnee aufscharrt, unter dem sie einen verschütteten Menschen ausgewittert hat. Ich äußerte mein Befremden über das Benehmen der Hunde.
„Zum Auffinden Verunglückter sind unsere Hunde in der That nichts weniger als geeignet,“ erwiderte der mir zur Seite gehende Pater; „ihre Function, und das ist eine sehr wichtige, besteht vielmehr darin, den rechten Paßpfad aufzuspüren, wenn dieser vom Schnee verweht ist; hierin aber leisten sie Außerordentliches und haben nirgends Ihresgleichen.“
Glücklicher Weise war die Kälte in der letzten Zeit sehr stark gewesen, so daß sich’s auf dem festen knirschenden Schnee ziemlich leicht marschirte, denn nichts ermüdet mehr, als wenn man bei jedem Schritte knietief in die weiße Winterdecke einsinkt. Die Scenerie, die uns umgab, war groß in ihrer Wildheit. Schwere Wolken strichen tief zu unsern Füßen, jetzt wie toll durcheinander treibend, jetzt langsam kriechend dahinziehend, und ungestüme Windstöße peitschten uns ab und zu den kalten Schnee in das Gesicht, daß wir zu erblinden fürchteten und Ohren und Nasen uns schmerzten, als würden sie von spitzen Nadeln bearbeitet.
„Eigentlich ist’s nicht der Brauch,“ begann Pater Christoph, „daß wir Väter selbst die verirrten Reisenden aufsuchen gehen; diese pflegen in der Regel in dem kleinen Zufluchtshause nahe bei der Cantine von Proz oder unweit St. Remy zu warten, bis einer unserer Knechte, ein sogenannter Marronnier, mit einem Hunde zu ihnen hinabkommt und sie den letzten gefährlichsten Stieg zum Hospize heraufgeleitet; in Fällen wie der heutige aber machen wir eine Ausnahme, da ist es nothwendig, daß unser soviel als möglich sich auf den Weg begeben, um nach allen Seiten Nachforschungen anstellen zu können. Gott sei Dank, daß der Himmel leidlich klar ist; so denke ich, werden wir bald auf die Armen stoßen, – wenn sie unserer Hülfe überhaupt noch bedürfen. Hier oben auf unserm Berg tritt der Tod den Menschen noch schneller an, als anderswo.“
Er schwieg, auch wir Anderen zogen in ernsten Gedanken schweigend fürbaß, bis wir – es mochte gegen 10 Uhr sein – das Zufluchtshaus erreichten. Hier hatte sich ein Trupp von etwa fünfundzwanzig Leuten, Männern und Weibern, zusammengedrängt, die sehnsüchtig der Escorte nach dem Kloster harrten. Einer der Mönche blieb als Führer der Karawane zurück, wir Uebrigen marschirten weiter der Sennhütte zu, in der Richtung des nach mehr nach Osten hinüber gelegenen Col de Fenêtre. Die Vermißten, Mann und Frau, waren aus dem Val de Lys gebürtig, einem der prachtvoll umrahmten Thäler, welche sich an den Südfuß des Monte Rosa schmiegen. Seit undenklichen Zeiten haben die Bewohner dieses Thals sich von allem engern Verkehr mit ihren Nachbarn möglichst fern gehalten und gewissermaßen ein Völkchen für sich gebildet. So mochten denn allerhand Neckereien unter dem Reisezuge gefallen sein, Sticheleien hüben und drüben, und unser Pärchen, das sich der Ueberzahl natürlich nicht gewachsen fühlte, beschloß sich von den Anderen abzusondern und jene einsame Viehhütte zum Nachtquartier zu erwählen.
Nach einer halben Stunde großer Strapazen langten wir an der Sennte an, indeß der Augenschein lehrte, daß seit Wochen kein anderes Wesen in ihr gehaust hatte, als Murmelthiere, von denen einige mit der halb schleichenden halb hüpfenden Bewegung, die ihnen eigenthümlich ist, das Weite suchten, als wir uns näherten. Wir vertheilten uns und begannen, um waidmännisch zu sprechen, ringsum das Terrain abzusuchen, uns hauptsächlich auf der Seite der Felsen haltend, welche gegen den Anprall des Windes Schutz gegeben hatten, weil wir hier am Ersten noch die Spuren der Vermißten unverweht vom Schnee zu entdecken hoffen durften. Pater Christoph ließ noch ein wahrhaft höllisches Gebrüll los, welches einen Oberländer Jodler vorstellen sollte – aber keine Menschenstimme antwortete, nur das Echo trug den Schall von Zinke zu Zinke, bis er tief unten in den Schluchten des Gebirges langsam erstarb. Dann ward ein Punkt, eine Viertelstunde abwärts, zum gemeinschaftlichen Rendez-vous ausersehen, denn was in den tieferen Regionen Schnee, das war höher hinauf jedenfalls festes Eis und von Spalten und Schrunden durchsetzt, so daß es Gefahr hatte, sich allein und ohne das helfende Seil weiter vorwärts zu wagen.
Wir gingen aus einander, wir streiften und suchten – nichts, nichts, keine Fußstapfen, keine Menschen. Schon trafen wir Einer nach dem Anderen schweren Herzens an dem bestimmten Sammelplatz wieder ein, nur der Vierte fehlte noch, da gellte ein Schrei, der die Luft erschütterte. Wir schauten auf, links auf einer Felskuppe stand unser vierter Mann und producirte allerhand Bewegungen und Körperschwenkungen, welche wir nur als eine Appellation an unsere Hülfe auslegen konnten. Eilends schritten wir ihm zu, – und, Gott im Himmel, da sahen wir sie, die wir suchten, gerade zu Füßen des Mönches, – aber tief in einem Eisschrunde. Wie nun bis zu ihnen hinunter gelangen? Das war eine Aufgabe, die all’ unsere Geschicklichkeit und Kraft in Anspruch nahm.
Der junge Pater war auf seiner Streife an die Stelle gelangt, wo der Gletscher mit den Felsen zusammenstieß, über die bisher unser Weg gerichtet war; hier konnte er nicht weiter, denn ein tiefer Schlund gähnte zu seinen Füßen, den auf der einen Seite eine fast steilrechte Steinwand, auf der andern der Eiswall begrenzte, welcher sich in einem Winkel von gewiß fünfundsechzig Grad hinabsenkte, – daß unten in der kalten Spalte, sechzig Fuß tief unten in der grausigen Enge, entdeckte er die Verirrten. O Freude, – sie lebten noch! Gott sei Dank! es schien auch keiner der Beiden ernstlich verletzt zu sein, nur die grimme Kälte mochte ihnen arg zugesetzt haben, so daß sie nicht mehr die Kraft und Beweglichkeit behalten hatten, sich aus ihrer qualvollen Lage zu befreien. Wir überzeugten uns, daß von der Felsseite aus nichts zu unternehmen war, von hier aus konnten wir den Unglücklichen nicht beikommen; also rasch am Rande des Schrofens hin, um, den Spalt umgehend, den Gletscher zu erreichen. Ein langer Umweg das, allein ein Ueberspringen des Schlundes lag außer dem Bereiche der Möglichkeit, und den verschiedenen Schneebrücken, die über die Spalte führten, durfte nicht getraut werden.
