Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[257]
Almenrausch und Edelweiß.
Aus dem bairischen Hochgebirge.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Es war schon dunkle Nacht, als die Mädchen die Brücke der tosenden Ach überschritten und an den sausenden Wasserwerken von Ilsang vorüber der Schmiede zueilten, deren rothe Esse von ferne durch Nacht und Bäume schien. Bald war sie erreicht, und Evi hielt an dem Brünnlein daneben, um zu trinken und etwas an ihren Schuhen zu richten, während Kordel einen Blick in das weite feuerbeschienene Rußgewölbe warf, in welchem schwarze Gestalten zwischen Rauch, Ruß und Funken unter dem Brausen der Bälge, dem Schlage der Hämmer und dem Zischen der Feilen abenteuerlich wie Höllengeister durcheinander hantirten und einen wilden lärmenden Gesang ausführten. Sie schauderte im Weiterschreiten, und es war wohl begreiflich, daß sie erschrak, als in der verstärkten Dunkelheit des anstoßenden Bergwaldes zur Seite etwas sich regte und eine dunkle Gestalt aus dem Gebüsch auf die Straße herunter glitt.

„Wer ist da?“ rief Kordel mit ängstlich angehaltenem Athem. „Bist Du’s, Quasi? Was willst, daß Du mir in Weg kommst?“

„Ich will Dir nichts,“ schallte es ihr mit rauhem, heiserem Lachen entgegen. „Der Weg gehört mir so gut wie Dir, was kann ich dafür, wenn ich Dir begegne?“

„Dann geh’ Deiner Weg’ und schleich nit herum wie ein Gespenst ...“

„Ich kann’s nit anders, Kordl,“ tönte die Antwort zurück, wie zuvor. „Ich bin ja ein Gespenst … ich bin Dein böses Gewissen, das umgeht vor Dir! Ich wär’ ein braver ordentlicher Mensch ’worden, wenn Du gewollt hätt’st … wenn ich zu Grund geh’ an Leib’ und Seel’, Du bist schuld daran!“

„Nein,“ entgegnete Kordel beherzt, „Du allein bist schuld. … Lad’ mir von Dir nichts auf; ich hab’ genug zu tragen an meiner eigenen Burd’.“

„Du … Du allein bist schuld!“ rief Quasi wieder und trat etwas vor aus dem Dunkel. „Du hast mich veracht’ von der ersten Zeit an. … Du hast es so weit gebracht, daß ich mich bald selber veracht. …“

„Ich will den Vorwurf nit auf mir haben!“ entgegnete Kordel hastig. „Ich will mich frei machen davon, ganz frei. … Noch ist es zu Allem Zeit, Quasi! Wenn nur ein wahres Fäserl’ an dem ist, was Du sagst – so zeig’s! Thu’ gut! Geh’ in einen ordentlichen Dienst – arbeit’ wie ein redlicher Bauernknecht ... laß den Branntwein sein, Quasi, und mach, daß ich Dich jeden Sonntag richtig in der Kirch’ seh’, in Amt und Predigt … dann komm nach Jahr und Tag wieder … und ich versprech’ Dir, und Du weißt, daß ich Wort halt’ … ich will mein Herz zwingen und will Dich nit von mir weisen. …“

„Nicht noch länger?“ lachte der Verwilderte und sprang in’s Gebüsch, denn der nacheilenden Evi Schritt kam näher. „Ich will mir’s überlegen, Du hoffärtige Bauernprinzessin!“

Erschreckt flogen die Mädchen den dunklen Waldweg zum Kniebis hinan; hinter ihnen hallte Quasi’s Hohngelächter, und ein schwerer Stein, ihnen nachgeschleudert, prasselte auf die Straße. Aengstlich schmiegte sich Kordel an ihre Begleiterin und seufzte. „Alle guten Geister. … Du wirst es sehen, Evi – der Mensch ist doch noch mein Unglück!“ –

