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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[289]

No. 19.   1864.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Der Heimathschein.
Erzählung von Fr. Gerstäcker.


1.0 Was der Traubenwirth dazu sagte.

„Meinen Segen habt Ihr, Kinder,“ sagte der Traubenwirth in dem thüringischen Dorfe Wetzlau, indem er dem jungen Barthold derb die Hand schüttelte, während Lieschen, seine Tochter, ihren Kopf an der Mutter Schulter legte. „Du bist ein braver Bursch, Dein Vater hat ein hübsches Gut, und ich denke, Ihr werdet schon mit einander auskommen. Arbeiten habt Ihr ja alle Beide gelernt, und das ist und bleibt doch immer die Hauptsache; so macht denn Hochzeit, wann Ihr eben wollt, Hans. Das Uebrige werd’ ich schon mit Deinem Vater in Richtigkeit bringen.“

Vorher wird es aber auch nöthig sein, daß wir uns die Leute einmal betrachten, mit denen wir hier bekannt werden, und das ist bald geschehen, denn wir haben es keineswegs mit etwa besonderen oder außergewöhnlichen Menschen zu thun.

Christoph Erlau, oder der Traubenwirth, wie er gewöhnlich genannt wurde, da sein Gasthof „zur goldenen Traube“ hieß, war eigentlich ein Metzger, der sich in Wetzlau niedergelassen und durch Fleiß und Aufmerksamkeit gegen seine Gäste ein ganz hübsches Besitzthum erworben hatte. Lieschen, seine einzige Tochter, galt wenigstens im Dorf für eine vortreffliche Partie. Er hielt auch viel auf das Kind und ließ sie, sowie sie aus der Schule war, erst ein paar Jahr in der Stadt, bei einem Schwager, daß sie nicht zwischen den Bauermädchen aufwachsen, sondern auch ein Bischen „Manieren lernen sollte“, wie er’s nannte. Mit siebzehn Jahren nahm er sie aber wieder zu sich heraus, denn einestheils hatte sich seine Wirthschaft so vergrößert, daß er ihre Hülfe wirklich nothwendig brauchte, und dann fehlte es ihm auch an allen Ecken und Enden, wenn er das Mädel nicht bei sich hatte.

Lieschen, obgleich sie ihre Eltern von Herzen liebte, war anfangs nicht gern auf das Dorf gezogen, denn es gefiel ihr besser in der Stadt; aber das elterliche Haus übte doch seine Anziehungskraft, und sie fand zuletzt auch Gefallen an der Wirthschaft selber, wo viele fremde Leute einkehrten und ein reges Leben herrschte. Sie nahm sich der Arbeit dabei mit gutem Willen an, und Vater wie Mutter hatten ihre Freude an dem Kind.

Lieschen war eben zwanzig Jahre geworden, als Barthold’s Vater in die Nachbarschaft – d. h. auf das nächste Dorf, nach Dreiberg, zog und sich dort niederließ.

Der alte Barthold hatte sich aber schon – wie man so sagt – „etwas in der Welt versucht“ und gehörte nicht zu denen, die mit dem Sprüchwort „bleibe im Lande und nähre Dich redlich“ an der Scholle kleben, auf der sie geboren sind – obgleich das wohl auch manchmal sein Gutes haben mag. Er war als junger Bauer nach Schlesien gezogen, wo er sich verheirathete, später aber, durch ein paar schlechte Jahre verdrießlich gemacht und durch glänzende Anpreisungen verlockt, verkaufte er sein dortiges Gut und wanderte nach Ungarn aus, wo er mit deutschem Fleiß und altgewohnter Sparsamkeit auch hier wieder „was Ordentliches vor sich brachte“. In Ungarn blieb er auch viele Jahre, und sein Gut galt bald für eine Musterwirthschaft in der ganzen Nachbarschaft. Allein auf die Länge der Zeit konnte es ihm trotzdem nicht gefallen.

Daß die Eingeborenen des Landes, die Ungarn selber, die eingewanderten Deutschen nicht leiden mochten, darüber hätte er sich vielleicht hinweggesetzt, denn der gutmüthige Deutsche dachte sich in ihre Lage und meinte: „Uns daheim wär’s am Ende auch nicht recht, wenn Fremde von der Regierung begünstigt und uns auf die Nase gesetzt würden.“ Aber die Ungarn verachteten auch die Deutschen und ließen sie das merken, wo sich nur immer eine Gelegenheit dazu bot. Das ärgerte ihn. Im Anfang nahm er sich freilich aus Leibeskräften zusammen und sagte zu sich: „Warte, Du willst den ungarischen Hochnasen einmal zeigen, was ein Deutscher leisten kann,“ und er hielt sich redlich Wort, doch es half Nichts. Wo ein Volk ein anderes aus Ueberzeugung verachtet, da kann ein solch Gefühl gehoben werden, wenn man eben im Stande ist, ihm zu beweisen, daß es Unrecht hat; wo das aber aus Vorurtheil und Nationalhaß geschieht, da ist eine Aenderung nicht zu erhoffen und wird auch nie stattfinden.

Der alte Barthold sah das endlich ein, und wenn er auch Bescheidenheit genug besaß, nicht stolz darauf zu sein, daß er ein Deutscher war, sagte ihm doch sein eigenes Selbstgefühl, daß er sich wenigstens von einem Ungarn noch lange nicht brauche verachten zu lassen; möglich daß auch noch ein wenig Heimweh nach dem eigenen Vaterland dazu kam, kurz er faßte in einer Lebenszeit, wo man doch eigentlich nicht mehr so leicht daran denkt, seinen Wohnsitz zu verändern, nochmals den Entschluß, fortzuziehen. Er bot sein trefflich eingerichtetes Gut aus, und es hielt wahrlich nicht schwer, einen Käufer dafür zu finden, machte Alles zu baarem Gelde, was er sonst noch an Eigenthum besaß, und zog diesmal nach dem Lande, aus dem seine Eltern stammten, nach Thüringen, um hier seine Tage zu beschließen.

Er hatte einen einzigen Sohn, den er Hans genannt, und dazu in Schlesien noch ein damals kleines Mädchen, eine Waise, an Kindesstatt angenommen, die aber auch wirklich wie ein Kind im Hause gehalten wurde und so an ihrer Pflegemutter hing, [290] als ob sie diese selber unter dem Herzen getragen. Hans war jetzt fünfundzwanzig Jahr, Katharina, wie die Waise hieß, wurde im nächsten Winter achtzehn, und Beide wuchsen wie Bruder und Schwester auf.

Der alte Barthold fühlte sich übrigens in den letzten Jahren nicht mehr so recht fest auf den Füßen wie in früherer Zeit; es geht das ja so im Leben. Er hatte das „Reißen“ in den Gliedern, was die Stadtleute mit einem etwas gelehrteren Namen „Rheumatismus“ nennen, wenn die Sache auch dieselbe bleibt, denn „reißen“ thun beide, und da er oft tagelang das Zimmer hüten mußte, so fing er an sich nach Ruhe zu sehnen. Sein Hans war ohnedies in den Jahren, wo er schon an’s Heirathen denken durfte, denn „jung gefreit hat Niemand gereut“ meinte der Alte. Der Hans ließ sich denn das auch nicht zweimal sagen und „ging auf die Freite“.

Die Bauerstöchter in seinem Dorfe behagten ihm aber nicht; er war draußen gewesen und hatte sich schon in der Welt umgesehen, und wenn auch selber ein tüchtiger Bauer, glaubte er doch, er müsse von seiner Frau ein wenig mehr verlangen, als daß sie nur im Feld den Mägden vorneweg arbeiten und daheim die Wirthschaft ordentlich führen konnte. Da stach ihm denn des Traubenwirths Lieschen in die Augen.

Das war ein Mädel zum Anbeißen, flink und gewandt dazu, keine der gewöhnlichen plumpen Bauerdirnen. Mit der konnte er sich auf jedem Tanzboden, ja selbst in der Stadt, wohin er oftmals kam, sehen lassen. Ihr Vater hatte außerdem ein hübsches Besitzthum mit Land, Vieh und Pferden dazu, wie ein richtiger Bauer, und da seine Eltern der Sache ebenfalls nicht im Wege standen und Lieschen an dem schmucken Bauerssohn bald Gefallen fand, so ging Alles eigentlich von selber. Wir kamen ja auch gerade dazu, wie der Traubenwirth, den die Werbung recht innig freute, aus vollem Herzen sein Jawort gab, und Hans, da man alte Gebräuche ehren soll, nahm denn Lieschen beim Kopf und küßte sein hübsches Bräutchen so herzhaft ab, daß sie gleich nachher wieder auf ihr Zimmer gehen mußte, um sich die Haare frisch zu ordnen. Sie schien aber trotzdem nicht böse darüber.

Die Sache war also in Ordnung, und da beide Elternpaare Nichts dagegen hallen, wenn die Hochzeit bald gefeiert würde, so lief Hans, überhaupt ein wenig ungeduldiger Natur, schon an demselben Nachmittag noch zum Herrn Pfarrer hinüber, um das erste Aufgebot gleich auf den nächsten Sonntag zu bestellen. Dreimal mußten sie ja doch, wie es Sitte war, von der Kanzel herab aufgeboten werden. Der Herr Pfarrer, der seinen Vater recht gut kannte, empfing ihn auch auf das Freundlichste, wünschte ihm zu seiner Wahl von Herzen Glück und versprach das Aufgebot am nächsten Sonntag, heute war Mittwoch, recht gern zu erlassen. Der Bräutigam möchte nur so gut sein und ihm bis dahin die nöthigen Papiere verschaffen.

„Papiere?“ sagte Haus erstaunt, „was für Papiere?“

„Nun, Geburtsschein, Impfschein, Heimathschein, die Erlaubniß der Eltern kann mündlich erfolgen, dann ein Schein von da, wo Sie sich früher aufgehalten, daß Sie sich dort nicht schon verehelicht haben. Es ist dies natürlich nur Formsache.“

„Ja aber um Gotteswillen, Herr Pfarrer,“ rief Hans lachend aus, „ich war in Schlesien und Ungarn, in Schlesien freilich nur als ganz junger Bursche, und bis ich von unserem Comitat in Ungarn einen solchen Schein hierher bekäme, darüber könnten ja Monate vergehen, und so lange soll ich doch wahrhaftig nicht mehr mit meiner Heirath warten?“

„Nun, nun,“ meinte der Pfarrer freundlich, „das läßt sich auch vielleicht vereinfachen, denn Ihr Vater ist ja als Ehrenmann hier bekannt. Ungarn liegt freilich ein wenig weit von hier entfernt“ – der Herr Pfarrer hielt es noch für viel weiter, als es wirklich war, – „besorgen Sie mir nur bis spätestens Sonnabend Nachmittag das Uebrige, und ich werde dann schon Alles in Ordnung bringen.“

„Also Geburtsschein, glauben Sie mir denn nicht einmal auf mein Wort, daß ich geboren bin?“

„Wir verstehen darunter das Taufzeugniß. Aber ich werde Ihnen lieber das kleine Verzeichniß der nöthigen Papiere aufschreiben; Sie könnten sonst leicht etwas vergessen und das Aufgebot dadurch verzögern. Die nöthigen Papiere der Braut werde ich mir von deren Vater selber geben lassen.“

Damit ging er an seinen Schreibtisch, notirte die genannten Zeugnisse und Scheine auf ein Blatt, und Hans steckte es indessen in die Tasche; heute verstand es sich doch von selbst, daß er in Wetzlau bei seiner Braut blieb. Nicht zehn Pferde hätten ihn von da weggebracht.




2. Die Kathrine.

Am nächsten Morgen bekam Hans seinen Vater erst zu sehen, als er zum Frühstück aus dem Felde zurückkehrte. Es gab jetzt außerordentlich viel zu thun draußen, und bei der Arbeit durfte Hans nicht fehlen.

„Also Alles in Ordnung, Hans?“ schmunzelte der Alte, der aus dem vergnügten Gesicht des Sohnes schon genau wußte, wie die Sache abgelaufen. War auch kein Wunder, denn des Heinrich Barthold Sohn kam nicht so leicht in Gefahr, sich bei seines Gleichen einen Korb zu holen und – hätte auch vielleicht noch eine Stufe höher steigen dürfen, oder zwei, wie die Mutter meinte.

„Alles in Ordnung, Vater, – guten Morgen miteinander,“ sagte der Sohn, der seinen Hut an einen Nagel hing und dann ohne Weiteres Platz am Frühstückstisch nahm; „Montag in vierzehn Tagen kann die Hochzeit sein.“

„Hallo!“ lachte der Alte, und die Mutter schlug die Hände vor Erstaunen zusammen, „nur stat! das geht ja verwünscht schnell. Und glaubt denn der Mosje, daß, wenn Er auch fix und fertig ist, in den Ehestand hinein zu springen, die Anderen auch nur eben so auf dem Sprunge sitzen? Da gehört mehr dazu, als Du wohl denkst.“

„Unter acht Wochen ist gar keine Möglichkeit,“ sagte die Mutter, „und dann weiß ich nicht, wie ich fertig werden will.“

„Die Frau Mutter?“ rief Hans lachend, „ja was hat denn die Frau Mutter dabei zu thun, daß sie nicht fertig werden kann?“

„Und glaubst Du denn,“ rief aber die Mutter in Eifer, „daß ich Dich wie eines Häuslers Sohn will heirathen lassen, der Nichts mitbringt in die neue Wirthschaft, als was er auf dein Rücken und vielleicht noch unter dem Arme trägt? Nein, Hans, daraus wird nichts; ehe ich nicht fertig bin mit Deiner Ausstattung, bekommst Du meine Einwilligung nicht, und wenn das noch drei Monate dauern sollte, und daß Lieschens Mutter bis dahin mit der ihrigen fertig wird, glaub’ ich noch lange nicht.“

„Aber beste Herzensmutter!“

„Laß nur sein,“ lachte aber der Vater, „werden schon noch etwas davon herunterhandeln können, Alte. Aber so holter-dipolter geht die Sache auch nicht, wie der Hans glaubt. Bei derlei Dingen hat man immer eine Menge von Umständen, an die man vorher gar nicht denkt, und sechs, acht Wochen sind da eine kurze Zeit. Muß auch vorher noch mit dem Traubenwirth reden, was ich Dir mitgebe und was das Mädel mit bekommt, wenn ich auch grad’ nicht glaube, daß uns das besonders lang aufhalten wird. Jedenfalls werden wir früher damit fertig, als die Mutter mit ihrer Wäsche und was sonst noch drum und dran hängt. Was hast Du denn da für einen Zettel? etwas für mich?“

„Ach,“ sagte der Hans, indem er den Zettel dem Vater hinüberschob, „der Herr Pfarrer drüben in Wetzlau hat ihn mir gegeben. Es stehen die Papiere d’rauf, die er haben muß, um das Aufgebot zu erlassen. Er meinte, es wäre nur der Form wegen.“

„Also beim Pfarrer ist er auch schon gewesen,“ nickte der Alte seiner Frau schmunzelnd zu, indem er seine Brille aus der Tasche nahm, um den Zettel durchzulesen. „Er hat wenigstens das Gras nicht unter den Füßen wachsen lassen. Na, da wollen wir denn einmal sehen, was der Herr Pfarrer Alles verlangt. Hm, das ist ja ein ordentliches Recept, was er da geschrieben hat.“

„Aber so erzähle doch nun auch einmal, wie’s gestern drüben war,“ sagte die Mutter, indem sie dem Sohn den Butterteller hinüberschob und den duftenden Handkäse etwas näher rückte. „Sitzt der Mensch da und spricht kein Wort. Ich möchte doch auch wissen, was die Mutter sagte und das Mädel und – was sie für ein Gesicht dazu gemacht haben, alle Beide.“

„Ja, Mutter,“ lachte der Hans verlegen, „was soll ich denn da erzählen? Ein vergnügtes Gesicht haben sie gemacht, und eine Flasche vom besten Rheinwein haben wir nachher getrunken. Das Lieschen weinte wohl ein Bischen, aber – das dauerte nicht lange, und die – die Frau Erlau war auch ein wenig gerührt, und fuhr sich ein paar Mal mit der Schürze nach den Augen, doch – das dauerte auch nicht lange, und dann – dann haben sie uns [291] eine Menge guter Lehren gegeben; wenn ich aber ehrlich sein will, so weiß ich wirklich nicht mehr recht über was, denn das Lieschen guckte mich dabei mit den großen dunklen Augen an, und da – da hab’ ich an ganz andere Dinge dabei gedacht, als an das, was die zukünftige Frau Schwiegermutter sagte.“

Während der Sohn sprach, saß die Mutter dabei und nickte und schmunzelte vergnügt vor sich hin.