„Die da hält“, rief Pater Christoph und setzte kühn den Fuß darauf. Kaum aber die Mitte passirt, krach! da bricht der Damm zusammen und ohne das Seil, das um seine Hüften geschlungen war, dürfte der barmherzige Samariter wenig Aussicht gehabt haben, sein Hospiz jemals wieder zu sehen. Endlich – ich litt nicht wenig dabei, denn ich marschirte als Zweiter und jeder Ruck an dem Seile schnürte mir die Taille zusammen – hatten wir ihn wohlbehalten wieder heraufgelootst, weiter ging es und in kurzer Zeit standen wir am Ziele.
O weh, – unser Seil war um mindestens fünf Ellen zu kurz, um bis auf den Boden der Schlucht zu reichen. Rasch denn zur Axt gegriffen! Abwechselnd hieben wir in das Eis, tief genug, [251] um einen Alpenstock, einen derben eschenen Knüttel, fest in das ausgehauene Loch zu bohren. Daran wurde das Seil geknüpft, das nun die erforderliche Länge hatte. Aber neues Hinderniß! Die Finger des Mannes unten waren so starr vor Kälte, daß er sie nicht rühren konnte und sich ganz außer Stande befand, das Tau seiner Frau um den Leib zu schlingen.
„Ich will Dir’s umschlingen,“ hörten wir ihre Stimme unten sagen, „laß Du Dich zuerst hinaufziehen, Joseph, bitte, bitte.“
Mit einer hier sehr wenig angebrachten Galanterie bestand aber der Mann darauf, daß seine bessere Hälfte zuerst gerettet werde, und all’ unser Zureden, unser Drohen und Schelten selbst vermochte nicht den Ritterlichen zu anderem Sinne zu bekehren.
Einem Menschen, der soeben die Nacht in einem Eisschrunde zugebracht hat, kann man nichts ernstlich übel nehmen; so fingen wir denn an, wieder der Reihe nach, Stufen in die Eiswand zu schlagen, auf denen der Jüngste und Leichteste von uns in die Tiefe hinab klimmen sollte. Das gab eine furchtbare Arbeit, die Finger waren uns nachgerade so klamm geworden, daß wir nur mit großen Pausen die Axt handhaben konnten und nahe an zwei Stunden brauchten, ehe wir die fünfundfünfzig Stufen zu Stande hatten.
Den Anblick der Frau vergeß’ ich mein Lebtag nicht mehr! Es war ein blutjunges Ding, kaum siebenzehnjährig, ihr Antlitz aber leichenbleich, fast so weiß wie der Schnee, der ihr beinahe zum Bahrtuch geworden wäre. Blutflecke sprenkelten ihre blauen Lippen, in die sie in der Todesangst der furchtbaren Nacht unwillkürlich gebissen haben mochte. Ihre großen italienischen Augen schienen geblendet und wie gebannt von dem Schneewall, nach dem sie starrten, und selbst jetzt, als endlich die gewisse Rettung da war, konnte sie nur in einen Strom von Thränen ausbrechen und kaum vernehmbar lispeln: „Gerettet, gerettet, gerettet!“
Wir hatten unsere Noth, die Arme das letzte Stück der Eiswand hinauf zu bugsiren. Von Neuem mußte die Axt ihre Schuldigkeit thun und eine Art Vorsprung ausmeißeln, auf dem das Weib ruhen konnte, während zwei der Mönche das Seil bis zu unserem Platze heraufbrachten, um so die Frau vollends in die Höhe zu ziehen.
Viel schwerer noch ward uns die Rettung des Mannes. Seine froststeifen Glieder machten ihn so hülflos wie ein kleines Kind und seine Last nicht leichter. Indeß schließlich hatten wir auch ihn auf sicherem Boden und konnten, nach einer uns selbst reichlich, den Erretteten mit weiser Mäßigkeit administrirten Herzstärkung, unsern Rückmarsch nach dem Kloster antreten, in freudigerer Stimmung, als wir ausgezogen waren. Langsam, sehr langsam kamen wir vorwärts, denn jeder Schritt verursachte den dem Eise Entrissenen Folterpein. Dennoch durften wir ihnen das Gehen nicht erlassen: es war Lebensfrage für sie, daß ihre Glieder in Bewegung kamen und das Blut wieder wärmend durch ihre Leiber pulsirte.
Nur nach und nach, in abgerissenen Brocken brachten wir aus ihnen heraus, wie das Unglück sich zugetragen hatte. Der Abend war noch nicht weit vorgerückt gewesen, als sie von St. Remy nach der Sennhütte aufgebrochen waren, deren Lage sie genau kannten. Kaum aber eine halbe Stunde unterwegs, sahen sie sich in einen Nebel eingehüllt, der ihnen fürder alle Orientirung unmöglich machte. Noch versuchten sie die Richtung zu halten, allein bald wußten sie nicht mehr, wo sie waren. Plötzlich stießen sie wieder auf die Spur eines Weges; sie hielten ihn für den Saumpfad nach dem Kloster und beschlossen, ihm zu folgen. Das Hospiz mußte ja endlich doch kommen, und dort konnten sie behaglich rasten nach allen Beschwerden ihrer Wanderung! Mühsam tappten sie fort auf dem Wege, – der aber führte nicht zur Jochhöhe empor, es war vielmehr der Steig, der sich, im rechten Winkel mit dem anderen, seitwärts gen Osten nach dem Col de Fenêtre hinüberzieht. So hatten sie sich arglos dem tiefen Bergschrunde genähert, den schützender Weise eine hohe Schneeschicht überdeckte. Schon mochten sie eine gute Strecke auf dieser dahin gewandelt sein, ohne Ahnung von der Gefahr, der sie entgegen gingen, als mit jenem furchtbaren Getöse, von dem uns Gletscherfahrer und Gemsjäger als einem der schauerlichsten Eindrücke ihres Lebens erzählen, die Schneelast auseinander barst und sie mit hinabriß in den Abgrund. Die Masse des gebrochenen Schnees ward ihre Rettung, sonst wäre ein grausiger Tod, ein Zerschellen ihrer Glieder an den harten Eis- und Felswänden, ihr unfehlbares Loos gewesen. Zum Glück schienen Beide durch die jähe Katastrophe weder Besinnung noch Geistesgegenwart verloren zu haben; sie sahen ein, daß nur eine unablässige Bewegung ihnen den kalten Tod vom Leibe halten konnte, und so stampften sie Stunde um Stunde unverdrossen, bald mit dem einen, bald mit dem anderen Fuße, die Erde, da sie im Dunkel der Nacht den Fleck, wo sie ihre Rutschpartie gelandet hatte, nicht zu wechseln wagten.
Endlich aber ging ihnen die Kraft aus. Inzwischen dämmerte der Morgen herauf, und sein graues kaltes Licht zeigte ihnen erst die volle Summe des Elends, das über sie verhängt war. Keine Möglichkeit des Entkommens, nirgends eine Aussicht auf Hülfe! Ohne Aufhören rieselte der Schnee vom Himmel, sie wußten nur zu gut, daß er ihre Spur verwischte, – wie sollte man sie finden? „Nun bedeckt mich mein Grabtuch,“ jammerte der Mann und warf sich mit wildem Schmerzruf zu Boden, wo er in dumpfer Verzweiflung liegen blieb. Zwei Stunden später, und seine Hände und Füße waren schon steif vor Kälte.
Es hatte uns Mühe gekostet, ehe wir ihnen diese Geschichte entlockten, immer und immer versagte ihnen die Sprache wieder in der Erinnerung an die durchlebte Schreckensnacht. Rührend aber war es, wie Jedes der Beiden den Muth, die Geistesgegenwart, die Standhaftigkeit des Anderen rühmte und selbst der schwache, kopflose, verzagende Theil gewesen sein wollte.