– Auf der einsamen Hochalm des Steinbergs verflossen den beiden Cameradinnen fleißige, stille, nicht ganz freudlose Tage. Tag über gab es wenig Muße zum Denken und Trauern, die Arbeit auf der Weide und im Stall verdrängte Alles, und Abends saßen Beide am Heerdfeuer beisammen, ferner Zeiten und Menschen gedenkend. Der alte Müller kauerte ihnen zu Füßen auf einem weichen, eigens bereiteten Lager. Der Unglückliche lebte wieder auf, so weit es möglich war; die reinliche, liebevolle Pflege der Tochter hatte ihm schon den Winter über höchst gedeihlich gethan, jetzt vollendete das sorgenlose Leben in freier Bergluft die karge Heilung. Bewegung und Sprache kehrten zwar nicht wieder, auch die gestörte trübe Seele klärte sich nicht mehr, aber der Zustand war doch im Ganzen gemildert, erträglicher durch die Gewohnheit und dem eines Menschen ähnlicher. Der einzige Lichtstrahl in dem dunklen Gemüthe war die grenzenlose Liebe zu seiner Tochter, der er folgte und anhing mit der Treue und Unzertrennlichkeit des Hundes. Unter Tags hütete er den Kaser oder lag mit den Kühen und Ziegen im hohen duftigen Alpengras, aber er ging nie weiter, als daß er Kordel noch sehen und ihre rufende Stimme ihn noch erreichen konnte.

Eines Tags hatte Evi den Buttervorrath wieder abgetragen und kehrte vom Schwarzeck nach der Alm zurück. Sie hatte den Weg schon oft gemacht, aber lieber einen beträchtlichen Umweg nicht gescheut, um nicht am Bühelhofe vorüber zu müssen. Diesmal war Alles noch auf den Feldern beschäftigt, und sie konnte hoffen, an dem Gehöfte unbemerkt vorüberzukommen, an welchem noch immer Herz und Seele hing. Eben bog sie um die Hausecke in den wohlbekannten Baumgarten, prallte aber erschreckt zurück, denn die Thüre stand offen, und vor derselben saß die kranke Bäuerin im Lehnstuhl, zwischen Kissen gebettet und an die sonnigste Stelle getragen. Evi wollte rasch umkehren, aber die Kranke hatte sie schon bemerkt

[258] und winkte und rief ihr zu: „Komm nur her, Evi …“ sagte sie, „ich bin ganz allein – Du brauchst Dich nit zu scheuen vor mir!“

„Ich hab’ nur umkehren wollen,“ sagte Evi nähertretend, „weil ich gemeint hab’, es könnt’ Dir zuwider sein, wenn Du mich siehst – zu scheuen hab’ ich mich vor Niemand auf dem Bühelhof! – Wie geht’s Dir, Bäuerin?“ setzte sie theilnehmend hinzu. „Kannst immer noch nicht genug Atem schöpfen?“

„Schlecht geht’s mir, Evi – schlecht … Du kannst Dir denken, warum!“

„– Es wird wohl besser werden. …“

„Mit mir nimmer, ich spür’s; der Herbst nimmt mich mit und das fallende Laub’ … ich hab’ einmal zu viel ausgestanden! – Du bist ein gutes Leut, Evi, Du tragst es uns gewiß nit nach, was wir Dir zu Leid gethan haben. … Du nimmst gewiß Antheil an dem, was eine arme Mutter ausstehen muß! Wie sie mir den Buben fortgeführt haben aus dem Haus, das ist der Todesstoß gewesen … und wie es gar geheißen hat, daß sie ihn verurtheilt haben und haben ihn hineingefahren in Ketten und Banden nach München in’s … ich kann’s nit sagen, wohin … das war das Allerletzte, und ich kann’s nit begreifen, daß ich noch leb’! Und doch ich spür’s – wenn ich auch keine Kraft mehr hab’ zum Leben, ich kann doch auch nit sterben! Ich wär’ gern zu ihm hinein, eh sie ihn forthaben – aber der Vater hat’s nit erlaubt … und ich kann die Augen nit zumachen, ohne daß ich ihn noch einmal gesehen, ohne daß ich wenigstens gehört hab’ von ihm … Und zu all’ dem muß ich’s hinunter drucken in mich und darf nichts sagen … ich hab’ keine Seel’, der ich’s sagen könnt’, wie mir um’s Herz ist. …“

„Wenn das Dein Kummer ist, Bäuerin,“ erwiderte Evi herzlich, „da kann ich Dir ja vielleicht helfen. …“

„Ja thu’ das, Du gute Evi,“ sagte die Bäuerin eifrig, „führ’ mich in die Stube hinein, dort können wir besser reden miteinander … von meinem Buben, meinem armen Mentel – dort sieht auch keine Seele, und vor einer Stund’ kommt noch Keins vom Feld heim. … O ich hab’ so viel, so Schweres auf dem Herzen … ich will Deine Hand segnen, Evi, wenn Du mir’s leichter machst. …“

Mit liebevoller Sorgfalt geleitete sie die Bäuerin hinein; es war schon Abend, als sie hastig aus dem Hause schlüpfte und den Bergweg hinabeilte.

