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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 4.   1864.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Das ewige Licht.
Von Carl August Heigel.
(Schluß.)

Durch Nebel und Sprühregen glitt am Abend des grünen Donnerstags ein Kahn die Donau hinab. Der Felsdorfer Fährmann saß mit seinem Schwiegersohn Hans am Steuer, zwei Mönche kauerten ihnen gegenüber, und am Boden des Nachens stand ein Sarg. Sie fuhren zum Begräbniß. Fern vom Kloster und in ungeweihte Erde sollte der Mönch versenkt werden, von dessen Tod nur die Wellen wußten.

„Ich kenne Dich kaum wieder,“ sagte Pater Hieronymus zu seinem schweigsamen Gefährten. „Das Unglück kann unserm Prior nicht tiefer zu Herzen gehen, als Dir.“

Memento mori,“ flüsterte der Bruder Kellermeister und sah trübsinnig in’s Spiel der Wellen.

„Seit gestern hab’ ich kein anderes Wort von Dir gehört. Willst Du dem Pater Ambros nacheifern?“

„Ich habe ein Gelübde gethan.“

Zu schweigen?“ fragte ungläubig der Pater. „Freund, Schweigen ist schwer.“

Der Klosterbruder neigte seufzend sein Haupt. „Memento mori,“ sagte er dann.

„Der Trübsal folgt die Freude nach,“ nahm Hieronymus wieder das Wort. „Nach dieser unseligen Charwoche sollen wir wenigstens festliche Ostern haben. Heute Vormittag kam ein Stadtbote zum Prior. Zufällig trat ich in die Pförtnerstube, als er nach seiner Abfertigung ein Frühstück daselbst verzehrte. Den Pflichten der Gastfreundschaft zu genügen, setzte ich mich zu ihm und so, inter pocula, erfuhr ich denn auch, was für eine Nachricht er gebracht hatte. Unser Bischof ist in der Stadt und wird am Ostersonntag das Hochamt in unserer Kirche halten.“

„Der Bischof kommt?“ fragte der Andere hastig.

„Ja, kommt in unser Kloster. Seit Jahr und Tag ist uns solche Ehre nicht widerfahren!“

„Und was sagt der Pater Prior dazu?“

„Was das für eine Frage ist! Aufathmen und jubeln wird er …. Ich gönn’ es ihm nach dem gestrigen Tag. – Habt Ihr auch den Pater Prior hinübergefahren?“ wandte er sich jetzt an die Schiffer.

„Ja, Hochwürden, ich und mein Schwiegersohn,“ antwortete der Alte. „Ich hätte weinen mögen, so traurig und elend sah der hochwürdige Herr aus! – Nicht zu scharf gegen den Wind, Hans! – Mein Schwiegersohn meint, es sei wegen der Freundschaft; ich aber sag’, es ist wegen des Klosters – Mehr links, Hans! – So hat Jeder seinen Kummer. Aber das Wetter wird gut zu den Feiertagen .… Mehr rechts, Hans!“

Nach einer Flußkrümmung zerklüftet sich auf beiden Seiten die pralle Steinwand in einzelne Porphyrrippen und Granitkuppen, Tannen drängen sich dazwischen und brechen aus den Rissen mächtig hervor; auch beginnen breite Erdstriche Wasser und Gestein zu vermitteln.

Einem jener feuergeborenen Recken hat man eine steile Treppe abgerungen, und in bedeutender Höhe, aber noch vom hangenden Felsgipfel überdacht, ward ein Kreuz aufgerichtet, als frommes Wahrzeichen für die vorüberziehenden Schiffe. Vom Fuß der Klippe bis zur Donau ist schwellender Rasen; Farren schießen empor, und Epheu, das Gestein bekleidend, umgrünt auch den geborstenen Eichenstumpf, der, einer Säule gleich, in der Halbrotunde dichtgedrängter Nadelhölzer steht.

An dieser Stelle landete der Kahn. Gemeinsam brachten die Männer den Sarg an’s Ufer und trugen ihn zum Eichenstrunk, wo Erde aufgeworfen und ein Grab bereits gegraben war. Spaten und Stricke lagen daneben.

Durch das abendliche Dunkel zuckte ein Flackerstrahl vom Felsen nieder. „Der Pater Prior und Joseph,“ sagte Hieronymus, und die Untenstehenden sahen zur Höhe empor, wo, vom Felsdach geschützt, eine Fackel entzündet wurde. Ihr unstäter Schein beleuchtete bald den Träger, bald das Kreuz, an dessen Stamm eine zweite Gestalt lehnte. Dann wandelte die rothe Flamme langsam an der aufblinkenden Wand hernieder …

Die Fackel in der Rechten, trat ein Klosterbruder zu den Harrenden, der Prior aber hielt sich, wie es bei derartigen Begräbnissen Ordensregel ist, von der Gruppe noch zurück. Er stellte sich an den Rand des Tannendickichts und verfolgte, die Hand auf’s stürmende Herz pressend, das hastige, unheimliche Thun.

Wie Schatten bewegen sich vor ihm die schwarzgekleideten Gestalten hin und her, bücken sich und arbeiten. Sie sind eilig in ihrem traurigen Werk, aber Gregor dehnen sich die Minuten zur Ewigkeit aus. Das Blut steigt ihm zu Kopf, seine Lippen sind trotz des feinen Regens trocken und brennen ihm, die Hände krampfen sich zusammen; er hat jetzt nur Einen Gedanken: daß irgend ein Ungeheures geschehen wird, wenn jene Männer so lang, so ewig lange zögern. Also eilt! eilt! Endlich ist der Sarg gerichtet; ein Commandowort, und er rollt dumpf hinab … Was sind künftig des Himmels Donner gegen diesen!

Hastig jetzt Erde drauf! Alle greifen zu, schaufeln, scharren und schütten; Gregor wünscht, daß sie den Felsen drüber wälzen könnten! Und nun erst tritt er hinzu, um das übliche Leichengebet zu beten.

[50] Die Mönche respondirten ihm, in singendem, traurigem Ton.

Die röthlich beleuchtete Gruppe unter düsterem Nachthimmel und ragenden Felsen, die lateinisch klagenden Männerstimmen, vom Rauschen des Stromes begleitet, das Alles war seltsam, wild und doch auch feierlich.

Als der Prior mit bebender Stimme das Schlußgebet gesprochen hatte: In memoria aeterna erit justus; ab auditione mala non timebit. Requiem aeternam dona ei, domine![1] fielen die Uebrigen mächtig ein: et lux perpetua luceat ei, und über den Fluß hin dröhnte das Felsenecho.

Et lux perpetua luceat ei! So lang in deiner Kirche Sprache über Gräbern gebetet wird, Gregor, wird ihr Wort gegen dich zeugen: „das ewige Licht leuchte ihm!“ –

Man fuhr schweigend nach dem Kloster zurück. Die übrigen Mönche warteten bereits im Refectorium. Gregor trat rasch herein, stellte sich hinter seinen Stuhl und sprach mit erhobener Stimme: „Ich habe Ihnen eine erfreuliche Mittheilung zu machen.“ „Am Morgen des Ostersonntages,“ fuhr Jener fort, „wird Se. Eminenz, der Bischof C… bei uns eintreffen. Er will den heiligen Tag in unserem Kloster verbringen.“

Ohne eine Pause zu machen, schlug er nach diesen Worten ein Kreuz und stimmte das Tischgebet an. Aber sobald man saß, gab sich die allgemeine Freude und Aufregung kund; man sprach laut und wirr durcheinander, und als wäre Benedict’s Tod eine längst vergessene Sage, hatte Jeder nur Wünsche und Winke für das bevorstehende Ereigniß und sprach nur noch vom Bischof.

Sogar der blinde Ambrosius öffnete den Mund und sagte: „Ich sah ihn.“ Pater Hieronymus aber, der vom Prior durch einen unbesetzten Stuhl getrennt saß, wiegte eine Weile ungeduldig das Haupt, dann wandte er sich an Gregor. Dieser bog sich hinten über, als wenn Benedictus noch auf dem leeren Stuhl säße. „Unser hochwürdiger Bischof,“ sagte Hieronymus, „ist ein herrlicher Mann, aber er ist zu gut für diese Welt. Er ist gegen die Feinde der Kirche zu nachsichtig. Heutzutage, wo Feuer und Schwert gepredigt werden sollte, schont und beschützt er die Freidenker. Wenn es auf ihn ankäme, würde der Index veralten. Durfte ihm doch der arme Benedict sein Buch von der Reformation widmen!“

Gregor, dem vor wenigen Tagen Hieronymus damit zu Dank gesprochen hätte, ergriff den Arm des Eifernden und sagte mit einem wilden Blick: „Lassen Sie die Todten ruh’n!“

Hierüber trat eine augenblickliche Stille ein, und in diesem Schweigen sprach plötzlich Ambrosius zwei Worte vor sich hin: „Justitia“ und „caritas.“




Das war am Abend des grünen Donnerstags gewesen; am Morgen des folgenden Charfreitags standen die Klosterthore weit geöffnet; dicht geschaart drängte sich das Landvolk im Hof und auf der breiten Treppe zusammen, die zur Kirche führt. Klosterdiener hielten einen Weg vom Bruderhaus nach dem Flußufer offen, Chorknaben drängten sich mit wichtiger Amtsmiene durch die Menge, und an den Fenstern des Hauses erschien hin und wieder das Gesicht eines Paters.

Der Himmel war bewölkt, aber es regnete nicht, und der Wind wehte aus Osten.

Um zehn Uhr entstand eine Bewegung unter den Harrenden, und der Corridor des Erdgeschosses entließ langsam den feierlichen Charfreitagszug. Voran wurde ein Kreuz getragen, von dem Trauerflöre wehten; vier Posaunen stimmten in langgezogenen, dumpfen Tönen eine Klageweise an; Chorknaben und Sänger folgten. Dann kamen paarweise die Väter des Klosters in schwarz und weißen Togen, brennende Kerzen in der Hand. Meßdiener schwangen hinter ihnen Weihrauchfässer, und aus dieser Wolke von Rauch glänzte das Allerheiligste, das Gregor trug.

Ein schwarzer Mantel, mit einem breiten, weißen Kreuz gestickt, umwallte seine hohe Gestalt, zu seiner Linken schritt Pater Hieronymus, zur Rechten, an der Hand eines blondgelockten Kindes, der achtzigjährige Ambrosius. Die Brüder schlossen sich an.

Während der Zug sich langsam über den Hof nach dem Donauufer bewegte, lag das Volk auf den Knieen. Vor dem Thor hielt jener still, und die Sänger, Ministranten und Geistlichen erfüllten dicht die schmale Landzunge, die sich zum Wasser hinab erstreckt.

Der Prior aber trat unmittelbar an den Fluß heran. Auch auf der Höhe der jenseitigen Felsen knieten Männer und Frauen und sahen auf’s Kloster nieder.

Die Posaunen verstummten, es war Gregor, als hielten Himmel und Erde den Athem an, um auf das Rauschen der Fluth zu horchen, die er jetzt segnen sollte. Langsam erhob er die Arme, er schien zu wachsen, ja, einen Augenblick war’s, als wollte er sich von der Erde gegen Himmel heben. Dann segnete er mit dem hochgeschwungenen Allerheiligen den Strom – den Strom, der über seinen Mord, der über Benedictus rauschte. Eine Welle schlug an’s Ufer, spritzte an seinem Priesterkleid empor und verrann …

Wieder tönten die Posaunen, der Zug ging zurück und begab sich über die Marmortreppe in die düster gähnende Kirche. Die Fenster waren mit schwarzem Sammt verhangen, die Altäre alles Schmuckes beraubt und die Leuchter umgestürzt. Eine Seitencapelle aber war zum Garten verwandelt und zwischen Blumen und immergrünen Pflanzen lag der Dulder der Welt … Der Altar dabei war hell erleuchtet, und dorthin brachte Gregor das Allerheiligste. Dann, seines Mantels entkleidet, schritt er zum Hochaltar. Ein Kreuz lag auf den Stufen, wo Benedictus seine Nächte durchwacht hatte, und die ewige Ampel, die einem feurigen Auge gleich aus der Finsterniß des Chors leuchtete, schwebte darüber. Gregor warf sich mit ausgestreckten Armen über das Kreuz auf die Erde und betete. Ja, er betete! Der düstere Prunk des Gottesdienstes hatte ihn mit einer Art Trunkenheit erfüllt, und der Glanz seines heiligen Amtes warf einen Schimmer auf den häßlichen Flecken in seiner Seele.

„Ich habe gesündigt, Herr,“ sagte er bei sich, als er Angesichts des Volkes auf den Stufen lag, „aber ich habe die That nicht aus weltlichen Gründen, ich habe sie gethan im priesterlichen Zorn. Der Priester aber steht über dem Gericht der Welt, frei von allen irdischen Banden, hat er nur Gott sich gegenüber!“

. . . . . . . .

Als er sich erhob, entfiel ihm ein kleines Metallkreuz …

Dies Kreuz war das Geschenk seiner Mutter, einer armen, siebenzigjährigen, rechtschaffenen Bauersfrau im Gebirge. Sie lebte noch. Gregor, stehst du auch über diesem Gericht?




4. Absolvo te.

Auch seine Augen fanden Schlummer. In der Nacht vom Charfreitag lag Gregor mit geschlossenen Wimpern auf seinem Stuhl; die breite Brust hob und senkte sich in gleichmäßigen Athemzügen, und das mondbeleuchtete Gesicht hatte die Ruhe, den Frieden, die Unschuld des Schlafes. Seine erschöpften Sinne waren auch des Traums nicht mehr fähig, und so genoß er ganz und ungestört sein letztes Glück. Aber beim Erwachen lächelte er nicht, gleich den andern Menschen, der Sonne zu, welche nach trüben Tagen herrlich wieder im Blauen stand! Dem Schuldbewußten war diese Klarheit entsetzlich. Er hätte sich in die Tiefen der Erde flüchten mögen und es schien ihm unmöglich, vor diesem allgegenwärtigen, gewaltigen Licht ein Geheimniß zu verbergen. Aber das Geräusch, das am frühen Morgen schon das Kloster durchtönte, erinnerte Gregor an seine Pflicht, an das Fest, an den Bischof, und zitternd trat er unter Menschen.

In der allgemeinen Verwirrung und Unruhe beachtete Niemand die Blässe, den scheuen Blick und das nervöse Zucken des Priors. Wo er erschien, ward er mit Fragen und Bitten bestürmt, mußte er hier seinen Rath, dort Befehle ertheilen. Boten kamen und gingen, und er blieb in einer Fluth von Geschäften keine Minute allein. Endlich, am späten Nachmittag, war Ordnung in die durcheinander schwirrenden Arbeitskräfte gebracht, der geschäftliche Theil erledigt, und nur die Ausschmückung der Räume noch übrig. Vom Thurm läutet’ es zum ersten Mal wieder, und die Gemeinde strömte über den Klosterhof in die Kirche, wo Pater Hieronymus am purpurgeschmückten Hochaltar die Auferstehungsfeier begann. Gregor aber stand, als die Luft von den langgezogenen Glockentönen erzitterte, vor der Thüre zur Bibliothek. Er hielt die Hand über die Augen, weil ihn die Sonne blendete. „Was wollen Sie noch?“ fragte er den Bruder Kellermeister, der zu zögern schien.

Dieser schrak zusammen. „Nichts, nichts, Herr Pater Prior,“ entgegnete er, fügte aber dann stockend hinzu. „Ich wollte nur fragen, wer nach der Vesper zur Beichte sitzen wird. Die Herren [51] Patres haben so viel für morgen zu thun, und gerade heute will Jeder sein Herz vor Gott ausschütten.“

„Pater Ambros – Hieronymus – und ich,“ erwiderte nach einer kurzen Pause der Prior. Damit trat er in den Büchersaal, der als der größte und sonnigste Raum im Kloster für das Festmahl bestimmt war. Gregor öffnete die hohen Bogenfenster der frischen Abendluft und blickte nachdenklich auf den Strom hinaus, der wieder geglättet und leuchtend dahinfloß.

„Nach Stürmen wieder ruhevoll und ein Spiegel des Himmels,“ dachte Gregor, „und ich? nach fluchwürdiger That ein Priester! Und wenn nun ein Mörder an meinen Beichtstuhl tritt und sich mir gegenüber zur heimlichen Missethat bekennt? Was werde ich, an Gottes Statt, dem Verbrecher sagen? Geh’ hin und büße; söhne Dich aus mit der Menschheit und menschlichem Recht! – – Ja, wenn’s mit der Reue gethan wäre! wenn Thränen sühnen könnten! das Licht meiner Augen wollte ich mit Thränen auslöschen! aber Reue will Buße. Entweder muß ich hingehn und meine Schuld bekennen, gestehen, daß ich als Priester geirrt, als Mensch gefrevelt habe – oder thu’ ab die Reue, erhebe frei die Stirn und sage: der Priester darf auch Rächer sein!“

Er begab sich vom Fenster hinweg und durchschritt das Gemach. Sein Blick fiel auf den Tisch, an welchem Benedictus Tages über zu lesen und zu schreiben pflegte. Klosterchroniken und Folianten lagen da, wie Benedict sie verlassen hatte. Der Prior ergriff hastig ein Manuscript, an dem sein Opfer zuletzt geschrieben hatte. Die Feder ruhte noch daneben, wie sie der Unglückliche hingelegt, als Felix eintrat. Das Heft trug den Titel: „Die Prioren des Klosters Felsenburg, der Geist ihres Wirkens und die Wirkungen ihres Geistes; dargelegt von Benedictus.“ Das Werk umfaßte einige hundert Seiten; das letzte Blatt war noch unbeschrieben und trug nur die Ueberschrift: „185*. Gregor August, P. S. O. B.“ Es war sein, des Mörders Name. Gregor starrte auf den leeren Raum darunter … Schreibt keine unsichtbare Hand darauf, wie auf Belsazar’s Wand: Mene, Tekel, Upharsin?