„Ohne ihn wäre ich nicht mehr,“ flüsterte das junge Weib, und schaute mit einem Blicke innigster Liebe den Gatten an.
„Nein, sie ist’s, meine Marietta, der wir das Leben verdanken,“ betheuerte der Mann mit matter Stimme. Erst zwei Tage zuvor war das Paar in der Kirche von Gressonay St. Jean verbunden worden und eben auf seiner Hochzeitsreise nach Freiburg in der Schweiz begriffen, wo es in einer großen Parquetmanufactur Arbeit zu finden hoffte.
Der saure Transport nahte seinem Ende; wenig Schritte vor uns erhob sich das Hospiz in den jetzt fast ganz klar gewordenen Himmel. Mit einem Male stieß die Frau, die sich auf dem Wege daher überaus tapfer erwiesen hatte, einen schrillen Schrei aus, und ehe wir sie auffangen konnten, sank sie bewußtlos nieder. Im ersten Moment fand ich keine Erklärung für diese unerwartete Episode, da fiel mein Blick auf das kleine Steinhaus mit dem Gitter uns gegenüber; jetzt wußte ich, was die Arme zusammenbrechen ließ. Wir waren eben bei jener furchtbaren Morgue vorübergezogen, in denen die Leichen verunglückter Bernhardsgänger aufbewahrt werden, deren Identität nicht hat ausgemittelt werden können, oder die Niemand reclamirt hat. Die Dünne der Luft schützt sie bekanntlich vor der Verwesung, und die grausige Gesellschaft in dem Häuschen, worin sie zum Theil schon seit vielen Jahren weilt, sieht aus, als habe sie eben erst der Tod ereilt. Wie an die Wand gelehnt stehen sie, die gespenstischen Gestalten, darunter eine – die eines Weibes mit einem Kinde im Arme – welche vor allen frappirt. Nicht blos die Züge, auch der Ausdruck ihres Gesichts, in dem sich die ganze unendliche Todesangst malt, sind noch unberührt geblieben von der zerstörenden Zeit, – ein Bild, bei dessen Anschauen der Nervenstärkste sich des Schauders nicht erwehren kann. Für unsere kaum dem Tode Entronnene war der Anblick zu viel gewesen; es mochte ihr vor die Seele getreten sein, wie leicht auch ihr ein Platz in dieser entsetzlichen Todtenkammer hätte beschieden sein können.
Wir trugen die Ohnmächtige in’s Kloster, und bald schlug sie die Augen wieder auf. Schon am andern Morgen aber fühlten sich Beide wieder kräftig genug, ihre so furchtbar unterbrochene Flitterreise fortsetzen zu können. Es war eine ergreifende Scene, als das Paar von seinen Rettern Abschied nahm, die guten Mönche schüttelten indeß traurig den Kopf, wie die Hand des Mannes in den ihren lag.
„Der arme Bursche wird Zeit seines Lebens ein Andenken davon tragen an seine Nacht im Gletscherspalte,“ sprach Pater Christoph, während er den nordwärts hinab Wandernden nachschaute; „seine rechte Hand wird kaum zu retten sein. Gebe Gott, daß meine Diagnose falsch ist; wenn man jedoch so lange auf dem Berge hier haust wie ich und so manchen Erstarrten unter den Händen gehabt und manches erfrorene Glied zu Gesicht bekommen hat, da wird der Blick sicher in derlei Dingen, kommen Sie aber, meine Hermen, es läutet zum Frühmahle.“ –
Am nächsten Tag schied auch ich vom Hospiz. Es ging dem Süden zu; – ich hatte genug der Alpen im Winterkleide.
[252]
Wenn im Dörfchen der Schnee die Gassen und Dächer bedeckt, am Brunnenrohr die langen Eiszapfen und an den Fensterscheiben die Eisblumen glitzern, sammelt beim Holzspahnlichte die Traulichkeit Alt und Jung um den Spinnrocken der Weiber und Mädchen. Da schäkert die Jugendlust, da rauscht noch frisch und rein der alte Born der Volkslieder, da erzählt der Großvater den lauschenden Jungen Geschichten aus seinem Leben und aus alter Zeit; aber der Gipfel der Freude wird doch erst erreicht, wenn das Großmütterlein den wundervollen Schatz der Märchen erschließt. Ja, wenn das Großmütterlein beginnt mit „Es war einmal“, wie stille es da selbst hinter der Hell am Ofen wird, wo die Verliebten und Verlobten flüsterten! Das Reich der Dichtung thut sich auf, erfüllt mit unheimlichen und mit liebenden Geistern, das Ungeheuerliche gießt seine Schauer aus, Schrecknisse und Gefahren thürmen sich auf um die Liebe und die Schönheit, die um so rührender erscheinen in der argen Bedrängniß; aber wie weitet das beklemmte Herz sich aus, wie athmen Alle auf, wenn Liebe und Schönheit endlich dennoch siegen trotz Zauberern, Riesen und Drachen; denn die redlichen deutschen Märchen lassen keinen Gerechten im Unglück enden. Und wenn am guten Ende ja ein Bedauern laut wird, so ist’s gewiß nur das: Wie schade, daß es schon aus ist!
So ist’s auf dem kleinsten Dorfe, und so ist’s auch in den größten Städten unseres Vaterlandes, nur die Formen sind andere, in denen dasselbe geistige Bedürfniß seine Befriedigung findet. Aus den Schäkereien hinter der Hell werden die Freuden der Salons, der Kränzchen, der geschlossenen Gesellschaften; der Gesang der Volkslieder verwandelt sich in die Genüsse der Oper; die Erzählung des Großvaters in die Vorlesungen und Vorträge gelehrter und berühmter Männer; aber will die große vornehme Welt der Städte einmal etwas ganz Besonderes haben, so hält auch sie sich an unser Märchen, nur daß sie es umgiebt mit all der Pracht und Herrlichkeit, welche einzig durch das innige Zusammenwirken aller schönen Künste in’s Leben zu rufen sind.
Ein solches Fest war es, zu dem wir am 21. Januar dieses Jahres der Einladung des Leipziger Künstlervereins folgten, der dasselbe veranstaltet hatte. Letzteres verrieth uns übrigens schon die geschmackvoll illustrirte Eintrittskarte, auf welcher wir das schöne Dornröschen und ihren Sigurd, die gute und die böse Fee, die Gnomen und eine Burg im Hintergrunde abgebildet sahen. Wir lasen darauf: „Dornröschen. Märchendichtung mit Musik und lebenden Bildern“; ferner: „Tafel“ und „Tanzordnung“ und wußten nun genug, um uns sofort zum Festlocal, dem Schützenhause mit seinen großen und glänzenden Räumen zu begeben, und zwar mit dem festen Vorsatz, ohne irgendwelche störende und nergelnde Kritik den Gaben jeder der mitwirkenden Künste ein offenes Herz entgegen zu bringen. Und mit diesem Entschlusse folge uns nun der Leser in die freudige Rückerinnerung an dieses Fest.