– Einige Tage später kniete sie in der Au, der Vorstadt von München, vor dem Standbilde des heiligen Johann von Nepomuk, das unter schattenden Bäumen stand. Damals ragte der prachtvolle gothische Dom noch nicht in Mitte einer breiten öden Sandfläche; die Sandfläche war damals üppig grünender Rasen, reich mit Gebüsch und mit Bäumen besetzt, unter denen das unscheinbare Pfarrkirchlein sich bescheiden verbarg. Ein zahlloser lärmender Kinderschwarm spielte im Gras und im Schatten und beachtete die einsame Beterin nicht. Endlich erhob sie sich mit gramvollem Herzen und wandermüden Füßen und schritt durch schmale Gäßchen dem ehemaligen Paulanerkloster zu, das zum Zuchthause umgestaltet war.

Ein unsäglicher Schmerz preßte ihr die Brust zusammen, als sie das ernste Gebäude mit den vielen schwer vergitterten Fenstern erblickte, als sie auf der Bank vor der Thüre einige Gerichtsdiener sitzen sah, den bloßen Säbel in der Hand, ihre ungeheueren Fanghunde neben sich. Sie schwankte, als sie nebenan einige Leute in Sträflingskleidern erblickte, welche an der Straße arbeiten und karren mußten; sie wußte kaum, was sie am Thor vorbrachte, und als die Eingangsglocke dröhnte und sie in der gewölbten düsteren Vorhalle, einem Theile der ehemaligen Kirche, stand, da glaubte auch sie sich verloren und für immer geschieden von der schönen, heiteren, schuldlosen Welt, die draußen leuchtete und sich freute.

Die erbetene Unterredung wurde gewährt.

Bald stand die Arme nebenan in einem kahlen, dürftigen Stübchen und hörte bald mit stockenden Pulsen das Herannahen schwerer klirrender Schritte.

Der Gerichtsdiener öffnete die Thüre – und vor ihr stand eine große Gestalt mit geschorenem Kopf, in grauer Jacke mit dunkelrothem Kragen, einen Eisenring um das Handgelenk, von welchem eine Kette herabhing und mit einem andern Reif am Fußknöchel verbunden war.

Das war Mentel.

Sie hätte ihn nicht wieder erkannt; er war bleich und aufgedunsen, der Mangel gewohnter Bewegung in freier Bergluft, der nagende Gram seiner Seele hatten seine Kraft und Frische gebrochen und ihm den Stempel des Gesängnisses aufgedrückt – sie hätte ihn nicht erkannt, denn ihre Augen verschwammen in Thränen.

Sie sah es nicht, wie eine glühende Röthe über das verkommene Antlitz flog, wie er die verkümmernden Arme nach ihr erhob – wie er auf sie zustürzen und sie umarmen wollte, wie ihn aber das Klirren der eigenen Kette davon zurückschreckte – wie er die Arme erblassend wieder sinken ließ und nichts hervorzubringen vermochte, als: „Evi … Du? Du kommst zu mir?“

Sie faßte sich, trat zu dem Erschütterten und ergriff seine Hand. „Grüß’ Dich Gott, Mentel,“ sagte sie, „ich bin’s wohl – die Mutter schickt mich zu Dir!“

„Du kommst zu mir?“ wiederholte er mit einem Tone, in welchem das tiefste Leid und die höchste Wonne sich umfingen. „Du gute, treue Seel’ … nach Allem, was geschehen ist, kommst Du zu mir?“

„Warum sollt’ ich nit? Du hast mir nichts angethan!“

„Sag’ das nit, Evi … thu’s nit beschönigen,“ rief er schmerzlich; „ich weiß gar wohl, was ich Dir angethan hab’! Aber wenn Du mich gesehen hättest, wie ich so manche Stund’ in der Nacht in meiner Keuchen aufgesessen bin auf meinem Strohsack und hab’ an Dich gedacht und Dich um Verzeihung gebeten … wenn Du gesehen hättest, wie viel blutige Zäher die Woll’ verschluckt hat, die ich hab’ kardätschen müssen … Du hättest mir längst Alles vergeben und vergessen!“

„Ich hab’ Dir nichts zu vergeben,“ erwiderte sie sanft, „aber von Deiner Mutter hab ich Dir zu erzählen. …“

„Von meiner Mutter!“ stöhnte der Sträfling und sank auf einen Stuhl, die Hände vor’s Gesicht schlagend. „Wie geht’s ihr? … Wie ist’s mit dem Vater?“

„Der Vater weiß nichts davon, daß ich da bin … der Mutter geht’s, wie Du Dir’s denken kannst … sie ist schwer krank … sie sieht das Laub wohl nit wieder fallen …“

Mentel weinte noch bitterlicher zwischen den festgeschlossenen klirrenden Händen hervor.