„Nein!“ rief er und brach vernichtet zusammen, „fluchwürdiger als Belsazar! Am Tag des Gerichts wird auf diesem Blatt ein Wort nur flammen: Kain!“

Aus der Kirche aber tönte es plötzlich: Alleluja! Christ ist erstanden! und die Orgel brauste, die Trompeten jauchzten, und über die Felsen, den Strom und das einsame Grab des Märtyrers dröhnte der Glockenhymnus: Christ ist erstanden!

Als die Kirchenfeierlichkeit zu Ende war, begann ein wirres, aber fröhliches Getriebe. Wer jetzt im Klosterhof steht, wird nimmer glauben, daß diese Mauern zuweilen so einsam und traurig liegen, als wären sie, einst versunken, längst vergessen, ein ödes Wrack, das die Ebbe bloß gelegt. Der Abendhimmel, der, ganz Gluth und Gold, sich über der Felsschlucht ausbreitet, hat alle Schwermuth hinweggenommen. Die frische Luft, welche von dorther weht, wird mit dem Waldgeruch getränkt, den große Bündel von Tannenzweigen im Hofe ausströmen. Denn einige alte Frauen sind eifrig damit beschäftigt, Kränze und Guirlanden zu winden. In blauen Röcken und rothen Schürzen kauern sie zwischen dem grünen Wirrsal, das um das eherne Kreuz in der Mitte aufgehäuft ist. Das Klosterportal und der Thorweg sind bereits in einen Triumphbogen verwandelt, am Eingang zum Bruderhaus aber hämmert noch ein junger Mönch die Latten zur zweiten Ehrenpforte fest, während ein Anderer ihm die Leiter hält. Auf der Kirchentreppe umkleiden Arbeitsleute die Säulenschäfte mit hohem Schilf und schlagen die Halle mit rothem Tuch aus, ein Pater steht dabei, ordnet dies und jenes an und liest dazwischen im Breviarium. Klosterknechte tragen Wasser vom Fluß, denn Zellen und Corridore werden gelüftet und gescheuert, die Möbel in den Gastzimmern gereinigt und zurecht gerückt. Thüren gehen, Zimmer und Corridore widerhallen vom Geräusch der Arbeit und von den Stimmen der Arbeitenden.

An diesen heitern, lichtvollen Scenen vorüber wandelte der Prior langsam und gedankenschwer in die Dämmerung des Gotteshauses. Dort waltet die Stille eines mystischen Sabbaths. In den Säulen, in Stein gefangen, träumt die Sehnsucht der Seele. Auf den Marmor haucht das Licht, durch bunte Fensterscheiben brechend, zarte Farben hin, und um die Capitäle schweben blaue Weihrauchwolken. Im Zwielicht der Seitenhallen knieten Betende, und in den schwergeschnitzten, katafalkähnlichen Beichtstühlen flüsterten Stimmen. In einen solchen ließ sich eine hohe Mönchsgestalt nieder, das blasse Angesicht dem ewigen Licht zugekehrt. Alsbald warf sich ein Mann in der Tracht der Ordensbrüder am Beichtgitter nieder und begann in des Andern Ohr zu flüstern: „Hochwürdiger Vater, auf meiner Seele lastet ein furchtbares Geheimniß. In Angst, Zweifel und Unruhe finde ich Nachts keinen Schlaf und am Tag kein Gebet. Pflichtvergessen gegen die Gesetze meines heiligen Ordens habe ich einst eine stürmische Nacht beim Wein durchwacht. Als ich in meine Zelle zurückkehren wollte, ward ich der unsichtbare Zeuge eines Mordes, von geweihter Hand am Geweihten begangen!“

Der Priester im Beichtstuhl zuckte heftig zusammen, aber der Beichtende fuhr leise fort: „Das Opfer ward an unheiliger Stätte begraben, und der Vorwurf des Selbstmords schändet sein Andenken. Die Wahrheit und der Mörder aber blieben unentdeckt, denn ich, der Einzige, der außer Gott sie kennt, habe geschwiegen.“

Das Haupt des Beichtvaters, das die zitternde Hand kaum noch mit dem weißen Tuch zu verhüllen vermochte, fiel schwer auf die Brust; die freie Rechte packte krampfhaft das Holzwerk; der Andere aber begann nach kurzer Pause wieder: „Nun ich mein Herz vom entsetzlichen Bann befreit habe, wird Gott mir Frieden und Du, als sein Priester, mir die Absolution gewähren. Dir selbst aber, unglücklicher Gregor, gelobe ich in dieser heiligen Stunde ewiges Stillschweigen. Dir, der von der Schuld des Schweigens mich lösen kann, übergebe ich hiermit vor Gott, dessen ewiges Licht der Barmherzigkeit uns Beiden leuchten möge, mein Geheimniß als Dein Geheimniß!“

Das weiße Tuch sank, und Gregor’s Antlitz wurde sichtbar: die Stirn war bleifarbig, und das Haar klebte an den Schläfen vom Angstschweiß, die Augen waren starr und erloschen, die Lippen zuckten. Schweigend wartete der Andere auf die Stimme des Priesters. Aber dieser winkte nur mit der Hand. Seine Blicke waren wirr; er rang nach Worten und fand sie nicht, und seine Zunge war schwer. Er sah und hörte nicht, was um ihn vorging. Die Nacht sank nieder, und die Kirche war längst von Allen verlassen, aber Gregor saß noch immer im Beichtstuhl, mit starrem Blick, mit fiebernder Stirn und sann dem Worte nach: Absolvo te!




5. Auferstanden!

Ostersonntag! Die Natur ist sonnentrunken; Felsen, Wasser und Rasen sangen lechzend in der Brunst des Frühlings die goldige Fluth, und der Himmel spendet aus blauen Tiefen unerschöpfliche Fülle. Dabei quillt Glockengetön und Menschenjubel unaufhörlich durch die Luft. Hunderte von bewimpelten Kähnen, mit geputzten Menschen beladen, gleiten auf der Donau dahin, landen am Kloster oder fahren weiter, dem Dampfer entgegen, der stromaufwärts kommt. Vom Kirchthurm flattert die Osterfahne im Morgenwind. Ueber dem weitgeöffneten Klosterportal prangt in goldenen Lettern aus Immergrün: Ave! Der Hof aber ist mit beflaggten Masten, Gewinden und Kränzen in eine grüne Halle verwandelt, die zur Kuppel das unendliche Blau hat. Und hier drängt sich das Volk, Männer, Frauen, Kinder. Stundenweit aus Dörfern und Einöden kamen sie, mit festlichen Gewändern und fröhlichen Gesichtern. In den Corridoren des Bruderhauses eilen die Mönche Treppen auf, Treppen ab. In den Vorrathskammern werden Kisten und Kasten geräumt, Fässer gerollt, und in der Küche steht Bruder Ignatius wie ein Feldherr; um ihn her werden die Mörser geladen und Spieße gedreht, schmort, siedet und bratet es. Kein Gemach, kein Winkel ist im ganzen Kloster, wo nicht Menschen voll Aufregung, Erwartung und Festfreude sich rühren.

Um neun Uhr donnern die Böller von der Felsenhöhe, und der feierliche Zug der Mönche begiebt sich zur Einholung des Bischofs zum Strom hinab, die Sänger und Rauchfaßträger, die Brüder und Patres, der Prior im goldgestickten Prachtgewand, von zwei Leviten begleitet.

Das Dampfschiff rauscht heran. Auf dem Deck stehen, Kopf an Kopf, Hunderte von Städtern und das bischöfliche Gefolge. Zahlreiche Kähne begleiten den schwarzen Riesenschwan und bedecken weithin die Wasserfläche. Die Schiffsglocke gellt zwischen das Kirchengeläut; vom Boot und von den Höhen dröhnen die Böller, denen das Felsenecho antwortet; Musik erschallt vom Deck, und die Menschen auf dem Strom, am Ufer und im Hof schwingen Hüte und Tücher und jauchzen, und hoch auf den Felsenplatten, wo nur der [52] Himmel sie hört, schreien Männer und Frauen: „Hurrah!“ Es gilt dem Bischof, dem Kloster, dem Fest, dem Frühling!

In diesem allgemeinen Taumel landet das Schiff; die würdige Greisengestalt des Bischofs, in rothem Talar, löst sich aus der bunten Masse, er steigt die Treppe nieder und umarmt den Prior. Dann wird es ringsum still, ein Sängerchor beginnt, und unter ihrem Gesang, auf Blumen schreitend, welche Kinderhände streuen, zieht der Bischof in die Kirche, das Volk am Wege segnend. Das Hochamt begann. Gregor war der assistirende Priester. Bevor der Bischof die Mitra aufsetzte und den Hirtenstab zur Hand nahm, knieten er und der Prior auf den Stufen des Hochaltars nieder und beteten laut das katholische Sündenbekenntniß.

Während dieses Gebets war es todtenstill in der hohen, säulengetragenen Halle, und Gregor hörte das Fenster, das nach der Donau ging, im Morgenwinde knistern. Ihn und die übrigen Priester vor dem hochgelegenen Altar traf das volle Tageslicht, während es im Schiff, mannigfach gebrochen, nur da und dort die Knieenden beleuchtete; Männer, Frauen, Jugend und Alter, Arm und Reich dicht nebeneinander, hier Alle nur Menschen, und über ihnen der Geist Gottes.

Das Geräusch des verhängnißvollen Fensters machte Gregor fast wahnsinnig; indem er es zu übertäuben suchte, sprach er mit wachsender Hast und immer lauter. Die Worte: „Meine Schuld! meine Schuld!“ klangen wie ein Angstschrei von seinen Lippen. In einem entfernten Winkel begann ein Kind zu weinen – ein Zufall, aber Gregor war’s, als sähe er sich selbst als Kind dort knieen, woher das Weinen drang …

Dann brauste die Orgel, und im Gewog der Instrumente ertönten die Worte, die unter wehenden Cedern und der Sternenpracht des Orients ein König einst zur Harfe sang. Unsagbares durchschauerte Gregor während der Messe. Es waren nicht Gedanken, sondern nur noch Empfindungen. Als das Sanctus vorüber und das Opfer nahe war, verhallte Orgel und Paukenklang. In sanfter Schwermuth begannen die Violinen, und eine melodische Knabenstimme sang: Benedictus

Da hielt Gregor die aufquellenden Thränen nicht länger zurück; er preßte seine Stirn auf die Stufen, vor denen er kniete, und schluchzte laut, ganz aufgelöst in Sehnsucht und Schmerz um Benedictus.




Kurz nachdem das Hochamt vorüber und die Kirche geleert war, wurden die Anstalten zur priesterlichen Versammlung getroffen. Der bischöfliche Stuhl unter rothem Baldachin stand, dicht am Flußfenster, schon bereit; in der Tiefe, dem Hochaltar gegenüber, wurden Bänke für die Priester und Mönche aufgestellt. Unterdessen war Gregor mit dem Bischof in der Sacristei. Der siebenzigjährige Greis, der das Haupt ein wenig zur Brust geneigt trug, wie unter der segnenden Hand eines Unsichtbaren, saß vor dem aufgeschlagenen Kirchenbuch. Sein Blick verweilte auf einer Stelle dieses Buches, die also lautete:
Benedictus Henricus Burgh.
Dr. theol und Pater O. S. B.
gest. am 20. April 185*. In der Donau verunglückt.

„Todt!“ sprach der Bischof mit schmerzlichem Ton. „Und Sie haben keine Ahnung, Herr Prior, warum der arme Mann so jäh, so traurig endigte?“

„Er war ein Zweifler,“ stammelte der Prior mit blassen Lippen.

„Wer war das nicht?“ sagte der Bischof leise vor sich hin.

Der Andere sah ihn überrascht, erschrocken an.

„Benedict war in Versuchung, von unserer heiligen Kirche abzufallen,“ betonte er.

Der Bischof seufzte. Nach kurzem Nachdenken sagte er: „Und doch wüßte ich ihn lieber unter den Abtrünnigen, als unter den Todten.“

„Hochwürdigster!“ rief der Prior außer sich.

„Denn wer darf, wer kann einen Lebenden verloren nennen?“ sprach der Greis; Gregor aber, von diesem Wort tödtlich getroffen, senkte den Blick.

„Ich fühle,“ begann der Bischof nach einer Weile wieder, „wie tief gerade Sie von diesem Unglück berührt sein müssen, als sein Prior und mehr noch, als sein Freund. Ich erinnere mich, von Pater Benedict gehört zu haben, daß Sie ihm einst das Leben retteten!“

Gregor rang stöhnend die Hände.

„Getrost!“ sprach der Bischof sanft, „wir werden ihn wiedersehen. Gott ist barmherziger als wir Menschen.“

„Wohl, wohl!“ flüsterte der Prior, den jedes Wort des Andern vernichtete. Seine Seele kämpfte vergebens gegen die Gewalt, die in des Bischofs Menschenliebe lag. Er suchte nach einem Wort, das er dieser Duldsamkeit entgegenschleudern konnte, aber der Vorwurf der Lässigkeit und des Unglaubens paßte nicht auf den Bischof; dieser Mann war fromm und gut.

„Hochwürdigster,“ sagte Gregor zuletzt, „der Unglaube, der Abfall nehmen überhand, schon wuchern sie innerhalb geweihter Mauern. Warum sollen wir nicht das Richtschwert vergangener Jahrhunderte ergreifen?“

Ein Schatten flog über des Bischofs Stirn, dann hob er sanft lächelnd die Hand: „Freund,“ sagte er, „laß uns Hirten, nicht Henker sein!“

„Aber zur Ehre der Kirche!“

„Die Ehre der Kirche ist Christus. War er ein Verfolger oder Verfolgter? Er hatte das Wort, nicht das Schwert.“


– – –


Wenige Minuten darauf wankte Gregor aus der Sacristei in die Kirche. Dort stand nur der Bruder Küfer, stand im hellen Sonnenlicht am offenen Fenster, unter dem die Donau floß. Er, der Einzige, der auf dem Weltenrund die Geschichte dieses Fensters kannte! Ein tiefer Schauder packte Gregor bei diesem Anblick, ein furchtbarer Gedanke durchzuckte ihn, dann, am ganzen Leibe zitternd, streckte er beide Arme gegen den Mönch hin und schrie, daß es laut durch die Kirche dröhnte: „Hinweg! hinweg! hier ist Gregor!“

Der Mönch drehte sich um und fing den Wankenden in seinen Armen auf: „Memento mori!“ sagte er. – Dann kamen die Klosterbrüder, die Canonici und Vicare des Bischofs, die Priester der Umgegend, der Bischof selbst und ließen sich auf den angewiesenen Sitzen nieder. Es waren über hundert Geistliche in der Kirche. Das Schiff aber lag still und leer. Nach einem kurzen Gebet begann der Bischof zu sprechen:

„Hochwürdige Väter und Priester! Der Hohepriester des alten Bundes trug zwei köstliche Steine im Brustschild. Diese Steine wurden Licht und Recht genannt. Lasset Licht und Recht auch unser Brustschild sein. Seid einander ein Beispiel! Legt nicht die Hände in den Schooß und saget: die Zeit ist zu schlecht für die Frommen! Gutes zu thun, ist immer gute Zeit! – Da ist dieses Kloster. Vor vierzig Jahren nährte und kleidete es fünfundzwanzig unter zweihundert Armen, jetzt versorgt es fünfzig unter hundert. Ihnen, Herr Prior, gebührt unser Dank hierfür. Aber nicht nur Ihre rastlose Thätigkeit für des Klosters Hebung und das Wohl der Armen, sondern auch Ihre Frömmigkeit und Glaubenstreue, all Ihre seltenen Tugenden sind in Rom sowohl, wie im Lande erkannt und gewürdigt, und mir ward der Auftrag, Ihnen dies auszudrücken. – – Gregor, Abt von Felsenburg, dienen Sie auch fernerhin der Kirche, der Menschlichkeit, dem ewigen Licht!“

Eine freudige Bewegung geht durch die Versammlung, Viele springen empor, Aller Augen hängen am Prior. Dieser erhebt sich und macht rasch zwei, drei Schritte vorwärts. Ein Sturm von Gefühlen durchtobt ihn, Freude und Schmerz, Genugthuung und Verzweiflung. In seiner Hand ruht sein Geschick. Hier Schmach, Fluch und Verstoßung, aber auch Recht und Sühne. Dort eine Bahn der Macht und des Ansehens, der Wohlthätigkeit und stillen Buße, aber auch der Lüge und ewiger Gewissensqual! Er überdenkt seine und des Klosters Ehre, hört den Jubel seiner alten Mutter und breitet die Arme aus, wie um die Hoffnung an’s Herz zu drücken, und indem er so das Auge rathflehend gegen den Himmel erhebt, sieht er über seinem Haupte Benedictus’ Ampel, das ewige Licht … Da faltet er beide Hände über der Brust, wankt vorwärts und kniet an den Stufen des bischöflichen Stuhles nieder. Und mit seiner tiefen, metallenen Stimme spricht er im allgemeinen Schweigen: „Hochwürdigster Bischof! Väter und Brüder! Ich – ich bin der Mörder Pater Benedict’s …!“




Drei Monate später ging in der Residenz das Gerücht, die Gräfin Cosima von Geldern, deren Geist und Schönheit Jedermann bewunderte, sei in den Orden der barmherzigen Schwestern getreten.