Mit dem ersten Schritt in den Corridor des Parterre lassen wir den Winter hinter uns, Frühling und Mittelalter begrüßen uns; aus Rosenbüschen schauen die plastischen Figuren und Gruppen hervor, welche Corridor und Treppen zieren, mit Hellebarden und Schwertern bewaffnete Knappen empfangen uns und Herolde geben uns das Geleit in den Saal, wo die schönste Flora dieser Welt, ein Damenflor im höchsten Schmuck, das Auge fesselt. Gegenüber dem Eingang nimmt die Bühne die ganze Wand ein, von deren Vorhang die hochragende Dornburg uns entgegentritt, ein Meisterstück der Dekorationsmalerei. Es ist uns nicht verwehrt, sie uns an dieselbe Stelle zu denken, wo einst eine Kaiserpfalz sich in den Fluthen der Saale spiegelte und unsere Kaiser Otto I., Otto II. und Heinrich II. die Großen des Reichs um sich versammelten.
Kopf an Kopf füllt den Festraum, auch fürstliche Gäste und mancher Mann mit gefeiertem Namen. Es herrscht die rechte Andacht vor der Wunderwelt, in welche die vereinten Künste uns führen wollen.
Plötzliche Stille – die Tonkunst eröffnet den Reigen mit der Ouverture zu Karl Reinecke’s „Dame Kobold“. An sie schließt sich die für das Feststück eigens componirte Musik an. Trompetenfanfaren rufen den Vertreter der Dichtkunst hervor, den mit grünem Kranz geschmückten Minnesänger, dessen Weihegedicht uns bis an das Märchen hinanführt. Die Musik übernimmt es dann, die Traumwelt, welche uns der Vorhang verbirgt, in edlen Tonwellen vor unserem Geist vorüberschwimmen zu lassen.
Und nun treten wir, vom Minnesänger geleitet, in sie ein. Die Dichtung preist die Pracht der Burg und die Gastlichkeit ihrer Hallen; nur ein Glück ersehnt das fürstliche Paar vergebens: ein Kind. Da wohnt am Fuß des Burgfelsens in einem klaren Quell eine gute Wasserfee, die gern den Bedrängten hilft. Zu ihr steigt in stiller Nacht die trauernde Fürstin hernieder, wir hören ihre Klage und plötzlich steht sie vor uns: der Vorhang hat sich erhoben zum ersten Bild. Sie steht am Zauberbronnen, aus dem die gute Fee sich erhebt und ihr „ein wonniges Mägdlein“ verheißt. Aber im wilden Forst hauset die böse Waldfee, behütet und bedient von kleinen braunen Gnomen, den Dornenknappen. Sie eilt zum Zauberbrunnen und verheißt dem Kinde ihren Fluch. Die Musik hat das Bild melodramatisch verkündet: wir hörten das dumpfe Brausen des Quells, die steigende Fluth und ihr liebliches Verrieseln im Thal.
In der Burg gesellt sich zur Pracht die Freude: das Kind ist geboren, der glückliche Vater hat, umringt von seinen Rittern und ihren edlen Frauen, ihm den Namen Rosamunde gegeben. Kaum ist der Festgesang der Gäste verhallt, so hören wir den Zauberspruch der bösen Fee, daß das Mägdlein einst vom Stich einer Spindel in tiefen Schlaf versinken soll. Doch auch die gute Fee ist nicht fern; sie verheißt tröstend, daß dieser Zauberschlaf nicht länger dauern soll, als hundert Jahre. Der Vorhang geht auf für’s zweite Bild. Wir sehen die Festhalle, das fürstliche Paar auf dem Throne, die Ritter, Frauen, Pagen und Diener im Kreise, Alle schreckenstarr, denn bei dem Kinde in des Saales Mitte stehen die beiden Feen – ein Bild voll tiefster Erregtheit.[1]
Nun weilt in der Burg bei der Freude die Sorge. Um den Zauberspruch der bösen Fee zunichte zu machen, verbot der Fürst alle Spindeln in seinem Lande. Das Kind entfaltet sich zur blühenden Jungfrau, zum Ebenbild der schönen Mutter. Siebzehn Male hatten ihr die Rosen geblüht, da, an einem festlichen Tage, während die Schaar ihrer Freier ihr Lob sang, ging sie in der Burg allein umher und hört plötzlich aus dem höchsten Thurmgemach ein wundersames Lied. Sie steigt empor und erspäht durch eine Ritze der Thür eine graue Alte, die mit der dürren Rechten ein glänzend Ding lustig drehte und vor sich auf dem Boden springen ließ. Rosamunde kannte ja die Spindeln nicht, weil sie gleich nach ihrer Geburt im ganzen Lande verboten worden waren. Die Neugier reizt sie, sie tritt in das Stübchen und hascht nach der Spindel (das sehen wir im dritten Bild), da – ein Stich, ein Blitz und Donnerschlag und der Zauber der bösen Fee ist vollbracht. Rosamunde fällt in den tiefen Schlaf für hundert Jahre. Aber nicht sie allein, das ganze Schloß versinkt in starres Träumen, vom Fürsten am Bankettisch bis zum letzten Mann des Trosses, von der Fürstin bis zur Magd in der Küche, Alles erstarrt in einem Augenblick; der Schenk, der die Kanne zum Füllen der Becher ergreift, der Koch, der eben ausholt, um dem Küchenjungen einen Schlag zu geben, die Pferde im Stalle, die Hunde im Hofe schlafen, und selbst das Feuer auf dem Heerd schläft ein. Dies Alles zeigt uns das vierte Bild. Es ist recht still in der Halle. Nur die böse Waldfee lacht im Schloß und befiehlt den Dornenknappen, daß die ganze Burg ein großer Dornenwald umwachsen solle, damit sie unnahbar werde für alles Menschenvolk auf ewige Zeiten.
Armes Dornröschen! Der Vorhang fällt, der Minnesänger verstummt. –
Was beginnen während des hundertjährigen Zauberschlafs? Nur der Tonkunst ist es möglich, sich seiner anzunehmen, und sie thut das Mögliche. Wie lange Dornengewinde schlingen sich die Töne des Basses durch die lebensöden Hallen, dazwischen klagen die Clarinetten und seufzen Oboe, so daß einem fast das Herz schwer wird, bis die Instrumente sich zu einem heitern Tändeln
[253][254] erheben, das uns auf bessere Gedanken bringt, und der Minnesänger wieder das Wort ergreift.
Daß die hundert Jahre bald um sind, merken wir sofort daran, daß jetzt der rechte Freier auftritt: der Königssohn Sigurd von Seeland. Die verzauberte Burg war längst dem Bereich der Sage verfallen; viele Freier sollten bereits in dem Dornenwald verunglückt sein. Trotzdem wagte Sigurd das reizende Abenteuer. Er dringt bis zum Zauberbronnen der guten Fee vor, die dem Schlummernden im Traum erscheint und ihm sein Glück verkündigt (fünftes Bild). Am Morgen sieht Sigurd vor sich die Dornenburg, ein weißer Falke läßt sich auf seine Schulter nieder; er besteht einen siegreichen Kampf gegen einen schwarzen Ritter und seine Hunde, und ein muthiges Jagdlied singend dringt er vorwärts. Da erspäht der weiße Falke einen schwarzen, der bewachend die Burg umkreist, schwingt sich empor, tödtet ihn und verschwindet. Ein Donnerschlag verkündet die Lösung des Zaubers, die Dornenknappen ziehen dem jungen Helden bewillkommnend entgegen, die Dornen verwandeln sich in Rosen und zwischen den erwachenden Blumen hin eilt Sigurd hinauf zum Thurm – wo wir ihn im sechsten Bilde das schlummernde Dornröschen zum neuen Leben wach küssen sehen, während im Banketsaal noch ein Dornenwall die Schläfer verbirgt. Aber nun erwachen auch sie – wie vom Schlummer einer kurzen Stunde – Fürst und Fürstin erheben das Auge, der Schenke gießt die Becher voll, der Koch vollendet den vor hundert Jahren angesetzten Schlag auf den Küchenjungen, das Feuer brennt, die Pferde wiehern, die Hunde bellen wieder und – wir sehen’s im letzten Bilde – Sigurd und Dornröschen erscheinen Hand in Hand an der Thür, begleitet von der Schaar der Dornenknappen, sogar die verunglückten Freier werden wieder lebendig, und das Märchen endet als ein redliches deutsches Volksgebilde mit dem Glück und der Freude aller Gerechten, – geradeso, als hätte es das Großmütterchen am Spinnrocken in der Dorfstube erzählt. Die Künste haben brav gewirkt, sie haben nichts am redlichen Märchen verdorben, sie haben es treu gepflegt und durch ihre Weihe nur veredelt und verklärt.