„Du sollst Dich d’rum nit kränken, laßt sie Dir sagen… es war ihr ja schon gar lang so letz – sie ist hergericht’ für die Ewigkeit und hat nur noch eine einzige Sorg’ auf dem Herzen – die Sorg’ wegen Deiner!“

„… Red’ …“ sagte Mentel dumpf und erhob das thränenüberströmte Kummergesicht.

„Sie kann nit leben und kann nit sterben,“ rief Evi nähertretend, „d’rum hat sie mir angeschafft, ich soll zu Dir gehen und soll Dich nochmal fragen, auf Dein Gewissen und auf Deine Seel’ und Seligkeit, ob Du wirklich unschuldig bist?“

Mentel stand auf und hob die gefesselte Hand wie schwörend zum Himmel, während er die andere auf die Brust legte. … „Ich bin’s,“ sagte er ruhig und ernst.

„Sie geht bald ein in die Ewigkeit,“ fuhr Evi fort, „dann sieht sie vom Himmel herunter in Dein Herz, ob Du sie nit mit einer Lüg’ hinübergeschickt hast. … Bist Du unschuldig, Mentel?“

„Ja!“ rief er feurig und fest, und Evi ergriff seine Hand, als wollte sie ihm beteuern, daß sie nie daran gezweifelt.

„Dann stirbt sie getröst’,“ sagte sie, „sie weiß ja, daß sie Dich wiedersieht im Himmel. …“

„Und das bald, Evi, bald!“ rief der Bursche in ausbrechendem Schmerz. „Das Leben da herinnen bringt mich um … sie wird in der Ewigkeit nit lang warten dürfen auf mich! … O Evi, Evi,“ schluchzte er, „es ist hart, es ist bitterhart, eine so schreckliche Straf’ leiden müssen und noch dazu unschuldig!“

„Die Mutter schickt Dir das kleine Kreuzel da,“ sagte Evi, und auch ihr begann die Stimme in Rührung zu brechen. „Du sollst unsern Heiland anschaun, den Herrn Jesum, den sie auch unschuldig an’s Kreuz geschlagen haben … Du sollst ihm Dein Leiden aufopfern, sollst sie und Dich und mich zu ihm hinhängen an’s Kreuz … damit Du Dich trösten kannst.“

„Ich kann’s nit,“ murrte er dumpf, „– ich halt’ es nit aus. …“

„Du kannst, Mentel – ich bring’ Dir den Segen Deiner Mutter – mit dem kannst Du’s!“

Wie unwillkürlich sank der Bursche in’s Knie; sie legte ihm die bebende Hand auf das verstümmelte Lockenhaar. „Denk’ es ist Deine Mutter, die Dir die Hand auf’s Haupt legt,“ flüsterte sie, [259] „sie segnet Dich und will beten für Dich am Thron Gottes, daß er Deine Unschuld an’s Licht kommen läßt.…“

Der Gerichtsdiener rasselte mahnend mit dem Säbel. Mentel faßte die niedergleitende Hand des Mädchens und drückte sie knieend an die Lippen. „Und von Dir selber sagst mir gar nichts?“ fragte er. „Nit ein einzig’s Wörtl, Evi?“

„– Was sollt’ ich Dir sagen. …“

„Was? Das Einzige nochmal, daß Du mir verziehen hast – das Einzige, um was ich Dich gefragt hab’, wie wir uns das letzte Mal gesehen haben … weißt Du’s noch? – Sag’, ob ich Recht gehabt hab’ dazumal?“

„… Wenn’s Dir eine Freud’ machen kann in Deinem Unglück,“ sagte Evi erröthend und richtete die treuen blauen Augen so recht innig auf ihn. … „Ja, Du hast Recht gehabt … ich trag’ Dein Edelweiß noch auf meinem Hut. …“

„Aber der Almenrausch ist lang abgefallen und verdorrt seitdem,“ sagte er traurig und doch entzückt … „es hat nit anders sein können … aber jetzt hab’ ich doch wieder Hoffnung, denn ich weiß, er blüht wieder auf’s Jahr, und Almenrausch und Edelweiß, die gehören dennerst (dennoch) z’samm’!“

Ein erste Umarmung – ein letzter Kuß – dann stand Evi wieder vor der Thüre des Zuchthauses und wanderte, ohne sich Rast zu gönnen, den Bergweg hinauf, der nach den ferne blauenden Gebirgen führt.