[53] Sechs Jahre später reisten zwei katholische Missionäre durch die Tiefebene zwischen dem Zambesi- und Tschobestrom den ersteren stromaufwärts zu den Stämmen der Makololo. Beide waren deutsche Benedictiner; Einer von ihnen, eine hochgewachsene, würdige Gestalt, war vom Orden zur Sühne eines Verbrechens nach Afrika gesandt, der Andere, ein Klosterbruder, sein freiwilliger Begleiter. Die Wanderung durch jene fruchtbaren, aber ungesunden Landstriche war mit Anstrengungen und Leiden aller Art verbunden, denn das Dickicht von Papyrus und Rohr am Ufer war ihnen ein nicht minder gefährliches Labyrinth, als die fast undurchdringlichen Bananenwälder.

Der Pater ward vom Fieber ergriffen. Sein treuer Freund suchte und fand für den Erkrankten in der Hütte armer Banyetis Zuflucht. Nach einer lang durchwachten Nacht starb der Priester. Bevor er in den Armen seines Freundes verschied, dankte er diesem mit dem lateinischen Segenswort: Benedictus – – mehr ließ ihn der Todeskampf nicht sprechen.

Während im nahen Wirrsal der Palmen, Mangos und Bananen der tausendstimmige Gesang der Vögel begann, sprach der Mönch an der Leiche seines einstigen Priors das Todtengebet – Et lux perpetua luceat ei! Die Bewohner der Hütte aber erstiegen einen Felsen des Stromufers und mit ausgebreiteten Armen beteten sie an die Sonne, die purpurn jetzt über den Laubwogen emporstieg, die schöne, flammende Sonne, das ewige Licht!




Der deutsch-amerikanische Romantiker.

Charles Sealsfield.

Es war um die Zeit, da die kurze „mondbeglänzte Zaubernacht“ der modernen Romantik mit ihren täuschenden Lichtern und unbestimmten Nebelgestalten in unserm Vaterlande rasch ihrem Ende entgegenging, als plötzlich ein Unbekannter, ein Vermummter, unter die Gesellschaft der deutschen Dichter und Schriftsteller trat. Seine Rede war nichts weniger als gekämmt und geleckt; er sprach gehackt in abgerissenen Sätzen, sein drittes Wort war spanisch oder englisch, wohl gar Yankee-Englisch. Aber man horchte, man erstaunte, man ward hingerissen. Was der Unbekannte sagte, das glaubte man mit Augen zu sehen, was er geschrieben, das lebte. Die Personen in seinen Erzählungen traten so fremd und wild und doch gleichsam als alte Bekannte vor uns. Der Schauplatz war der nüchternste [54] der Welt, Amerika, das Land des Onkel Sam, so wenig romantisch, daß es nicht einmal je ein Mittelalter gehabt. Trotzdem wußte der unbekannte Eindringling in die deutsche Literatur dieses trostlos nüchterne Land mit seinen ganz realistischen Schilderungen in ein so reizendes glänzendes Sonnenlicht zu stellen, daß seine Leser, hingerissen, Blatt für Blatt und Capitel für Capitel verschlangen. „Der Legitime und die Republikaner“, die „Transatlantischen Reiseskizzen“, „der Virey“ hatten bald einen großen literarischen Ruf begründet. Aber lange wußte in Deutschland Niemand, wer der Träger dieses Rufes sei. Das lesende Publicum war um einen „großen Unbekannten“ reicher geworden.

Vor ein paar Jahren siedelte sich am Fuße des Jura, in einem bescheidenen Landhause in der Nähe von Solothurn in der Schweiz ein ältlicher Herr an. Der Fremde sprach sehr correct Deutsch, Englisch wie seine Muttersprache, auch Französisch und Spanisch, vielleicht noch andere Sprachen. Aus der militärischen Haltung, dem grauen Schnurrbart, der sich über den Backenknochen in einen buschigen Backenbart verlief, hätte man auf einen pensionirten Officier schließen können, etwa auf einen englischen Obersten, der seine Carriere in Indien gemacht; aber die goldene Brille verlieh wieder der äußern Erscheinung ein Ansehen, welches auf gelehrte Beschäftigungen deutete, die gewöhnlich nicht zur Liebhaberei alter Soldaten gehören. Der alte Herr war Charles Sealsfield, längst nicht mehr ein „großer Unbekannter“ in der Literatenrepublik, sondern der vielgenannte, berühmte Schriftsteller, der sich eine eigene Bahn gebrochen, der deutschen Literatur ein neues Gebiet erobert hatte.

Der Name „Sealsfield“ fehlt in keiner Literaturgeschichte. In allen encyklopädischen Werken finden sich biographische Notizen über diesen deutsch-amerikanischen Schriftsteller. Und dennoch schwebte stets und schwebt noch heute eine gewisse geheimnißvolle Dämmerung um der Wiege, der Jugend, dem Leben des alten Herrn mit dem durchfurchten Gesicht, dem grauen Backenbart und der goldenen Brille, welche erst später, wenn grünes Moos auf seinem Hügel wächst, – vielleicht auch dann noch nicht – sich aufhellen wird.

Sealsfield sei in Deutschland geboren. Wo, wann er das Licht der Welt, erblickte, ist bis jetzt nicht bekannt. Er soll seine Erziehung in Deutschland erhalten, auf deutschen Universitäten studirt haben, dann – noch sehr jung – nach den Vereinigten Staaten ausgewandert sein, wo er sich als amerikanischer Bürger naturalisiren ließ. Der Verfasser dieser Zeilen hat Gründe, diese Angaben der Biographen Sealsfield’s für richtig zu halten. Die erste literarische Arbeit unseres Schriftstellers sei ein Buch über Amerika, in deutscher Sprache um’s Jahr 1826 in Deutschland erschienen, es ging ziemlich spurlos über die Bühne. Das erste sichere Datum finden wir am Schluß der Einleitung zum Roman „der Virey“, in welcher man einen Auszug aus dem Tagebuch des Verfassers während eines Besuchs in Mexico im Jahre 1828 erkennen will.

Von Mexico scheint sich Sealsfield nach Neu-Orleans und den Südstaaten der Union gewendet zu haben. Er war damals jung, keck, frisch; die Welt stand vor ihm offen und er bereit, sich ein Stück davon zu erobern. Er wurde Landeigenthümer in Louisiana und gedachte eine Plantage zu gründen und Baumwollenpflanzer zu werden. Mit dem Rest seines baaren Vermögens, einigen tausend Dollars in Wechseln, fuhr der angehende Pflanzer den Mississippi hinunter, um in Neu-Orleans sich mit den nöthigen Arbeitskräften zu seinem neuen Geschäfte zu versehen, d. h. ein paar Sclaven zu kaufen; einige fernere Nigger gedachte er auf Credit zu erwerben und mit dem Ertrag seiner nächsten Ernte zu bezahlen. In der Metropole des Südens angelangt, ist sein erster Gang zum Banquier, auf welchen seine Wechsel lauten. Herzlicher Empfang, Einladung zu einer glänzenden Abendgesellschaft. Am zweiten Tag wiederum Besuch beim Banquier, der ihn womöglich noch wohlwollender empfängt und zum Mittagstisch einladet. Am dritten Tage sollen endlich die Geschäfte abgemacht werden. Aber am frühen Morgen hat sich der gastfreundliche Banquier bankerott erklärt, und dem Pflanzer in spe bleibt kaum so viel, damit nach seiner Farm zurückzukehren, wo er nun seinen Mais eigenhändig bauen kann, wenn er nicht lieber hungern will.[2]

Das war ein verhängnisvoller Wendepunkt in seinem Leben. Dem jungen Mann, welcher schon früher in Amerika als Schriftsteller debütirt hatte, wurden Anträge gemacht, in die Redaction eines großen politischen Blattes in New-York einzutreten. Nach dem Schlag, der ihn betroffen, blieb ihm keine andere Wahl als die angebotene Stellung anzunehmen. Er gab seine Farm einem Nachbar in Pacht und reiste nach Norden, nach der großen Stadt am Hudson, um dort Zeitungsschreiber zu werden. So kam es, daß Sealsfield statt eines behäbigen Pflanzers und Sclavenhalters ein Mann der Feder wurde, zuerst Publicist, dann einer der beliebtesten Romanschreiber; daß er, statt sich im Schatten der Sykomoren und Magnolien ein Haus zu bauen, eine schöne Creolin zur Frau zu nehmen und eine Familie zu gründen, heimathlos, als Junggeselle, gleich einem rollenden Stein während eines langen Lebens ohne bleibende Stätte blieb, bis er endlich als bejahrter Mann am Fuße des Jura einen stillen Hafen fand, darin Anker zu werfen.

Es war ein in französischer Sprache geschriebenes Blatt, „le courrier des Etats-unis“, an dessen Redaction Sealsfield nun Theil nahm, dasselbe Journal, welches später – nach der Julirevolution von 1830 – von Joseph Bonaparte erworben wurde, um in napoleonischem Interesse zu wirken. Als der mißglückte Pflanzer seine publicistische Laufbahn begann, handelte es sich gerade um die Präsidentenwahl, eine stürmische Epoche für die amerikanischen Zeitungsschreiber. Nach Monaten der Aufregung, angestrengter, aufreibender Arbeit und unablässigen Federkampfes fand sich Sealsfield’s Gesundheit so angegriffen, daß seine Aerzte ihm dringend eine Erholungsreise nach Europa empfahlen. Er trat aus der Redaction, ohne jedoch die Publicistik ganz aufzugeben. Seinen Aufenthalt abwechselnd in London und Paris nehmend, ward er Correspondent verschiedener amerikanischer und englischer Journale und knüpfte Beziehungen mit vielen politischen Notabililäten jener Zeit an.

Im Jahre 1832 übersiedelte Sealsfield nach der Schweiz. Jetzt begann für ihn eine Epoche ruhigerer schriftstellerischer Tätigkeit, welche seinen literarischen Ruhm begründete. – Schon im nachfolgenden Jahre (1833) erschien in Zürich der dreibändige Roman „Der Legitime und die Republikaner“, nach einer früher in englischer Sprache geschriebenen und in Amerika veröffentlichten Erzählung „Tokeah“ bearbeitet. Dieser erste seiner Romane bewegt sich noch einigermaßen im Fahrwasser Cooper’s und hat den Verzweiflungskampf eines indianischen Häuptlings gegen die weißen Eindringlinge zum Gegenstand. Seine ureigene, noch nicht dagewesene Weise, sein ganz eigenthümlicher Styl und seine lebendige Darstellungsgabe zeigten sich im vollsten Lichte in den „Transatlantischen Reiseskizzen“, welche ebenfalls 1833 ausgegeben wurden. Die Eindrücke, die er so meisterhaft in den Kreuz- und Querzügen Mr. Howard’s, in den Schilderungen der Mississippifahrten und der Gastlichkeit der Pflanzer des Südens wiedergiebt, mag er wohl in jener Zeit empfangen haben, als er seinen Grundbesitz in Louisiana erwarb und selber Plantagenbesitzer und Sclavenhalter zu werden gedachte. Der Verdacht wird in uns rege, daß kein Anderer als er selber der von den Pflanzern so gastlich bewirthete Mr. Howard ist.

Dieses Buch hatte einen außergewöhnlichen Erfolg, der vielleicht durch die Anonymität noch erhöht wurde. Die Leserwelt zerbrach sich den Kopf, ob der Verfasser ein Engländer, ein Amerikaner, ein Deutscher sei, ob das Buch ursprünglich deutsch geschrieben oder übersetzt worden, woher es komme, daß es in der Schweiz, in Zürich, erschienen, ob der Verfasser in der alten oder der neuen Welt seine Penaten habe? – Die Verlagshandlung hielt das Geheimnis getreulich bewahrt. – Schon im Jahre 1835 folgte der dreibändige Roman: „der Virey und die Aristokraten“ oder „Mexico im Jahr 1812“. Diese Erzählung verdankt ihre Entstehung der Reise des Verfassers in jenem Lande, deren wir bereits erwähnten. Er läßt im „Vorwort“ den Herausgeber sagen: „Die meisten Skizzen wurden im Lande selbst entworfen, so wie die Charaktere meistens nach der Natur gezeichnet sind … Der Roman schildert die ersten revolutionären Zuckungen des ebenso schönen als unglücklichen Landes, die ersten Versuche, das dreihundertjährige spanische Joch vom Nacken zu schütteln. Dieses Werk Sealsfield’s ist dasjenige, welchem die meiste künstlerische Abrundung, die consequenteste Durchführung des Grundgedankens und die größte Sorgfalt in der Composition zuzuschreiben ist. Manche halten es für die beste seiner Arbeiten. — Nicht später als in den zwei folgenden Jahren erschienen, als Fortsetzung der „transatlantischen [55] Reiseskizzen“, 6 Bände „Lebensbilder aus beiden Hemisphären“, eine lose in einander gefügte Mosaik amerikanischer Sittenbilder, welche manches vortreffliche Culturgemälde enthalten. So ist unter Andern „das blutige Blockhaus“ eine der interessantesten und spannendsten Schilderungen des wilden Squatterlebens im fernen Westen, und der alte Squatterregulator Nathan ein Charakter, wie er nur von Meisterhand gezeichnet werden kann.

Während dieses seines ersten Aufenthalts in der Schweiz hielt sich Sealsfield abwechselnd in Zürich, am Bodensee, in Schaffhausen und zu Baden im Aargau auf. Er stand in den besten geselligen Beziehungen mit vielen ausgezeichneten Schweizern und mit manchen fremden Notabilitäten, welche gleich ihm den gastfreien Boden der Schweiz zu ihrem bleibenden oder vorübergehenden Aufenthalt gewählt hatten.

Eines Tages erging sich Sealsfield lustwandelnd in der Nähe von Constanz, an den reizenden Ufern des Sees. Da bemerkte er vor sich einen Reiter. Demselben begegnete ein ziemlich armselig und abgerissen aussehender wandernder Handwerksgeselle. Unser Spaziergänger sah von Weitem, daß der Reiter, ein junger, eleganter Herr, sein Pferd anhielt, ohne vom Sattel zu steigen, die Stiefel auszog, dieselben dem armen Reisenden schenkte und dann unbeschuht wieder von dannen trabte.[3] Kurze Zeit nach diesem kleinen Abenteuer ward unser Freund, der schon in Neuyork in Beziehungen zur Familie Bonaparte gestanden, bei der Königin Hortensia eingeführt, welche damals auf dein Schloß Arenenberg wohnte. Nicht ohne Erstaunen erkannte er in ihrem Sohne Louis Napoleon den generösen jungen Reiter.

Nach einem kurzen Besuche in Amerika (1837) kehrte Sealsfield nach der Schweiz zurück. Im Jahre 1838 erschienen die ersten Bände der „Sturm-, Land- und Seebilder“, einer Mosaikarbeit von scharfer Zeichnung und lebhaftestem Colorit. Zwei Jahre später veröffentlichte er das „Kajütenbuch". Es enthalten die zwei Bände dieses Romans eine lebensvolle Schilderung der ersten Anfänge amerikanischer Niederlassung und Besitzergreifung in Texas. Als Meister in der Charakterzeichnung und Schilderung psychologischer Phänomene erweist sich der Verfasser in der Episode „die Prairie am St. Jacinto“. Wahr und ergreifend, fast haarsträubend erzählt er die Gewissenspein des Raubmörders, den die eigenen Schritte trotz alles Widerstrebens stets und stets wieder zum Schauplatz seines Verbrechens führen. – Die drei Bände „Süden und Norden“ (1842 und 1843) haben wiederum Mexico zum Schauplatz und enthalten in Romanform die Eindrücke, welche dieses wunderbare Land mit seiner unglücklichen, meist entarteten Bevölkerung auf den Verfasser gemacht. Das Buch ist sonderbar, wie das Land, welches es schildert; seine Lectüre berauscht uns gleich dem Duft und dem Saft der Agaven, von denen wir lesen. Es gehört zu den frommen Wünschen Sealsfield’s, in einer neuen Ausgabe eine bessere Ordnung und einen größeren Zusammenhang in die üppigen, farbenreichen Bilder der Natur und des Lebens des wunderherrlichen Gebirgslandes Oaraca zu bringen, welche dieser Roman enthält.