Und damit sind wir mit der Hauptsache des schönen Festes zu Ende; denn wenn auch das Walten der Künste noch auf Tafel und Ball seinen erhebenden Schimmer warf, so sind doch solche Dinge zu gewöhnlich und zu vergänglich, um noch besonders beschrieben zu werden.
Dagegen halten wir es für Pflicht, die Namen der Künstler zu nennen, die zu diesem Winterfeste der Künste zusammenwirkten. Der Verfasser der Märchendichtung des Dornröschens ist Livius Fürst; sie ist seitdem bei J. J. Weber in Druck erschienen; der Komponist der Dornröschen-Musik und Gesänge A. Tottmann. Die lebenden Bilder stellten Muttenthaler, Geißler, Neumann, Zucchi, Waibler, Souchon und Toller; die Maschinerie leitete Architect Mothes, die musicalische Direktion v. Bernuth. Der Minnesänger war Schauspieler Herzfeld, und der Maler der Decorationen Cellarius. So hat denn der Leipziger Künstlerverein abermals glänzend bewiesen, wie lohnend es ist, daß er sich nicht blos auf die bildenden Künstler beschränkt, sondern auch Dichter, Musiker, Sänger und Schauspieler in seinen Kreis gezogen hat.
Von H. Schulze-Delitzsch.
I.
Ein geschichtlicher Rückblick, anknüpfend an eine der wichtigsten Fragen der Gegenwart, stellt an Ihre Aufmerksamkeit heute mehr als gewöhnliche Anforderungen. Mitten in gedeihlicher Entwickelung, welche seine Anerkennung bis in das ferne Ausland zur Folge hat, wird das deutsche Genossenschaftswesen von einer gewissen Seite her angefochten, indem man ihm die alte ständische Gliederung gegenüber stellt. „Fort mit den freien Genossenschaften, dafür corporative Bindung unter Schutz und Aufsicht der Obrigkeit“ – „Nieder mit der Gewerbefreiheit, dafür Zünftigkeit aller Arbeitsgebiete“ – „Weg mit dem Verfassungsstaat und seiner Gleichheit Aller vor dem Gesetz, dafür den Ständestaat mit einem besonderen Arbeiterstande, natürlich neben den andern höheren Ständen“: das sind die Losungsworte, mit denen die Reaction in den Kämpfen unserer Tage Bundesgenossen wirbt unter demjenigen Theile der Bevölkerung, auf dessen geistiger, sittlicher und wirthschaftlicher Niederhaltung allein ihr ganzes System beruht, unter den Handwerkern und Arbeitern. Deßhalb ist es durchaus an der Zeit, die ausgeworfene Lockspeise einmal schärfer in das Auge zu fassen. Wir haben ja diese corporative ständische Verfassung Jahrhunderte hindurch in unserem Vaterlande gehabt, und ebenso hat die freie Genossenschaft bei uns eine Geschichte, so daß wir aus dem, was beide in der Vergangenheit geleistet haben, am Besten ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft bemessen können.
Jedenfalls hat die letztere vor dem Ständewesen die Anciennetät in der Geschichte unseres Volkes voraus. Gleich beim ersten Auftreten der germanischen Stämme begegnen wir den Genossenschaften bei ihnen, als einer Grundform ihres nationalen Lebens, in welche sich ihr ganzes Gemeinwesen gliedert. So finden wir sie in engern und weitern Kreisen, für öffentliche und Privatverhältnisse, als das Element, welches den gesellschaftlichen und staatlichen Verband vermittelt. Der Stamm-Genossenschaft fügte sich die Gau- oder Mark-Genossenschaft ein, und wie die Volksgemeinde, das Organ der ersteren, in offner Versammlung über Krieg und Frieden und die wichtigsten Interessen des Stammes entschied, so sprach der Ding der Gaugenossen im Ganzen oder in Abtheilungen (nach Hundertschaften) Recht, und der Umstand der dazu gehörigen Freien ordnete die einschlagenden Angelegenheiten. In gleicher Weise bestimmten die Märker, die Genossen im Besitz einer Feldmark, über die darauf bezüglichen Verhältnisse, besonders das gemeinschaftliche Eigenthum an Wald und Weide u. dergl. Bei Kriegs- und Beutezügen endlich bildeten sich Kampfgenossenschaften unter gewählten Führern, ja selbst eine Anzahl Stämme trat zeitweis zu einem solchen Verbande zusammen bei gemeinsamer Gefahr oder zu einer großen, gemeinsamen Unternehmung. So ist z. B. das Brechen der römischen Macht im Teutoburger Walde einer solchen Vereinigung deutscher Stämme zu danken.
Dabei erscheint als höchst bemerkenswerth: Die charakteristischen Merkmale, welche die genossenschaftlichen Verbände von damals kennzeichnen, sind im Wesentlichen dieselben, die wir noch heute, trotz der veränderten Aufgabe, an unsern Genossenschaften wahrnehmen. Mit der Einordnung ihrer Glieder in eine machtvolle Gemeinschaft vereinigen sie den freiesten Spielraum für das individuelle Gebahren, die Eigenart eines Jeden. Gerade in der Solidarität, dem Einstehen Eines für Alle und Aller für Einen, bieten sie dem Einzelnen erst die sichere Unterlage für seine persönliche Geltung, in der Gegenseitigkeit die beste Gewähr für seine Selbstständigkeit. Wie Jeder der Gesammtheit der Genossen verantwortlich war, standen diese wiederum für ihn ein, was in der Gesammtbürgschaft der engern Genossenschaftskreise (der Zehntschaften) bei unerlaubten Handlungen einen prägnanten Ausdruck fand. Aber nicht blos die Solidarität der Pflicht, wie sie sich in dieser Haft kund giebt – nein, ganz besonders die Solidarität des Rechts gilt uns als der eigentliche Schlußstein der Organisation, der es hauptsächlich bewirkt, daß die freie Persönlichkeit in der Gesammtheit nicht untergeht, sondern die beste Stütze in ihr findet. Die vollste Selbstbestimmung und Selbstverwaltung unter unmittelbarer Betheiligung aller Genossen bei Ordnung der gemeinsamen Angelegenheiten sind es, welche schon damals den Gipfelpunkt des Ganzen bildeten, wie wir noch jetzt in unseren Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften unverrückbar daran festhalten. Und so erblicken wir in diesen genossenschaftlichen Verbänden Hort und Kern der Freiheit und Selbstregierung unseres Volkes, eines der bedeutsamsten Momente seiner Geschichte.