„Also gute Lehren haben sie Euch gegeben – ja lieber Gott, junges Volk, junges Volk leichtsinnig und obenhinaus, was kümmert sich das um gute Lehren in der Brautzeit! Das weiß Alles besser, und – muß nachher doch Alles aus eigener Erfahrung und oft mit vieler Trübsal kennen lernen. Hören will keins.“

„Papperlapapp, Alte,“ brummte der Vater, indem er sein Käppchen rückte und sich in den grauen Haaren kratzte, ohne aber die Augen von dem Papier zu nehmen – „wir haben’s eben auch nicht besser gemacht in unserer Jugend; so laß das junge Volk sich nun ebenfalls die Hörner ablaufen. Wer nicht hören will, muß fühlen.“

„Ich dachte, Vater,“ sagte der Sohn, als der Alte noch immer in dem Zettel studirte, „wenn ich nun selber vielleicht heut Nachmittag in die Stadt ritte, um das von den Papieren zu besorgen, was vielleicht noch fehlt. Die drei Knechte werden auch ohne mich heute mit Pflügen drüben auf der Rainerspitze fertig, wenn ich ihnen noch bis Mittag helfe, und nachher ist’s doch immer besser, das ist abgemacht. Meint Ihr nicht?“

„Hm, hm, hm,“ überlegte der Alte aber noch immer, indem er das kleine Papier wieder und wieder überlas – „ich fürchte beinah, daß Du in der Stadt verwünscht wenig ausrichten wirst, und ich muß am Ende noch selber hinein. Wäre mir gar nicht so besonders lieb, denn in der linken Schulter zwickt’s mich wieder ganz heidenmäßig, und bei dem linken Beine hat’s mich auch. Aber was kann’s helfen, man muß doch jedenfalls sehen, was zu machen ist, denn die Papiere müssen geschafft werden.“

„Was muß er denn nur für Papiere haben?“ frug die Mutter. „Sie kennen uns doch hier und wissen, daß wir ordentliche und rechtschaffene Leute sind, und unser Auskommen haben wir doch auch.“

„Ja, ja, Mutterchen,“ lachte der Vater, „das hilft Nichts bei den Gerichten, die wollen Alles Schwarz auf Weiß haben, und womöglich auch auf einem Stempelbogen, mit einem großen Siegel drunter, und daß Einer ein ehrlicher und rechtschaffener Mensch ist, glauben sie ihm erst recht nicht, wenn er nicht im Stande ist, es ihnen schriftlich zu beweisen. Komm Du denen!“

„Wir brauchen ja aber doch Niemanden, da sollen sie uns wenigstens in Frieden lassen.“

„Aber sie brauchen uns,“ lachte der Vater wieder, „und damit sie sicher sind, daß die neuen Staatsbürger auch ihre Steuern und Abgaben richtig bezahlen können und nicht etwa gar einmal dem Staate zur Last fallen, müssen sie sich legitimiren oder ausweisen.“

„Staatsbürger,“ brummte die Frau kopfschüttelnd – „wir sind keine Staatsbürger, wir sind Bauern, und es wird doch wahrhaftigen Gott es kein Mensch glauben, daß unser Hans einmal Jemandem zur Last fallen könnte? Was wollen sie denn nur?“

„Nun, erstlich einmal seinen Geburts- oder Taufschein.“

„Nun, den hast Du ja – der liegt in der gelben Lade, bei den andern Papieren.“

„Dann seinen Impfschein.“

„Impfschein? Den haben wir nie bekommen.“

„Das macht weiter nichts,“ sagte der Vater, „die Narben sind noch deutlich zu sehen, und den kann man sich hier vom ersten besten Arzt ausstellen lassen. Nachher einen Heimathschein.“

„Was ist das?“

„Nun, eine Bescheinigung der Behörde, wo er geboren ist, daß er dort seine Heimath hat,“ sagte der Alte.

„Aber wenn wir deshalb einen Brief nach Schlesien schicken sollen,“ rief der Sohn, „so kann das vierzehn Tage dauern, bis der Schein hierher kommt. So lange mag ich doch nicht warten.“

„Nun, vierzehn Tage wohl nicht,“ sagte der Vater, „aber ich will selber heute nach Schlesien schreiben. Unser Gerichtsverwalter in Kreuzberg wird mir schon die Freundschaft thun und das besorgen; ein Brief geht leicht in zwei Tagen hin, und wenn nichts dazwischen kommt, kann der Wisch in acht Tagen hier sein,“

„Aber noch volle acht Tage, Vater –“

„Mach’ mir den Kopf nicht warm,“ rief aber der Alte, seine Mütze rückend, „hast Du so lange warten können, wird’s auf die acht Tage auch nicht ankommen – also dabei bleibt’s.“

„Dabei bleibt’s,“ wenn der Alte das einmal sagte, so wußte der Hans recht gut, daß dann weiter kein Einwenden half. Die Sache war abgemacht, und ein Widerspruch hätte den wohl herzensguten, aber auch starrköpfigen Mann nur böse machen können, erreicht wäre aber nichts weiter worden.

Der Hans setzte sich wieder zu seinem Frühstück, denn seine Zeit war bald verflossen und er durfte nicht der Letzte draußen bei der Arbeit sein, schon der Knechte wegen. Er war aber auch gleich fertig, denn die Sache ging ihm im Kopf herum, daß er noch eine ganze Woche warten solle, bis das erste Aufgebot erfolgen könne, und nahm ihm den Appetit. Gerade war er aufgestanden und wollte eben wieder hinausgehen, als die Thür sich aufthat und seine Pflegeschwester Kathrine hereintrat. Sie hatte drüben in der Milchkammer die frisch gemolkene Milch eingegossen und nach Butter und Käse gesehen.

„Guten Morgen, Kathrin’,“ sagte Hans und streckte ihr die Hand entgegen, „haben uns ja seit gestern Morgen nicht einmal gesehen.“

„Guten Morgen, Hans,“ sagte das junge Mädchen freundlich, auch ihm die Hand reichend, „ja, wenn man freilich so wichtige Geschäfte hat. Nun, ist Alles gut abgelaufen?“

„Alles, Kathrin’, schön Dank für die Nachfrage.“ sagte der Hans. „Die Eltern haben eingewilligt, und das Lieschen ist meine Braut. Hoffentlich haben wir in vier Wochen Hochzeit. Da müssen wir auch zusammen tanzen.“

Die Katharine stand vor dem Pflegebruder, dessen Hand sie noch gefaßt hielt, und sah ihn mit ihren großen blauen Augen recht voll und treuherzig an. Wie er aber endete, drückte sie ihm die Hand herzlich und sprach mit leiser, aber bewegter Stimme: „Da wünsch’ ich Dir recht von Herzen Glück dazu, und möge Gottes Segen auf Euch ruhen immerdar – auf Dir und auf Deiner jungen Frau.“ Damit zog sie die Hand aus der seinen, wandte sich ab und verließ das Zimmer wieder. Hans sah ihr nach.

„Was hat nur die Kathrin’?“ sagte er, „sie war ordentlich gerührt.“

„Sie hat ein weich’ Gemüth,“ sagte die Mutter, mit dem Kopf nickend, „und hängt an uns Allen mit großer Liebe. Da ist’s denn wohl natürlich, daß ihr bei einem so wichtigen Ereigniß etwas weich um’s Herz wird. Ja, Ihr Mannsleute nehmt das Alles nur so leicht hin und denkt nicht weiter darüber nach. Laß mir die Kathrin’ zufrieden, das ist ein wacker Ding, und ich hab’ sie gerade so lieb, als wenn sie meine eigene Tochter wäre.“

Der Hans nahm seinen Hut vom Nagel und ging hinaus an seine Arbeit. Er hatte doch richtig so lange da drinnen gesessen, daß die Knechte im Felde draußen schon wieder an der Arbeit waren, als er hinauskam. Das ärgerte ihn und er hieb jetzt wacker auf die Pferde ein, um das Versäumte nachzuholen. Es war aber auch kein Wunder, denn was gingen ihm nicht für eine Menge von Dingen im Kopf herum!




3. Eine Staatsvisite.

Der Vater hielt Wort, und das that er immer. Er schrieb noch an dem nämlichen Morgen an seinen Freund in Kreuzberg, schickte außerdem noch eine Abschrift von seines Sohnes Taufschein ein, den er sich von ihrem Pfarrer in Dreiberg und von dem Schulzen beglaubigen ließ, und theilte dem Gerichtshalter dort in aller Kürze mit, um was es sich hier handele. Dann bat er ihn, er möchte doch, wenn irgend möglich, den Heimathschein mit der nächsten Post einschicken und ihm auch dazuschreiben, was er ausgelegt hätte, damit er’s ihm gleich zurückzahlen könne. Der alte Barthold blieb nicht gern Jemandem etwas schuldig.

Der Brief war ihm ein wenig sauer geworden, denn das Schreiben gehörte gerade nicht zu den Dingen, die er sehr gern that, oder zu denen er sich drängte, aber es hatte eben sein müssen, und jetzt war’s, Gott sei Dank, fertig und abgemacht. Wenn die Postkutsche heut’ Abend durch Dreiberg kam, nahm der Conducteur den Brief schon mit hinein in die Stadt und gab ihn dort auf. Nachher ging er direct nach Kreuzberg ab.

Aber heute gab’s noch mehr zu thun, denn wie die Sachen [292] nun einmal standen, erforderte es auch die Artigkeit nicht allein, sondern der Gebrauch, daß die Eltern des Bräutigams den Eltern der Braut einen Besuch abstatteten, und wenn es auch der alte Barthold lieber auf den nächsten Sonntag verschoben hätte, erstlich der Arbeit und dann auch seines Reißens wegen, ließ sich das doch nicht gut einrichten. Sonntags hatte der Traubenwirth auch immer so viel zu thun und das Haus dazu voller Gäste, daß man ihm und den Seinen da erschrecklich unbequem gekommen wäre. Besprechen hätte man außerdem gar nichts können, und da mußte denn schon ein Wochentag dazu genommen werden.

Uebrigens wurde auch daheim indessen nichts versäumt, denn der Hans blieb ja zu Haus und bei den Knechten, und auf die übrige Wirthschaft paßte schon die Kathrine; auf die durften sie sich fest und sicher verlassen. Die Mutter war ebenfalls damit einverstanden, und gleich nach dem Mittagbrod, die Dorfuhr hatte noch nicht Eins geschlagen, ließ der alte Barthold sein kleines steierisches Wägelchen vorrücken und die Braunen einspannen, der Großknecht mußte in seinem Sonntagsrock auf den Bock, und fort ging die Reise den Feldweg nach Wetzlau hinüber.

Eine Vergnügungstour war die Fahrt eigentlich nicht gut zu nennen, denn kein Mensch in der Welt konnte sich ein Vergnügen daraus machen, eine gute Glockenstunde auf einem solchen Wege und einem kleinen Wagen ohne Federn durchgerüttelt und geschüttelt zu werden. Aber die Bauern trugen selber die Schuld daran, daß diese Straße in einen derartigen Verfall gerieth, denn obgleich sich beide Dörfer willig zeigten, daran zu bauen, lag es nur an einer erbärmlichen Kleinigkeit, daß die Arbeit unterblieb und von Jahr zu Jahr aufgeschoben wurde. Zwischen Wetzlau und Dreiberg schnitten nämlich die Fluren nicht in gleicher Hälfte ab. Die Dreiberger hatten vielleicht eine Strecke von zwei Morgen Land über die Hälfte, und obgleich sie sich erboten, die Straße, die von beiden Dörfern gleich stark benutzt ward, zu gleichen Hälften zu übernehmen, gingen die Wetzlauer doch nicht darauf ein, sondern verlangten, daß die Dreiberger soweit bauen müßten, wie ihre Grundstücke reichten. Nachgeben, das that selbstverständlich kein Theil, und so ruinirten sie lieber Jahr aus Jahr ein ihre Pferde und Geschirre, nur dieser unbedeutenden, kleinen Strecke wegen.

Der alte Barthold, obgleich es ihm sonst wahrlich nicht auf einige zwanzig Thaler mehr oder weniger ankam, war dabei gerade so schlimm, wie die Anderen, und mit dem Bewußtsein, daß er selber mit schuld an dem heillosen Wege sei, murrte er auch unterwegs mit keiner Sylbe und ertrug alle die Stöße und Puffe, die er bekam, mit wahrhaft christlicher Geduld. Sein Trost blieb ja auch dabei, daß die Wetzlauer genau dieselben Puffe bekämen, und denen, wie er sich innerlich sagte, geschah es vollkommen recht. Sie verdienten es gar nicht besser. Nur die arme Frau stöhnte und ächzte, und wenn manchmal ein ganz außergewöhnlich kräftiger Stoß kam, daß sie die Zähne aufeinander beißen mußte, klagte sie wohl mit einem kurzen Stoßgebet: „O du grundgütiger Vater! so gleich nach Tische!“

Es hat aber Alles sein Ende, auch der schlechteste Weg. Es schlug gerade Zwei in Wetzlau, als sie, zur Abwechselung der bisherigen Fahrt, auf das Dorfpflaster kamen, wo sie auch noch, da sie das Chausseehaus passiren mußten, Chausseegeld bezahlen durften.

„Ich muß doch einmal Federn an den Wagen machen lassen,“ sagte Barthold, als sie hier endlich etwas bessere Straße erreichten, denn draußen hätte er gar nicht reden dürfen, aus Furcht, einmal die Zunge zwischen die Zähne zu bekommen, „der Weg ist gar nicht so schlecht, aber der Karren stößt so.“

„Mir thut ordentlich der Hals weh,“ sagte die Frau, „jetzt freu’ ich mich nur auf den Rückweg.“

Alle weiteren Bemerkungen wurden aber hier kurz abgebrochen, denn eben lenkten die Pferde wiehernd in den Thorweg der goldenen Traube ein, und in der inneren Thür stand auch schon der Wirth, Christoph Erlau, der ihnen sein Käppchen entgegenschwenkte, während Lieschen, die in der Küche beschäftigt gewesen war, wie der Blitz in ihr Kämmerchen hinaufhuschte, denn so konnte sie sich den neuen Schwiegereltern doch nicht zeigen, und so wäre sie gerade am allerhübschesten gewesen, denn Frau wie Mädchen sehen, sie mögen selber denken, was sie wollen, doch immer am hübschesten im Hauskleide aus; aber der Geschmack ist eben verschieden, und man behauptet ja, daß sich nicht darüber streiten lasse.

Jetzt, nachdem Hansens Eltern ausgestiegen und hinein in die „beste Stube“ geführt waren, begannen nun vor allen Dingen eine Menge von Förmlichkeiten, die in den höchsten Cirkeln nicht weitschweifiger und unbehülflicher sein konnten, als hier in der sonst so schlichten Familie. Aber es soll nur um Gotteswillen Niemand glauben, daß jenes Ungethüm, die sogenannte „Etiquette“, an irgend einem fürstlichen Hofe steifer und unnachsichtlicher gehandhabt würde, als in irgend einer Bauernfamilie, sobald sich eine passende und außergewöhnliche Gelegenheit dazu findet. Da bestehen ganz genau bestimmte und festgestellte Formen, was gesagt werden muß und wie es gesagt werden muß, wohin man sich setzt und wie man sich setzt, und was endlich vorgesetzt werden soll, und wie die Hausfrau zu dem Vorgesetzten zu nöthigen hat, daß es einen einfach schlichten Menschen zur Verzweiflung bringen könnte. Das einzige Gute hat es, daß es nicht so lange dauert, wie bei Hofe, denn da ist es den Leuten ein natürlicher Zustand, in dem sie sich bewegen, sie würden eine andere Existenz für unmöglich halten; hier dagegen ist es ein unnatürlicher, gewaltsam hervorgerufener, der wohl eine Zeit lang anhält, sich aber zuletzt selber verarbeitet – und plötzlich finden sich die Leute wieder in ihrem gewöhnlichen, natürlichen Fahrwasser, ohne daß sie eigentlich merken, wie sie dahin gekommen sind.

So ging es auch hier. Zuerst wurden die Gäste also in die „beste Stube“ geführt, die natürlich, wie alle „besten Stuben“, kalt und ungemüthlich aussah, denn ein Ort, in dem man sich wohl und behaglich fühlen soll, muß bewohnt sein und nicht blos zum Staat gehalten werden. Dann fuhr die Wirthin, nachdem eine Menge steife, nichtssagende Redensarten gewechselt waren, aus und ein, um heranzuschleppen, was Küche und Keller boten; daß die Gäste gerade eben vom Essen kamen, war gar keine Entschuldigung, und nun ging das Nöthigen los, in dem die Frau Erlau wirklich Außerordentliches leistete. Endlich kam auch Lieschen in ihrem Sonntagsstaat, aber viel schöner geschmückt durch das liebliche Erröthen den neuen Verwandten gegenüber, das ihren Augen einen ganz eigenen Glanz verlieh.

Nun kannten sich die beiden Familien schon seit längerer Zeit und waren sonst wohl manchmal zusammengekommen und hatten miteinander gelacht und geplaudert. Jetzt aber, wo sie sich durch die Verlobung der Kinder um soviel näher traten, schien es ordentlich, als ob sie das weit eher entfremdet hätte, so steif und unbehülflich standen sie sich gegenüber, und Lieschen besonders, sonst voller Leben, ja oft ausgelassen lustig, konnte fast kein Wort über die Lippen bringen. Aber ein Bann lag auf ihnen Allen: das Bewußtsein, daß dies ein „Staatsbesuch“, daß es eine Form sei, der Genüge geleistet werden müßte, und der ließ sich so schnell nicht wieder abschütteln, der mußte erst ordentlich verdampfen.

(Fortsetzung folgt.)




Die Bahnbrecher zum Düppeler Siege.

Der achtzehnte April hat den deutschen Waffen zu ihren vielen Ruhmeskränzen einen neuen und unverwelklichen gefügt: die Erstürmung der Düppeler Schanzen hat die alte deutsche Tapferkeit und Wehrhaftigkeit vor ganz Europa abermals auf das Glänzendste bewährt und den in London beginnenden Diplomatenkünsten ein schweres Gegengewicht in die Wagschale geworfen. Einzelne Thaten, welche in den Morgenstunden jenes Aprilmontags von preußischen Kriegern verrichtet worden sind, von jungen Kriegern, die im gegenwärtigen Kampfe zum ersten Male im feindlichen Feuer standen, reihen sich dem Leuchtendsten an, was die Kriegsgeschichte aller Zeiten zu verzeichnen hat. Oder wäre, um statt vieler nur ein Beispiel anzuführen, nicht einer der Bravsten der Braven jener Pionnier vom 3. Bataillon? Man stand stürmend vor den Palissaden der zweiten dänischen Schanze, sah aber keine Oeffnung, durch die man einbrechen konnte. Da marschirt der Pionnier zu seinem Lieutenant heran und meldet militärisch: „Herr Lieutenant, ich werde mich aufopfern.“ Kaum gesagt, so ergreift er schon einen Pulversack, nähert sich den Palissaden und steckt die explodirende

[293]

Preußische vierundzwanzigpfündige Batterie Nr. 2 auf Gammelmark.
Originalzeichnung unsers Specialartisten Otto Günther.

[294] Masse mittels glimmenden Schwammes in Brand. Jämmerlich zerfetzt wird der kühne Pionnier nach der einen Seite, die Palissadenwand nach der andern geschleudert, und durch die gemachte Gasse stürmen über den verstümmelten Helden die Colonnen vorwärts.