Der Quell literarischer Tätigkeit war durch so rasche Production nicht erschöpft. Unser Freund arbeitete an fernern Werken. Aber die Stürme, welche 1847 in der Schweiz, 1848 in ganz Europa zum Ausbruch kamen, unterbrachen das ruhige Schaffen des Geistes. Zum Anfang der fünfziger Jahre finden wir Sealsfield wieder in Amerika.

Sealsfield hatte um’s Jahr 1830 die neue Welt als junger Mann, in der Blüthe der Jahre, verlassen; als gereifter Mann kehrte er nach mehr als 20 Jahren zurück. Er sah nun mit andern Augen. Land und Menschen erschienen ihm nicht mehr wie damals im rosigen Wiederschein der Jugend. Sein durch die lange Abwesenheit objcetiver gewordener Blick erkannte mit Schmerz die dunkeln Schlagschatten im amerikanischen Staats- und Privatleben. Nicht mehr war es der von den schönen Creolinnen Louisianas gefeierte Tänzer, nicht mehr der kecke Jagdgefährte der jungen Pflanzer, der heißblütigen Cavaliere des Südens, der nach so langer Abwesenheit aus Europa zurückkehrte; es war der berühmte Schriftsteller, der geistvolle Publicist, auf dessen Stirne Zeit und Erfahrungen schon tiefe Furchen gezogen hatteu. Es waren die Staatsmänner, die öffentlichen Charaktere des Landes, mit denen er nun verkehrte. Er besuchte Washington und wurde vom Präsidenten der Union im „weißen Hause" empfangen; mit den meisten Männern von politischer Wichtigkeit machte er persönliche Bekanntschaft, und sie verschmähten es nicht, seinen Rath zu hören. Er erkannte mit Schrecken, wie furchtbar die Corruption im öffentlichen Leben Amerikas überhand genommen, wo es vorkam, daß die Mehrheit der Volksvertretung ganzer Staaten von Eisenbahnschwindlern oder andern großen Geldspeculanten im eigentlichsten crassesten Sinne sich bestechen ließen.[4] Schon damals bereitete sich die furchtbare Katastrophe vor, die ein paar Jahre später ausbrach und heute noch nicht zum Abschluß gekommen ist – gleich der französischen Revolution verheerend – vernichtend, aber heilsam und nothwendig all die angesammelten faulen, giftigen Dünste auseinander zu blasen und den Platz zu räumen für ein besseres, gesünderes Leben. – Sealsfield hat seinen Landbesitz in Louisiana nie veräußert. Ohne Zweifel hat er die Stätte wieder besucht, wo er einst eine Plantage gegründet hätte, wäre nicht der fatale Bankerott seines Banquiers dazwischen gekommen. Jetzt würden ihm die Fonds nicht mehr gefehlt haben, eine genügende Anzahl von Negern zu erwerben, um den einst gehegten Plan zur Ausführung zu bringen. Aber sei es, daß er das Vorgefühl des kommenden furchtbaren Sturmes hatte; sei es, daß nach einem so langen Aufenthalt in Europa – im freien England und in der Schweiz – sein Gefühl sich dagegen auflehnte, Sclavenbesitzer zu werden; sei es, daß er es nun zu spät fand eine Familie zu gründen: er verließ die Scholle wieder, die ihm gehörte, und das Adoptivvaterland, um nach der alten Welt, nach der Schweiz zurückzukehren.

Am südlichen Fuße des Jura, der mit seinen zackigen Felsen, seinen dunkeln Tannen- und hellen Laubwäldern einige Familienähnlichkeit mit den Alleghanies haben mag, in unmittelbarer Nachbarschaft der Solothurner Marmorbrüche befindet sich ein Häuschen von anspruchslosester Bauart; es ist hell getüncht, seine Jalousieläden grün gemalt; vor dem Hause ist ein Garten, welcher zwischen zwei Feldwegen wie ein Schiffsschnabel spitz ausläuft. Je bescheidener diese Wohnung, um so schöner ist ihre Lage, um so pompöser die Aussicht, die man von da genießt: das ganze Alpenpanorama sieht man vor sich ausgebreitet und im Vordergrund das freundliche, fruchtbare Aarthal, das lindenbekränzte Solothurn mit seinen zahlreichen Kirchen, Klöstern und Kapellen, Diesen stillen, abgelegenen Erdenwinkel hat Sealsfield, als er Amerika zum zweiten Mal den Rücken wandte, als Eigenthum erworben. Hier lebt er als Junggeselle, einsam, sich selbst genügend. Dem schattigen Walde zu lieb, der sich mit wenigen Schritten erreichen läßt, hat er seine Wohnung "unter den Tannen" genannt und diese Worte als Inschrift über seine Hausthüre setzen lassen. Sein letztes, längst begonnenes Werk konnte noch nicht zur Vollendung kommen; es sollte ein Abbild der öffentlichen und socialen Zustände Nordamerikas und ihrer Rückwirkung auf die alte Welt – zugleich gewissermaßen eine Fortsetzung und ein Abschluß der „Lebensbilder aus beiden Hemisphären“ – sein. Der ausbrechende Bürgerkrieg machte durch die Schlußcapitel einen Strich.

Mit tiefer Trauer sieht Sealsfield aus der Ferne zu, wie sein noch immer geliebtes Adoptivvaterland sich selbst zerfleischt, darauf verzichtend, die junge Saat zu schauen, die einst um so schöner auf dem vom giftigen Unkraute gesäuberten Gefilde sproßen wird,

Alfred Hartmann.


Warum ich betend vor Dir stehe?

Nimm’ nur ein Kind und stell’ es hin,
Wo Lilien und Rosen blüh’n,
Und sieh, wie es die Händchen faltet,
Weil ihm der liebe Gott drin waltet.

5
Dann sieh’ mich an und denke nach,

Warum ich betend stehen mag,
Wenn sich vor Dir mein Auge feuchtet:
Weil Gott in Deinen Blicken leuchtet.

Carl Müller.
[56]
Ein Patriot im Priesterrock.

Das Licht zieht den Geist an, den Geist in jeder Form, auch in der des kämpfenden Glaubens, der mehr als ein Mal selbst ein Führer zum Lichte war. Mußten wir es nun leider nicht selten erfahren, mit welch’ rührigem Eifer die Feinde des Lichts jede politische Dämmerung sogleich für den Dienst der Finsterniß ausbeuteten, und wie unter diesen ein zur Pfaffenschaft hinabgesunkener Theil der Geistlichkeit sich stets am ungescheutesten in den Vordergrund drängte, so begrüßen wir es als eine um so tröstlichere und erhebendere Erscheinung, wenn in Tagen, wo um Licht und Recht der Kampf von Neuem entbrennt, auch die Kirche dem Volk wackere Streiter sendet. Mit hoher Achtung blicken wir auf die Geistlichen in Schleswig-Holstein, die abermals für ihrer Heimath Recht und Ehre die Gefahren des Elends wagen, und auf ihre Amtsbrüder in vielen deutschen Ländern, die ebenso mannhaft für sie auftreten. Und mit demselben Stolze dürfen wir auf manchen braven Mann der Kanzel blicken, der, als das deutsche Volk nach der Befreiung von Napoleon’s Sclavenketten rang, grade im Unglück sich als Held bewährte. Denn die festlichen Erinnerungen an die große Zeit der Erhebung des deutschen Volkes vor funfzig Jahren rufen das Andenken auch an solche Männer wach, die, wenn auch nicht durch glänzende Thaten auf dem Schlachtfelde, doch durch nicht minder ehrenwerthe Handlungen und eine eben so glühende Liebe zum Vaterlande sich ausgezeichnet haben.

Ein solcher Patriot im besten Sinne des Wortes war der Mann, dessen Charakterbild ich in den folgenden Zeilen zu zeichnen versuchen will, und die Gartenlaube, die bereits in anerkennenswerthem Streben so viel gethan hat, das Andenken an eine große Zeit und an ihre Helden von Neuem zu beleben, wird auch dem kurzen Lebensabriß eines einfachen Landgeistlichen, der sich als einer der besten Söhne des Vaterlandes erwies, den erbetenen Raum gewähren.

Carl Christian Immanuel Steinbrück wurde in einer kleinen Stadt in der Nähe Stettins auf dem linken Oderufer, wo sein Vater damals Rector und Nachmittagsprediger war, i. J. 1772 geboren. Nach gründlicher Vorbereitung, die er auf den Schulen in Colberg und Stettin erhielt, bezog er im Jahre 1792 die Universität Frankfurt a.O., um Theologie zu studiren, und zwar unter dem Einflusse des berüchtigten Wöllner’schen Glaubensedicts, dessen Verfolgungssucht die rationalistischen Docenten dadurch auszuweichen wußten, daß sie bei dem Vortrag ihrer mit dem von oben her „commandirten Glauben“ nicht in Einklang stehenden Forschungen ihren Zuhörern das Nachschreiben untersagten, dafür aber, nachdem sie ihrer Kritik den Zügel sattsam hatten schießen lassen, den eifrig lauschenden Jüngern eine durchaus gläubige Exegese und Dogmatik in die Feder dictirten, „damit sie solches im Examen vor der Glaubenscommission verwenden könnten.“ – Auch Heinrich Zschokke war damals sein Lehrer.

Nachdem Steinbrück länger Hauslehrer gewesen, erhielt er 1796 eine Pfarrstelle zu Friedland in Westpreußen. Hier finden wir ihn noch in dem verhängnißvollen Jahre 1806, wo das Unglück auch über diesen fernen Theil der preußischen Monarchie und seine Bewohner herein brach. Den unaufhaltsam vordringenden Franzosen kostete es nicht große Mühe, den polnischen Adel jener Gegenden aufzuregen, ihn zum Abfall vom Könige von Preußen zu bewegen und ihn zu Napoleon, „dem Großen, dem Unüberwindlichen“, hinüberzuziehen. Es galt nur noch, auch der preußischen Beamten sich zu versichern und sie mit Güte oder Gewalt zur Anerkennung des aus den ehemals polnischen Landestheilen mit Hülfe der Franzosen neu zu bildenden polnischen Reiches zu bewegen. Wie hierin selbst französische Officiere sich ungemein thätig erwiesen, davon erzählt der Prediger Steinbrück ein Beispiel. Wir lassen ihn selbst reden:

„Am 12. Novbr. 1806, bald nach ein Uhr Mittags, sprengte ein französischer Officier mit zwölf Husaren durch die Stadt, kam aber bald wieder zurück, indem er nur die Gegend vor dem Conitzer Thore recognoscirt hatte. Er stellte sich mit seinen Leuten auf dem Markte auf, schickte einige Mann als Posten an die Thore ab und forderte, daß die beiden Prediger (außer mir war noch ein katholischer Geistlicher in der Stadt) und der Bürgermeister sogleich zu ihm kämen. Ich, der ich dies vor meiner Thür hörte, antwortete in französischer Sprache: „„Mein Herr, ich bin der eine Prediger, den Sie suchen.““ Er antwortete: „„Das ist gut, laßt sogleich den Andern auch holen und stellt Euch hierher,““ wobei er mir mit dem Säbel den Ort anwies und einen Mann Wache an meine Seite stellte, damit ich nicht davonlaufen sollte. Meine Frau schrie und jammerte in der Thüre, ich mußte aber gehorchen. Jetzt befahl der Officier dem ebenfalls herbeigekommenen Bürgermeister Schmidt, die von ihm geforderten Bedürfnisse, Lebensmittel und Geld, zur Stelle zu schaffen, was auch geschah. Zu mir sagte er dann: „„Führt mich in eine Schreibstube!““ worauf ich ihm die Kämmerei vorschlug und zeigte. Der Officier und sein Maréchal de logis nahmen mich in die Mitte und führten mich dorthin als ihren Gefangenen. Hier forderte der Officier Schreibzeug und Papier, und als ihm dies gebracht war, sagte er zu mir: „„Napoleon hat diese Provinz bis an die Weichsel erobert und ist Euer Herr; ich nehme diese Stadt in Besitz, entlasse Euch hierdurch aus Euern Pflichten gegen den König von Preußen; Ihr habt keine Verbindlichkeiten mehr gegen ihn und müßt mir jetzt auf mehrere Fragen Antwort geben. Redet Ihr eine Unwahrheit, so werdet Ihr in’s Hauptquartier geführt und aufgehangen; werdet Ihr aber gar nicht antworten, so lasse ich auf dem Markte eine öffentliche Execution an Euch vollziehen! Uebrigens will ich Euer Glück machen, wenn Ihr mir recht viel aussagt und in der Provinz unser Führer sein wollt.““ Er legte dann einen Bogen Papier vor sich auf den Tisch, auf welchen unter Anderem folgende Fragen verzeichnet worden, über welche er von mir Auskunft verlangte: Wo ist der König und die Königin von Preußen? Wo die Brüder des Königs.? Wie stark ist die preußische Armee? Wer commandirt sie? Wie groß ist die Provinz? Wie viele Rekruten liefert sie? und dergl. mehr. Ich erwiderte, daß ich das nicht wisse, und daß es außerdem wider meine Pflicht sei, auf solche Fragen Antwort zu geben. Da ergriff der Officier seine Pistole und hielt sie mir vor’s Gesicht, als er aber sah, daß auch dies mich nicht wankend machte, ließ er die Waffe sinken und entließ mich unter allerhand Schimpfwörtern und Flüchen.“

Es ist bekannt, wie jene oben erwähnten Bestrebungen des polnischen Adels, unterstützt und geschützt durch die siegreiche Armee Napoleon’s, noch im Herbste des Jahres 1806 in der Errichtung einer eigenen Regierungscommission in Bromberg vorläufig verwirklicht wurden. Diese Commission erließ, gestützt auf den polnischen Adel, der sich aller Orten schnell bewaffnete, eine Proclamation, welche zum Zweck hatte, das alte polnische Reich wiederherzustellen, und welche die Provinz Preußen als dazu gehörig reclamirte. Sie befahl, jeder Beamte, der nicht selbst die Waffen ergreifen könnte, sollte einen Mann stellen; zugleich sollte jeder eine ihm zugesandte, in Form eines feierlichen Eides abgefaßte Erklärung unterzeichnen, worin er sich vom Könige von Preußen lossagte und dem Kaiser Napoleon, dem wiederherzustellenden polnischen Reiche, und der Regierungscommission huldigte. Wer dem nicht Folge leisten würde, solle seines Eigenthums, aller Aemter und Würden verlustig und für einen Feind des Vaterlandes erklärt werden. Die Prediger sollten diese Proclamation von der Kanzel bekannt machen und die Unterthanen kräftig zum Abfall bewegen, ja man ging so weit, den König seines Reiches für verlustig zu erklären, der, wie hinzugefügt war, „sich ein neues Königreich suchen könne“. Unser Patriot nennt jene Proclamation in seinen hinterlassenen Auszeichnungen eine „respectswidrige und die schuldige Ehrfurcht verletzende Schmähschrift“, und fährt dann in der Erzählung über diese merkwürdigste Zeit seines Lebens folgendermaßen fort:

„Friedland ist von den Dörfern des Caminer Kreises umgeben, gehört aber selbst zum Conitzer Kreise. Ich erhielt von dem aufgestandenen polnischen Adel beider Kreise solche rebellische Schmähschrift, ließ mich indeß so wenig durch die darin enthaltenen Versprechungen verführen, daß mir Gott vielmehr die Einsicht und den Muth gab, unter die erste zu schreiben: „Herr, erlaube mir, in die Heerde Säue zu fahren“ (Matth. 8. 31), und unter die andere schrieb ich: „Ein – Sr. Majestät meines Königs ist mir ehrwürdiger, dem werde ich gehorchen, aber die sich so nennende Regierungscommission werde ich nie anerkennen, weil ich sie vielmehr verachte!“ Mit diesen Unterschriften sandte ich die Schreiben an die Commission zurück.