Indessen reichte diese Organisation für die Bedürfnisse eines [255] großen geordneten Staats nicht aus, wie derselbe zuerst unser Vaterland in der fränkischen Monarchie mit umfaßte und sich dann als Deutsches Reich selbstständig daraus loslöste. Vielmehr stellte sich die Nothwendigkeit einer einheitlichen Gesammtmacht nach außen, sowie einer höchsten Gewalt im Innern eines solchen großen Reichskörpers bei den häufigen Völkerzusammenstößen und bei der furchtbaren Verwilderung jener Zeit unabweisbar heraus. Das Gebot staatlicher Centralisation, einer Stellung der Staatsgewalt über jenen Stammes- und Gau-Verbänden, behielt daher die Oberhand, weil damit allein die Möglichkeit gegeben war, die auf das Höchste gefährdete nationale Existenz zu behaupten. Mehr und mehr ging daher die Handhabung der öffentlichen Angelegenheiten in die Hände des Königs und der von ihm eingesetzten Beamten über. Der Gaugraf oder besondere Sendgrafen entboten und beeinflußten den Ding, der bald nicht mehr aus dem Umstand aller Freien, sondern aus theils gewählten, theils berufenen Schöffen bestand. Der Herzog und der Pfalzgraf standen den Stammesangelegenheiten vor, der erstere als Führer des Heerbannes und höchster Verwaltungsbeamter, der letztere an der Spitze der Rechtspflege, Beide in des Königs Namen die Gewalt übend. Hand in Hand damit ging die Veränderung des Heerwesens. Durch die unaufhörlichen weiten und langen Kriegszüge an den Grenzen des weitausgedehnten Reichs wurde der Heerbann, die allgemeine Wehrpflicht aller Freien mit Selbstbewaffnung und Selbstverpflegung immer weniger durchführbar. Dazu kam die Aenderung in Kampfart und Bewaffnung durch Einführung der schweren Reiterei, als Kerntruppe des Heeres, welche viel mehr Uebung und Kostenaufwand erforderte, als der bisherige Dienst zu Fuß. So geschah es, daß sich besondere Classen zu bilden anfingen, von denen die eine den Kriegsdienst zu ihrer Hauptbeschäftigung machte, während die andere, die der Hof- und Reichsbeamten, sich vorzugsweise der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten widmete, worin beide durch die erwähnten Umstände so begünstigt wurden, daß sie sich dieser wichtigen Berufszweige mehr und mehr ausschließlich bemächtigten.
Wenn daher durch diese Umwandlung in der Verfassung unseres Volkes sein politisches Dasein gerettet wurde, so ging sie nicht ohne schwere Einbuße für dasselbe vor sich. Durch Verfall des alten genossenschaftlichen Gemeinwesens mit Betheiligung aller seiner Glieder bei Ordnung der öffentlichen Angelegenheiten erhielten die altdeutsche Gemeinfreiheit und das darauf gegründete gemeine Volksrecht einen schweren Stoß. Zunächst entwöhnte sich das Volk der Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten. Der Geist der Selbstregierung und Wehrhaftigkeit begann zurückzutreten vor dem sauern Kampf um das äußere Dasein. Ja die ganze sociale Stellung der großen Masse wurde herabgedrückt, und in nothwendigem Zusammenhange damit fiel ihre politische Gleichberechtigung. Wie überhaupt in damaliger Zeit, so waren auch bei unseren Vorfahren Wirthschaft und Erwerb, der ganze Bestand der Gesellschaft im Wesentlichen auf den Ackerbau und seine Nebengewerbe gegründet, bestand das Vermögen hauptsächlich in Grund und Boden, und das bewegliche Eigenthum kam fast nur als Zubehör des letzteren in Betracht. Die wirthschaftliche Selbständigkeit, die Leistungen an Staat und Gemeinde hingen sonach lediglich vom Grundbesitz ab, und dieser war deßhalb auch die unerläßliche Bedingung jeder politischen, ja selbst der privaten Geltung und Vollberechtigung. Nur der freie Mann auf freiem Erbe stand in der Gau- und Volksgemeinde, hatte das Waffenrecht, vollen Rechtsschutz und eine Stimme in den öffentlichen Angelegenheiten, gegen Uebernahme der öffentlichen Lasten. Wer auf fremdem Grund und Boden, auf dem Eigenthum eines Anderen saß, selbst der Freigeborene, der wurde dem Grundherrn zum Mindesten zins- und dienstpflichtig, schied aus dem gemeinen Recht und wurde dem Hofrecht, der Voigtei jenes unterworfen, der ihn, als seinen Hintersassen, sowohl dem Staate gegenüber, wie in privatrechtlicher Beziehung vor Gericht zu vertreten, ihm Schutz zu gewähren hatte. – – –
War es nun früher schon nicht selten, daß das den Vorvordern bei der Besitzergreifung einer Gegend ertheilte Landloos für den Nachwuchs zu klein wurde, so stürzten jetzt die vielen Aufgebote zu weiten Heerzügen eine Menge kleiner und mittlerer Grundbesitzer in Schulden, daß sie sich auf ihrer Hufe nicht zu behaupten vermochten. Während ein Theil von ihnen geradezu von den Gläubigern aus seinem Besitze vertrieben wurde und durch die Schuldhaft sogar in völlige Knechtschaft gerieth, gaben Andere, um diesem Schicksale zu entgehen, ihre Güter den mächtigern, meist adligen, Grundbesitzern in deren Obereigenthum, indem sie sich nur die Nutzung davon vorbehielten und zu Dienst und Zins verpflichteten. Da sanken denn Viele oer bis dahin Freien in die verschiedenen Grade der Unfreiheit und Hörigkeit bis zur Leibeigenschaft und förmlichen Knechtschaft herab.
So entstanden neben und aus den alten Geburtsständen der Adligen, Freien und Knechte allmählich geschlossene Berufsstände, welche die verschiedenen Functionen und Rechte der Freien im öffentlichen Leben, wie sie die letztern bis dahin in ihren Genossenschaften geübt, unter Begünstigung der Staatsgewalt mehr und mehr an sich zogen. Insbesondere bildete sich, wie wir schon andeuteten, neben einem besonderen Kriegerstande ein Stand der Hof- und Reichs-Beamten, und beide wußten sich bald in dieser Stellung und den ihnen als Sold dafür verliehenen Staatsgütern und Gefällen erblich zu machen. Ihnen gesellte sich der Priesterstand zu, außer seiner kirchlich-religiösen Bestimmung zugleich hauptsächlicher Träger der Zeitbildung und Gelehrsamkeit. Und alle diese Stände schlossen sich gegen die große Masse des Volkes vollständig ab, schieden aus der Gemeinschaft des politischen und des Rechtslebens mit demselben völlig aus, indem sie, gegen Uebernahme gewisser, besonderer Pflichten und Leistungen für das gemeine Wesen, sich gewisse besondere Rechte und Befugnisse beilegten. Diesen Sonderrechten gegenüber wurde das gemeine Volksrecht mit seiner Vertheilung der gemeinen Lasten mehr und mehr unhaltbar, ja, zur unerträglichen Bürde, so daß die Befreiung, die Exemtion davon – die Immunität – als das werthvollste Privilegium galt, welches dem hohen Adel und den kirchlichen Würdenträgern auf ihren großen Landgütern zustand und den königlichen Pfalzen und Kammergütern anklebte.