Auch uns schlägt das Herz in freudigem Stolze, wenn uns jeder Tag noch immer neue Einzelheiten aus jenem Ruhmesmorgen verkündet, und wir stehen nicht an es zu bekennen, – für den Moment einmal allen politischen Hintergedanken und alles Bangen um das Endziel des Kampfes zurückdrängend. Dieser ewig denkwürdige Sieg aber hätte nicht erfochten werden können, wenn nicht das preußische Geschütz monatelang den Weg zum Hurrah des Triumphes gebahnt hätte, jene furchtbaren Kanonen, von denen die dänische Besatzung auf Düppel zu behaupten pflegte, daß sie jeden Tag nur ein einziges Mal geladen und gerichtet würden und dann, ohne weitere Bedienung zu brauchen, bis zum andern Morgen fort feuerten. So regelmäßig geschah Schuß auf Schuß – und so gleichmäßig schlug Geschoß auf Geschoß immer wieder genau in demselben Punkte ein. Nicht zu kurz und nicht zu weit, immer da gerade, wo es die meiste Zerstörung anrichten konnte.

Der Erfolg, der in solch’ überraschender Weise die Vortrefflichkeit der preußischen Geschütze documentirt hat, beschäftigt das allgemeine Interesse so lebhaft, daß wir unsern Lesern einen Dienst zu erweisen glauben, wenn wir ihnen vorerst im Bilde eine Batterie dieser preußischen gezogenen Kanonen vorführen. Es ist in getreuer Wiedergabe die auf Gammelmark, der zweiten dänischen Schanze direct gegenüber, postirte sogenannte vierundzwanzigpfündige Batterie Nr. 2, die dem Feinde so viel zu schaffen gemacht hat.

Parademäßig freilich sieht die Bedienungsmannschaft nicht gerade aus mit ihrer Drellüberjacke über die pulvergeschwärzte Uniform; auch die Männer mit den eigenthümlichen Käppis bekunden, daß wir uns nicht bei einer Revue oder auf einem Manöver befinden: es sind die Krankenträger, welche ihre schmerzlichste Pflicht als wahre Helden der Menschenliebe erfüllen. Vor Allem aber wollen wir die Einrichtung der mörderischen Masse, welche auf die Entfernung einer Viertelmeile noch treffen kann, und ihrer Geschosse etwas näher beschreiben, von denen ein einziges, gut angebracht, genügt, um auf jene Weite ein Schiff zum Sinken zu bringen.

Zunächst das Rohr. In seiner jetzigen Gestalt ist es das Resultat lang fortgesetzter und mit Sachkenntniß geleiteter Versuche. Die wesentlichsten Verbesserungen rühren von dem preußischen Oberstlieutenant Neumann her, welcher namentlich die Wahrendorff’sche nach ihrem eigentlichen Erfinder, einem schwedischen Officier, so genannte Verschlußvorrichtung zweckmäßig umgestaltet hat. Die preußischen Geschütze sind nämlich Hinterladungsgeschütze, das heißt, die Ladung wird nicht von vorn in das Rohr hineingestoßen, sondern der Ladungsraum wird von hinten geöffnet und von hier sogleich Projectil (Granate oder Kartätsche) und Kartusche (Pulverladung) an seinen Platz gelegt. Die Solidität dieses Verschlusses ist von der größten Wichtigkeit.

Je nach dem Zweck sind die Kaliber der gezogenen Geschütze verschieden. Es giebt Sechspfünder, Zwölf- und Vierundzwanzigpfünder; indessen geben diese Bezeichnungen nicht die Schwere der daraus geworfenen Geschosse an, sie rühren vielmehr noch von den älteren glatten Geschützen her. Ein gezogener

06pfünder schießt ein Geschoß von 15 Pfd. – Pulver-Ladung der Kartusche 11/5 Pfd.,
12pfünder schießt ein Geschoß von 30 Pfd. – Pulver-Ladung der Kartusche 21/10 Pfd.,
24pfünder schießt ein Geschoß von 80 Pfd. – Pulver-Ladung der Kartusche 41/5 Pfd.

Außerdem giebt es noch gezogene Vierpfünder, welchen ein Geschoß von neun Pfund entspricht und die ihrer außerordentlichen Leichtigkeit wegen – sie können mit sammt der ganzen Bedienung und Munition von vier Pferden in jeder Gangart gezogen werden – als Versuchsbatterien in Anwendung sind.

Die beiden kleinsten Kaliber (4- und 6pfünder) sind eigentliche Feldgeschütze und werden als solche aus dem feinsten Gußstahl (durch Krupp in Essen) hergestellt. Die 12pfünder und 24pfünder sind nur für den Festungs- und Belagerungskrieg bestimmt und haben Rohre entweder aus Bronze oder aus dem besten Gußeisen. Das Rohr besteht aus zwei Theilen, einem hinteren, inwendig glatten Raume zur Aufnahme des Geschosses und der Kartusche, und dem daran sich schließenden langen, gezogenen Rohre.

Dieser vordere Theil, die eigentliche Seele, ist wie eine Büchse mit Zügen, das heißt mit schraubenförmigen Gängen, Drall, versehen, deren Anzahl und Drehung bei den verschiedenen Kalibern verschieden ist. Sechspfünder haben achtzehn Züge, welche auf ohngefähr sieben Fuß Länge einen ganzen Umlauf machen würden.

Der hintere etwas erweiterte Theil der Seele, der Ladungsraum, wird durch einen genau passenden gußstählernen Kolben, der sich ein- und ausschieben läßt, verschlossen. Um den Kern unverrückbar befestigen zu können, ist er der Quere nach durchbohrt, und diesem Querloch entsprechen zwei Löcher in der Geschützwandung. Wenn der Verschlußkolben nun eingeschoben ist, steckt man von außen einen genau passenden Quercylinder vor, und dieser hindert jede Weichung. Damit nun aber nach hinten zu gar kein Pulvergas entweichen kann, hat der Verschlußkolben noch einen Preßspahnboden, eine Scheibe aus starker Hanfpappe, welche direct hinter der Pulverkammer liegt und schädliche Einwirkungen der Pulvergase auf den Kolben und Verunreinigung abhält. Außerdem preßt noch eine starke Schraube alle Verschlußtheile dicht zusammen.

Die Manipulation des Ladens besteht demnach in Oeffnen der Schraube, Verschieben des Vorsteckeylinders, Herausziehen des Verschlußkolbens, Einsetzen des Geschosses und der Kartusche, – Kolben, – Vorsteckcylinder, – Schraube und das Geschütz ist zum Richten fertig. Alle fünf Schuß wird das Rohr ausgewischt und eingefettet, nach je 250 Schuß ohngefähr wird mit einer Feile hineingegangen und das Rohr entbleit, was etwa eine Viertelstunde dauert.

Auf sehr scharfsinnige Weise sind die Geschosse eingerichtet, von denen es gewöhnliche Granaten und Kartätsch-Granaten giebt. Beide sind inwendig hohl und mit einer Sprengladung gefüllt, sodaß sie nicht nur durch ihren eigenen Flug, wie jede gewöhnliche Kugel, wirken, sondern auch noch durch ihr Bersten (Crepiren) und durch das dadurch bewirkte Herumschleudern von Sprengstücken. Das Interessanteste an ihnen ist der Zündungsapparat, welcher bei allen Geschossen in derselben Weise eingerichtet ist und von welchem der beigegebene Durchschnitt einer sechspfündigen Granate, ohngefähr 1/4

der natürlichen Größe, eine Vorstellung geben kann. Die Granaten haben eine sehr starke Sprengladung, welche im Innern c des hohlen gußeisernen Geschoßkörpers sich befindet und durch eine Oeffnung im Boden eingegeben wird. Der Geschoßkörper a ist aus Gußeisen, nach dem Kopfe zu besonders stark und schwer, damit er hiermit zuerst aufschlägt und die Ladung entzündet. Um den eisernen Körper ist ein bleierner Mantel b gegossen, das weiche Metall drückt sich besser in die Züge des Rohres ein und läßt keine Pulvergase entweichen. Die Zündvorrichtung liegt in der Spitze des Geschosses, in einem Hohlraum, welcher von der Sprengladung durch eine dünne Messingplatte abgeschlossen ist. Es sind im Wesentlichen drei Haupttheile zu beobachten: die Zündschraube d, der nach vorn leicht verschiebbare Nadelbolzen c und der Vorstecker f, welcher den Nadelbolzen von der auf der Schraube d aufgesetzten Zündpille abhält. In der Praxis ist die Zündnadel viel feiner, auch stehen die übrigen Theile des Geschosses in etwas anderen Verhältnissen zu einander als in unserer Zeichnung, welche zunächst nur das Princip deutlich machen soll.

Für gewöhnlich ist die Zündpille nicht aufgesetzt. Erst beim Gebrauch wird die Zündschraube mit derselben versehen und in die Mundlochschraube eingeschraubt und gleichzeitig der Vorstecker f eingeschoben, welcher den Bolzen arretirt, damit er nicht eine vorzeitige Explosion hervorrufen kann. Der Bolzen ist in seiner Achse durchbohrt, ebenso die den Hohlraum abschließende Platte. Wird nun das Geschütz abgefeuert, so erhält das Geschoß durch die Drehung der Züge im Rohr schon eine rotirende Bewegung, die es während des ganzen Fluges beibehält, der Vorstecker wird dadurch, wenn das Rohr verlassen ist, herausgeschleudert, und der Nadelbolzen kann sich frei nach vorn bewegen. Sowie nun das Geschoß auftrifft und seine Bewegung aufhört oder sich vermindert, fliegt der Bolzen nach vorn gegen die Zündpille, dieselbe explodirt, durch die Durchbohrung theilt sich das Feuer der Sprengladung mit, und das Geschoß crepirt im Momente des Aufschlagens. Diese mörderische Wirkung wird durch die Entfernung nicht abgeschwächt, [295] höchstens verliert damit das Geschoß seine Percussionskraft, aber die Sprengwirkung, die vorzüglich gegen Mauerwerk, Verschanzungen und dergleichen fürchterlich ist, bleibt ganz dieselbe. Im freien Felde gegen Truppenmassen ist das Geschoß nicht minder verderblich; es durchschlägt die vordere Reihe, crepirt und schleudert eine mörderische Garbe von Sprengstücken nach allen Seiten, den Beherztesten entmuthigend. Die Kartätsch-Granaten (Shrapnels) werden mit eisernen Kugeln, die durch Schwefel zu einer compacten Masse miteinander verbunden sind, gefüllt; sie erhalten nur eine schwache Sprengladung, welche gerade genügt, um den Geschoßkörper zu zerdrücken; die Kugeln zerstreuen sich und bestreichen so einen viel größeren Raum. Die Explosion erfolgt bei ihnen vor dem Ziele und wird durch einen besonders eingerichteten, nach der Zeit stellbaren Zünder bewirkt. Als Belagerungsgeschosse sind aber die Granaten von viel gewaltigerem Effect. Die Beobachtung der Wirkung ist eine sehr leichte durch das mit dem Aufschlagen gleichzeitige Crepiren; die entstehende Rauchwolke zeigt genau an, ob zu weit oder zu kurz geschossen ist, und fast immer ist vom dritten Schuß an jeder neue ein Treffer. „Die Preußen feuern mit einer tödtlichen Sicherheit; die unglücklichen Dänen werden von ihnen an jedem Orte und zu jeder Stunde getroffen,“ so klagt der kriegsschauplätzliche Berichterstatter der Times. Ein unverwerflicheres Zeugniß für die Vortrefflichkeit der preußischen gezogenen Geschütze kann es schwerlich geben.




Deutscher Menschenhandel im 18. Jahrhundert.
Die diensteifrige Durchlaucht von Hanau und ihr „Extradouceur“ – Der opferwillige Waldecker und seine werbenden Dorfpfarrer – Die Braunschweiger, Vater und Sohn – Der Kasseler Landesvater, seine Rechnenkünste und seine cameradschaftlichen Gesinnungen – Der Anhalt-Zerbster und seine Stylübungen – Der verschmähte Baier – Das Urtheil des englischen Parlamentes und Friedrich des Großen.


„Es traten wohl so etliche vorlaute Bursche vor die Fronte heraus und fragten den Obersten, wie theuer der Fürst das Joch Menschen verkaufe? – Aber unser gnädigster Landesherr ließ alle Regimenter auf dem Paradeplatz aufmarschiren und die Maulaffen niederschießen. Wir hörten die Büchsen knallen, sahen ihr Gehirn auf das Pflaster spritzen, und die ganze Armee schrie: Juchhe! nach Amerika!
Schiller, „Kabale und Liebe.“ 

Es war in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts; die unter Englands Oberhoheit stehenden dreizehn Colonien, die nachmaligen Vereinigten Staaten von Nordamerika, hatten ihrem Herrscher Georg III., der sie eines ihrer Rechte nach dem andern beraubt, den Gehorsam gekündigt und die gegen sie ausgesendete bewaffnete Macht durch ihr eigenes Heer unter Washington’s Oberbefehl siegreich zurückgeschlagen. Der König war aber fest entschlossen, die rebellischen Colonien um jeden Preis zum Gehorsam zurückzuführen. Seine eigene verfügbare Truppenmacht reichte indeß für diesen Zweck nicht aus, so daß ihm seine Minister nichts Besseres zu rathen wußten, als mit einer auswärtigen Regierung wegen Ueberlassung einiger Truppencorps zu diesem Zwecke in Unterhandlung zu treten. England hat es von jeher geliebt, seine Kriege mit Verbündeten oder Hülfstruppen zu führen, diesen die schwerste Arbeit zuzuweisen und im Fall des Mißlingens die Schuld aufzubürden, gemeinschaftlich erfochtene Siege dagegen für sich allein in Anspruch zu nehmen.

Ueber diese von der englischen Regierung mit auswärtigen Höfen gepflogenen Unterhandlungen macht der berühmte amerikanische Historiker Bancroft in dem neuesten Bande seiner umfassenden und gediegenen Geschichte der Vereinigten Staaten Mittheilungen, welche mancherlei bis jetzt noch wenig oder gar nicht gekannte Einzelheiten enthalten und überhaupt geeignet sind, jenen schmachvollen Menschenhandel vor den Augen der Nachwelt in das ihm gebührende Licht zu stellen.

Die Blicke Georg’s III. richteten sich zunächst nach Rußland. Er hoffte die Kaiserin Katharina seinen Vorschlägen geneigt zu machen; allein trotz vieler Conferenzen und mancherlei anfangs gegebener unbestimmter Zusagen war schließlich die Kaiserin nicht zu bewegen, auf das Anerbieten einzugehen, in welchem sie eine Beleidigung ihres Stolzes und ihrer Ehre erblickte. Alle Höfe von Moskau bis Madrid hatten den Gang dieser Unterhandlungen beobachtet, aber keinerlei auswärtiger Einfluß äußerte auf die Willensmeinung der Kaiserin irgend welchen Einfluß. Im westlichen Europa hatte sich eine Zeit lang das Gerücht verbreitet, die Kaiserin sei bereit, dem englischen Verlangen zu entsprechen; Vergennes, der französische Minister, erklärte es jedoch sofort für unglaubhaft und schrieb an den französischen Gesandten in Moskau die denkwürdigen Worte: „Ich kann Katharinens Seelengröße nicht mit dem unehrenhaften Gedanken vereinbaren, daß sie mit dem Blute ihrer Unterthanen Wucher treiben könnte.“

Zu seinem Troste hatte König Georg bereits Beweise in den Händen, daß nicht alle Fürsten Europas die von der Kaiserin Katharina bewiesene Standhaftigkeit gegen die Verlockungen des englischen Goldes an den Tag legen würden.

Der Erbprinz von Hessen-Kassel, bereits Beherrscher des kleinen Fürstenthums Hanau, hatte Englands Wünsche schon vor den mit der Kaiserin Katharina angesponnenen Unterhandlungen instinctartig gewittert und deshalb an Georg III. geschrieben: „Ich höre nie auf, die feurigsten Wünsche und Gebete für den besten aller Könige zum Himmel emporzusenden, und wage hiermit, ohne die mindeste Bedingung zu stellen, mein Regiment von fünfhundert Mann anzubieten, welche alle bereit sind, mit mir ihr Leben und ihr Blut für Eurer Majestät Dienst zu opfern. Geruhen Eure Majestät, auf den Beweggrund und nicht auf die Sache selbst zu sehen. O, daß ich zwanzigtausend Mann offeriren könnte! Es sollte mit demselben Eifer geschehen. Mein Regiment ist auf den ersten Wink, der mir gegeben werden wird, bereit, aufzubrechen.“

Gleich dem Bettler, der einem reichen Gönner, von dessen Großmuth er mehr als den Marktpreis zu erpressen hofft, seine Habe als Geschenk anbietet, verlangte er nichts, begab sich aber, als keine Antwort erfolgte, später selbst nach England, um seine Anträge zu erneuen.

Georg III. wünschte jedoch, bevor er mit deutschen Fürsten in Unterhandlung trete, erst eine Truppenanwerbung in Holland zu versuchen. Ohne großes Bedenken wäre der Erbstatthalter der Republik auf den Vorschlag eingegangen; Würde, Grundsätze und Politik der Generalstaaten widerstrebten einem solchen Verlangen aber entschieden.

Namentlich war es Baron van der Capellen tot den Pol, der Gracchus der holländischen Republik, welcher gegen Englands Zumuthung protestirte. Janitscharen solle man lieber miethen, äußerte er, als Truppen eines freien Staats. Warum solle eine Nation, welche selbst den Namen von Rebellen getragen und sich mit der Schärfe des Schwerts von ihren Unterdrückern befreit, ihre Truppen hergeben, um das zu zermalmen, was man von einigen Seiten die Rebellion der Amerikaner zu nennen beliebe, die gleichwohl für alle Nationen ein ermuthigendes Beispiel seien und als wackere Männer die Achtung der ganzen Welt verdienten, weil sie mit Unerschrockenheit und doch mit Mäßigung die Rechte vertheidigten, welche Gott, aber nicht das britische Parlament, ihnen verliehen?

Auch hier also scheiterte Georg mit seinem Ansinnen. Mittlerweile aber fand er in Deutschland, was er suchte.