Am nächsten Sonntage – es war am Neujahrsfeste 1807 – predigte ich über das Thema: „Standhafte Treue kann nur in Gefahr bewiesen werden“, indem ich zuerst von der Größe der gegenwärtigen [57] Gefahr sprach und dann zeigte, wie man in derselben Treue beweisen könne und müsse. Auch erließ ich auf meine eigene Hand die folgende Proclamation: „„Da in den jetzigen Zeiten, wo die Verordnungen nicht durch die ordentlichen Behörden zu Jedermanns Kenntniß gelangen können, Mancher aus Unwissenheit fehlt, auch durch Unterlassung seiner Pflicht unrecht handelt, wodurch er künftig verantwortlich und strafbar wird, so halte ich es als rechtlicher Mann für meine Pflicht, wenigstens so viel ich kann, durch Ermahnen und Warnen Andere zu ihrer Pflicht zu bewegen und dadurch dem Vaterlande nützlich zu werden. Es halten sich nämlich viele Soldaten hier und in den Dörfern auf, ohne zur Armee oder dahin zu gehen, wo so viele ihrer Cameraden hingehen. Einige haben gegen mich selbst geäußert, daß kein Befehl vorhanden wäre, nach welchem sie zu ihrem Corps gehen sollen, Andere behaupten, sie hätten sich selbst rancionirt und gehörten Niemandem an. Allen diesen mache ich hiermit bekannt, daß es ausdrücklicher Befehl Sr. Majestät ist, daß jeder Soldat, auch der sich selbst rancionirt hat, längst hätte zur Armee gehen sollen. Ich ermahne und warne also Jeden, sein Vergehen dadurch gut zu machen, daß er ungesäumt zu seiner Pflicht zurückkehrt, da ihm die Unwissenheit nicht mehr zu Statten kommen kann. Um die Richtigkeit meiner Warnung zu beweisen, werde ich hier eine Verfügung des Elbinger Magistrats bekannt machen, die ich in der Zeitung soeben gelesen und woraus sich Jeder überzeugen wird, daß diese Behörde lediglich nach den ergangenen königlichen Befehlen gehandelt, und daß alle Behörden so handeln werden, wenn dieses zu ihrer Kenntniß kommen wird.““ (Es folgt nun eine Verfügung des Elbinger Magistrats mit der Überschrift: „„Wohlgemeinte Ermahnung und Warnung an alle sich hier und in den Dörfern aufhaltenden, von ihren Corps versprengten Unterofficiere und Soldaten.““)

„Die Wirkung dieser von mir erlassenen Proclamation,“ fährt Steinbrück fort, „war, daß auch kein Einziger abfiel! Auch den Katholiken, die mehr als ein Viertel der Einwohner ausmachten und die ebenfalls meine Aufforderung zu lesen bekamen, muß ich das ruhmwürdige Zeugniß geben: sie blieben treu und kamen von da ab sehr oft zu mir in die Kirche, Einige sogar alle Sonntage. Da aber der Magistrat sich der polnischen Regierungscommission gegenüber auch darüber ausweisen mußte, daß er die Proclamation dieser sogenannten Regierung habe publiciren lassen, so ließ er dies durch den Küster thun, und wie dieser darüber von mir eine Bescheinigung forderte, schrieb ich unter die Proclamation: „Dies hat der Magistrat durch den Küster bekannt machen lassen, der auch allein diese Schande zu verantworten hat.““

Es leuchtet ein, daß ein so entschiedenes Vorgehen gegen die Absichten der augenblicklich fast allein mächtigen Partei den Haß derselben erregen mußte und daß die polnische Regierungscommission nicht lange anstehen würde, einen so offen auftretenden Gegner unschädlich zu machen. Dazu kam, daß im Orte selbst ein den Polen vollkommen ergebenes Werkzeug lebte, welches Sorge trug, das ihnen feindliche und ihre Pläne, wenigstens so weit sein Einfluß reichte, durchkreuzende Vorgehen Steinbrück’s seinen Gönnern und vermeintlichen Vorgesetzten geziemend und in aller Eile zu berichten. Dies war der Landrichter V…, den, als er aus seinem Vaterlande vertrieben war, der König Friedrich Wilhelm III. in seine Staaten aufgenommen und angestellt hatte. V…, ein Mensch von niedriger und egoistischer Gesinnung, hatte sich, wie viele Beamte in jener Zeit, durch große Versprechungen verleiten lassen, die Partei der Polen zu ergreifen. Steinbrück kannte seine Gesinnung wohl und wußte, wessen er sich von ihm zu versehen hatte. Bereits im November des vorhergehenden Jahres hatte der Landrichter an der Tafel eines benachbarten polnischen Edelmanns in Gegenwart unseres Predigers ungescheut seine Sympathien für die Polen und für Napoleon bekannt, und als er deshalb offen von Steinbrück zur Rede gestellt war, hatte er diesen gewarnt und ihn auf die große Gefahr aufmerksam gemacht, in die er sich durch sein unerschrockenes und, wie V… es nannte, „unüberlegtes“ Reden bringen könne. Dieser schon vor Monaten geführten Rede gemäß handelte nun auch der Landrichter V… in Friedland; er unterzeichnete nicht nur jene Proclamation, sondern strich auch überall in den schon gefertigten Verfügungen die Worte „Königlich Preußisch“ aus und setzte „im Namen der Regierungscommission“ an die Stelle. Auch suchte er vielfach die Bürger zum Abfall zu verleiten und schickte auch Steinbrück eine derartige Bekanntmachung zu. Der aber antwortete, „daß er seinen Verstand verloren haben müsse; wie er so schlecht handeln könne? der König von Preußen habe ihm Amt und Ehre verliehen, da er aus seinem Vaterlande weggejagt sei!“

Hierauf denuncirte nun V… wider Steinbrück bei der Regierungscommission in Bromberg und erklärte derselben geradezu, daß alle ihre Bemühungen vergeblich sein würden, so lange Steinbrück in Wirksamkeit sei. Der ganze Kreis hinge ihm an, deshalb müsse er aus dem Wege geräumt werden. Täglich erwartete der Landrichter nun die gefängliche Abführung seines Gegners, um dessen Leben es geschehen war, sobald er erst einmal in der Gewalt der Polen sich befand. Hatten dieselben doch erst vor Kurzem den Bürgermeister von Labeczin nach Posen abführen und dort erschießen lassen, weil dieser neuausgehobene Rekruten nicht, wie die Commission ihm befohlen, zu den Polen, sondern zu den Preußen geschickt hatte.

Wie durch ein Wunder entging jedoch Steinbrück der über seinem Haupte schwebenden Gefahr, während der Denunciant, der nur auf den Sturz seines Gegners lauerte und sich selbst ganz sicher wähnte, von seinem Geschick ereilt wurde.

Jenes von dem Landrichter abgesandte Schreiben kam nämlich durch einen Zufall in die Hände der preußischen Husaren vom Regiment Würtemberg, die einen Cordon zwischen den Preußen und den rebellischen Polen gebildet hatten. Diese schickten ein Commando zur Aufhebung des Landrichters ab. An einem nebligen Morgen, anfangs Januar, zog eine in Mäntel gehüllte kleine Reiterschaar in die Stadt. Kaum erhält V… davon Kunde, als er freudig vor die Thür springt und, da er die Reiter am Pfarrhause halten sieht, ausruft: „Jetzt holen sie den Pfaffen!“ Bald aber sieht er sich bitter getäuscht. Die Reiter waren keine Polen oder Franzosen, sondern jenes Commando preußischer Husaren, die den Auftrag hatten, den Herrn Landrichter V… aufzuheben und auf die Festung Graudenz zu transportiren. Die Schuljugend kam gerade aus der Schule, als man V… auf einem Leiterwagen aus der Stadt führte. Er verhüllte mit dem Mantel sein Gesicht, nicht allein aus Scham, sondern auch zum Schutz gegen die Steinwürfe der lieben Jugend. Zufällig befand sich damals in jener Knabenschaar ein späterer Freund und Amtsbruder des ältesten Sohnes des Prediger Steinbrück, der jenem oft von diesem Tage und seiner eigenen Betheiligung an dem Vorfall erzählt hat.

Die Polen waren über die Abführung eines ihnen ergebenen Beamten sehr aufgebracht; sie sorgten zunächst dafür, daß das Auftreten Steinbrück’s der „Commission“ bekannt werde, die dann auch nicht lange säumte, Repressalien zu gebrauchen und an dem widerspänstigen Priester in Friedland Rache zu üben. Es wurde zu seiner Aufhebung ein Commando von Bromberg abgeschickt und beschlossen, ihn zum warnenden Beispiel öffentlich erschießen zu lassen. Glücklicher Weise wurde Steinbrück noch zur rechten Zeit gewarnt. Zwei Meilen von Friedland machte das Commando zum letzten Male auf seinem Marsche Halt; hier wollte man den Einbruch der Nacht abwarten, um den Schlafenden um so sicherer festnehmen zu können. Eine Pächterfrau, bei der ein Theil der Mannschaft einquartiert war, und die aus dem geheimnißvollen Auftreten der Leute und aus der Richtung des Weges, auf dem sie weiterziehen wollten, nichts Gutes für unsern Pastor ahnte, mit dem sie, als geborene Colbergerin, in ihren patriotischen Gesinnungen lebhaft sympathisirte, hatte durch wiederholtes Fragen und Forschen endlich – trotz des strengen Verbotes – von einem Soldaten erfahren, daß ihre Befürchtungen nur zu begründet waren und daß es in der That auf den Pastor Steinbrück in Friedland abgesehen sei. Sie macht sich sogleich auf, eilt noch spät am Abend nach Friedland und theilt dem Pastor mit, welche Gefahr ihm drohe, wenn er nicht sogleich durch die Flucht sich rette; morgen früh werde es dazu schon zu spät sein. Da galt es, einen schnellen Entschluß zu fassen. Nach kurzem Abschied von Weib und Kind, die er der Obhut seiner am Orte wohnenden Schwiegereltern übergiebt, verläßt der Verfolgte sein Haus, ohne jedoch den Seinigen das Ziel, dem er zueilt, zu nennen, um sie nicht in Gefahr zu bringen; auch wußte er wohl selbst noch nicht, wohin er sich wenden sollte. Er eilt zunächst einer tief im Walde, weit von der Straße entfernt liegenden Mühle zu; der Müller läßt ihn noch in derselben Nacht über die pommersche Grenze fahren, und so war er wenigstens augenblicklich vor den Polen in Sicherheit. Das zu seiner Aufhebung abgesandte Commando fand, als es am Morgen in der Stadt anlangte, eine tiefgebeugte Pfarrersfrau und ein [58] Kind; in ihrer Erwartung getäuscht, zogen die Feinde bald ab, ohne große Unbill zu verüben.

Der Flüchtling erinnerte sich in seiner Verlassenheit eines Freundes in Colberg, zu diesem nahm er seinen Weg, meist zu Fuß wandernd, nur mit wenig Wäsche und mit noch weniger Geld versehen. Glücklich langte er nach mehreren Tagen vor der bereits von den Franzosen eingeschlossenen Festung an, in die er auch, da zu jener Zeit die Belagerung noch keine allzustrenge war, unter dem Anschein eines Spaziergängers aus der Stadt, ohne weitere Schwierigkeiten eingelassen wurde und bei seinem Freunde, dem Rector Schäfer, gastfreundliche Aufnahme fand. Sonst möchte es auch schwer gehalten haben, in der mit Truppen und vielen Flüchtlingen aus der Nähe und Ferne angefüllten Stadt ein Unterkommen zu finden.

Hier beginnt nun eine höchst bewegte und interessante Zeit für unsern Steinbrück; fast die ganze Sturm- und Drangperiode der denkwürdigen Belagerung Colbergs hat er mit durchgemacht; denn es war Anfangs Januar, als er dort eintraf, und erst einige Tage, nachdem der in Tilsit abgeschlossene Waffenstillstand bekannt gemacht war, am 6. Juli verließ er Colberg wieder. Es liegt mir ein vom 14. März bis zum 6. Juli fortgehendes genaues und ausführliches, von ihm selbst geschriebenes Tagebuch vor, das über diesen höchst merkwürdigen Zeitabschnitt viel Beachtenswertes mittheilt und dessen Veröffentlichung ohne Zweifel einen wichtigen Beitrag zu der Geschichte der letzten Belagerung Colbergs liefern würde. Ich muß mich hier freilich darauf beschränken, kurz die ferneren Schicksale unseres Helden nach Anleitung dieses Tagebuches zu erzählen.

Bald nach seiner Ankunft in Colberg meldete sich Steinbrück bei dem damaligen Commandanten der Festung, dem Obersten v. Loucadon, und bat denselben im Namen der in Westpreußen dem Könige treu gebliebenen Städte, ein Commando dorthin zu schicken, um diese vor den polnischen Insurgenten zu schützen; auch hoffte er mit diesen Truppen zu den Seinen zurückkehren zu können. Das Erstere mußte der Commandant ablehnen, da es ihm an Truppen fehlte, ihn selbst aber versprach er zu schützen und ihn weder an die Polen, noch an die Franzosen auszuliefern. So mußte denn freilich Steinbrück seinen Plan aufgeben, vor Aufhebung der Belagerung in die Heimath zurückzukehren, und von dem Augenblick an, wo er darüber Gewißheit erhielt, stand auch sein Entschluß fest, den Colbergern in ihrer Noth treu zur Seite zu stehen. Bald schloß er sich an den wackeren Nettelbeck an und nahm Theil an dem Dienst der Bürgerwehr, später wurde er von dem nachherigen Commandanten Gneisenau bisweilen auf dem Militärbureau mit Schreibereien beschäftigt. Uebrigens fand er in mehreren Familien der Stadt, in denen er noch von seiner Schulzeit her bekannt war, freundliche Aufnahme und liebevolle Theilnahme, an Allem aber, was die Stadt betraf, und an jedem Vorfall in dieser kriegerischen, unruhigen Zeit nahm er den lebhaftesten Antheil. Den größten Eindruck scheint, nach seinen ausführlichen Aufzeichnungen zu urtheilen, Schill’s Persönlichkeit und sein Auftreten auf ihn gemacht zu haben, auch läßt er den militärischen Talenten und den vortrefflichen Eigenschaften des zu jener Zeit noch wenig bekannten Majors v. Gneisenau[5] volle Anerkennung zu Theil werden, der den alternden Commandanten, Obersten von Loucadon, seit dem 29. April ersetzte.

Trotz der großen Sorge um das Schicksal der Seinen und trotz der steten Angst, in welcher alle Bewohner Colbergs bei dem von Tage zu Tage heftiger werdenden Bombardement schwebten, fehlte es doch dem Bedrängten nicht an erhebenden, freudigen Stunden. Eine solche wurde ihm bald nach seiner Ankunft zu Theil, als er eines Morgens zu dem Commandanten beschieden ward, der ihm in Gegenwart der Officiere folgende so eben von Memel per Estafette eingegangene Cabinetsordre vorlas, die wir uns nicht versagen können, ihrem Wortlaut und ihrer Orthographie nach hier genau wiederzugeben:

„Seine(r) Königlichen Majestät“, so lautet das uns im Original vorliegende Schreiben, „haben aus einer Anzeige des General-Lieutenant von Monstein zu Danzig mit ganz besonderer Zufriedenheit ersehen, wie pflichtmäßig sich der Prediger Steinbrück zu Preusch-Friedland gegen das Ansinnen des dasigen Land- und Stadtrichter V…, die feindliche Authorität von der Canzel zu proklamiren benommen hat, und daß derselbe außerdem mit eigner persönlicher Gefahr alles was in seinen Kräften gestanden angewendet hat, die Unterthanen in der Pflicht gegen ihren Landesherrn zu befestigen, damit der feindlichen Gewalt nicht weiter als so weit und so lange sie das Gegentheil erzwingen konnte nachgegeben werde. Ohnerachtet nun dem Prediger Steinbrück das Bewußtseyn, seine Pflichten gegen seinen Landesherrn und Vaterland erfüllet zu haben, künftig vorzüglich zur großen Beruhigung gereichen, und die Erinnerung hieran ihm glückliche Tage bewürken müssen, so verdient indeß doch diese von ihm erwiesene so standhafte Treue gegen seinen Landesherrn eine ausdrückliche Anerkennung und Belohnung. Seiner Königlichen Majestät haben dahero nicht allein befohlen, daß auf die Beförderung und Verbesserung der Dienstlage des Prediger Steinbrück bey der ersten Gelegenheit Bedacht genommen werde, sondern wollen demselben auch hierdurch ausdrücklich Allerhöchstdero besondere Zufriedenheit über sein Wohlverhalten zu erkennen geben, und ihn der ferneren Königlichen Gnade versichern.

Memel den 27. Januar 1807.

(L. S.)
(gez.) Friedrich Wilhelm.“ 

Die auf sehr bescheidenem Papier geschriebene Cabinetsordre trägt die eigenhändige Unterschrift des Königs und ist mit dessen Privatsiegel untersiegelt. Dieselbe mußte übrigens nach einer ebenfalls bei den Papieren noch befindlichen „Allerhöchsten Verordnung“ d. d. 19. Februar 1807, die an sämmtliche Superintendenten in Pommern gerichtet ist, von allen Kanzeln im Lande verlesen werden. Für die dringendsten Bedürfnisse sorgte außerdem der König, indem nach einem zweiten Cabinetsschreiben, datirt Bartenstein, den 25. Apri 1807, dem Prediger Steinbrück ein kleines Wartegeld von dem Gouvernement in Colberg ausgezahlt werden mußte.