So bildete sich der Ständestaat aus dem Volksstaate, der Staat der Vorrechte an der Stelle des Rechtsstaates, in welchem das Recht nur in Form von Privilegien, als Ausnahme für Einzelne, anstatt als Regel für Alle, zur Geltung kam. Die ganze gesellschaftliche Existenz, alle politische Geltung knüpfte sich an den Stand. Rechts- und Vermögensfähigkeit, Rechtsschutz und Rechtsverfolgung, Sicherheit der Person und des Eigenthums, die Stimme in den öffentlichen Angelegenheiten, wie die Fähigkeit zu öffentlichen Aemtern, waren nicht Dinge, die Allen aus dem Volke zukamen, vielmehr hingen sie von der Angehörigkeit zu einem Stande ab, dem sie besonders verliehen, kraft eines Privilegiums beigelegt waren. Und diese Unterschiede stellten sich mit der Zeit immer härter heraus, die Lage der niederen Classen wurde immer unleidlicher, je fester sich der Ständestaat gründete und im Feudalstaate seinen Höhepunkt erreichte. Was ursprünglich eine amtliche Thätigkeit im Auftrage der Staatsgewalt war, zum Zweck des gemeinen Wesens, wurde allmählich zum erblichen Privatbesitz gewisser Familien in den privilegirten Ständen, und man kann denken, wie sie diese Stellung bei Handhabung der öffentlichen Gewalt für sich ausnutzten. Immer klaffender that sich der Zwiespalt auf in der bürgerlichen und wirtschaftlichen Stellung, in Recht und Besitz zwischen den bevorrechteten Ständen und der niederen Volksclasse, welche zur völligen Rechtlosigkeit herabsank, und bei der allgemeinen Rohheit jeder Vergewaltigung ausgesetzt war. – Gleich verhängnißvoll zeigte sich die Rückwirkung auf das gemeine Wesen, auf den politischen Bestand des Reichs. Das, was anfangs sich als Rettungsanker der Nation erwiesen hatte, die staatliche Centralisation mit ihrer einheitlich zusammengefaßten Volkskraft, welcher die Volksfreiheit geopfert war, schlug in das Gegentheil um und fand in den von ihr eingesetzten Reichsbeamten, besonders den großen Kronvasallen, sobald diese sich die Erblichkeit angemaßt hatten, ihre gefährlichsten Gegner. So wurde das kaum geschaffene Band gelockert, aber nicht die alte Volksfreiheit trat wieder in ihr Recht, die furchtbarste Knechtschaft brach zugleich mit dem Verfall der Reichsmacht über das Volk herein. Denn indem die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten – so kennzeichneten wir schon oben das Wesen des Feudalstaates – zum nutzbaren Privateigenthum privilegirter Stände geworden war, wurden die Gesammtinteressen [256] der Nation den eigensüchtigen Bestrebungen, den kleinlichen Privatvortheilen dieser Stände geopfert. Besonders waren es die herrschenden Familien des hohen Adels, von denen jede vom Reichskörper und den Reichsrechten so viel als möglich an sich zu reißen und zur Domäne für sich abzurunden suchte. Die Folgen ließen nicht auf sich warten. Unmacht und Zersplitterung, Verlust wichtiger Reichtslande nach außen; im Inneren Verwirrung und Fehden, Rechtsbruch und Gewaltthätigkeit jeder Art. Der Verfall des Reichs, die Zersetzung des staatlichen Organismus, durch die Kämpfe einer herrschsüchtigen Priesterschaft mit dem Reichsoberhaupt noch gefördert, machten erschreckliche Fortschritte. Vergebens kämpften dagegegen patriotische Männer der höheren Stände, fruchtlos blieben die Reformversuche selbst mehr als eines Kaisers. Da, mitten in diesen Wirren, zeigten sich die zukunftsvollen Keime einer besseren Gestaltung der Dinge auf entgegengesetzter Seite in den Reihen des gedrückten Volkes. Die Arbeit, die niedrig geachtete Gewerbsthätigkeit, die man demselben ausschließlich auferlegt hatte, war es, von welcher der Nation das Heil kommen sollte. Wie immer rang sich der Segen dieses großen Culturhebels auch hier durch, und was man dem Volke zur Frohn aufgebürdet hatte, bewährte sich als die gestaltende Macht der Zukunft. Indem sie den bevorzugten Ständen, dem Adel und der Geistlichkeit, einen arbeitenden Bürgerstand zugesellte, schuf sie in dem von letzterem getragenen Städtebürgerthum des Mittelalters den Keim des modernen Staatsbürgerthums.
Orientalische Gerechtigkeit. Der bekannte Prinz Murar, der auf einer Reise nach dem Orient unlängst von Stambul in Jaffa gelandet war, hatte hier krank zurückbleiben müssen, aber seine Frau und seine Tochter waren nach Jerusalem gekommen. Dem Pascha hatte man schon einige Wochen voraus den beabsichtigten Besuch gemeldet, und er, um solche hohe Gäste auf würdige Weise zu empfangen, erließ den Befehl, die Hauptstraßen der Stadt neu zu bepflastern und den bisher sogenannten Weg von Jaffa nach Jerusalem einigermaßen herzustellen. Das war für die armen Fellaheen[2] eine Schreckenszeit! Denn alle diese Verbesserungen dürfen natürlich dem Pascha oder der Regierung nichts kosten. Erstens wurden die Soldaten, dann die Gefangenen zur Arbeit verwendet, und als diese nicht dazu ausreichten, so spannte man einen Strick über die Straße aus, welche zum Thor führte, und jeder Fellah, kam er herein oder heraus, mußte mit seinen Eseln oder Kameelen den ganzen Tag über an’s Werk gehen. Zur Belohnung bekamen sie Prügel nach Herzenslust, und ein Piaster Entschädigung wurde aufgeschrieben, um in der Zukunft gelegentlich bezahlt zu werden! Sodann mußten die Kaufleute, welche in den verschönerten Straßen wohnten, auch dem Verherrlichungstrieb sich anschließen und alle ihre Thüren und Läden grün anstreichen. Nun konnte die Herrschaft kommen. Doch die Wege des Schicksals sind unerforschlich! Prinz Murat blieb in Jaffa, und die sämmtiche muhamedanische Welt war äußerst empört, daß sie so viel „Kef“ und „Fantasie“ einer bloßen Frau wegen aufwenden mußte. Mit Fackelzug und türkischer Musik zog die hohe Dame in die neugepflasterte Stadt ein und schlug ihre Wohnung bei dem französischen Cousin auf.