Das deutsche Reich hatte sich von der Zerrüttung, welche der dreißigjährige Krieg über dasselbe gebracht, noch nicht wieder erholt. Seit dieser furchtbaren Zeit war der Militärdienst ein Handwerk geworden und der gemiethete Söldner an die Stelle des mittelalterlichen Vasallen getreten. Das Gefühl des Patriotismus hatte sich allmählich in den Gehorsam des Soldaten verwandelt, welcher wohl lernte, daß er einen Herrn, aber nicht daß er ein Vaterland hatte, und Kurfürsten, Herzöge und Landgrafen maßten sich das Recht an, sich um ihren persönlichen Vortheils willen in Kriege einzulassen und ihre Truppen ganz nach ihrem Belieben zu vermiethen. Um des Gewinnes ihrer Fürsten und um des Soldes und der Beute für sich selbst willen waren deutsche Truppen bei jedem großen Kampfe betheiligt, welcher von Polen bis Portugal, von der Nordsee bis zum Golfe von Neapel wüthete, und standen sich häufig genug auf verschiedener Seite feindlich gegenüber. In Friedenszeiten trieben sich die verabschiedeten überzähligen Söldner im Lande umher und bildeten eine unbeschäftigte Masse, bis sie neues Handgeld und die Hoffnung auf neue Beute wieder unter die Fahne rief, gleichgültig unter welche.

[296] Sobald daher bekannt ward, daß der König von England sich außer Stand sah, seine im Kampfe mit Amerika gelichteten Regimenter durch Anwerbungen innerhalb seiner eigenen Staaten wieder zu ergänzen und zu vermehren, und daß er deshalb Rekruten aus Deutschland zu beziehen wünschte, erboten sich, begierig von diesem Umstand Nutzen zu ziehen, eine Menge von Abenteuerern die gewünschten Truppen zu verschaffen. Anfangs trug Georg Bedenken, von diesen Anerbietungen Gebrauch zu machen. „Wenn ich,“ sprach er, „deutschen Officieren Auftrag gebe, mir Leute zuzuführen, so bin ich, gerade heraus gesagt, nicht viel besser als ein Seelenverkäufer, was nach meiner Ansicht kein sonderlich ehrenvolles Prädicat ist.“ Dennoch aber verstand er sich dazu, daß ein Contract mit einem hannoverischen Oberstlieutenant abgeschlossen würde, welcher sich verbindlich machte, ohne Zeitverlust viertausend Mann Rekruten in Deutschland anzuwerben. Ebenso gestattete er auch sein Kurfürstenthum Hannover als Sammel- und Werbeplatz zu benutzen und willigte ein, daß sein Feldmarschall dem Unternehmen den nothwendigen Beistand lieh. Damals hielten keine wechselseitigen Höflichkeitsrücksichten die Fürsten ab, einer des andern Soldaten zur Desertion zu verleiten, und ein höheres Handgeld, bessere Löhnung und die verlockende Aussicht, in Amerika, dem Goldlande, reiche Beute zu machen, bewog die vagabundirenden Veteranen früherer Kriege sehr bald, sich um das in Hannover aufgepflanzte Banner zu schaaren. Freilich hatte der deutsche Reichstag Truppenanwerbungen für fremde Fürsten innerhalb seines Gebietes untersagt, und das Cabinet von Wien sah sich daher, um wenigstens den Schein zu wahren, genöthigt, darauf aufmerksam zu machen, daß Großbritannien mit dem deutschen Reiche in keinem Zusammenhang stände, ihm mithin nicht das Recht zukäme, innerhalb Deutschlands Grenzen Truppen anzuwerben. Für England lag hierin blos eine zarte Aufforderung, das Werbegeschäft in Deutschland ein wenig verstohlen betreiben zu lassen. Der Lieferant hatte auch sehr bald eine kleine Abschlagssendung von 150 Mann beisammen und versprach raschern Erfolg, sobald das Unternehmen nur erst ein wenig besser im Zuge wäre. Hierzu kam, daß der Fürstbischof von Lüttich und der Kurfürst von Köln sich gern dazu verstanden, hinsichtlich der Anwesenheit englischer Agenten, welche auch Werbestationen in Neuwied und Frankfurt hatten, ein Auge zuzudrücken. So instruirten denn die englischen Minister ihre diplomatischen Vertreter an den kleinen Höfen, den Werbungen allen möglichen Vorschub zu leisten, allein dies nicht officiell oder im Namen ihres Königs zu thun.

Inzwischen hatte der Aufstand in Amerika immer größere Verhältnisse angenommen, und Georg, der zuerst mit Widerstreben daran gegangen war, von den kleinen deutschen Fürsten Soldaten zu kaufen, sah sich genöthigt, nunmehr alle diese Scrupel schwinden zu lassen. Seine Minister theilten ihm mit, daß der Herzog von Braunschweig, wenn er sonst wolle, recht wohl wenigstens dreitausend und der Landgraf von Hessen-Kassel fünftausend Mann stellen könnten, und im November 1775 wies Lord Suffolk seinen Agenten, Oberst Faucitt, dahin an: „Ihre Aufgabe ist, so viel Truppen zusammenzubringen, wie Sie nur können. Ich gestehe, daß meine eigenen Hoffnungen in Bezug auf das Ihnen übertragene Geschäft nicht sehr sanguinisch sind, und Sie werden daher, so lange Sie nicht gegründete Aussicht auf Erfolg haben, Ihre officielle Eigenschaft so wenig als möglich hervortreten lassen. Verschaffen Sie uns, wie gesagt, so viel Truppen, als gehen will, und obschon es Ihnen nur zur Ehre gereichen wird, wenn Sie dies unter möglichst billigen Bedingungen thun, so muß ich Ihnen doch bemerklich machen, daß im vorliegenden Falle auf Kostenersparniß nicht so viel Rücksicht genommen werden kann, wie unter andern gewöhnlichen Verhältnissen. Es ist die größte Thätigkeit nothwendig, denn dem König liegt außerordentlich viel daran, das Unternehmen zu Stande gebracht zu sehen, und Sie werden daher sowohl von Braunschweig, als auch von Kassel aus, sobald Sie wissen, ob Truppen zu erlangen sind oder nicht, augenblicklich einen Courier an mich absenden, ohne erst auf Nennung der Bedingungen zu warten.“

Die Befürchtung des englischen Ministers, daß der beabsichtigte Menschenhandel nicht zu Stande kommen werde, war leider eine höchst überflüssige. Eine Menge kleiner Fürsten drängte sich herzu, Truppen anzubieten. „Ich,“ schrieb unter andern der Fürst von Waldeck, „werde es als eine hohe Gunst betrachten, wenn der König von mir ein Regiment von sechshundert Mann annehmen will, dessen Officiere und Mannschaften eben so wie ihr Fürst sicherlich nichts inniger wünschen, als eine Gelegenheit zu finden, sich für Seine Majestät zu opfern.“ Natürlich ward dies freundliche Anerbieten unter den jetzt obwaltenden Umständen mit tausend Freuden acceptirt.

Am 24. November machte Faucitt, nachdem er in Stade seine Instructionen erhalten, sich auf den Weg nach Braunschweig. Herzog Karl von Braunschweig war damals ungefähr 63 Jahre alt. Während der vierzig Jahre seiner Regierung hatte er die Millionen seines Einkommens an seine italienische Oper, an sein Balletcorps, auf Reisen, an Maitressen, am Spieltische und mit alchymistischen Experimenten verschwendet und außerdem zwölf Millionen Thaler Schulden gemacht. Das Meiste aber hatte ihm seine kleine Armee gekostet, die jetzt im Alter, wo er für andere Lebensgenüsse unfähig geworden, seinen Stolz und seine einzige Freude ausmachte. Seit drei Jahren hatte er den Erbprinzen Ferdinand, der mit Georg’s III. Schwester Auguste vermählt war, zum Mitregenten erkoren. Dieser sowohl, als seine Umgebung, war von der Machtvollkommenheit eines legitimen Fürsten durchdrungen. Er liebte zu herrschen und verlangte blinden Gehorsam. Uebrigens war er nicht ohne Anlagen. Sein Stolz war, sein Tagewerk gut und pünktlich zu verrichten, und wirklich führte er in mehrern Zweigen der öffentlichen Verwaltung zweckmäßige Ersparnisse ein. Wenn auch den sinnlichen Vergnügungen ergeben, war er doch daneben unermüdlich in der Arbeit. Aber er hatte kein Gemüth und war deshalb weder der Dankbarkeit, noch der Liebe fähig. Ein guter Unterofficier und die personificirte Gamaschenpedanterie, sah er mit peinlicher Strenge darauf, daß im Mechanismus des Regiments nicht das kleinste Rädchen in’s Stocken kam, – eine Armee im Feld zu führen, dazu fehlten ihm alle Kenntniß und aller Umblick, wie er dies als Feldherr der preußischen Armee in der Schlacht bei Jena 1806 so unheilvoll beweisen sollte.

Noch am Abend seiner Ankunft hatte Faucitt eine Conferenz mit dem Erbprinzen, an welchen ihm der König von England einen besonderen Brief mitgegeben hatte. Ohne die geringste Weiterung erklärte sich Ferdinand mit dem englischen Antrag von Herzen einverstanden und versprach, sich zu Gunsten desselben bei seinem Vater zu verwenden. Dieser gab auch, obschon es ihm an’s Leben ging, sich von einem Spielzeug trennen zu sollen, welches der einzige Zeitvertreib seiner alten Tage war, doch aus Rücksicht auf den immer noch mißlichen Zustand seiner Finanzen seine bereitwilligste Zustimmung zu dem Schacher.

Die nächste Aufgabe des englischen Unterhändlers war nun, mit Ferrance, dem braunschweigischen Minister, über den Preis der Truppen zu unterhandeln, welche mit Beginn des Frühlings bereit und aus 4000 Mann Infanterie und 300 Mann Dragonern zusammengesetzt sein sollten. Die Letzteren wurden zwar nicht gebraucht, Faucitt aber nahm sie an, um nicht „difficil“ zu erscheinen.

Als Handgeld verlangte Braunschweig sechszig deutsche Thaler für den Mann; doch einigte man sich zuletzt auf fünfundvierzig Thaler. Für jeden Soldaten, welcher das Leben verlöre, sollte das Handgeld noch einmal bezahlt werden. Drei Verwundete waren dem Uebereinkommen gemäß als ein Todter zu rechnen. – Ein weiterer Gegenstand der Erörterung war der Tag, von welchem an die englische Löhnung gezahlt werden sollte. Braunschweig forderte, daß damit drei Monate vor Ausmarsch der Truppen begonnen würde, begnügte sich indeß zuletzt mit zwei Monaten. Wegen des jährlichen Miethpreises stritt man zwei Tage hin und her, bis man sich endlich dahin einigte, daß von dem Tage der Unterzeichnung des Vertrags an jährlich eine Summe von 64,500 deutschen Kronthalern und nach Rückkehr der Truppen in die Heimath zwei Jahre lang das Doppelte dieser Summe gezahlt werden solle.

Im Verlaufe des englisch-amerikanischen Krieges lieferte Braunschweig zusammengenommen 5723 Miethlinge, eine Zahl, die den sechsten Theil der gesammten waffenfähigen Mannschaft des Herzogthums betrug. Die Folge hiervon war, daß nur zwei der für den englischen Kriegsdienst bestimmten Bataillone aus wirklich regulären Truppen bestanden. Die übrigen waren, ohne daß man sich an die gegebenen Versprechungen gekehrt hätte, zum großen Theil aus noch ungeübten Rekruten, alten Leuten, bartlosen Knaben und aus aller Herren Ländern herbeigeschleppten Vagabunden zusammengewürfelt. –

[297] Von Braunschweig eilte Faucitt, nachdem er sich hier seiner Aufgabe mit so glücklichem Erfolge entledigt, nach Kassel, wo seine Ankunft bereits mit Sehnsucht erwartet wurde. Das hessische Volk besaß damals und besitzt heute noch den kühnen kriegerischen Charakter seiner Vorväter, welche von den Römern nicht unterjocht werden konnten. Die Tapferkeit seiner Söhne hat sich auf allen Schlachtfeldern Europa’s glänzend bewährt, wie u. A. die Republik Venedig zum großen Theile den Hessen ihre Siege über die Türken zu verdanken hatte.

Landgraf Friedrich II. zählte damals ungefähr 56 Jahre und regierte seit beinahe sechszehn Jahren. Seine Erziehung war eine sehr sorgfältige gewesen, seine Gemüthsart aber war und blieb gemein und störrig. Die Gattin seiner Jugend, eine Tochter Georg’s II. von England, war die Liebenswürdigste und Sanfteste ihres Geschlechts, sah sich aber dennoch genöthigt, vor seiner unmenschlichen Behandlung bei seinem eigenen Vater Schutz zu suchen. Dreiundfünfzig Jahre alt, heirathete er noch einmal, lebte aber mit seiner zweiten Gemahlin auf keinem bessern Fuße, als mit der ersten.

Aus Widerwillen gegen „die plebejische Einfachheit der protestantischen Religion“, als deren Bollwerk sich das Haus Hessen von jeher betrachtet hatte, war er 1749 zur katholischen Kirche übergetreten. Allerdings zeigte er stets eine gewisse Toleranz, schaffte den Gebrauch der Folter ab und ließ ausgesprochene Todesurtheile nur in außerordentlich seltenen Fällen vollstrecken; gleichzeitig aber war er auch der sittenlose Repräsentant der schlimmsten Ausschweifungen seines Zeitalters. Ein Freund von Glanz und üppigem Leben, trug er seine Laster auf die schamloseste Weise öffentlich zu Schau.

Nationalsinn besaß er so wenig, wie fast alle deutschen Regenten der damaligen Zeit; französische Sitten und Gewohnheiten waren sein Ideal. Er hielt seine Oper, sein Ballet, während des Carnevals seine Maskeraden und sein französisches Theater. Eine abgelebte Französin war seine erste Favorite und ein französischer Theaterintendant sein Bibliothekar. Dennoch aber konnte nichts eine größere Unähnlichkeit mit Frankreich darbieten, als eben der landgräfliche Hof. Das Leben in Kassel war durch und durch geistlos, Anspruch auf Beachtung hatte nur der Adel, um Talent und Begabung kümmerte man sich nicht. So war der Hof beschaffen, dessen Fürsten Faucitt einen zweiten Brief vom englischen König überreichte. General Schlieffen, der Minister, mit welchem er die Unterhandlung zu führen hatte, deutete ihm an, daß er sich von vornherein unbedingt in jede Forderung zu fügen habe; der Landgraf sei außerordentlich launenhaft, und er möge sich gefaßt halten, denselben in übelster Stimmung zu finden. Gleichzeitig aber machte sich Schlieffen anheischig, seinen „gnädigsten Herrn“ zur Ueberlassung von wenigstens 12,000 Mann Infanterie für den englischen Kriegsdienst in Amerika zu bestimmen.

Der Landgraf, welcher sich nicht einmal selbst gestehen wollte, daß er seine Unterthanen aus bloßer Habsucht verschacherte, heuchelte den eifrigen Wunsch, die rebellischen Amerikaner zur Botmäßigkeit zurückgeführt zu sehen, und ward dabei so warm und so sanguinisch, daß er fast Lust zu fühlen schien, für die Sache der Monarchie an der Spitze seiner Truppen selbst in’s Feld zu ziehen. Dieser Eifer ließ vermuthen, daß für die erbetene Hülfe die übertriebensten Gegenforderungen gestellt werden würden. In der That wußte man Georg vor allen Dingen eine Summe von mehr als 40,000 Pfd. Sterl. für Hospitalauslagen abzupressen, die man während des letzten Krieges gehabt haben wollte. Das war eine geradezu unverschämte Forderung, denn die betreffende Rechnung war längst geprüft, bezahlt und abgeschlossen. Allein die große Verlegenheit der englischen Regierung zwang diese, den erhobenen Anspruch als begründet anzuerkennen und die Rechnung wirklich zum zweiten Male zu bezahlen.

Das Handgeld scheint in Hessen eben so viel betragen zu haben, wie das, worüber man sich mit Braunschweig geeinigt; da es aber in Kassel nicht blos für die Mannschaften, sondern auch für die Officiere bezahlt werden sollte, so ergab der hessische Contract einen Mehrgewinn von zwanzig Procent. Sein Meisterstück aber lieferte Schlieffen durch die Feststellung der jährlichen Miethsumme. In ähnlichen früheren Verträgen hatte man auf wenigstens vier Jahre stipulirt. Jetzt sprach Schlieffen von einem sechsjährigen Zeitraum. Zwar ging der englische Unterhändler darauf nicht ein, denn er glaubte, daß es zur Beendung des Krieges nur eines einzigen Feldzuges bedürfen würde, aber der Hesse wußte mit seinem Vorschlage doch eine doppelte Miethsumme zu erlangen, welche vom Tage der Unterzeichnung des Vertrags an bis zum Erlöschen desselben bezahlt werden sollte. Außerdem ward auch noch ausbedungen, daß das Geld nicht, wie an Braunschweig, in deutschen Kronthalern, sondern in Banco-Kronthalern bezahlt werden sollte, was dem Landgrafen einen fernerweiten bedeutenden Gewinn abwarf, um so mehr, als der Vertrag zehn Jahre lang in Kraft blieb. Kurz, diese einzige Bedingung spielte dem Landgrafen das kleine Sümmchen von sechs Millionen Thalern in die Tasche! Um aber seinen treuen Unterthanen einen Beweis von seiner väterlichen Gesinnung zu geben, setzte er die zur Bestreitung des Aufwandes für die nun vermietheten Truppen neu erhobenen Steuern bis zur Rückkehr der Truppen huldvoll auf die Hälfte herab; die andere Hälfte ward dagegen um so unerbittlicher eingetrieben!