Aus Steinbrück’s denkwürdigen Colberger Erlebnissen theile ich nur das Folgende, die Schilderung der letzten Tage der Belagerung, nach dem von ihm hinterlassenen Tagebuche mit. „Bisher,“ so beginnt er den Bericht über jene Tage, „war mein und aller Colberger Loos erträglich, aber das Schlimmste bestanden wir erst während des schrecklichen Bombardements, welches um 2 Uhr Morgens am 1. Juli anfing und erst nach 38 Stunden, am 2., Nachmittags 4 Uhr endete; nur zu vier verschiedenen Malen wurde eine Pause von einer Viertelstunde gemacht, um die Geschütze abkühlen zu lassen. Man schätzte die während der 38 Stunden abgefeuerten Paßkugeln, Bomben und Granaten auf 6000 bis 8000, von denen die bei weitem größere Mehrzahl in die Stadt fiel. Da die Domstraße, in welcher ich wohnte, unmittelbar mit dem Wall und der Schanze auf demselben in Verbindung stand, so war die Erschütterung so heftig, daß ein Glas und eine Pfeife, welche auf dem Fensterbret standen, gleich bei den ersten Schüssen herunterfielen, und daß Alles auf dem Tische sich bewegte. Mein Wirth, Schäfer, der bald nach dem Beginn des Bombardements, Morgens um 4 Uhr ausgegangen war, kam nach kurzer Zeit mit der Nachricht zurück, daß der Hafen vom Feinde genommen und kaum ein Boot gerettet sei, um die Communication mit der See zu unterhalten. Ich lief auf den Wall und die dort befindliche Schanze, die „Katze“ genannt, wo Gneisenau fast fortwährend sich aufhielt. Von hier aus sah ich das nächste Dorf zwischen dem Wall und dem Strande, Stubbenhagen, mit Sturm nehmen und die Italiener bis an das Glacis vordringen. Die Kugeln der Jäger und Schützen erreichten die Wälle, und ein Mann neben mir wurde durch den Kopf geschossen. Ich kehrte in meine Wohnung zurück und setzte mich auf das an der Wand stehende Bett; eine Bombe schlug zwischen meiner und des Nachbars Wohnung nieder. Durch die Erschütterung wurde ich von dem Bette bis an die Stubenthür geworfen, aber zu meinem Glücke; denn durch das Platzen der Bombe stürzte auch die Stubendecke ein und verschüttete das Bett, so daß ich aller Wahrscheinlichkeit nach getödtet worden wäre, wenn ich nicht den Augenblick vorher von jener Stelle geschleudert worden. Ich mußte nun daran denken, die Wohnung zu verlassen; aber wo konnte ich jetzt noch Schutz vor dem Verderben finden? Alle meine Freunde waren bald nach dem Beginn des Bombardements in die bombenfest eingerichteten Casematten geeilt; dazu war es jetzt bei dem ununterbrochen anhaltenden Kugelregen zu spät; ich flüchtete deshalb auf den ganz in der Nähe gelegenen hohen Thurm der Marienkirche, wo eine Warte eingerichtet war, der ein gewisser Roland vorstand, welcher durch Signale mit den schwedischen und englischen Schiffen correspondirte und alle Abende einen Rapport [59] auf der Hauptwache abzuliefern hatte. Dieser, der einst mein Schulcamerad in der Tertia des Colberger Lyceums gewesen war, nahm mich freundlich auf. — Die Garnison, nur noch 4000 Mann stark, vertheidigte Wall und Mauer gegen 15,000 Feinde, indem die Bürger die Wachen bezogen. Tausend Verwundete und Kranke lagen in der Kirche, die eine der größten in Deutschland ist. Bald brach auch Feuer an zwei Orten in der Stadt aus.

Sein Mittagsmahl theilte Roland mit mir und noch einem Freunde, der sich zu uns geflüchtet hatte; da aber nur ein Löffel da war, so wurde ausgemacht, daß Jeder vier Bissen nahm und dann den Löffel weiter gab. — Während der Nacht schlief ich, so viel man bei dem ununterbrochenen Kanonendonner schlafen konnte, in dem höchsten Gemache auf dem Thurme, die Unterlage war Steingruß; die ganze Nacht dauerte das Bombardement und der Sturm gegen Wall und Mauern fort, da die Außenwerke bis auf zwei bereits genommen waren. Am Juli gegen Mittag gerieth auch die schöne Hauptwache und der Thurm auf dem Markte in Brand. Es machte einen höchst betrübenden Eindruck, als der Bürgerofficier mit den Schützen aus der brennenden Hauptwache mit Musik abzog in das Schützenhaus oder in die Casematte. Die Stadt brannte nun in der Mitte und an vier andern Orten. Als ich Nachmittags mich noch einmal hinunter wagte, um womöglich uns durch Ankauf eines Commißbrodes zu verproviantiren, sah ich nur hier und da einen Menschen scheu und eilig an den Häusern hinschleichen; denn ohne die größte Noth wagte sich Niemand mehr aus dem Hause oder — besser gesagt — aus den Kellern, worin die meisten Einwohner Schutz gesucht hatten. Ich hörte aber doch erzählen, daß der Commandant Gneisenau den Bürger Nettelbeck gefragt habe, wie lange wir uns noch halten könnten, und daß der unerschrockene Nettelbeck geantwortet habe: wenigstens noch vierzehn Tage! Das machte auch uns wieder Muth, Niemand aber hatte eine Ahnung davon, daß unsere Erlösungsstunde so bald schlagen würde.

Es war gerade um 4 Uhr Nachmittags und die Noth war bereits auf’s Höchste gestiegen, als ein Courier die Nachricht von dem in Tilsit geschlossenen Waffenstillstande brachte, welcher bekanntlich dem Frieden vorausging. Da dieser Courier von Cöslin kam, so hatte er auf seinem Wege zur Stadt schon die nächste Batterie des Feindes benachrichtigt; diese signalisirte der nächsten, so verbreitete sich die Kunde schnell im Lager des Feindes, und während einer Viertelstunde hörten eine nach der andern alle Batterien zu feuern auf. Ich wunderte mich über diese plötzliche Unterbrechung und sah aus den Luken des Thurmes, daß unten auf der Straße auf einmal überall sich Gruppen von Menschen bildeten, die sich umarmten. Schnell stieg ich hinunter, da vernahm ich denn die frohe Botschaft von dem geschlossenen Waffenstillstande und sah Thränen des Dankes und der Freude über die nicht mehr gehoffte Rettung in manchem Auge glänzen."

Da die Franzosen noch Herren im Lande waren, so mußte Steinbrück, um die Festung schon vor dem definitiven Friedensschlusse verlassen zu können, sich von dem commandirenden General der Belagerungsarmee, dem Divisionsgeneral Loison einen Paß erbitten, um vor den Verfolgungen der Polen in seiner Heimath sicher zu sein, zumal er über das weitere Schicksal Friedlands und wem die Stadt jetzt angehöre, während seines halbjährigen Aufenthalts in Colberg nichts erfahren hatte.

Der Commandant v. Gneisenau gewährte Steinbrück bereitwillig die Erlaubniß, sich in’s französische Hauptquartier zu Loison zu begeben, da aber vorläufig nur ein Waffenstillstand geschlossen war, so hielten die Franzosen die freie Passage in ihr Lager für bedenklich. Steinbrück wurde deshalb am Thore von einem französischen Unterofficier und zwölf Mann in Empfang genommen und, nachdem ihm die Augen verbunden waren, zu dem General geführt. Loison empfing ihn artig und freundlich, versicherte, schon von dem muthigen Patrioten gehört zu haben, und daß es ihm erfreulich sei, ihn kennen zu lernen. Auch gewährte er gern die Erlaubniß, daß Steinbrück zu seinen Eltern zurückkehren könne, denn dorthin wollte der Bedrängte sich zuerst wenden, um von da aus erst nähere Erkundigungen einzuziehen, bevor er nach Friedland selbst zurückging.

Am 5. Juli verließ nun Steinbrück das schwerbedrängte, aber ungebeugte Colberg, und während des kurzen Aufenthaltes bei seinen Eltern erhielt er bald günstige Nachrichten über die inzwischen stattgehabten Veränderungen in Westpreußen. Die Grenzen des von Napoleon neu errichteten Herzogthums Warschau, zu dem ein großer Theil von Westpreußen gelegt war, erstreckten sich zwei Meilen östlich von Friedland, so daß dieses selbst mit seinen nächsten Umgebungen beim preußischen Staate verblieben war. Diese Kreise waren zwar ebenfalls von französischen Truppen besetzt, doch hatte der in sein Amt zurückgekehrte Pastor von diesen nichts zu befürchten, auch hielten sie außerdem gute Ordnung.

Nur ein Ereigniß aus der Zeit bis zum Abzuge der Franzosen verdient Erwähnung, weil es nicht minder als das bereits erzählte ein Zeugniß von der Liebe Steinbrück's zu seinem Vaterlande und von seinem unbeugsamen Muthe ablegt. „Zu einer Geburtstagsfeier Napoleon’s," so erzählt er selber in seinen Denkwürdigkeiten, „die der französische Oberst Habest, natürlich auf Kosten der Stadt, veranstaltete, wurde auch ich eingeladen. Diecse Einladung anzunehmen, hielt ich gegen meine Grundsätze und wich derselben aus, indem ich an dem Tage nach einem nahegelegenen Dorfe ging. Am nächsten Tage begegnete mir der Oberst, fragte, ob ich nicht eingeladen, und als ich dies bejahete, warum ich nicht gekommen sei. Ich antwortete, ich hätte doppelte Trauer: einmal trauerte ich um den Tod eines nahen Verwandten, und dann könnte ich nicht froh werden, so lange er und seine Truppen mein armes Vaterland besetzt hielten. Um sich zu rächen, schickte der Oberst mir am Nachmittag desselben Tages sechs Mann als Einquartierung, von der ich bis dahin verschont geblieben war. Ich redete die Leute, welche Franzosen waren, freundlich an, bat, daß sie mit mir fürlieb nehmen möchten, und brachte ihnen selbst eine Schüssel Obst, das sie sehr liebten. Dadurch gewann ich sie so, daß sie mir unzweideutige Beweise ihrer Achtung gaben und schon nach einigen Tagen freiwillig abzogen."

Während der folgenden Jahre der Erhebung des Vaterlandes gegen die Fremdherrschaft blieb unser Pastor nicht müßig; er that Alles, um auch in seinen Kreisen die Begeisterung für den großen Kampf zu erwecken und rege zu halten; auch sammelte er fleißig Geld und Lazarethbedürfnisse für die Verwundeten, worüber mir aus seinen nachgelassenen Papieren Quittungen vom Königl. Lazareth-Magazin in Berlin und von der Regierung zu Marienwerder vorliegen.

Aber auch der König hielt sein dem wackern Manne gegebenes Versprechen, denn als im Jahre 1817 die königliche Pfarrstelle in der Gemeinde Stolzenhagen bei Stettin vacant wurde und Steinbrück sich um dieselbe bewarb, wurde ihm die Stelle sofort und zwar auf Grund einer Cabinetsordre verliehen, obwohl bereits von dem Consistorium über die Besetzung anderweitig verfügt war. In diesem Amte blieb er nun bis zu seiner auf sein Ansuchen im Jahre 1853 erfolgten Emeritirung, und wenige Jahre nachher, am Mai 1858 entschlief er in den Armen seines ältesten Sohnes und Amtsnachfolgers. Bis in sein hohes Alter hatte er sich einen regen Sinn für Alles, was Gutes und Erfreuliches die Welt bewegte und die Entwickelung der Menschheit förderte, zu bewahren gewußt; einfach und schmucklos, aber zu allen Zeiten wahr, treu und bieder, so lebte und wirkte er, und so wirkt auch sein Andenken im Segen in seiner Gemeinde und bei allen denen fort, die ihm im Leben nahe gestanden haben. – Wahrlich, er war es werth, den Besten seines Volkes beigezählt zu werden!

H., am 1. Weihnachtstage 1863.
Dr. Z. 



Haarkäufer in Thüringen.

Geschäfte führten mich vor Jahren häufig und in ziemlich regelmäßigen Intervallen nach der holländischen Provinz Nordbrabant. Dazumal gab es die Eisenbahn noch nicht, die jetzt in raschem Fluge über Limburg die mächtigen Haidebreiten jenes Landstriches durchschneidet. Man hatte daher in seinem Hauderer oder dem schwerfälligen Postwagen Tage lang Gelegenheit, das Auge an der öden Fläche zu ermüden, auf der es vergebens nach einem freundlichen Ruhepunkte sucht. Immer und immer wieder unterbrachen nur bald einzeln stehende, bald kettenartig aneinandergereihte Hügel weißen Flugsandes das braune Einerlei der langgestreckten traurigen Kieferpflanzungen, welche gegen jenen als Schutzwände für Aecker und Wiesen dienen müssen; höchstens gab dann und wann ein [60] Trupp magerer Birkenstämme, die, an irgend einem sandigen Verbindungswege stehend, ihr dünnes Haupthaar im Winde flattern lassen, der endlosen Monotonie einige Abwechselung. In dieser unfreundlichen Gegend, da wo die Straße von Mastricht nach Herzogenbusch die limburgische Grenze überschreitet, liegen ungefähr zehn bis zwölf Ortschaften, in denen sich vor sehr langer Zeit zwei merkwürdige Gesellschaften bildeten, die den Grund zu einem bei der Unfruchtbarkeit des Bodens überraschenden Wohlstand legten.[6] Es sind die der Kupferwaarenhändler und die der Haarkäufer, deren Wohnungen durch die Ziegeldächer, die grün gefirnißten Fensterläden und Thüren mit ihren blitzenden Messinggriffen, sowie durch gesteigerten Comfort, durch größere Ordnung und Reinlichkeit im Innern sich vor den andern strohbedeckten Hütten der übrigen Dörfler vortheilhaft auszeichnen.

Jede dieser zwei Genossenschaften zerfällt wieder in mehrere sogenannte Compagnien. Die erstere, von der ich hier nicht erzählen will, hat das Herzogthum Nassau und das Königreich Dänemark, wo sie auch ihre eigenen Kupferkesselfabriken besitzen, zum Vertrieb der Waaren gewählt. Die Haarkäufer dagegen suchten ihren Wirkungskreis in einem Theile Westphalens, in Hessen, auf dem Eichsfelde, in Thüringen, auf dem Rhöngebirge und in dem angrenzenden Theile des Königreichs Baiern. Es sind meistens kräftige, gutgewachsene Leute, oft mit anziehenden romanischen Köpfen. Sie halten unter sich stets auf strenge Zucht und Ordnung, sind in Gesellschaft nie aufdringlich, vielmehr ernst und schweigsam und meiden jeden öffentlichen Wortwechsel oder Streit. Sie werden daher überall gern gesehen und mit Achtung behandelt. Kein Wirth, bei dem sie länger verweilen, kümmert sich um das, was sie genießen, denn vor der Abreise legt der Haarkäufer sein Notizbuch, in welches er selbst das Geringste aufgezeichnet, dem Wirthe vor, und dieser weiß, daß er mit einem redlichen Manne abrechnet. Ihre „Geschäftssprache“ ist ein Dialekt des holländischen Idioms, den sie, um ihn unverständlicher zu machen, zum Ueberfluß noch mit einer Art von Rothwelsch vermischt haben. Ohne Ausnahme sind sie eifrige Katholiken, deshalb scheut Keiner weder Jahreszeit noch Wetter, wenn es gilt, den oft weit entfernten Ort ihres sonn- oder festtäglichen Gottesdienstes zu erreichen.

Meistens bestehen die Mitglieder der verschiedenen Compagnien, die sich nach den Orten ihrer Hauptniederlagen: Heiligenstadt, Dingelstedt, Mellrichstadt, Salzungen und Fritzlar benennen, aus Verwandten und ergänzen sich in der Regel auch lediglich aus diesen. Hat sich einer derselben zu dem Geschäft entschlossen, was gewöhnlich mit dem 15. oder 16. Jahre geschieht, so verpflichtet er sich, der Compagnie sechs Jahre lang als Knecht zu dienen, und wandert während dieser Periode unter der Führung eines der Sprache, der Wege und des Geschäfts vollständig kundigen älteren Cameraden mit auf den Handel, bis ihm dieser entweder allein anvertraut werden kann, oder er, was übrigens selten geschieht, wieder zurück nach der Heimath gesendet werden muß. Nach diesen sechs Jahren, während welcher Zeit er die Stätte, wo seine Wiege stand, nicht besuchen darf, tritt er mit Einlage seiner Dienstzeit als Capital nunmehr als vollständig gleichberechtigtes Mitglied in die Compagnie und erhält die Erlaubniß, von Zeit zu Zeit nach Hause reisen zu dürfen.

Das Einkaufen der Haare geschieht theils durch den Tausch gegen bunte Kattuntücher, theils gegen baares Geld. Die Haarkäufer sehen dabei am meisten auf die Länge und Feinheit des Haares, weniger auf die Farbe. In ihren Niederlagen wird dann die erworbene Waare nach Farbe und Feinheit sortirt, gereinigt, eingeölt, über dem Abschnitt einige Finger breit mit Bindfaden fest umwickelt, gut verpackt und nach ihren Bestimmungsplätzen, den meisten Hauptstädten Europa’s, ja selbst nach Amerika, abgesendet.

Freilich ist heutzutage dieser Handel nicht mehr so einträglich, als in den ersten Decennien dieses Jahrhunderts. Damals war auch der Haarkäufer ein anderer als jetzt, er war stets ein lustiger und durstiger Geselle, der oft wochenlang mit seinen Cameraden an dem Orte verweilte, wo sich seine Niederlage befand, und singend und scherzend aus einer Schenke in die andere zog. Jetzt aber geizt er mit seiner Zeit, denn will er dem Geschäft noch etwas abgewinnen, so giebt es weite Touren zu machen, hauptsächlich nach den vom Verkehr abgelegenen Ortschaften des Gebirges, da in den unteren Geländen und Thälern mitten von der hereinfluthenden Mode verdrängten Hauben und Mützen nicht mehr die genügende Ausbeute zu finden ist. Rückt das Alter heran, so pflegt sich der Haarkäufer nach seinem Dorfe zurückzuziehen, wo er inzwischen meistens Haus und Familie begründet hat, und der von der letzteren inzwischen betriebenen Landwirthschaft nunmehr selbst vorzustehen.