5. Noch einmal auf dem Scharten-Kaser.

Seitwärts vom Scharten-Kaser senken sich rasche Vertiefungen und Schluchten nieder, durch welche einst der Bergsturz sich den zermalmenden Weg gebahnt hat. Unregelmäßig liegen die Felsblöcke in wüstem Gewirre durcheinander, bald wie mächtige Leichensteine auf Grabhügeln, bald wie umgestürzte Burgen und Häuser, hier aneinander gelagert, dort sich bedeckend und überschoben, daß sie Risse, Höhlen und Winkel bilden, in denen der Bergrabe nistet und der Fuchs seinen Bau gräbt. Moos und Flechten sind darüber gewachsen und bilden mit der schwachen Erdschicht einen weichen Ueberzug, üppig schwellenden Polstern vergleichbar; mächtige Tannen ragen daraus empor, die ihre Wurzeln gleich sehnigen Armen um die Felsen spannen oder in dieselben treiben, wie Klammern und Keile, um sich daran zu halten. Es sind gewaltige Bäume mit graugrünen Moosbärten behangen, mit zerrissener Rinde um die Stämme, deren Narben von mehr als einem Jahrhundert erzählen, das sie aus dem verwitternden Bergschutt erstehen ließ. Durch diese grüne, dunkle, harzduftige Wildniß windet sich nur ein schmaler, einsamer Waldpfad, der Hirten und Jäger in das stille Geröhricht führt, das am linken Ufer des Hintersees rauscht. Hoch darüber an sammtgrünen, saftstrotzenden Hängen stehen einzelne zerstreute Bauernhäuser, und auf sie schauen aus noch höhern grasigen Blößen und Thälern die Almhütten herab, darunter auch die von Kordel’s Dienstbauern. Weiter vorwärts liegt der Scharten-Kaser, weit genug, daß der beste Stutzen seine Kugel nicht bis dahin zu tragen vermöchte, und doch so nahe, daß Gesang und Zuruf der nachbarlichen Sennerinnen deutlich hinüber reicht.

Auf den Steinen, wo im vorigen Jahre Evi allein gesessen war und in den Herbstabend hinaus jodelnd den Wiederhall geprüft hatte, saß sie wieder und Kordel ihr zur Seite. Der Sommeraufenthalt auf dem einsamen Steinberg hatte die Freundschaft der beiden Mädchen noch inniger gemacht; man sah ihnen an, daß sie Schicksals- und Leidensgefährtinnen waren sie ähnelten sich noch mehr, als sie vor einem Jahre sich geglichen. Evi’s kräftiges, fast keckes Wesen war etwas gemildert, die Farbe der Wangen und der Glanz der Augen waren verblichen vor dem strengen Lufthauch des Kummers; dagegen lag um Kordel eine höhere Frische, ihr Antlitz schien sich fast rosig röthen zu wollen, und statt der etwas gewaltsamen Lustigkeit blühte arglos ruhige Heiterkeit um die feinen Lippen auf. Sie sangen wieder wie im letzten Herbst, und der Gesang ließ erkennen, daß sie nicht blos äußerlich eingeübt, sondern auch innerlich zusammengestimmt waren.

„Und wenn der Auswärts wiederkommt,
Wo werd ich nachher sein?“

wiederholte Evi nachsinnend, als sie geendet hatten. „Es ist so viel anders worden – aber das Gesangel und die Frag’ gilt heuer wie ferten!“ (Im vorigen Jahr.)