Wohlweislich hatte man sich ausbedungen, daß die von England zu erhaltende Löhnung, welche bedeutend höher war, als die hessische, nicht unmittelbar an die Mannschaften selbst, sondern direct an die hessische Staatscasse gezahlt werden sollte, wodurch abermals Gelegenheit zu allerhand Uebervortheilungen gegeben ward. Auch wußte man es einzurichten, daß die Löhnungsregister schon vom zweiten Monat an stets die Namen von mehr Mannschaften enthielten, als wirklich im Dienst waren. Mit Braunschweig hatte sich der englische Agent, wie wir wissen, über einen für Todte und Verwundete zu zahlenden Preis geeinigt; der Landgraf von Hessen ließ sich dagegen auf kein derartiges Abkommen ein, sondern behielt sich das Recht vor, für jeden Mann, den er einmal für den englischen Kriegsdienst gestellt, mochte derselbe lebendig, oder dienstunfähig, oder todt sein, bis zum Ablauf des Vertrags volle Löhnung zu verlangen. Faucitt stellte dem Minister vor, daß es unumgänglich nothwendig sein werde, den hessischen Soldaten den vollen und uneingeschränkten Genuß ihrer Löhnung ebenso zu gestatten, wie den englischen. „Auf diese Bedingung wage ich nicht einzugehen, denn der Landgraf könnte sich dadurch verletzt fühlen,“ antwortete der hessische Minister, und als die Sache dennoch vor dem Landgrafen zur Sprache kam, rief dieser: „Sind meine Soldaten nicht meine Cameraden? Und habe ich wohl eine andere Absicht, als sie gut zu behandeln?“

Die kranken und verwundeten braunschweigischen Truppen sollten in englischen Hospitälern verpflegt werden, für die Hessen dagegen beanspruchte der Landgraf das Recht, eigene Hospitäler zu errichten und sich wegen des dabei gehabten Kostenaufwandes später mit der englischen Regierung zu berechnen. Zwar hatte man die für die gemietheten Truppen erforderliche Bekleidung von in England fabricirten Stoffen anfertigen lassen, der Landgraf aber gestattete nicht, daß ihm auf diese Weise die Gelegenheit abgeschnitten würde, auch hierbei ein „Profitchen“ zu machen. Georg hatte geglaubt, der Landgraf könne höchstens 5000 Mann Infanterie liefern; der dafür bewilligte Preis war aber ein so verlockender, daß der Landgraf, nachdem er die Lieferung von 12,000 Mann abgeschlossen, der englischen Regierung erst noch 400 Mann Scharfschützen, dann noch 300 Mann Dragoner und endlich noch drei Artilleriecorps aufdrang, natürlich gegen Erlegung von Handgeld und verhältnißmäßige Erhöhung der jährlichen Miethsumme.

Um nicht von den das Land durchstreifenden Werbern mit Gewalt unter die Soldaten gesteckt zu werden, floh eine Menge junger Leute über die Grenze nach Hannover, und König Georg von England, welcher zugleich Kurfürst von Hannover war, ward daher aufgefordert, den Aufenthalt hessischer Unterthanen auf hannöverschem Boden nicht zu dulden, weil der Landgraf sich außerdem am Ende in die Unmöglichkeit versetzt sehen könnte, seine in Bezug auf Truppenlieferungen eingegangene Verpflichtung pünktlich zu erfüllen. Ebenso hielt man es für sehr wesentlich, die vermietheten Truppen durch das Kurfürstenthum Hannover nach ihrem Einschiffungsplatze zu dirigiren; denn wenn die Hessen das linke Weserufer entlang durch preußisches Gebiet und vielleicht ein halbes Dutzend kleiner Fürstenthümer marschirten, so würden, daran zweifelte man keinen Augenblick, sicher mindestens die Hälfte der Soldaten unterwegs davonlaufen. Ein großer Theil ging freilich gern und willig; hatte man den Soldaten doch vorgespiegelt, Amerika sei das Land goldener Beute und es würde ihnen dort freistehen, nach Herzenslust zu plündern und in allen Genüssen zu schwelgen.

Nachdem so jeder streitige Punkt den kategorischen Anforderungen des Landgrafen gemäß entschieden war, kam der Vertrag [298] endlich am 31. Januar 1776 zur Unterzeichnung; wenn man aber meint, daß damit Alles schönstens geordnet und der Habgier des Landgrafen kein weiterer Spielraum vergönnt gewesen wäre, so irrt man. Die Zahlung der doppelten Miethsumme sollte vom Tage der Unterzeichnung des Vertrags anheben; der pfiffige Landgraf ließ deshalb, um auch die letzte Gelegenheit zur Plusmacherei nicht unbenutzt zu lassen, die Urkunde auf den 15. Januar zurückdatiren!

Seume, der wackere deutsche Dichter, der zu jener Zeit aus Gewissensskrupeln das Studium der Theologie aufgegeben und die Universität Leipzig verlassen hatte, fiel in Vacha bekanntlich den landgräflichen Werbern in die Hände. Zunächst ward er als Halbarrestant nach der Festung Ziegenhain geschleppt, wo schon viele seiner Unglücksgenossen lagen, unter welchen er in seiner Selbstbiographie namentlich „einen verlaufenen Musensohn aus Jena, einen bankerotten Kaufmann aus Wien, einen Posamentirer aus Hannover, einen abgesetzten Postschreiber aus Gotha, einen Mönch aus Würzburg, einen Oberamtmann aus Meiningen, einen preußischen Husarenwachtmeister, einen cassirten hessischen Major und andere von ähnlichem Stempel“ erwähnt.

Von Ziegenhain wurden die Gepreßten über Kassel, wo sie der Landgraf in höchst eigener Person inspicirte, nach Hannöverisch-Münden spedirt. „Unser Zug glich so ziemlich einem Transport von Gefangenen,“ – schreibt Seume, – „denn wir waren unbewaffnet und die bewehrten Dragoner, Gardisten und Jäger hielten mit fertiger Ladung Reihe und Glied fein hübsch in Ordnung.“

In Münden auf der Wiese wurden die armen verkauften Seelen von dem englischen Agenten Faucitt besichtigt, und der und jener erhielt dabei einige freundliche Rippenstöße, weil er in das von dem commandirenden Officier auf den König von England ausgebrachte Hoch nicht laut genug einstimmte. Auf den Transportschiffen waren die Unglücklichen wie Häringe zusammengeschichtet, so daß auf dem Deck kein Mann geradestehen, Niemand sich frei bewegen konnte. Das Gräßlichste waren die immer für je sechs Mann bestimmten Bettkasten. Eben so schlecht stand es mit der Kost an Bord. Die Mannschaften bekamen fast nichts als Speck und Erbsen oder Pudding, den sie sich selbst aus muffigem Mehl halb mit Seewasser, halb mit süßem Wasser und uraltem Schöpsenfett machen mußten. Der vielleicht vier oder fünf Jahr alte Speck war ungenießbar, schwarz und stinkend. Im Schiffszwieback wimmelte es von Würmern und dabei war er so hart, daß man ihn mit Kanonenkugeln aus dem Gröbsten zerschlagen mußte. Man behauptete, die Engländer hätten ihn im siebenjährigen Kriege den Franzosen abgenommen; seit der Zeit habe er in Portsmouth im Magazin gelegen, und nun füttere man die Deutschen damit, um von ihnen in Amerika wiederum die Franzosen todtschlagen zu lassen. Wenn ein Faß Trinkwasser aus dem Schiffsraum auf das Deck gebracht und aufgemacht ward, so verbreitete es einen kaum zu ertragenden Gestank – und dennoch schlug man sich, um dieser widerlichen Jauche nur theilhaftig zu werden.

Im englischen Parlament ward das Ministerium wegen seiner unbedingten Bewilligung der von dem Landgrafen von Hessen gestellten so übertriebenen Bedingungen scharf zur Rede gesetzt. Es entschuldigte sich damit, daß es nicht anders gekonnt habe, weil der Ausmarsch der Truppen schon in den ersten Tagen des Februar habe stattfinden sollen. Der Landgraf hatte auch in der That bis zum 15. Februar dreizehn Bataillone marschfertig, die englischen Anordnungen waren aber so schlecht getroffen, daß, obschon bei längerem Zögern der Verlust eines Feldzugs auf dem Spiele stand, die Admiralität doch zur bestimmten Zeit bei weitem nicht Transportschiffe genug in Bereitschaft hatte und selbst im März noch nicht sagen konnte, wann die noch erforderliche Anzahl verfügbar sein würde. Die erste Abtheilung Braunschweiger ging daher erst am 4. April von England unter Segel, und ihr Commandant war bereits in Quebek, ehe die letzten Mannschaften seines Corps eingeschifft wurden. Die erste Division Hessen passirte den britischen Canal erst am 10. Mai.

Die Braunschweiger hatten sich nicht minder über die unverantwortlich elende Einrichtung und Ausstattung der Schiffe zu beklagen. Die Bekleidung der Soldaten selbst war alt und nur nothdürftig ausgeflickt worden. Der Lieferant, den man mit der Besorgung des Schuhwerks betraut hatte, schickte von London aus einige tausend Paar dünne Tanzschuhe, die obendrein zum großen Theil so klein waren, daß die Soldaten sie gar nicht anziehen konnten. – Auch der Vertrag mit dem zuerst gedachten Erbprinzen von Hessen-Kassel, welcher zugleich souverainer Fürst von Hanau war und auf eigenen Antrieb an den König von England geschrieben hatte, stieß auf kein Hinderniß. Der Eifer und die Dienstfertigkeit dieses Fürsten überstiegen alle Beschreibung. In eigener Person machte er die Runde durch die Ortschaften seines Ländchens, um die gewünschten Rekruten auszusuchen, und gab später seinem Regiment auf dem Ausmarsche nach Helvoetstuys, von wo es eingeschifft werden sollte, Höchstselbst das Geleite bis Frankfurt. Seiner Verdienste um England sich bewußt, bettelte er wiederholt um ein „Extradouceur“, und Lord Suffolk, der englische Minister, gewährte ihm auch ein solches, aber nur gegen das schriftliche Versprechen der strengsten Verschwiegenheit, damit nicht etwa auch die anderen fürstlichen Menschenhändler mit gleichen Zumuthungen angerückt kommen möchten. Bereitwilligst leistete der souveraine Supplicant dies Versprechen in einem in lächerlichem Englisch geschriebenen Brief, worin er zugleich seine frommen Wünsche für das Gelingen des Unternehmens aussprach, zu dessen Durchführung er einen Theil seiner Landeskinder an den König von England verkauft hatte.

Wie wir gehört, hatte sich der Fürst von Waldeck ebenfalls zu Truppenlieferungen erboten; man zweifelte indeß, daß er im Stande sein würde, sein Versprechen zu halten. Sein Land war in dieser Beziehung schon über die Gebühr in Anspruch genommen, und es standen bereits nicht weniger als drei Waldeck’sche Regimenter im Dienste der Republik Holland. Wiederholt hatten sich die Stände des Ländchens über den großen Verlust an Unterthanen beklagt, der Fürst aber wußte fortwährend einen so uneigennützigen Eifer und eine so warme Anhänglichkeit an den „unvergleichlichen Monarchen“ von Großbritannien zu heucheln, daß dies schließlich wirklich einen Contract mit ihm abschloß. Wohl konnte er die versprochenen Truppen nur durch Mißbrauch seiner Autorität, oder durch Gewalt, oder durch List zusammenbringen, aber die Dorfgeistlichen unterstützten ihn bereitwillig, indem sie die jungen Leute von der Kanzel herab ermunterten, sich anwerben zu lassen, und so zweifelte man nicht länger, daß er das stipulirte Regiment bald zusammen haben würde, dafern er nur „seine eigenen Unterthanen nicht allzusehr schonte“. Das Murren der Rekruten suchte man dadurch zu beschwichtigen, daß man ihnen, wie den Hessen, Aussichten auf den Erwerb von großen Schätzen vorspiegelte; trotzdem aber fand man zur Verhütung von Desertionen es gerathen, sie durch ein Corps berittener, mit scharfgeladenen Büchsen bewaffneter Forstbeamten bis Beverungen escortiren zu lassen.

Der regierende Fürst von Anhalt-Zerbst huldigte, in Bezug auf den Truppenschacher, nicht den Ansichten, welche seine Schwester, die Kaiserin Katharina von Rußland, bethätigte. Halb verrückt und nur sehr selten in seinem Lande lebend, unterhielt er außerhalb desselben nicht weniger als sechszehn Werbestationen und machte in einem höchst verworrenen Schreiben der englischen Regierung das Anerbieten, ihr seinerseits auch ein Regiment von 627 Mann zu liefern. Er richtete auch einen directen Brief an Georg III., allein diese Epistel war so confus und seltsam, daß man Bedenken trug, den König damit zu behelligen, und die Unterhandlungen sich demzufolge vor der Hand zerschlugen.

Der Kurfürst von Baiern sprach gegen Elliot, den englischen Gesandten in Regensburg, ebenfalls den eifrigen Wunsch aus, mit der englischen Regierung ein Truppenlieferungsgeschäftchen zu machen. Sein Anerbieten blieb jedoch so gut wie unbeachtet, denn die bairischen Truppen gehörten damals zu den schlechtesten in Deutschland, und überdies war der bairische Hof so an Oesterreich und Frankreich verkauft, daß der Kurfürst selbst es für räthlich erachtete, den englischen Diplomaten dringend zu bitten, gegen seine eigenen Minister von dem gemachten Anerbieten ja nichts verlauten zu lassen!

Am letzten Tage des Februarmonats 1776 kamen die mit Braunschweig und Hessen abgeschlossenen Verträge in dem englischen Parlament zur Sprache. Lord North, der Minister, sagte: „Die Truppen werden gebraucht. Die Bedingungen, unter welchen wir sie uns verschafft haben, sind billiger, als wir erwartet hatten, und die auf diese Weise erworbene Streitmacht wird uns in den Stand setzen, Amerika vielleicht ohne weiteres Blutvergießen zum Gehorsam zu zwingen.“

„Das von der Regierung ergriffene Auskunftsmittel,“ antwortete Lord John Cavendish, „gereicht England zur Schande und [299] dem König zur Demüthigung, während es zugleich durch seine Kostspieligkeit das Land in noch tiefere Armuth stürzt.“

„Unsere Aufgabe,“ entgegnete der Minister Cornwall, „wird noch vor Ablauf des Jahrs gelöst sein, und wenn dies, wie sich nicht bezweifeln läßt, wirklich geschieht, so werden wir dann die Truppen zu weit billigeren Bedingungen gehabt haben, als es jetzt auf den ersten Blick scheint!“

Lord Irnham faßte die Sache von einem höhern Standpunkte auf, indem er sagte: „Der Landgraf von Hessen und der Herzog von Braunschweig schänden Deutschland in den Augen von ganz Europa, indem sie ihre Länder zu einem Menschenmarkte für den machen, der das meiste Geld hat. Fürsten, welche in solcher Weise ihre Unterthanen verkaufen, um sie in blutigen Kriegen opfern zu lassen, erschweren ihr Verbrechen noch dadurch, daß sie viel bessere und edlere Wesen, als sie selbst sind, in den Tod jagen. Der Landgraf von Hessen hat sein edles Vorbild in weiland Sancho Pansa, welcher da aussprach, wenn er ein Fürst wäre, so würde er wünschen, daß alle seine Unterthanen Neger wären, damit er sie verhandeln und zu Gelde machen könne.“

Doch alle Klagen und Warnungen, alle die bitteren Wahrheiten, welche die Opposition dem Ministerium in’s Gesicht schleuderte, blieben vergeblich; von seiner gewohnten Majorität unterstützt, trug dieses den Sieg davon, trotzdem, daß auch im Oberhause gewichtige Stimmen gegen die schmachvollen Verträge laut wurden, ja der Herzog von Cumberland, ein Bruder des Königs, die in dem Munde eines Fürsten der damaligen Zeit befremdenden Worte sprach: „Ich habe mich diesen Bedrückungsmaßregeln von jeher widersetzt und stimme den die Handlungsweise der Minister tadelnden Bemerkungen von Herzen bei. Ich beklage es, sehen zu müssen, daß Braunschweiger, welche früher einmal zu ihrer großen Ehre die Unterthanenfreiheit erkämpfen halfen, jetzt ausgesendet werden, um in einem anderen Theile unseres großen Staats die constitutionelle Freiheit zu unterdrücken.“

Die Zahl der von Braunschweig in dem englisch-amerikanischen Kriege gelieferten Truppen betrug den siebenundzwanzigsten Theil der Gesammtbevölkerung des Herzogthums, und der Landgraf von Hessen lieferte gar ein Zwanzigstel seiner Unterthanen oder das Viertel der waffenfähigen Männer. Man nahm die jungen Leute, wo man sie fand, hinter dem Pfluge, aus der Werkstatt, oder von der Landstraße hinweg, und Keiner war sicher vor den untergeordneten Werkzeugen der Fürsten, welche dieses schandbare Gewerbe trieben. Fast jede Familie in Hessen betrauerte eins ihrer Mitglieder. Heiterkeit und Lebenslust waren aus den Kreisen des Landvolkes entschwunden. Der größte Theil der Feldarbeit mußte von Frauen verrichtet werden, deren verkümmertes Aeußere ein beredtes Zeugniß ablegte von der Wuchergier ihres verächtlichen Fürsten.

In einem Briefe an Voltaire sprach der Landgraf, indem er seine Truppenlieferungen erwähnte, den Wunsch aus, die schwierigen Principien der Regierungskunst kennen zu lernen und zu erfahren, wie man die Unterthanen zu der Einsicht bringen könne, daß Alles, was ihr Herrscher thue, zu ihrem Besten sei. Eben so schrieb er einen Katechismus für Fürsten, worin Voltaire die Hand eines Schülers des Königs von Preußen zu erkennen glaubte.

„Legen Sie seine Erziehung nicht mir zur Last,“ antwortete der große Friedrich. „Wäre er ein Zögling aus meiner Schule, so wäre er nimmermehr katholisch geworden und hätte eben so wenig seine Unterthanen an die Engländer verkauft, wie man Mastvieh zur Schlachtbank treibt. Er will Fürsten belehren! Die schmuzige Leidenschaft der Habgier ist der einzige Beweggrund seiner niedrigen Handlungsweise.“

Ja, aus Habsucht verkaufte er das Fleisch seines eigenen Volkes, beraubte viele seiner Unterthanen des Lebens und sich selbst der Ehre. Während die Herzen der Einsichtsvollsten und Besten in Deutschland für die Sache der Amerikaner schlugen, zwangen der Landgraf von Hessen und seine edlen Vettern die rüstige Jugendkraft seines Landes, die Freiheit zu bekämpfen, welche das Kind der deutschen Wälder und das moralische Leben der deutschen Nation war.