Dem Pascha wurde natürlich von der Dame großes Lob gespendet wegen des guten Wegs und des neuen Straßenpflasters. Entsetzlich aber, daß einer lebendigen Prinzessin ein Misgeschick widerfahren mußte und in Gegenwart des Paschas selbst! Die Thüren nämlich, welche zum heiligen Grabe führen, sind sehr eng und niedrig, und die Prinzessin, welche sich nicht tief genug beugen konnte (eine Erbkrankheit der Prinzessinnen im Allgemeinnen), stieß sich dermaßen den Kopf gegen das steinerne Gesims, daß sie ohnmächtig zu Boden stürzte. Das orientalische Gewirr bei einem solchen Unglück können sich meine Leser einbilden, und am nächsten Tage ließ der Pascha einen Befehl an die Patriarchen der Kirche ergehen, das Thor augenblicklich zu erhöhen und zu verschönern, auf daß ein solcher Vorfall sich nie wieder ereigne. Das war ein wahrer Apfel des Zankes unter der katholischen und griechischen Geistlichkeit. Unmöglich konnte man übereinkommen, wer das Thor erbauen müsse oder wie viel Geld dazu die verschiedenen Gemeinden beitragen sollten. Die schlauen Griechen waren aber nicht faul; während des Streites hatten sie im Geheimen Steine behauen und eine Thür machen lassen, welche sie eines Abends aufrichteten. In einer Nacht wurde das alte Thor niedergerissen und das neue erbaut. Hierüber entspann sich ein Streit, in dem es nicht bei Worten blieb. Wir kamen gerade dazu, als wir in den Hof einreiten wollten, welcher vor der Kirche des heiligen Grabes liegt. Es war ein furchtbarer Lärm; Katholiken, Griechen, Armenier und Kopten zankten in entsetzlichem Gewirr und Gewühl durcheinander, bis türkische Kawassen der Sache Einhalt thaten und die Uneinigen vor den Pascha führten. Wir folgten in dessen Audienzsaal. Der Pascha saß auf seinem Divan, Tintenfaß und Federn zur Seite, und hörte dem Babelsgeschrei schweigsam zu.
„Wir haben das Recht, das Thor aufzubauen!“ schrieen die Griechen. „Wir sind die Zahlreichsten und Wohlhabendsten!“
„Santa madonna dolorata!“ kreischten die Franciscaner, „seit sechshundert Jahren wohnen wir an Ort und Stelle und sollen nicht ein Thor erbauen dürfen?“
„Wir wollen dann zwei Viertel, Ihr ein Viertel und die Anderen zusammen ein Viertel des Geldes dazu beitragen!“
„Birbanti! damit Ihr sagen könnt, das Thor gehört uns, wir haben das Meiste gezahlt?“
Und von Neuem entbrannte der Streit. Ruhig rauchte der Pascha seine Narghileh. Plötzlich aber erhob er sich:
„Geh, Mustapha,“ sagte er zu einem Officier, „nimm Maurerleute mit und reiße das Thor bis auf seine Fundamente nieder!“
Mustapha verneigte sich und ging.
Groß schien die Freude der Lateiner zu sein, groß die Wuth der Griechen; aber als sie ihre Gefühle laut werden lassen wollten, befahl der Pascha ihnen gebieterisch Stillschweigen. Bald kehrte Mustapha zurück.
„Dein Wille, o Pascha, ist geschehen!“
„Wo ist der Maurermeister?“
Der Meister wird gesucht und vorgführt.
„Maurer, wie viel verlangst Du das Thor wieder aufzubauen?“
„Sechshundert Piaster, o Pascha!“
„Gut, fange Dein Werk an!“
Der Maurer geht. Der Pascha redet die Christen folgendennaßen an: „Ich werde das Thor selber errichten, wie Ihr seht, denn ich bin gerecht. Ihr aber bezahlt mir jeder sechshundert Piaster; die Sache ist geendet!“
Das war der weise Spruch! Mit demselben Material baut der Pascha das Thor wieder auf, die Kosten betragen sechshundert Piaster; Griechen, Lateiner, Armenier und Kopten zahlen je sechshundert Piaster, und der gerechte Pascha steckt eintausendachthundert Piaster in die eigne Tasche für seine Mühe ein. Indessen hat er ganz Recht gethan, denn nur auf solche Weise kann man diese aufrührerischen Intriganten einigermaßen in Ruhe halten. Waren es doch die Streitereien dieser turbulenten Mönche, welche zum Krimkrieg den ersten Anlaß gaben. –
Doch war der berüchtigte Djezzar, Pascha von Akka, wegen seiner Rechtsübung noch berühmter.
Ein reicher Kaufmann kommt eines Mittags nach Hause und vermißt seine Frau. „Sie wird wohl zur Mutter gegangen sein!“ denkt er und kehrt in sein Geschäft zurück. Des Abends jedoch bleibt die Frau auch weg. Unser Effendi eilt zur Mutter seiner Gemahlin und findet, daß sie gar nicht dagewesen ist. Umsonst sucht er, sie bleibt verschwunden. Djezzar Pascha war damals sehr leicht für weibliche Reize empfänglich, und als alle seine Nachforschungen fruchtlos bleiben, begiebt Omar sich zum Pascha. Er erzählt ihm die Umstände.
„Gut, und was soll ich für Dich thun?“
„Pascha! ich habe mein Weib verloren, gieb sie mir wieder!“ ruft der Omar entschlossen aus.
„Pezering! (Schurke) hab’ ich denn Deine Frau?“
„Ich weiß es nicht; ich weiß nur, daß meine Frau fort ist, daß Djezzar Pascha von Akka ist und ich sein Unterthan bin.“
Djezzar schweigt.
„Führe mich in Deine Wohnung!“ ruft er nach kurzer Ueberlegung.
Sie gehen zusammen dahin. Dort läßt Djezzar die ganze Garderobe der verlorenen Frau Stück um Stück sich vorzeigen. Bei jedem Kleide fragt er:
„Omar, hast Du dies Kleid Deiner Frau gegeben?“
„Ja, Pascha!“
Endlich kommt man an ein Stück, von dem Omar leugnet, daß er es je gesehen oder gekauft habe.
„Gut!“ donnert der Pascha und giebt Befehl, daß alle Schneider der Stadt zu ihm sich begeben. Einzeln werden sie vorgceührt.
„Hast Du dies Kleid gefertigt? Besinne Dich, Dein Leben steht auf dem Spiel!“
„Nein, Pascha!“ ist Aller Antwort, bis zitternd Einer endlich eingesteht, daß er es gemacht.
„Für wen, und wann?“
„Genau kann ich die Zeit nicht sagen, vor vier bis fünf Wochen, und der es bestellt, heißt Abderrahman Effendi!“
„Geh, und bei Deinem Leben, erwähne Nichts von der Sache!“
Der Schneider geht. Djezzar läßt den Abderrahman ergreifen, die Frau wird richtig bei ihm gefunden, und Beide dem „Schlächter“, wie „Djezzar“ auf Deutsch heißt, vorgeführt.
Diezzar läßt den Omar rufen. „Da!“ rief er, „nimm Deine Frau! freue Dich, daß Du Djezzar zum Gebieter hast!“
„Verzeiht, Pascha!“ erwiderte der erbitterte Omar, „verzeiht! Ein Weib, das drei Nächte außerhalb meines Hauses geschlafen, ist nicht mehr meine Frau.“
„Brav! wie ein Mann gedacht und gesprochen!“ ruft Djezzar vergnügt aus. „Da, kauf’ Dir eine andere Frau und hüte dich, daß Du mir künftig wieder in Deinen Gedanken Unrecht thust!“
Damit händigte er ihm einen Beutel mit zehntausend Piaster ein, und auf einen Wink wurden die beiden Schuldigen augenblicklich erdrosselt und in’s Meer geworfen. H. A.
Kleiner Briefkasten.
Obergerichtsassessor Z. in Berlin. – Herr Levin Schücking
weilt augenblicklich nicht in seiner westphälischen Heimath, er befindet sich
vielmehr seit einigen Monaten in Rom. Beiläufig die Mittheilung, daß
unsere Zeitschrift schon in ihrer nächsten Nummer eine neue Erzählung
desselben beginnen wird, auf die wir Sie mit vollem Recht aufmerksam machen können. Die Redaction.