„Das wollen wir dem lieben Herrgott überlassen.“ sagte Kordel und legte ihr die Hand auf die Schultern. „Es ist doch auch Vieles besser worden, wie ferten! Was hab’ ich selbiges Mal für eine Sorg’ gehabt auf daheim und auf den langen, langen Winter, und wie freu’ ich mich heuer drauf! Du, die mir die allerliebste Cameradin ist, Du bleibst bei mir in der Ledermühl’; was wollen wir da arbeiten und spinnen und zusammen singen und einander trösten, wenns Noth thut – so wie jetzt,“ fügte sie hinzu und fuhr ihr mit der verkehrten Hand über die Augen, „wenn so wie jetzt das Wasser heraussteigt durch die Fenster! Wer weiß, ob nit bis über’s Jahr der Mentel wieder da ist und auf dem Bühelhof als Bauer haust und eine Gewisse, die ich nit nennen will, als Bäurin neben ihm! Wer weiß, ob nit schon in dem Augenblick ein Engel die Hand ausstreckt und das Gewölk, das vor seiner Unschuld liegt, wegzieht – wie man einen Vorhang wegzieht? Wer weiß, ob’s nit das Gewölk ist, das dort so weiß über die Scharten hereinschaut?“

Evi sah sie befremdet an, denn in ihren Augen leuchtete ein eigenthümliches Feuer auf; dann blickte sie nach der bezeichneten Wolke und sagte lächelnd: „Bei Gott ist kein Ding unmöglich, und ich wollt’s hoffen und wünschen, aber ich mein’, das Gewölk dort bedeut’ gar nichts Anderes, als daß wir Zeit haben, uns auf den Weg zu machen – denn das sieht mir ganz wie Schnee aus!“

„Es ist nit so gefährlich,“ erwiderte Kordel, „das kommt nit zu uns: der Wind jagt Alles in’s Pinzgau hinein; wir haben immer noch so viel Zeit, daß wir Eins singen können miteinander ... es ist doch wohl das Letzte, das mir Zwei auf der Alm miteinander singen!“

„Für heuer!“ sagte Evi, und ohne Verabredung, nur von der Uebereinstimmung der Gemüther geleitet, setzten Beide zum Gesange ein. Es war das Lied von dem unglücklichen Liebespaar, dem es nicht bestimmt mar, „zusammen“ zu kommen. Der letzte Absatz war erreicht, und die Mädchen begannen:

„Und Aepfelblüh’ und Weichselblüh’
Wachst niemals auf Ein’ Stamm –“

aber statt der Schlußverse mit der allgemeinen traurigen Bemerkung, sang Evi jene Zeilen, welche Mentel im Herbste zuvor aus dem Stegreif hinzugedichtet hatte. Sie kamen ihr unwillkürlich auf die Zunge, weil sie ihr fortwährend im Sinne lagen:

„Aber Almenrausch und Edelweiß,
Die g’hören dennerst z’samm’!“

Kordel hatte wohl mitgesungen, aber die Freundin befremdet betrachtet. „So heißt’s nit,“ sagte sie lachend, „aber wenn Du mich zum Trutzsingen herausfordern willst, laß’ ich mich auch nit spotten!“ Und nach der Regel an den Schlußgedanken der Vorsängerin anbindend, sang sie:

„Und Almenrausch und Edelweiß,
Das giebt ein’ schönen Strauß.
Und was ein’ Menschen beschaffen ist,
Das bleibt ihm niemals aus!“

„Aber jetzt mein’ ich auch, daß es Zeit ist zum Gehn,“ fuhr sie unmittelbar nach dem letzten Tone und aufspringend fort. „Es ist ein ziemlicher Weg bis hinunter in die Ramsau und dann wieder den Lattenberg hinauf – wir wollen geh’n und Alles herrichten – indessen wird wohl auch der Bub’ mit den Geißen zurückkommen!“