Die an schwarzen Blättern so überreiche Geschichte unserer deutschen Fürstenhäuser hat kaum ein schwärzeres aufzuweisen, als das, worauf dieser schmachvolle Menschenhandel verzeichnet steht, aber die ewige Gerechtigkeit hat es benützt, nicht das schwächste Glied in jener Reihe von Bestrebungen zu bilden, durch welche die Nationen auch den letzten Rest der „guten alten Zeit“ austilgen und die bürgerliche Freiheit ihrem endlichen Siegeslaufe um die Erde entgegenführen werden. Gott sei Dank, daß wir Jetztlebenden diesem Ziele um ein gut Stück näher gerückt sind!




Stillleben einer Dichterin der Jetztzeit.
Von Joseph Dessauer.
1.

Ein heißer Augustmorgen des verflossenen Jahres war es, an dem wir drei Passagiere in das enge Coupé der von Orleans nach Châteauroux gehenden Diligence gepfercht wurden. Was ich in diesem qualvollen Zustande von der Gegend sah, war nicht geeignet, mich zu erheitern. Weite, unbebaute Felder, von Ulmen und Pappeln gradlinig durchzogen, – die letzteren noch dazu bis zu den Gipfeln ihrer Zweige beraubt – schlechte Bauernhütten und zuweilen ein dürftig gekleideter Mensch gaben ein trauriges Bild, durch das sich hügelauf, hügelab die unabsehbare Straße zog.

Etwa eine halbe Stunde vor dem Städtchen La Châtre liegt das Dorf Nohant und in ihm, dicht an der Heerstraße, das Haus der Sand, der auch in Deutschland hochverehrten, aber auch vielgeschmähten Dichterin, der größten Schriftstellerin unserer Tage. Allgemein und selbst auf den gedruckten Fahrtabellen der Eisenbahn wird es nur „le château de Mme. Sand“ genannt, ein Titel, der ihm allein schon durch den Vergleich mit seiner bescheidenen Umgebung unstreitig gebührt. Erst unweit dieses „Schlosses“ wird die Scenerie etwas anmuthiger und erfreulicher. Die Felder, auf denen nur Haidekrant und Ginster wuchsen, weichen mehr und mehr grünen Wiesen, dichte Wälder kleiner Eichen ziehen sich weit nach den blauen Bergen hin, die im Hintergrunde reizende Linien bilden. Nur Wasser vermißte ich; aber es fehlt nicht daran, denn die gelbe Indre fließt durch die Vallée noire, die hier beginnt. Auffallend sind die zahllosen Schafheerden, die, von flachsspinnenden jungen Mädchen gehütet, umher weiden. Unter ihnen mag G. Sand ihr Original zur petite Fadette, aus der die Birch-Pfeiffer ihre bekannte „Grille“ entlehnte, gefunden haben.

An einigen elenden Bauernhütten und einem erbärmlichen Schulhause vorüber gelangten wir endlich an den Garten des Schlosses, der hier an die Landstraße stößt und blos durch ein kleines Holzgitter von ihr getrennt ist. Das Gebäude selbst ist nur wenig sichtbar, doch von dem Garten her winken blühende Oleandersträuche und herrliche Exemplare uralter Bäume. Der Conducteur steigt ab, legt meinen Mantelsack auf die staubige Chaussee, ruft mit gewaltiger Stimme: „Henri! Henri!“ und jagt mit seinem Vehikel weiter. Da stehe ich nun, obschon ich einer ausdrücklichen Einladung der berühmten Frau nach ihrem Tusculum gefolgt bin, an der zugeschlossenen Gitterthür; Henri bleibt unsichtbar, er mag wohl noch schlafen; denn was schläft nicht Alles in Frankreich um acht Uhr Morgens! Da bleibt nichts übrig, als den Eingang wo anders zu suchen. Den schweren Mantelsack nachschleppend, biege ich um die Ecke und gelange auf einen freien Platz, in dessen Mitte sich eine halbverfallene Kirche und prachtvolle, hundertjährige Buchen und Ahornbäume erheben.

Zur Seite, dicht an dem Meierhofe, öffnet ein großes eisernes Gitter das Vorgärtchen des Schlosses. Endlich erscheint Henri, ein freundlicher Mann in blauer Blouse, einem Bauer nicht unähnlich. Er sagt mir, daß im Schlosse noch Alles schlafe und daß er eigentlich nicht wisse, was er mit mir anfangen solle. „Nun, so wecken Sie irgend Jemanden – hier haben Sie meine Legitimation.“ Ich gab ihm den Einladungsbrief seiner Gebieterin – „daraus werden Sie sehen, daß ich kein Vagabund bin.“ Ein zweiter Hausgenosse trat nun dazu; da aber, wie es schien, Beiden das Entziffern geschriebener Buchstaben nicht geläufig war, so verschwanden sie mit dem Briefe und ließen mich eine Zeit lang vor der Thür allein. Das hatte ich mir freilich nun Alles ganz anders [300] gedacht – aber warum verschwieg ich auch meine Ankunft? Ueberraschungen sind gewöhnlich mißlicher Natur. Nach einer Weile kamen die Boten und zwar freudigen Antlitzes zurück. Man öffnete mir Thüren und Thore, führte mich in ein niedliches Zimmer im ersten Stocke und trug mir im Namen des Herrn Manceau irgend eine Labung an. „Wer ist Herr Manceau?“ frug ich; „habt Ihr denn nicht mit Madame Sand gesprochen?“

„Die schläft noch fest,“ war die Antwort; „auch Mr. Manceau schlief, den haben wir aber geweckt. Da er alle Geschäfte des Hauses und der Wirthschaft besorgt, so mußten wir ihm ja Ihren Brief geben. Nun, Sie werden ihn schon beim Frühstück kennen lernen.“

Die liebe kleine Zelle, die mir angewiesen wurde, heimelte mich sogleich an. Alles darin war gar so wohnlich, und zum offenen Fenster drang der Duft blühender Clematis und das Girren der Turteltauben so lieblich herein! Ich warf mich in das reinliche Himmelbett und verträumte ein paar Stunden, bis die Glocke zum Frühstück rief. Das geschah um zehn Uhr – ich eilte in den Salon hinab, wo ich Maurice, den Sohn des Hauses, in einem Kreise mir fremder Leute fand. Er hieß mich freundlich willkommen und stellte mich den Anwesenden vor, unter anderen Herrn Manceau, der sich wegen der Schwierigkeiten entschuldigte, die mir gleich beim Eintritte in das Haus bereitet wurden. – Maurice Sand, den ich vor 21 Jahren als Jüngling verlassen hatte, war nun zum Manne herangereift. An seiner Seite saß sein liebes Weibchen, die Tochter des berühmten Kupferstechers Calamatta, die ihn erst vor wenigen Wochen mit einem Knäblein beschenkt hatte. Auf dem Antlitze der jungen Gatten ruhte der Friede einer glücklichen Ehe.

Schloß Nohant.

Maurice theilte mir mit, daß er die Malerei, seinen ursprünglichen Beruf, jetzt an den Nagel gehangen und ernste Wissenschaft zu seinem Lebenszwecke gemacht habe. Dabei treibe er Schriftstellerei, wozu er sich durch den glücklichen Erfolg von ein paar kleinen Werken aufgemuntert sehe. Nach einer Stunde bewegten Gesprächs trat die Herrin des Hauses, Madame Sand, rasch herein. Sin streckte mir mit unendlicher Freundlichkeit die Hände entgegen, hieß mich herzlich willkommen und fügte dann hinzu: „Armer Freund, Sie haben durch die Hände der Kerkermeister gehen müssen! Das war Ihre Schuld, warum haben Sie sich nicht vorher angekündigt?“ Ueberwältigt von der Freude des Wiedersehens und erstaunt über das so wenig veränderte Aussehen der Eintretenden, war ich kaum einer Antwort mächtig. Wie war es möglich, daß eine so lange Reihe von Jahren nicht stärkere Spuren auf Antlitz und Haltung zurückgelassen hatte! Das war noch dasselbe junonische, leuchtende Auge, die edel gebogene Nase, dasselbe volle Haar, das nur an den Schläfen ergraut war. Haben auch die nahen Sechziger manche Falte in das volle, südlich gefärbte Gesicht gezogen, so hat es, vorzüglich beim Sprechen, noch die fast jugendliche Frische und den heiteren Ausdruck der Vergangenheit. Das Organ ist unverändert, laut und klangvoll. Am meisten hat die Taille gelitten, die zwar früher auch nicht zu den schlankesten gehörte, jetzt aber die normale matronenhafte Stärke hatte. Die Toilette war ein einfaches Morgenkleid, darüber ein weißes Camisol, das Haar zur Seite geglättet, rückwärts in ein Netz von Chenille geschlagen, was dem Kopfe etwas Imposantes, Antikes verlieh.

Ich gebe diese Details zumeist meinen Leserinnen zu Liebe, denen ich auch die tröstliche Nachricht mittheilen kann, daß Mad. Sand eine Crinoline, wenngleich nur eine äußerst bescheidene, trägt. Weniger lobenswerth werden sie es finden, daß die Dichterin noch immer ihre kleinen Papiercigaretten raucht, die ihr Manceau schachtelweise liefern muß.

Die herrliche Wirthin war so guter Laune, so geschwätzig, wußte noch so manches Heitere zu erzählen, was wir im Freundeskreise vor mehr als zwanzig Jahren erlebt hatten, daß ich über die Kraft ihres Gedächtnisses staunen mußte. Es ist ein charakteristischer Zug dieser so groß angelegten Natur, für das Komische, selbst wenn es zum Kindischen wird, so frischen Sinn zu haben. Wie herzlich lacht die Frau nicht bei Veranlassungen und Worten, die gewöhnlich nur Kinder belustigen! – Plötzlich verlangte sie nach ihrem Enkelchen, das nun sogleich hereingebracht wurde. In wahrem Entzücken fiel sie darüber her, küßte dem Kleinen Händchen und Füßchen, nannte es ein über das andere Mal „notre Empereur“ und stellte ihn mir endlich mit hochtragischer Miene und den Worten vor: „Er heißt Marc Antonius. Kommen Sie in den Garten, meine Freunde, um das Kind anzubeten, es ist die Stunde dazu!“

[301] Behutsam nimmt sie den Kleinen aus den Armen der Mutter und trägt ihn triumphirend in den Garten hinaus. Dort, unter hohen schattigen Bäumen, versammelt sich jeden Vormittag die Gesellschaft und bleibt, trotz Hitze und stechender Insecten, bis ein Uhr zusammen. Die zärtliche Großmutter kann sich nicht entschließen, das Kind von ihrem Schooße zu geben, erzählt ihm jetzt schon allerlei Geschichten und behauptet steif und fest, es nehme bereits Antheil an der Außenwelt. Dabei unterstützt sie der sarkastische Manceau, indem er versichert, der Kleine wisse jetzt schon eine Cotelette von einer Nachthaube zu unterscheiden.

Je derber derlei Witze ausfallen, desto mehr lacht die gute Großmutter, die, wie es scheint, in diesen wenigen Vormittagsstunden ihren Geist blos erheitern lassen will, sei das Mittel dazu auch noch so unbedeutend. Um ein Uhr erhob sie sich mit den Worten: „Kinder, es ist Zeit zu arbeiten,“ küßte den Kleinen noch ein Dutzend Mal, übergab ihn der Mutter und zog sich in das Haus zurück.

George Sand.
Nach einer Photographie jüngster Zeit.

„Arbeitet denn Ihre Mutter jetzt bei Tage?“ frug ich Maurice; denn aus früheren Zeiten wußte ich, daß nur die Nächte dazu verwendet wurden.

„Nur einige Stunden,“ war die Antwort, „aber die Hauptarbeit geschieht doch während der Nächte. Die gute Mutter schreibt unausgesetzt von elf Uhr Nachts bis vier Uhr Morgens; oft noch etwas länger. Um ein Uhr nach Mitternacht nimmt sie etwas Speise zu sich. Zum Schlafe genügen ihr wenige Stunden, Sie haben gesehen, daß sie heute schon um elf Uhr unter uns saß, und da hatte sie ihr Frühstück bereits auf ihrem Zimmer eingenommen.“

Nun wußte Jeder irgend etwas Charakteristisches und Lobendes zu erzählen: als das größte Lob aber erschien mir die Begeisterung, mit der die junge Schwiegertochter von ihr, als der besten aller Mütter, sprach. – Darauf bat ich Maurice, mich ein Bischen im Hause herumzuführen. Hier das ziemlich genaue Bild davon.

Ueber einige Stufen, die ein dichter, blühender Bogen von Clematis umlaubt, gelangt man aus dem Garten in den luftigen Speisesaal, dem zur Linken der eigentliche Salon und zur Rechten die Zimmer des Sohnes und seiner Familie sich anschließen. Alles ist in großartigem, aristokratischem Style angelegt und mit Comfort, wenngleich nicht mit Luxus, meublirt. In der Mitte des Salons steht ein langer Tisch, um den sich Abends bei dem Scheine einer einzigen, noch dazu beschirmten Lampe die ganze Gesellschaft schaart. Ein Pianino, ein paar antiker Kasten mit vielerlei Raritäten, ein zierlicher Kamin, mit dem eleganten Zubehör, und altfränkische Meubles garniren die Wände. An den Tapeten hängen Bilder aller Art: Portraits und Genrebilder, historische Gemälde und Aquarellveduten. Von den Portraits fielen mir drei am meisten auf: das Bildniß des Marschalls von Sachsen (des eigentlichen Ahnherrn der Sand), das Bild der schönen Gräfin Königsmark und jenes ihres eigenen Vaters, in Husarenuniform. Nie sah ich ein edleres Antlitz und geistreichere Augen, die an Größe und Glanz nur mit denen der Tochter zu vergleichen sind.

Eine breite, gebogene Stiege, auf der die Büste der Malibran steht, führte in den ersten Stock, zu zwei rechts und links laufenden Corridoren. An beiden Seiten derselben liegen die Schlaf- und Fremdenzimmer, mit der Aussicht theils nach dem Garten, theils in den Vorhof, den ein großes Gebüsch in der Mitte ziert An diese Fronte sind kleine, mit Thürmchen versehene Vorsprünge gebaut, ebenfalls bewohnbar, und dem Ganzen eine Art feudalen Charakters gebend. In aller diesen Gemächern herrschen die größte Ordnung und Reinlichkeit. Die Zimmer der Hausfrau gehen nach dem Garten, doch war jetzt nicht die Zeit, sie in Augenschein zu nehmen. Dafür traten wir bei Manceau ein. Es sah bunt und originell aus in seiner Clause. An den Wänden Gypse, Bilder, Skizzen aller Art, algier’sche Waffen, chinesische Mützen, trockene Blumenkränze, kurz ein artistisches Untereinander. Er selbst saß an einer Blende und war in einer Arbeit vertieft. Jetzt erst sollte ich erfahren, daß er ein Kupferstecher, und zwar einer der hervorragenden in Frankreich ist. Aber mit welcher Selbstironie zeigte er uns seine Arbeit!

„Sehen Sie,“ sprach er, „das freut mich Alles wenig, aber wenn ich Literatur treibe und mir einbilde, ein Schriftsteller zu sein, bin ich im Paradiese.“

„Was? Sie schriftstellern auch?“

„Nun, in den Jahren, die ich jetzt hier bin, habe ich schon Etwas lernen können. Sehen Sie, ich bin mit der Idee hergekommen, acht Tage zu bleiben, und bin jetzt dreizehn Jahre hier. Und so wie mir ist es noch Jemandem gegangen, der ebenfalls für ein paar Tage kam und den man Jahre lang nicht fortkriegte.“

„Das ist wahr,“ sagte Maurice, „aber es geschah zu unserm allerseitigen Behagen.“

Manceau gebot plötzlich Stillschweigen, denn Madame, die nicht weit von uns arbeite, könne uns hören. Wir trennten uns, und ich suchte mein Bett auf; die schlaflose Nacht lag noch wie Blei in meinen Gliedern. Nach wenigen Stunden süßen Schlafes weckte mich das Bellen des Haushundes und das Vorfahren [302] einer Kutsche. Es war 4 Uhr Nachmittags, und Madame Sand fuhr zur Indre, in’s kalte Bad. Nach einer starken halben Stunde kehrte sie in’s Schloß zurück. Hier wurden bereits Anstalten zum Diner gemacht. Es sollte im Garten, auf dem freien Platze servirt werden, den man beim Herabsteigen aus dem ersten Salon betritt. Die Tafel stand, anmuthig gedeckt, unter einem duftenden Bogen von Clematis. Um sechs Uhr kamen die Damen in frischer, leichter Sommertoilette herab.

Madame Sand, weit entfernt darin irgend einen Luxus zur Schau zu tragen, weiß doch jederzeit elegant, einfach und ihrem Alter angemessen zu erscheinen. Sie giebt selbst den Schnitt und die Verzierung ihrer Kleider an, die immer nur geringen Aufwand erfordern. Das Haar trug sie wie am Morgen, doch diesmal in einem etwas reicheren, dunkelrothen Netze und um die Stirn einen Epheuzweig. Bei einer anderen Matrone hätte das ein bischen prätentiös ausgesehen, aber bei dieser anspruchslosen, ursprünglichen Natur erscheint alles ungesucht. Wahrscheinlich hatte das liebe Schwiegertöchterchen die angebetete Mutter bekränzt.

Das Diner war aufgetragen. Wir nahmen unsere Plätze ein und machten ihm Ehre, denn die Wahl der Speisen und ihre Zubereitung waren auf gleicher Höhe. Doch die sorgsame Hausfrau blieb mehr Zuschauerin als Mitwirkende. Ein großes, schlankes Mädchen bediente uns; es war mir schon des Morgens beim Frühstück aufgefallen. Marie, so hieß es, hatte eines jener feinen, echt französischen Gesichtchen, das, von einem niedlichen Bauernhäubchen eingerahmt, an die bekannte Chocoladiere in der Dresdner Gallerie erinnert. Ihr übriger Anzug war städtisch, doch gab die Schürze, die über das ganze Kleid herabfiel, dem Ganzen einen fast klösterlichen Charakter. Hinter ihr her humpelte ein zweiter dienender Geist, ebenfalls ein Mädchen, das nun freilich in Gestalt und Art mit der graziösen Marie bedeutend contrastirte. Als ich Madame Sand mein Wohlgefallen an dem ländlichen Ariel äußerte, theilte sie mir Folgendes mit: „Marie, die Tochter eines Bauern, ist unter meinen Augen aufgewachsen, hat mancherlei gelernt und ist ein entschiedenes Bühnen-Talent. Sie spielt gewöhnlich die Hauptrollen in den Stücken, die ich für mein Haustheater schreibe, und übertrifft an Wahrheit und natürlicher Grazie alle ihre Rivalinnen. Wie schade, daß Sie das Mädchen nicht auf den Bretern sehen können! Sie wären gewiß derselben Meinung.“

Da das Thema des Theaters angeschlagen war, so frug ich sie, ob sie von der Bearbeitung ihrer Fadette für die deutsche Bühne etwas wisse. Sie verneinte es, freute sich aber sehr, als ich sie von dem Erfolge der „Grille“ unterrichtete.