In einem dieser Dörfer mußte ich einst Nachtquartier nehmen. Das Wirthshaus wurde von einem ehemaligen Haarkäufer gehalten, der sein Schäfchen in’s Trockene und das eigentliche Geschäft aufgegeben hatte. Das ganze Haus war ein Bild von wohltuender Sauberkeit und behaglicher Ordnung. Als ich in das räumige Gastzimmer eintrat, saß der alte Wirth an dem von breitem Schornsteinmantel bedachten Kaminfeuer. Er hatte beide Hände auf die Arme des aus Weiden geflochtenen Lehnstuhls gestützt. Zwischen den Fingern der Linken hielt er den frisch gestopften irdenen Stummel, während die klugen Augen sinnend auf dem über dem Feuer hängenden eisernen Topfe weilten, in welchem die neben ihm sitzende Ehehälfte eben die Grütze in die siedende Buttermilch rührte. Eine tiefe Stille herrschte in dem weiten Räume. Bei meinem Gruß indeß richtete sich der Hausherr auf und ging mir mit einem kurzen, aber warmen „Willkommen“ entgegen. Auch die Alte verließ ihren Suppenkessel, und nun thaten die beiden Alten was sie konnten, um es mir, dem zeitweilig einzigen Gaste, so behaglich wie möglich zu machen. Es waren ein Paar prächtige Leute. Sie lebten jetzt ganz allein in ihrer stillen Wirthschaft, denn die Söhne hantirten noch draußen in der Welt als eifrige Haarkäufer.

Wie in Holland üblich, stand bald ein heißer Wachholdergrog auf dem Tische, die ebenfalls landherkömmliche Thonpfeife brachte mir die Alte, und ehe noch der Zeiger der urgroßväterlichen Wanduhr viel Weiler gerückt war, saßen wir im lustigen Plaudern. Oder ich vielmehr im aufmerksamen Zuhören; denn der Alte hatte sich ganz in die lieben Erinnerungen seiner Jugend und meiner Heimath, des grünen Thüringen, vertieft, das er manch liebes Jahr durchwandert hatte. „Wahrhaftig,“ fuhr er fort, indem er einen befriedigten Blick in der großen Stube umherwarf, von deren Gesimse, Wänden und Schränken ein ungewöhnlicher Reichthum von kupfernem und zinnernem Hausgeräthe blitzte, „ja, wahrhaftig, ich müßte undankbar sein, wenn ich im Geiste nicht noch dann und wann auf und zwischen den mächtigen Bergen Eures Thüringer Landes verweilen wollte. Gerade eben wie Ihr kamt, stand ich in Gedanken, den schweren blauen Plüschsack auf dem Rücken, mit meinen älteren Cameraden wieder dort, am Fuße jener gewaltigen Berge, und maß gerade wie damals den steilen Fußpfad, der uns nach dem nächsten Gebirgsorte bringen sollte. Dazumal hatte ich noch junge Beine, ich mußte hinauf, und es geht Alles, wenn man nur ernstlich will. Späterhin that mir’s Keiner gleich, und es giebt dort wohl keine Straße, keinen Fußpfad, den ich nicht, freilich oft keuchend und in Schweiß gebadet, gemessen, ich konnte dann immer noch beim Eintritt in eines jener Dörfer mein: „Haare, Haare verkoop“! kräftig und so lange die Straße hinaufrufen, bis ich das Schild oder den grünen Tannenbusch der Schenke erblickte. Dann aber war’s vorbei, denn das Bier war fast immer vortrefflich, und ein guter, alter Nordhäuser steht unserm Schiedamer nicht viel nach. Doch lange durfte ich dabei nicht verweilen, denn die Frauensleute hatten mich gehört und winkten da und dort aus Thür und Fenster.

Aber laß Dich das nicht irren, liebe Frau,“ — schaltete er zu seiner Ehehälfte gewendet ein – „das Winken galt niemals meiner Person, immer nur den schönen, bunten Tüchern in dem gefüllten Plüschsacke, denn die Frauensleute sind sich ja überall gleich und schmücken sich gerne mit bunten Lappen. Die beste Ernte habe ich immer vor der Zeit ihrer Kirmsen oder anderer Festtage gehalten. Für eins oder zwei meiner Tücher ließen sich die Meisten unter Scherz und Lachen das schönste Haar abschneiden, unter ihren Hauben und Kopftüchern bemerkte man das Stoppelfeld ja doch nicht groß. Einen Kranz, der die Blößen deckte, ließ ich ihnen ja immernoch stehen. Freilich traf es sich auch, daß eine einmal andern Sinnes war und weder von uns noch unseren Tüchern etwas wissen wollte.

So kann ich bis heute es noch nicht vergessen, als ich auch einmal wieder droben in einem jener Dörfer in der Schenke saß, wo sie sich im Winter wegen des hohen Schnees einen Ein- und Ausgang

[61]

Haarkäufer in Thüringen.
Nach einem Originalgemälde.

[62] aus ihren Dachluken graben müssen und ihnen, wie man sagt, die Hasen durch den Schornstein in die Küche fallen. Ich hatte mich eben bei dem Wirthe nach einem Haare erkundigt, einem Haare, wie man es selten unter die Scheere bekommt, lang, fein und von einem Glanze, als wäre es mit Goldstaub bestreut. Aber das saß gewaltig fest, und wenn Unsereiner dann und wann so im Vorübergehen einen Blick nach den Fenstern des Häuschens warf, dann hättet Ihr nur einmal das Gesicht sehen sollen. Buh! man hätte sich fast fürchten können! Wir Alle ließen aber nicht ab und dachten: kommt Zeit, kommt Rath, gut Ding will Weile haben. Ich saß also droben wieder in der Schenke und hatte eben vom Wirthe vernommen, daß in jenem Hause die bittere Noth eingekehrt sei; die alte Frau wäre schon seit geraumer Zeit kränklich und das Bischen ersparte Geld sei, wie er bemerkt habe, zu Ende, und vielleicht säße das Haar heute nicht mehr so fest, wie sonst. Gerad hatt’ ich mich erhoben und wollte just nach meinen Sachen greifen, als eine alte, auf allen Jahrmärkten herumziehende Schwammhändlerin eintrat und mich mit den Worten begrüßte: „Na, Dicker, kannst heute einen Krug einschenken lassen, ich soll Dich zum Bärble hinunterholen, wirst schon wissen, warum. Dem armen Ding geht’s freilich fast an’s Leben; aber du lieber Gott – –“

Ich gab dem Wirthe schnell einen Wink, daß er einschenken sollte, und eilte davon, denn ich wußte, daß ein Camerad von mir, ein Heiligenstädter, ebenfalls heute noch hierher wollte, und da galt’s Eile. Das Bärble trat mir mit verweinten Augen auf der Hausflur entgegen. Ich gestehe, sie that mir leid, aber ein Blick auf ihren Kopf machte mich wieder fest. Ein Brabanter Thaler schlug durch, und wir traten ein. In der freundlichen Stube fand ich Reinlichkeit und Ordnung. Sämmtliches Geräthe jedoch trug das Gepräge arger Bedrängniß. Ich warf einen Blick auf die alte, weinende Mutter. Die arme Frau! Sie mochte fühlen, daß das Opfer ihr jetzt gebracht würde, und wies den Thaler, als fürchte sie sich vor seiner Berührung, laut jammernd zurück. Mir selbst wurde dabei ganz sonderbar zu Muthe. Doch die Begierde, dieses außerordentlich schöne Haar zu besitzen, welches wie ein goldener Strahl den Rücken herabfiel, siegte wieder über meine Gefühle. Schon hatte ich mein Reff abgesetzt und einige hübsche Tücher zurechtgelegt, die ich dem netten Mädchen außer dem Brabanter Thaler übergeben wollte, schon spielten meine Finger unter einer Strähne und die Scheere war zum Schnitt bereit, als mir eine starke Stimme zurief: „Haltet ein, Holländer, haltet ein!“ Das Mädchen fuhr wie ein Blitz in die Höhe. „Gott, das ist der Fritz, der Fritz!“ Mit einem Sprung war sie vom Schemel weg, eilte nach dem offenen Fenster, und wie ich mich umdrehte, hing die Dirne schon am Halse eines hübschen Jungen. Was soll ich weiter erzählen? Es war eben der Fritz, ihr Jugendgespiele, ihr Geliebter. Das war Rettung in der Noth, und somit war’s mit meinem Handel nun vorbei. Es that mir arg leid um das schöne Haar, das ich nun nicht bekommen konnte. Aber im Grund meiner Seele freuete ich mich doch, daß das schmucke Kind nun ihre schönen Flechten nicht herzugeben brauchte. Ich steckte meinen Brabanter wieder zu mir, raffte meine Sachen zusammen und eilte in die Schenke zurück. Wie ich später erfuhr, war der Fritz der Pfarrerssohn vom nächsten Dorfe, der das Bärble schon lieb gehabt, ehe er nach der Residenz ging und sich als Maler ausbildete. Jetzt war er mit mehreren seiner Commilitonen auf der Reise nach der Heimath und hatte es sich nicht versagen können, bei dem hübschen Mädchen vorzusprechen und ihr seine Ankunft anzuzeigen. Einige Jahre später hat er auch sein Bärble heimgeführt, und wie ich höre, hat einer seiner Freunde, der damals mit ihm nach der Heimath zog, die Scene des Wiedersehens in einem prächtigen Gemälde verherrlicht, das ich freilich nie gesehen. Gott schenke der braven Tochter ein glückliches Leben! Doch nun, Trude,“ setzte er hinzu, „mach’ daß unser Gast da zu seinem Speckstreif kommt, und trag uns Allen eine tüchtige Schüssel Kernemelks pap[7] auf.“

Ich drückte dem Alten die Hand und noch manchmal bin ich in der Folge bei dem wackeren Ehepaar eingesprochen. Als ich aber das letzte Mal in’s Dorf kam, da war der Alte heimgegangen, und der älteste Sohn, der nun auch das Geschäft aufgegeben hatte, hauste bei seinem inzwischen stocktaub gewordenen Mütterchen allein.

  1. „Des Gerechten wird nimmermehr vergessen, vor böser Verleumdung wird er sich nicht fürchten. Herr, gieb ihm die ewige Ruhe!“
  2. Nach Sealsfield’s mündlichen Mittheilungen.
  3. Nach einer mündlichen Mittheilung Sealfield's.
  4. Factisch.
  5. Gneisenau kam als Major nach Colberg, wurde aber noch während der Belagerung zum Oberstlieutenant ernannt.
  6. Durch Anlegung eines Canals, der einen Theil dieser Haidestriche bewässert, ist in neuerer Zeit der Boden dieser Gegend wesentlich verbessert werden.
    D. V.
  7. Eine mit Syrup versüßte Buttermilchsuppe.




Der Kranz am Marterl.
Eine Geschichte aus dem bairischen Hochland.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)

Bei den Vorwürfen, die das Mädchen dem Lipp machte, erröthete er und kaute an seinem Bart. „Stell’ Dich an, wie Du willst, Binl," sagte er, „und wenn Du Dich noch so krautig machst, ich weiß doch, was dahinter steckt. Du stellst Dich nur so an, damit man’s nicht merken soll! Aber ich seh’ Dir’s doch an es ist Dir nichts Neu’s, was ich Dir gesagt hab’ … Du kennst den Burschen und weißt, wo er steckt!"

„Und wenn’s so wär?" sagte sie, stolz vor ihn hintretend. „Wenn Du so gut lesen kannst in meinem Gesicht, dann steht’s gewiß auch drinn’ geschrieben, daß dafür gesorgt ist, daß Du ihn nit findest!"

„Das glaub’ ich kaum! Fort kann er nit sein … wir haben ihn eingekreist! Wenn er also nit hinunter ist über die lange Wand … so muß er in Deiner Hütten versteckt sein!"

„Probir’s halt, ob Du ihn find’st!"

„Das ist just nit schwer … Du sitzest nit umsonst wie angenagelt da vor der Kellerthür! … Und was ist denn da am Boden? Ein Blutstropfen! – Richtig – unser Wild ist angeschossen und hat geschweißt … die Fährt’ geht bis daher, willst Du es leugnen, daß der Fuchs im Keller sitzt?"

„Ich sag’ nichts, als was ich Dir heut schon einmal gesagt hab!" rief sie zornig. „Mach, daß Du Deine Weg’ weiter kommst … in meiner Hütten hat mir Niemand was einzureden – da bin ich Herr! … Geh!"

Lipp zuckte die Achseln und wich nicht von der Stelle. „Wenn ich auch gehn wollte," sagte er, „was thät’s nützen? Die Andern gingen doch nicht, die sind nicht so weichherzig … Und was meinst Du, wenn der Vetter mitkommt, ob der nit glaubt, er wär der eigentliche Herr in der Hütten?"

Als sie schwieg, trat er zutraulich näher. „Schau, Binl, ich mein’s gut mit Dir," sagte er einschmeichelnd, „sag mir’s, ob er da ist – sag’s, eh die Andern kommen, ich will Dir helfen … es ist schön von Dir, wenn Du den armen Menschen retten willst … es ist mir völlig schwer auf’s Herz gefallen, was Du vorhin gesagt hast vom Schergenknecht …"

„Wenn ich Dir glauben dürft’ …" sagte Sabine unsicher und sah ihn mit den großen, flammenden Augen zweifelnd und fragend an.

„Du darfst mir glauben," sagte er noch treuherziger, aber mit lauerndem Blick, der nach der Blöße des Gegners späht, um den Dolch in die schutzlose Stelle zu bohren. „Mir thut der Rebeller auch leid … und wenn sie ihn noch erschießen thäten, das wär’ das Wenigste – das wär’ ein leichter und ein geschwinder Tod, aber mich schaudert, wenn ich daran denk, was ihm Anderes bevorstehen kann!"

„Und was?" flüsterte sie ängstlich überrascht. „Was wär’ das?"

„… Es ist herausgekommen," erwiderte er eben so leise, aber mit Nachdruck … „er ist nicht blos ein Rebeller gewesen … er hat auch einen Mord begangen …"

„Einen Mord!" rief Sabine und sprang entsetzt auf.

„Still, nit so laut!" beschwichtigte er. „Nicht jetzt … schon vor Jahren ist das geschehn! … Mich wundert, daß Du’s nit errathst, und hast mir doch erst gestern selber erzählt von Deinem Verdacht …"

„Heilige Mutter …" schrie sie auf, stürzte auf Lipp zu, faßte seine Hand und sah ihm starr in die Augen. „Das ist nit wahr, Lipp! Sag nein … das kann ja nit wahr sein!"

„Gewiß ist’s freilich nit — aber es wird doch kaum anders [63] sein … Es ist der Vomper-Hans und hat zur selbigen Zeit beim Wirth in Krinn gedient …“

„Ja, ja – das ist wahr …“ stammelte sie und ließ ihn nicht los, als wollte sie jede Sylbe vorher von Mund und Auge des Erzählers lesen. „Er ist in der Gegend bekannt, das trifft zu …“

„Es trifft wohl noch mehr zu … er ist ein verwegener Wildschütz gewesen, der wohl mit dem Jäger zusammengetroffen sein kann!“

„Ja, ja,“ sagte sie finster, „war er darum so traurig, als ich ihm sagte, er solle gut machen, was er auf der Seel’ habe …“

„Das schlechte Gewissen wird ihn wohl traurig machen. – Aber es kommt noch mehr … Der Müllerknecht hat ihn angetroffen heut früh, wie er einen Kranz an das Marterl gehängt hat …“

„Einen Kranz? Also von ihm?“ keuchte das Mädchen mit immer wilder sprühenden Augen. „Ich hab’ ihn gesehen, den Kranz …“

„Er ist niedergekniet an dem Marterl und hat gebet’t …“

„… Und wenn es sein letzter Stoßseufzer wär’, er betet nit weg, was er gethan hat!“

„Warum sollt’ er das gethan haben, wenn ihn nit das Gewissen dazu treibt? Bei Dir thut’s die Lieb’ … bei ihm das Gewissen …“

Bine hatte sich wieder gesetzt, sie rang die Hände und fuhr sich in das Haar. „Es ist schrecklich,“ murmelte sie … „o, es ist mehr als schrecklich …“

Lipp trat näher. „Er hat’s sogar eingestanden, so halb und halb,“ flüsterte er, „wie ihn der Knecht gefragt hat, hat er geseufzt und hat gesagt … an den Margarethentag hab’ ich zu denken, mein Leben lang! … Kann da noch ein Zweifel sein?“

„Keiner – keiner!“

„… So sag’, wo er ist, eh’ die Andern kommen … wenn Du ihm forthelfen willst, so sag’s .. . wir thun’s miteinander …“

„Forthelfen!“ rief Sabine in fessellos ausbrechendem Grimm.