„Ja, Marie ist ein entschiedenes Genie für’s Theater,“ fiel Manceau ein; „wir sind übrigens alle Kraftgenies und Tausendkünstler, die wir in der Atmosphäre von G. Sand leben, von père Matthieu angefangen. In diesem verzauberten Schlosse geschieht Alles durch die Hände seiner Bewohner. Der Nagel, der in die Wand geschlagen wird, und das Bild, das daran hängt, sind Werke unserer eigenen Geschicklichkeit. So ist der junge Mann, der Ihnen heute Morgens bald die Thür vor der Nase zugeschlagen hätte, unser Tapezierer, Vergolder, Theaterschneider, Decorateur und zur Noth dramatischer Künstler selbst. Mit père Matthieu hat es aber eine eigene Bewandtniß. Der ist blos Zimmermann, hat sich aber zum Haustischler emporgeschwungen. Jeden Monat macht er schweigend die Runde im Schlosse, untersucht die Möbel, Fensterrahmen und sonstiges Holzwerk, die schadhaften Stücke werden mitgenommen und reparirt; findet er aber, daß irgendwo ein Tisch oder ein Kasten am Platze wäre, so macht er sie neu, so gut es eben geht, und stellt sie, immer schweigend, hin. Ende jeden Monates bringt er seine Rechnung, läßt sie sich zahlen und geht, ohne den Mund geöffnet zu haben, fort. Nun, das wäre Alles noch in der Ordnung. Was sagen Sie aber dazu, daß er blos seinem Willen folgt? Wehe Ihnen, verlangen Sie irgend ein Möbel oder eine Reparatur von ihm, er giebt Ihnen kein Gehör; Sie bleiben so lange auf Ihrem zerbrochenen Stuhle, an Ihrem wackligen Tische sitzen, bis er selbst einmal es für gut findet, die Patienten in die Cur zu nehmen.“

„Und ein solches Original behalten Sie?“ frug ich die Sand.

„Was ist zu thun?“ antwortete sie. „Der Mann ist über siebzig Jahre und hat mich zur Welt kommen sehen. Kann man dem zürnen? Im Gegentheil – mich amüsirt sein Treiben.“ Die Tafel war unter Lachen aufgehoben, und schnell wurden hölzerne Kugeln herbeigebracht, mit denen man ein Spiel im Freien begann.

Ich begnügte mich mit dem Zusehen, staunte aber über die Geschicklichkeit der Sand, die fast immer am glücklichsten und sichersten warf. Das hereinbrechende Dunkel machte der Sache ein Ende. Die Lampe im Salon brannte bereits, und die Gesellschaft ließ sich in lautem Gespräch um den langen Tisch nieder. Madame Sand zog Spielkarten hervor und begann eine Patience. „Sehen Sie, lieber Freund, dieses Spiel treibe ich nun über 30 Jahre und lege noch dazu immer die nämliche Patience – freilich habe ich eine Menge Finessen dazu erfunden. Aber Sie können etwas Besseres spielen, als das – öffnen Sie das Pianino, ich lechze nach Musik, nach Mozart, Beethoven, Weber – nur ja keine Zeit verloren, wir sind ein andächtiges Publicum.“

„Don Juan! Don Juan!“ schrie man von allen Seiten. Ich mußte mich zum Clavier setzen und spielte so ziemlich die ganze Oper unter Jubeln und Jauchzen meines Auditoriums.

„Und jetzt den Freischütz!“ rief die Sand, die längst die Patience bei Seite geschoben hatte und deren Augen leuchteten. –

„Nun genug für heute, mein alter Freund,“ sprach die liebenswürdige Hausfrau, als der letzte von Weber’s süßen Klängen verhallt war; „Sie bedürfen der Ruhe. Mögen Ihnen die Schatten Mozarts und Weber’s Rosenblätter auf das Lager streuen! Oder ohne Poesie: schlafen Sie süß, bis in den hohen Tag hinein!“

Alles ging auseinander und Jeder suchte sein Zimmer auf.

Gewöhnt, am frühen Morgen aufzustehen, verließ ich mein Lager, als noch Alles im Haust fest schlief. Die Hitze war erträglich, und so konnte ich die Partien des Gartens aufsuchen, die uns in späteren Stunden der „angenagelte Sonnenschein“ (um mit dem uns unlängst entrissenen Hebbel zu sprechen) unnahbar machte. Ich betrat den Blumengarten, der dieses Jahr wohl gelitten hatte, aber noch immer des Schönen vielerlei bot.

„Ich mache Ihnen mein Compliment,“ redete ich den Gärtner an, „daß Sie bei dieser afrikanischen Hitze so Schönes und Mannigfaltiges geleistet haben.“

„Unsere Dame liebt die Blumen leidenschaftlich,“ erwiderte er, „ist selbst eine tüchtige Botanikerin und hütet ihre Pflanzen wie die Kinder.“

„Also daher mag es wohl kommen, daß ich keine Bouquets und Blumentische im Hause entdeckte?“

„Sie würde böse werden, wollte ich die Zimmer damit versorgen. Das blüht und verblüht an seinem Orte und seiner Stelle. Doch nun sehen Sie sich auch den Küchengarten und unsere Obstbäume an. Alles, was nur das Haus davon bedarf, wird da gezogen.“ Und da mußte ich von Kohlstaude zu Rübe, von Aprikose zu Pfirsiche wandern, bis wir endlich an ein kleines Wäldchen kamen, das Mad. Sand, wie ich später erfuhr, ihr „petit Trianon“ nennt. Kaum giebt es auf Erden ein anmuthigeres Bosquet, als dieses. Man ließ es wild heranwachsen und zog nur schmale Wege durch, die mit feinem Kies belegt sind. Den Boden bedeckt dichter Waldepheu; er umspinnt die Bäume und fällt an hundert Orten malerisch von ihnen herunter. Man glaubt in einem Urwalde zu sein, denn kein Strahl der Sonne erhellt dieses Gewirr von Baum und Schlingpflanze. Aller Augenblicke wird das Auge von irgend einem mit Geschmack, aber höchst einfach ausgeführten besonderen Gegenstande überrascht. Da giebt es enorme Lehnstühle, zu denen sich die Zweige und Stämme der Bäume hergeben mußten, kleine Brücken führen über ein Bächlein, das diese Wildniß durchzieht; plötzlich bildet es ein niedliches Becken, das von Farren und blauem Agapanthus eingerahmt und mit blühenden Nymphäen bedeckt ist. Hier ladet ein einfacher Kiosk, dort eine Eremitage zum Ausruhen ein.

„Sehen Sie,“ sagte der Gärtner, „diese abscheuliche Einsiedelei hätte uns vor einigen Jahren bald unsere gute Frau geraubt. Sie saß da lange, lange, bis in die Nacht hinein, wahrscheinlich um zu dichten, und als sie in’s Schloß zurückkam, war sie todtenbleich, hatte das Fieber und verfiel sogleich in schreckliche Phantasien. Der Arzt von La Châtre erklärte den Zustand für höchst gefährlich, man schrieb um drei der größten Aerzte nach Paris – doch als die kamen, – und das geschah wunderbar schnell – war das Fieber verschwunden und Madame auf dem Wege der Besserung. Ja, die hat eine starke Natur, und Gott wird sie uns gewiß noch lange erhalten! Aber die Folgen der Krankheit dauerten lange, und ich glaube, sie ist noch immer etwas leidend davon, nur gesteht sie es nicht, wenn man sie fragt. Sie ist dann nur immer etwas ernster.“

[303]
Blätter und Blüthen

Baierische Jäger und Wildschützen. Seit undenklichen Zeiten haust in unserem Hochgebirge ein unbarmherziger Kampf zwischen Jägern und Raubschützen. Nicht Rache und Nothwehr nur führen zu einem oft blutigen Ausgang, – es ist ein wahrhaftiger Erbkrieg, der mit traditionellem Zorn und jägerischer Leidenschaft geführt und dauern wird, so lange noch eine Gemse über den Schnee springt. Dabei glauben sich beide Theile im zweifellosen Rechte, was sie mit all der rücksichtslosen Entschlossenheit des altbaierischen Charakters vertheidigen. Der Eine vermeint sich in seinem Naturrechte schwer verletzt, weil er dafürhält, „das Wild sei ein allgemeines Ding, was nur der liebe Gott ernährt, und woran Niemand durch Wart’ und Pflege sich ein besonderes Anrecht erworben, und es gehöre Allen gemeinsam wie Luft und Wasser!“ Der Andere hält mit soldatischer Unbedenklichkeit am positiven Recht und übt einfach seine Pflicht, wie es einem tapferen und treuen Manne zusteht. Reue und Gewissensscrupel sind dabei nicht gebräuchlich.

So erzählte mir ein alter Jäger gelegentlich, daß er einmal lange am Schusse eines Wilddiebes darnieder gelegen, den er wohl gekannt, aber nicht angezeigt habe, weil er dies für unnütz und die Selbsthülfe sicherer hielt, und schloß endlich sehr lakonisch mit den Worten: „Auf d’letzt hab’n ihn halt doch d’Füchs noch g’fressen!“ Ein Anderer bekam gleich beim Eingang in den Wald aus einem Hinterhalte einen Streifschuß an der Wange. Rasch besonnen, riß er sein Gewehr herunter und streckte den davoneilenden Thäter nieder. Als er zu ihm hinging, um sich gleichsam kurz zu entschuldigen, daß er nach solchem Vorgang nicht wohl anders gekonnt habe, sagte dieser: „Halt’s Maul! jetzt ist’s schon einmal nicht anders! Hol’ mir lieber geschwinde den Herrn!“ (d. h. den Geistlichen.) Er sei nun auch über Hals und Kopf in’s nächste Dorf gelaufen und habe den Pfarrer geholt; als sie aber zurückkamen, fanden sie den Verwundeten bereits todt.

Der Jäger bedauerte durchaus nicht diesen selbstverständlichen Ausgang, sondern nur, daß er sich vergeblich abgehetzt habe und der Bauer doch ohne Beichte und Absolution gestorben war. Es mag von Humanitätswegen sehr viel gegen diese Zustände vorzubringen sein, die Hauptbetheiligten kümmern sich aber wenig darum und lesen auch die Oelblätter Elihu Burrit’s nicht, und so wird wohl noch manchen Mannes Gebein bleichen im Sonnenschein und Mondlicht droben in der Alpenwüste, ungesehen und unbegraben, bis der ewige Friede eingeführt wird! Man muß es hinnehmen als ein Stück Naturleben, das wie ein wilder Baum seine Schossen lustig hinaus in die freie Luft treibt, über das verstutzte Gestrüpp der Cultur. Es gehört zur Romantik der Berge und ist verwebt in ihr Leben, wie in ihre Sagen und Lieder! Ohne übrigens lange philosophische Betrachtungen anzustellen, will ich einige charakteristische Geschichten erzählen, wie sie dort zu Hunderten bekannt sind und stets mit neuen vermehrt werden. Ich entlehne sie aus dem hübschen Buche: „the chamois hunting in the mountains of Bavaria“ meines Freundes Charles Boner, der sich auf seinen Gemsfahrten viele dergleichen aus dem Munde der Betheiligten selbst hat erzählen lassen.

Der junge Forstgehülfe K. ging einmal – es war im Jahre 1848 – den steilen Bergrücken, die Geidauer Eibelspitz genannt, entlang. Gerade darunter liegt eine einsame Hütte auf einer grünen Alm am Fuße hoher wilder Felsen. Er sah um die Hütte eine Menge Menschen stehen, und als er mit seinem Fernrohr genau hinblickte, konnte er dreiundzwanzig Männer zählen, sämmtlich mit Gewehren. Es waren kurz zuvor zwei Jäger von Wilderern erschlagen worden. Da kam ihm der Jägerzorn und er sann und sann, wie er wenigstens einen Schuß unter die vermaledeite Bande anbringen könnte. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen, bis sie sich endlich in Bewegung setzten und einen engen steilen Pfad, der gerade über die Eibelspitz führt, Einer hinter dem Andern, emporstiegen. Er schnitt ihnen nun den Weg ab und legte sich in den Latschen (Krummholzkieferstauden) in den Hinterhalt.

Nach ungefähr einer Stunde hörte er sie zusammen sprechen und bald wurde er ihrer an einer Wendung des Pfades ansichtig. Als der Vorderste auf achtzig Schritte an ihm war, nahm er ihn auf’s Korn und schoß ihn mit dem Büchsrohr seines Doppelgewehres steintodt nieder! Die Bauern prallten zurück, und er hörte sie nun laut und heftig debattiren, was da zu machen sei, ob man umkehren solle oder die Latschen durchsuchen. Einige waren für den Rückzug. Einer aber stellte ihnen lebhaft vor, daß es doch eine Schande sei, so ohne Weiteres davonzugehen! und wenn auch sechs und sieben Jäger in den Latschen versteckt lägen, was wolle das bedeuten gegen ihre Uebermacht, und für zweiundzwanzig Männer sei es ja eine entsetzliche Feigheit, vor so einer Hand voll Feinden zu weichen! Er schloß endlich: „Komme es, wie es wolle, und ob die Anderen ihm folgen würden oder nicht, sie könnten’s halten, wie sie wollten, er aber werde vorwärts gehen!“ und damit schritt er mit gespanntem Hahne gerade auf den Platz los, wo K. versteckt lag. Dieser ließ ihn auf sechszig Schritte herankommen und drückte den linken Lauf auf ihn ab. Der Bauer drehte sich um und um, stand noch einen Augenblick und fiel zu Boden.

Die Bauern kehrten um, K. aber, der nun nichts mehr im Gewehr hatte, huschte so schnell und leise als möglich durch die Latschen zurück, den entgegengesetzten Abhang hinab und schlug den Weg nach Bairisch Zell ein.

Als er an den Steg kam, der dort über einen Wildbach führt, hielt er an, um sein Gewehr zu laden. Es fing bereits an zu dunkeln, und er that deshalb nur in den Büchslauf eine Kugel, in den andern aber auf alle möglichen Fälle einen tüchtigen Schrotschuß. Beim Laden kam ihm der Gedanke, ob die Bauern nicht vielleicht diesen Steg auf ihrem Heimweg passiren müßten und er sie noch einmal mit einer Ladung bewillkommnen sollte; er setzte sich daher auf Schußweite vom Stege in die Büsche.

Er mochte wohl eine Stunde gepaßt haben, als er Stimmen hörte, und bald darauf kam zu seiner Freude die ganze Rotte daher. Es war indeß ziemlich dunkel geworden, und er konnte gerade noch unterscheiden, daß sie Alle Gewehre trugen und also seine alten Bekannten waren. Als sie nun am Eingange des Steges dicht gedrängt aneinander standen, feuerte er mit Schrotschuß mitten in die Rotte hinein. Man kann sich das Erstaunen des Haufens denken, auch da wieder auf den räthselhaften Feind zu stoßen. Der Jäger zog sich aber sogleich ganz sachte rückwärts und ging, ohne sich weiter um etwas zu bekümmern, auf heimlichen Wegen ruhig nach Hause.

Die Bauern laborirten aber noch lange an dem Schrecken, den ihnen der unsichtbare Schütze eingeflößt hatte, und haben wohl noch bis auf den heutigen Tag nicht erfahren, wer es war! K. erzählte es erst seinen Cameraden, als er schon längst aus der Gegend wegversetzt worden war. Uebrigens war nur der, auf welchen der erste Schuß fiel, todt geblieben. Dem zweiten war der Arm zerschmettert, so, daß derselbe amputirt werden mußte; der Schrotschuß hatte zwar einige tüchtig getroffen, sie kamen aber ohne weiteren Schaden davon. Der Gebliebene war der einzige Sohn eines wohlhabenden Bauern bei Schliersee. In der Mitternacht nach dem Vorfall klopfte es bei seinen Eltern an’s Fenster, und eine ihnen ganz unbekannte Stimme rief: „Wenn Ihr Euren Buben sucht, so geht auf die Geidauer Eibelspitz!“

Da fanden sie ihn denn am andern Morgen richtig genug!

Wenn vorstehende Erzählung die Todfeindschaft zwischen Jägern und Wilderern zeichnet, so mag die nachfolgende diesen Groll verzeihlich finden lassen, und die Jäger einigermaßen entschuldigen, wenn sie zuweilen sich gezwungen glauben, wenig Federlesens zu machen.

Zacharias Werner, gewöhnlich kurzweg Zacherl genannt, war einer jener vielseitigen Bursche, wie sie in seiner Heimath oft vorkommen. Er war Zimmermann, Gärtner, Fischer und noch allerlei anderes zugleich, vor allem aber ein unverdrossener Jäger aller Künste. Zur Zeit des Vorfalls war er Jagdgehülfe zu Reichartsbeuern bei Tölz an der Isar. Bei einem seiner gewöhnlichen Pirschgänge kam er an eine der kleinen Heuschoppen, wie sie im Gebirge zerstreut liegen und dem Jäger, oder wer sonst die Nacht über kommt, ein stets bereites Lager bieten. Es war mitten im Sommer und noch gut an der Zeit. Er mochte aber nicht nach Hause gehen, weil er den ganzen Tag kein Wild gesehen hatte und lieber droben übernachten wollte, um mit dem frühesten Morgen sein Glück noch einmal zu versuchen. Er legte sich mit seinem Schweißhunde in’s Heu und schlief bald ein. Nach einigen Stunden etwa weckte ihn das Knurren seines Hundes; er glaubte aber, dieser träume nur, und legte sich wieder zum Weiterschlafen zurecht. Plötzlich hörte er aber ein Geräusch in der Hütte und, ehe er nach seinem Gewehre greifen konnte, war er schon von drei Kerlen gepackt und unter dem Rufe hervorgezogen: „Haben wir Dich endlich einmal, Bursche! Jetzt sollst’ mal sehen, was wir mit Dir anfangen!“ Er erkannte gleich in den Angreifern drei Wildfrevler, welche er zuvor schon einmal gefangen und zur Strafe gebracht hatte.

Wahrend ihn zwei hielten, schlug der dritte mit einem Knittel solange auf ihn los, bis er völlig bewußtlos zusammensank. Als er, von heftigem Schmerz gepeinigt, wieder zu sich kam, waren sie gerade dran, ihn mit ausgespannten Armen und Beinen an die Wand zu nageln. Da sie keine eisernen Nägel hatten, spitzten sie harte Holzpflöcke und trieben sie durch seine Hände und Füße in die Spalten der hölzernen Hüttenwand. Nach dem sie ihn so in bester Form gekreuzigt hatten, gingen sie davon.

„Mein Hund,“ erzählt Zacherl, „verfolgte sie eine Strecke, kam aber bald zu mir zurück, und obwohl ich zu erschöpft war, um viel aufzumerken, so erinnere ich mich doch noch, wie jämmerlich das arme Thier winselte und wie mitleidig es zu mir aufsah! Ich mochte eine gute Weile gehangen haben, da stieg die Sonne langsam über die Berge herauf. Ich freute mich, sie wiederzusehen, wenn auch zum letzten Mal! Das Morgengebet daheim wird wohl mein Sterbeglöcklein sein, dacht’ ich so bei mir, und ich war todbetrübt in meinen Schmerzen und daß ich so elendiglich zu Grunde gehen mußte; und ich dachte an unseren lieben Heiland Jesus Christus und an sein bitteres Leiden! Bald daraus fühlte ich aber nichts mehr, und als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Grase, und sie wuschen mir meine Wunden mit frischem Wasser, vom nahen Quell, aus. Mein Hund hatte durch sein unaufhörliches Heulen und Bellen einen Hirtenjungen herbeigerufen, welcher Hülfe holte. Ich konnte nicht stehen, und ein Paar Holzknechte schleppten mich nach Hause. Nach drei Wochen konnte ich schon wieder ausgehen, und nur meine Hände waren noch sehr geschwollen. Die hölzernen Nägel hatten mir weder Knochen noch Sehnen verletzt und es ist mir nichts geblieben, als die Narben, die ich wohl bis an mein seliges Ende behalten werde. Ich habe dem lieben Gott viel tausendmal gedankt, daß er mich so gnädig errettet hat! Die drei Männer, die mich gekreuzigt, habe ich seitdem oft wiedergeseh’n im Wirthshaus und im Feld. Ich dachte aber: ich will nicht ihr Richter sein! Kommen wir aber noch einmal zusammen, in Berg oder Wald, droben in meinem Gebiete, dann werd’ ich thun, wie ich immer gethan habe!“

Zacherl, beim Volke nur „der gekreuzigte Jäger“ genannt, starb 1848. Er wohnte in seiner letzten Zeit am Starenberger See, und der Verfasser des genannten Buches hat ihn wohl gekannt und sich sein grausliches Abenteuer oft erzählen und seine Wundenmale zeigen lassen.




Der fliegende Holländer. Nach der Seemannssage ist der fliegende Holländer ein Unglücksbote in der Gestalt eines vollständig ausgerüsteten düster aussehenden Schiffes, welches mit vollen Segeln fahrend ebenso plötzlich verschwindet, wie es über dem Horizonte auftauchte. Dem Phänomen, das gewöhnlich in der Nähe des Caps der guten Hoffnung, mitunter auch in andern Meerestheilen stattfinden soll, folgen die furchtbarsten Stürme, aus welchen Schiff und Mannschaft selten entkommen. Die Sage erzählt dann weiter, ein holländischer Schiffscapitain sei, der gegen Standesgenossen und Untergebene verübten Verbrechen halber, für ewige Zeiten dazu verdammt, durch sein Erscheinen dem Seefahrer das ihm drohende Unglück zu verkünden. Daß das räthselhafte Schiff bei seiner Erscheinung nur Unglück im Gefolge haben kann, ist dem Seemann so klar, wie es früher für Jedermann bezüglich der großen Kometen war und selbst im 19. Jahrhundert leider – noch für Viele ist.

[304] Sehen wir davon ab zu untersuchen, ob der Sage eine wirkliche Erscheinung zu Grunde liegt oder nicht, sondern stellen nur allgemein die Frage auf: Ist eine ähnliche Erscheinung überhaupt möglich? – so können wir dieselbe getrost bejahen und beifügen, daß nicht nur das räthselhafte Schiff sich zeigen kann, sondern daß auch das Schiff ein Sturm und Unwetter weissagender Bote ist. Zur Erklärung dieses scheinbaren Wunders bedarf es nur einer rasch eingeleiteten Abkühlung der Luft, wodurch die Bedingungen zu der unter dem Namen Seegesicht, Kimmung, Fata morgana bekannten Luftspiegelung hervorgerufen werden können, welcher letzteren auf dem Meere gewöhnlich Stürme folgen.

Die Luftspiegelung läßt uns entferntere Gegenstände an Orten erblicken, an welchen sie sich in der Wirklichkeit nicht befinden; ihr wahrer Ort liegt entweder höher oder tiefer, zuweilen auch seitwärts von dem scheinbaren. Je nach Umständen erblickt man den Gegenstand und sein Bild zugleich – letzteres häufig verkehrt, – oder man sieht Gegenstände, welche in gerader Richtung zu sehen unmöglich wäre, da sie hinter andern Objecten liegen oder sich für den Beobachter unter dem Horizonte befinden. So sah z. B. Vince am 6. August 1806 von Ramsgate, unfern der Themsemündung, aus das ganze Schloß von Dover, während man sonst bei schönem Wetter, des davor liegenden Bergrückens halber, nur die Spitzen der vier höchsten Thürme erblicken kann. Scoresby sah, während einer Reise auf den Wallfischfang am 24. Juni 1822 an der grönländischen Küste plötzlich das Schiff seines Vaters so deutlich über dem Horizonte, daß er mit einem Dollond’schen Fernrohre jeden einzelnen Theil desselben erkennen konnte, während die genaue Rechnung ergab, daß sein Schiff von jenem 71/2 deutsche Meilen entfernt war. Durch einfache Rechnung ergiebt sich, daß das Schiff mindestens 4 Meilen jenseits des eigentlichen Horizontes und mehrere Meilen jenseits der Grenze des unmittelbaren Sehens gewesen sein muß.

Durch physikalische Versuche läßt sich nachweisen, daß die Luftspiegelung durch ungleiche Erwärmung oder Abkühlung einzelner Schichten der Atmosphäre bedingt ist. Eine solche ungleichmäßige Abkühlung einzelner Luftschichten werden aber – namentlich auf dem Meere – rasch eintretende Gewitter verursachen, besonders dann, wenn letztere sich aus einzelnen rasch vergrößernden, gleichsam aus sich selbst herauswachsenden, wildbewegten schwarzen Wolken entwickeln, wie dies in den westindischen Gewässern und in der Nähe des Caps der guten Hoffuung – hier heißt dieses Wolkengebilde. „Ochsenauge“ – häufig der Fall ist, wobei der Luftdruck sich schon vor dem Ausbruche des Sturmes bedeutend vermindert.

Befinden sich während des Ausbruches eines derartigen Gewitters zwei Schiffe in solcher Entfernung von einander, daß sie sich bei dem gewöhnlichen Zustande der Luft nicht sehen können, was bei etwa drei Meilen für die Verdeckhöhe, bei fünf Meilen für die Masthöhe der Schiffe eintreten wird, so wird in den meisten Fällen das eine Schiff früher den Sturm bekommen als das andere, da die heftigsten Stürme doch immer eine Viertelstunde Zeit brauchen, um fünf Meilen Weges zu durchlaufen. Häufig treten jedoch die Stürme nicht so plötzlich ein, sondern werden durch minder heftige Luftbewegungen eingeleitet, wodurch jener Zeitraum bedeutend vergrößert wird. Ist diese ungleichmäßige Abkühlung der Luft den Bedingungen der Luftspiegelung entsprechend, dann wird das eine Schiff plötzlich den überraschenden Anblick haben können, ein segelndes Schiff zu sehen, während es unmittelbar vorher dessen Nähe nicht ahnen konnte. Da die Luftspiegelung häufig vergrößernd zu wirken scheint, wie man namentlich ausf arktischen Expeditionen beobachtet haben will, und außerdem am Meereshorizonte – bei der den Gewittern häufig vorausgehenden großen Durchsichtigkeit der Luft – alle Gegenstände scharf begrenzt erscheinn, so wird die Erscheinung des Schiffes um so frappanter wirken; der Entfernung, der bedeutenden Strahlenbrechung, sowie der durch das Gewölke geschwächten Beleuchtung wegen, muß das Schiff ein eigenthümliches Ansehen bekommen, wobei nur die Phantasie etwas nachzuhelfen nöthig hat, um es geisterhaft zu machen. Bei der nach und nach eintretenden Ausgleichung der Temperatur aller Luftschichten verschwindet darauf das Schiff eben so geheimnißvoll wie es gekommen; für die erstaunten Seeleute bricht aber jetzt der Sturm ebenfalls los, und der fliegende Holländer, dessen Erscheinen, wie gezeigt, einer vollständigen Erklärung unterliegt, trägt dann nach der Ansicht des Seemanns die ganze Schuld alles augenblicklichen und, entgeht man glücklich den Gefahren dieses Sturmes, jedes während der weitern Reise das Schiff treffenden Ungemachs.

Daß wirklich den Gewittern und Stürmen häufig Luftspiegelungen vorausgehen, ist durch viele Beobachtungen dargethan, sodaß von vielen Seefahrern die Luftspiegelungen für ein Prognostikon eintretender Stürme gehalten werden.

Sowie die Erscheinung des fliegenden Holländers sich vollständig erklären läßt und – abgesehen von aller Ausschmückung durch Unverstand und Aberglauben durchaus nicht so unbedingt dem Reiche der Märchen einverleibt werden muß, so mögen manchen ähnlichen Sagen Ursachen zu Grunde liegen, deren Erforschung nicht nur von Interesse für den Ursprung der ersten, sondern auch für das große Gebiet der Erscheinungen selbst sein dürfte.
H. F. 




Der größte Baum der Welt, so schreibt uns der Reisende Gustav Wallis aus Brasilien, dürfte sich am Rio branco in der brasilianischen Provinz Amazonas befinden; wenigstens überschreiten seine Dimensionen alles ähnliche bisher Bekannte, selbst den berühmten Baobab Senegambiens, sowie die Wellingtonien Calidorniens nicht ausgenommen. Es ist Eriodendron Samaūma, ein Glied der Bombacineen, einer Familie, die bekanntlich mehrere großwüchsige Baumarten enthält und zu der ja auch der obige Baobab gehört. Der Kronendurchmesser des beobachteten Baumes beträgt 220 Fuß, wonach also, da die Krone regelmäßig ist, ein Umfang von 660 Fuß sich ergiebt. Es wird dadurch eine Bodenfläche von nicht weniger denn 36.300 Q.’ überschattet, hinreichend, einer Truppe von mehr als 10.000 Soldaten Schutz zu gewähren. Alle Samaūmas erreichen eine bedeutende Größe, die Jeden, der sie zum ersten Male sieht, in gerechtes Erstaunen setzt: Sie dienen daher gemeiniglich in weiter Ferne als Richtschnur; besonders läßt sich dies von vorstehend bezeichnetem Exemplare sagen, das wie ein mit Wald bestandener Berg weithin herüberleuchtet. Die Hauptäste sind stärker als mancher Eichenstamm und horizontal nach allen Richtungen ausgestreckt.

In den Gabeln derselben nistet häufig der Tuyuyu, eine riesige Storchart (Tantalus Loculator) mit schwarz- und rothbandirtem Halse und einem mächtigen speerförmigen Schnabel; die Brasilianer nennen ihn hierauf anspielend „der Soldat“. Die Größe eines von mir erlegten Exemplares betrug 41/2’ bis zum Scheitel, während die ausgespannten Flügel einen Durchmesser von 81/2’ ergaben, Verhältnisse, die gewiß selten unter den Vögeln sind. So hätte also die Natur, Gleiches zu Gleichem gesellend, dem mächtigen Samaūmabaume in dem Tuyuyu einen würdigen Bewohner gegeben, zwei Gegenstände, gleich geeignet, als Beispiele von den Wundern und der Ueppigkeit tropisch-amerikanischer Zonen zu dienen.




Ein unverwüstlicher Stoff. Zur Zeit des letzten italienischen Krieges wurde der Gartenlaube unter dem Titel „Die erste Waffenthat. Aus den Erinnerungen eines österreichischen Officiers“, die Erzählung einer Episode mitgetheilt, die sich in jenem Kriege zugetragen haben sollte. Die Geschichte war interessant, die Form ihrer Darstellung gewandt, und die Redaction, welche keinen Grund hatte, an der schriftstellerischen Ehrenhaftigkeit des Einsenders zu zweifeln, nahm die Skizze als einen Originalartikel in die Spalten ihres Blattes auf. Später erfuhr sie – denn keine Redaction in der Welt kann Alles gelesen haben, was in irgend einer Literatur erscheint oder erschienen ist – daß die hübsche Erzählung lediglich die Bearbeitung einer schon zehn oder zwölf Jahre früher veröffentlichten kleinen Novelle von Prosper Mérimée war. Unumwunden gestanden wir darauf ein, daß man uns getäuscht hatte.

Jetzt hat das ergötzliche Stücklein jedoch abermals seine Dienste thun müssen. Man hat es auf schleswig’schen Boden verpflanzt, in das blutige Gefecht von Oeversee, dem neuen Locale angepaßt und geeignet zugeschnitten, legt es einem der nach der Heimath zurückgebrachten verwundeten österreichischen Officiere in den Mund und tischt es als funkelnagelneue Kriegsthat in den Frankfurter Familienblättern, der Beilage zum Frankfurter Anzeiger, mit unbefangener Gemüthlichkeit dem Publicum frisch drauf los wieder auf.

Wahrhaftig, dem guten Mérimée muß das Herz im Leibe lachen über die Unverwüstlichkeit seiner Novelle; nichts kann ja die Trefflichkeit seiner Skizze schlagender darthun, als dies beständige Wiederaufleben derselben in allerhand Form und Gewand. Und wer mag absehen, in wie vielen Metamorphosen die Episode noch in der deutschen Journalistik sich umtreiben wird?

Indeß hielten wir es doch für das Beste, unsere Leser vor diesem „unverwüstlichen Stoffe“ zu warnen.




Die Volksausgabe von Uhland’s dichterischen Werken. Für eine Volksausgabe von Uhland’s Gedichten und Dramen ein empfehlendes Wort einzulegen, scheint uns ein sehr überflüssiges Unterfangen. Wenige Namen haben dem deutschen Volke einen süßeren Klang als der Ludwig Uhland’s, des großen deutschen Dichters, dessen Lieder und Balladen uns Allen von Kindheit an ein theueres und unentreißbares geistiges Besitzthum geworden sind, des nicht minder großen deutschen Patrioten, dem Nichts den Sinn für Recht, für Wahrheit und für Freiheit zu beugen vermochte, auf den das alte Wort gedichtet scheint:

„Er war ein Mann, nehmt Alles nur in Allem.“

Wohl aber wollen auch wir unsere Leser recht nachdrücklich hinweisen ausf diese von der J. G. Cotta’schen Buchhandlung veranstaltete billige Gesammtausgabe der Dichterwerke Uhland’s, wie sie jetzt in zehn Lieferungen abgeschlossen vorliegt und auch die beiden meisterhaften Dramen „Ernst Herzog von Schwaben“ und „Ludwig der Baier“ enthält, die leider bis jetzt nur wenig in das Volk gedrungen waren und doch, durch den nationalen Vorwurf, die poetische Conception und den Ausdruck der reinsten deutschen Gesinnung, Alles, was unsere neuere dramatische Literatur zu bieten hat, hoch überragen.



Kleiner Briefkasten.



M. V. in H – stdt. Was Sie aus WiggersSchilderung seines Besuchs auf Caprera herausgelesen haben, vermag unser blöder Verstand nicht zu begreifen. In dem ganzen Artikel ist der schleswig-holsteinschen Frage mit keiner Sylbe gedacht, auch ist uns nicht im Traume eingefallen, auf Garibaldi als auf einen Retter des bedrängten Bruderstammes im Norden hinweisen zu wollen; nicht erst die Antwort, welche er unlängst der Dänendeputation in London ertheilt, hat uns die Ueberzeugung gegeben, daß der große italienische Patriot von den deutschen Verhältnissen, gleich der Mehrzahl seiner Landsleute, eine ziemlich nebelhafte Vorstellung besitzt, und wir sind überdies von der Wahrheit durchdrungen, daß das Vaterland sein Heil nimmermehr aus fremden Händen erwarten darf. Auch was Sie von einem Allianz-Pacte fabeln, den Wiggers im Namen der deutschen Volkspartei mit dem Einsiedler auf Caprera abgeschlossen habe, ist zu lächerlich, als daß es eines Wortes der Widerlegung bedürfte. Der Wiggers’sche Artikel ist nichts anderes und strebt nichts anderes an, als eine Schilderung der Eindrücke, welche ein bekannter freisinniger deutscher Mann von seinem Besuche bei Garibaldi und dessen einfacher undiplomatischer Natur wie von dem spartanisch schlichten Hauswesen desselben empfangen hat, und so und nicht anders wird die Mehrzahl der Leser unseres Blatten die Skizze aufgefaßt haben.

A. L. in Berlin. In einer der nächsten Nummern der Gartenlaube werden Sie eine Illustration vom Kriegsschauplatze finden, auf die wir Sie im Voraus aufmerksam machen zu müssen glauben: eine Abbildung der zweiten dänischen Schanze bei Düppel in ihrer gräßlichen Verheerung nach dem Sturme, welche unser Specialartist, Hr. Otto Günther aus Weimar, noch am Nachmittage des 18. Aprils, unmittelbar nach dem furchtbaren Angriffe, skizzirt hat, so daß Sie auf eine ganz authentische Zeichnung rechnen dürfen.