„Ich hab’ mich nach dem Augenblick gesehnt, wie eine arme Seel’ im Fegfeuer nach einem Tropfen Wasser … ich hab’ ihn mir erbet’t und soll ihn jetzt aus meiner Hand lassen? Nein, der arme Gotthard soll einmal Ruh haben im Grab – seinem Mörder soll gescheh’n, was ihm gehört … Heb’ die Fallthür’ auf, Lipp – dort im Keller ist er versteckt!“

Erschüttert von dem Kampf ihrer Seele taumelte sie gegen den Heerd, während Lipp die Fallthüre aufriß. Im selben Augenblick erschienen die übrigen Streifer an der Thür der Hütte. „Wir haben ihn,“ rief Lipp ihnen jubelnd entgegen – „nur herein, Cameraden, und bandelt ihn …“

Die Hütte füllte sich mit bewaffneten Bauern; auf den obern Kellerstufen stand der Vomper-Hans.

„Gieb Dich, Tiroler,“ rief ihm Lipp zu, „widersetz Dich nit … Du siehst, daß wir Dir überlegen sind!“

„Das müßten wir erst sehen,“ war die kaltblütige Antwort, „wenn ich’s darauf ankommen lassen wollt … aber ich will mich nit wehren, es ist mir recht so ..., nur Eins möcht’ ich wissen, sagt’s mir nur das Einzige, wie Ihr mich gefunden habt?“

„Die Sennerin dort hat Dich verrathen!“ rief Lipp, während Einige hinzuträten; und dem Gefangenen, der es ruhig geschehen ließ, die Hände auf dem Rücken zusammenschnürten.

Er machte einen Schritt gegen die Thür, blieb aber vor dem Mädchen stehen und sah sie mit einem Blicke an, in dem Wuth, Liebe und Verachtung sich mischten. „Du hast gesagt, Du willst ledig bleiben,“ sagte er, „thu’s, Sennerin – thu’s ja! Mach’ Keinen mehr unglücklich – Du grundschlechte Seel’!“

Mit flammenden Augen sprang Sabine auf und hielt den sich Abwendenden zurück. „So willst Du mit mir reden?“ stammelte sie. „Kannst Du sagen, daß Dir Unrecht geschieht?“

„Ich hab’ für meinen Kaiser gefochten und für’s Land Tirol,“ erwiderte er fest, „ob mich die Franzosenkugeln am Iselberg getroffen hätten oder ob sie mich jetzt treffen – das ist Eins!“

„Nein!“ rief das Mädchen wie außer sich, „eine ehrliche Soldatenkugel ist zu gut für Dich … Du gehörst auf’s Blutgerüst und Dein Kopf dem Scharfrichter! Denk’ an die lange Wand und an den Margarethentag – Du Mörder!“

Hans zuckte schmerzvoll zusammen und senkte den Kopf – er fand kein Wort der Erwiderung.

„Du kannst nit Nein sagen,“ fuhr Sabine fort, … „der Jäger ist mein Schatz gewesen und mein Bräutigam … Du hast mir mein ganzes Glück zernicht’t, hast mir das Brautkranzl aus den Haaren gerissen und hast gemeint, Du machst es gut, wenn Du ein’s an das Marterl hängst! Mach mit unserm Herrgott aus, was noch kommt – wir zwei sind fertig mit einander … und ich bin’s und bin stolz darauf, daß ich Dich verrathen hab’!“

In finsterem Schweigen folgte Hans den ihn umringenden Bewaffneten; triumphirend blickte Sabine ihnen nach … über den Bergrand der langen Wand blitzte in ruhiger Größe der erste Sonnenstrahl empor.




3.

Schon lange waren die Bauern mit ihrem Gefangenen im Waldsaume verschwunden, und nur von ferne tönte manchmal noch ein Juhschrei, durch welchen der Eine oder der Andere seine Freude über den glücklichen Erfolg des Unternehmens ausdrückte und zugleich den unten harrenden Genossen das Gelingen anzeigte.

Obwohl längst nichts mehr zu sehen war, stand Sabine doch noch unter der Thüre der Almhütte und blickte nach der Stelle, wo die Streifer sich entfernt hatten, in den klaren Morgen hinaus.

Es war, als habe sie sich nicht satt gesehen an dem Anblick des Gefangenen, als wolle sich ihr Gemüth noch länger an der Gewißheit weiden, daß der so lang und heiß ersehnte Augenblick der Vergeltung für den Verhaßten gekommen war, der das theuerste Leben und mit ihm das Glück ihres eigenen Lebens vernichtet hatte. Hoch aufgerichtet stand sie da, und aus den entschlossen blickenden Augen strahlte eine stolze, kühne Freude, hell und entschieden, wie die Sonne immer höher und leuchtender in das klare Blau emporstieg. Sie schien in ihrem sieghaften Glänze des Gewölkes zu spotten, das über Nacht der Mond von Berg, See und Moor gesogen und emporgehoben hatte, und woraus nun am östlichen Himmel ein dichter, düsterer Streifen wie eine undurchdringliche Wand aufgebaut stand, als wenn es gälte, das emporschwebende Gestirn des Tages in seinem Laufe anzuhalten.

Zum ersten Male in den vielen Jahren, in welchen Sabine die Alm bezogen hatte, vergaß sie darauf, das Vieh, das in den kalten Nächten schon in den Ställen sich einfand, am Morgen auszulassen; in ihrer Aufregung, in dem Widerstreit ihrer Gedanken überhörte sie, wie die Thiere blökend nach der frischen Weide verlangten, mit den Ketten klirrten und die Halsglocken schwenkten, daß es bimmelte und dröhnte.

Trotz Stolz, Genugthuung und Freude lag ein Etwas in ihrer Seele, dunkel wie der Wolkenstreifen über der steigenden Sonne.

Der wachsende Lärmen schreckte sie endlich auf und der Zuruf des Geiß-Buben, der mit seinen Ziegen schon ausgezogen war und von dem Felsen, um welchen seine Schützlinge kletternd weideten, herunterjuchzte, mit der einen Hand das alte zerlumpte Hütel, mit der andern die Peitsche schwingend, daß Knall auf Knall sich folgte. Sie trat in den Stall und löste den Kühen die Ketten vom Futterbarren, sie stieß die Stallthüre auf und ließ die Thiere sich hinausdrängen, aber sie dachte nicht daran, wie sie sonst niemals unterließ, sie mit allerlei Schmeichelnamen zu begrüßen, und auch ihr Liebling, eine schöne Falbenkuh, drängte sich vergeblich an sie, um, wie sie gewohnt war, von der Sennerin getätschelt und zwischen dem zierlich gewundenen Gehörne gekraut zu werden.

Als sie in sich gekehrt vom Stalle weg um die Hütte ging und an der Vorderseite auf den sogenannten Gräd ankam, blieb sie überrascht stehen – die Sonne hatte die Wolkenwand erreicht, und da sie dieselbe nur unvollständig zu durchdringen vermochte, brachen sich die schräg ausfallenden Strahlen zu einem eigenthümlichen Roth, das wie der Widerschein einer fernen ungeheuren Feuersgluth den ganzen Himmel und die Berghöhen überfluthete.

Es war etwas Unheimliches in dieser Beleuchtung, und dem Mädchen kam es wieder vor, als wäre das Roth von Blut, als wären ihre eigenen Gedanken vor sie herausgetreten und wirklich geworden, denn sie hatte im Geiste immer Gotthard’s blutbedeckte Leiche vor sich und sah, wie das Blut seines Mörders, von dem rächenden Schwerte vergossen, auf ihn niederströmte. Wie oft hatte sie solche Vorstellungen und Bilder in sich hervorgerufen und festgehalten, sie waren ihr nicht neu – und dennoch waren sie anders geworden, und vor ihrem Erscheinen rieselte es ihr wie kalter Schauder über den Leib.

[64] Sie eilte in die Hütte, um sich durch die gewohnte Arbeit zu zerstreuen, aber sie erkannte bald, daß das nicht der geeignete Ort für dies Vorhaben war, denn Alles erinnerte hier an ihn und an das Geschehene. Dort vor der Fallthür zum Keller war der Entsetzliche gestanden … sie sah ihn vor sich, sie fühlte, wie sein durchbohrender Blick voll der unsäglichsten Verachtung auf ihr lag … sie hörte ihn mit Gotthard's Stimme die vernichtenden Worte sprechen „Du grundschlechte Seel’!“ … Aber sie hatte ihm dafür vergolten! Sie hatte ihn bis in’s Tiefste getroffen! Mit dem einzigen Worte „Mörder“ hatte sie seinen Hochmuth geknickt, seine Verachtung entwaffnet … wie gebrochen, wie so ganz nach außen und innen vernichtet war er dahingegangen — dem baldigen sichern Tode entgegen! Gotthard und sie selbst war an ihm gerächt … und doch, wenn sie ihn in Gedanken so dahinschreiten sah, dem Tode zu, nicht mit dem wilden Trotze des Verbrechens, sondern mit einer Erschütterung, die fast aussah, wie die tiefste Reue — dann wich die Strenge, und ein Strahl von Mitleiden dämmerte auf in der Nacht ihres Gemüths.

Hastig raffte sie sich dann auf und fuhr mit der Hand über die Stirne, als wären diese Gedanken etwas Aeußeres, das sich wegnehmen und lüften ließe, wie ein drückendes Band. „Wie kommt mir so was in den Sinn!“ murmelte sie vorwurfsvoll vor sich hin. „Geschieht ihm denn nicht recht? Und wenn sie ihm das Härteste anthun, ist es mehr, als er verdient hat? Nein — und wenn ich es nochmal zu thun hätte — ich würde mich keinen Augenblick besinnen und es wieder ebenso machen! Ich glaube, ich könnte zusehn, wie sie ihm den Kopf …“

Sie vollendete den Gedanken nicht – denn im Augenblick sah sie diesen Kopf vor sich, so männlich kühn und doch so gutmüthig, daß seine Schuld wie eine Unbegreiflichkeit erschien; sie empfand diese braunen, tiefdringenden Augen auf sich gerichtet, wie damals, als er neben ihr, am Hüttenfenster stehend, ihre Hand gefaßt hatte … und immer wieder tönte ihr die leise trauliche Frage in’s Ohr: … „Thät’ es Dir leid? … Bist Du mir gut?“ … Und jene Hand, die so vertraulich in der ihrigen gelegen, hatte Gotthard über den Felsen gestürzt — was hatte sie auf diese Fragen geantwortet und wem? Und wenn diese Fragen noch einmal an sie gerichtet würden … und sie wollte wahr sein gegen sich selbst, was konnte sie noch jetzt darauf antworten? War nicht etwas in ihr, was trotz alles Geschehenen sich nicht beschwichtigen ließ und dem Manne zu Gunsten sprach, den sie haßte und verfolgte als Mörder und Verbrecher?

Die Hütte ward ihr zu eng: sie füllte sich immer mehr mit sie umdrängenden Gestalten und Bildern der letzten und früherer Vergangenheit, die sie wegängstigten und vertrieben. Sie mußte fort und sie wußte, wohin sie sollte … sie konnte nicht zweifeln über den Ort, an welchem dieses wilde Gewirr von Empfindungen sich lösen und aller Zwiespalt in Ruhe verhallen mußte.

Vor die Hütte tretend, wandte sie sich gegen eine höhere grüne Berghalde zu, von welcher, eingerahmt von Wald und Gebirg, eine andere Sennhütte heruntersah, und stieß eine Art Juhschrei aus: es war das Zeichen, das die Sennerinnen sich zurufen, wenn sie der Hülfe der Nachbarinnen bedürfen. Es währte nicht lange, so ging oben die Thüre der Almhütte auf, die Sennerin trat heraus, schaute umher und erwiderte den Ruf. Als Sabine geantwortet, sah man, wie die Sennerin oben die Hütte schloß und eilig die Berghalde herunterkam. Es dauerte nicht lange, so kam sie an Sabinens Alm heran und hörte gläubig und theilnehmend deren Bericht, wie sie von einem besonderen Wehthun befallen worden sei, daß sie es nicht mehr auszuhalten vermöge und unten im Dorf Hülfe suchen müsse. Das war auch in anderem Sinne nicht unwahr und mochte der Sennerin, einer ältlichen, gutmüthigen Person, um so glaublicher sein, wenn sie das verstörte Wesen der Nachbarin sah und wie die „Hitz’ und die Kält’“ in ihrem Gesicht wechselten und der Athem ihr vom Munde ging, „so brennend heiß, zum Anzünden“.

Sie versprach, bis zu ihrer Wiederkehr oder Ablösung Hütte und Heerde wie die eigene zu besorgen, und Sabine flog bald durch den morgenduftenden Bergwald dahin. Es war vergebens, daß im thaufrischen Gebüsch die Amsel sang, daß die tropfenden Tannenzweige sich perlschimmernd im leichten Morgenwind wiegten und die Sonne goldgrün durch die hellen Buchenkronen brach — die Sennerin schritt heute hastig und tiefsinnend vorüber, ihr Auge war blind für die Schönheit, ihr Herz unempfindlich für den Frieden um sie her. Als sie in die kühle Schlucht am Fuße der langen Wand ankam und gegen das Marterl einbog, hielt sie erst den eilenden Schritt etwas an und athmete auf, als wolle sie die zwischen den Felsen herrschende Kühle wie eine Erfrischung in sich schlürfen.

Vor dem Täfelchen mit dem Doppelkranze angelangt, brach sie wie erschöpft in die Kniee, schlug beide Hände vor das Gesicht und ließ ihren Thränen freien Lauf, die nun erst sich die Bahn zu brechen vermochten und erleichternd von Herz und Auge strömten. Sie fand bald Stimmung und Worte zum Gebet, und so inbrünstig, wie vielleicht noch nie, flossen die frommen Sprüche und Segenswünsche für die Ruhe des Todten von ihren Lippen. Wenn etwas Wahres war an der Sage, daß der Gemordete unruhig an die Erde gebannt sei und in die Freuden des Himmels erst dann eingehen dürfe, wenn der Mörder durch das eigene Blut das fremde gesühnt habe, so stand ja bald nichts mehr im Wege, die arme Seele durfte bald zum ewigen Frieden eingehen und zum Leuchten des ewigen Lichts, denn die Sühne seines Blutes war nahe.

In der Innigkeit ihres Flehens falteten sich die Finger in einander, und die Hände sanken vor dem Antlitz der Betenden herab, die Augen hoben sich empor zu dem Morgenhimmel, der über dem Felsenspalt blaute, und blieben dann an dem Martertäfelchen haften. Im Augenblick brach Sabine das Gebet ab und sprang empor, wie erschrocken über einen unvermutheten fürchterlichen Anblick; dann ergriff sie den Kranz aus Tannenreisig, riß ihn von dem Bilde und schleuderte ihn weithin in’s Gestein, wie man etwas von sich wirft, was man vor Abscheu kaum zu berühren wagt. Es dünkte ihr wie eine frevelhafte Entheiligung, wie ein neues Verbrechen, daß der Mörder es gewagt, den Schauplatz seiner entsetzlichen That wieder zu betreten und gleichsam wie mit einem Siegeszeichen zu schmücken!

(Schluß folgt.)




Auch ein Beitrag zum Hermann’s-Denkmal.

Wie Alles schwieg von Deutschlands Ehre
Und stumm erlitt des Feindes Hohn,
Da trat das Volk mit voller Schwere
Heran zu seiner Fürsten Thron:

5
„Was duckt ihr vor den frechen Franken

Und wartet auf den bessern Tag?
Hier sind des deutschen Bären Pranken,
Hier ist des deutschen Bären Schlag.

Dort ist der Feind, nun gilt es Schlagen!“

10
Gesagt, gethan; es ging zur Schlacht,

Gebrochen ward nach blut’gen Tagen
Des nie Bezwung’nen Zaubermacht.

Man ging nach Haus, man lebte weise,
Man träumte ruhig weiter fort,

15
Die Jahre schwangen sich im Kreise;

Vergessen war das Heldenwort.

Als funfzig Jahre dann verflossen,
Da dachte man der alten Zeit;
Wie jubelten die Festgenossen

20
Und schwelgten in Vergangenheit!


Man sammelte zu einem Tempel
Zu Hermann’s, des Befreiers Ruhm,
Der ganzen Nachwelt zum Exempel,
Der Nation zum Ehrenthum.

25
Da schlich, die Sichern zu berücken,

Vom Norden her der Dänenwolf
Und marterte mit alten Tücken
Das deutsche Blut am Ostseegolf.

Und ihr? Ihr knirscht wohl in den Zügel,

30
An Waffen fehlt’s dem Volk zum Strauß;

Auf, schmeißt den Hermann in den Tiegel
Und gießet euch Kanonen d’raus!
 Dennoch.



Zur Beachtung. Wiederholt erklären wir, daß wir es mit der Tendenz und dem ernsten Zwecke unserer Zeitschrift für durchaus unvereinbar halten, das Publicum durch sogenannte Prämien zu gewinnen. Unser Blatt ist weder ein Bilderbuch, noch eine Kinderzeitung, wo derlei spielerische Lockspeise vielleicht am Orte sein dürfte.
Leipzig, im Januar 1864. Redaction und Verlagshandlung der „Gartenlaube“. 



Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.