Schweigend eilten die Mädchen der Alm zu, um in Hütte und Stall noch Alles zu bereiten, was zur Abfahrt nöthig ist, oder vielmehr das längst Bereitete noch einmal zu überblicken und zu prüfen. Es war Alles nach Wunsch und Gebühr, und die Sennerinnen konnten jeden Augenblick aufbrechen, aber noch immer war der Hütbube, der die Aufsicht auf die Ziegen hatte, mit diesen noch nicht zurückgekommen. Die Thiere schienen zu wissen, daß die Zeit ihrer Freiheit zu Ende gehe, und hatten sich so ungewöhnlich weit verstiegen, daß der Bub schon länger als eine Stunde darauf aus war, sie zu suchen. Viertelstunde um Viertelstunde verstrich, ohne daß der Erwartete kam, und die Abfahrt konnte nicht länger verschoben werden, wollte man nicht mit dem Vieh, das ohnehin nur langsam von der Stelle kam, in die Mittagshitze gerathen. Endlich wurde beschlossen, Evi sollte mit der Heerde voranziehen und Kordel gegen Abend mit dem Buben, der inzwischen wohl eintreffen werde, nachkommen. Das Vieh wurde herausgelassen und mit Kränzen und Glocken behängt, während das nun entbehrlich gewordene bewegliche Hausgeräth in eine Kraxe (Rückenkorb) zusammengepackt und einem tüchtigen jungen Stiere als Bürde aufgeladen wurde. Die Thiere schienen sich in dem Schmucke zu gefallen, [260] denn sie streckten die sehnigen Nacken und schüttelten fröhlich brüllend die Köpfe, als prüften sie, ob die bunten Kränze auch fest säßen. Der alte blöde Müller kroch von dem Einen zum Andern und betastete mit wohlgefälligem Brummen die Kränze und stieß die Glocken an, daß sie noch stärker schwangen und klangen.

Es war kein Grund des Verweilens mehr gegeben; wie die Mädchen auch zögerten, es mußte Abschied genommen werden. „So geh’ denn in Gottes Namen zu,“ sagte Kordel und bot Evi die Hand, „bis zum Abend komm’ ich auch nach. Den Vater nimmst Du mit Dir – er ist bei Dir so gut aufgehoben, wie bei mir – die kleine Kalbin laß mir da, sie lauft am liebsten mit mir, seit die Alte verkauft worden ist, und ich hab ihr einen besondern schönen Kranz gebunden...“

„Ich weiß nit, wie mir ist.“ erwiderte Evi, die Hand der Freundin fest haltend, „aber ich hab’ eine ganz eigene Bangigkeit in mir und kann mir selber nit sagen, warum. Wie wär’s, wenn ich auch noch bleiben thät? Wenn wir doch miteinander abtrieben?“

„Es geht nit – was würd’ sich der Bauer denken, wenn zur angesagten Zeit das Almvieh nit da wär? Das gäb’ einen schiechen (wüsten) Lärm, von dem ich nichts wissen möcht’! Sei wohl getröst, Evi – was soll mir denn geschehen?“

„Ich weiß nit – aber mir gefallt halt das Wetter nit.… der Wind springt alle Fingerlang um und ist so flauderisch. …“

„Mach’ Dir nit selber Flausen in Kopf!“ lachte Kordel. „Treib’ ab und sorg, daß Ihr gut heimkommt, alle miteinander – bis im Abend bin ich auch schon dort, wohin ich gehör’!“

Evi konnte nichts einwenden; sie bekreuzte sich, trieb das Vieh an und rief ihm zu – unter Glockenklingen und lustigem Gebrüll setzte die Heerde sich in Bewegung. Kordel blieb unter der Thür der Almhütte stehen und juchzte den Scheidenden nach. Mit einem Male aber gewahrte der Alte, daß sie zurückblieb, und war, so schnell er vermochte, zu ihren Füßen, um sie am Rocke zu zerren und brummend zum Mitgehen zu veranlassen. „B’hüt Dich Gott, Vater,“ sagte sie schmeichelnd, „geh’ nur mit der Evi, ich komm’ gleich nach – die Evi sorgt für Dich und giebt auf Dich Acht, gerad’ wie ich selber – nit wahr?“ fuhr sie herzlich fort, indem sie Evi, die wegen des Müllers zurückgelaufen war, die Hand reichte. Diese drückte sie ihr schweigend und ging mit dem Alten, der ihr nur ungern und wider Willen zu folgen schien und oft anhielt, um nach seinem Liebling umzusehen.

Kordel lehnte unter der Sennhütte, bis der ganze Zug um die Bergschneide verschwunden war. „Es ist g’spaßig,“ sagte sie dann halb vor sich hin, „es kommt mich schier auch hart an, daß sie gehen und daß ich so ganz allein bin aus dem weiten Gebirg … Ganz allein!“ fuhr sie fort, indem sie nach den umliegenden zerstreuten Almen hinüber sah. „Es haben Alle schon abgetrieben! Wenn ich länger dableiben müßt’ als bis zum Abend, es könnt’ mir ganz scheusam werden in der Verlassenheit … Wo nur der Bub’ mit den Geißen so lang bleibt. …“

Geblök vom Stalle her brachte sie auf andere Gedanken. „Die Kalbin röhrt,“ sagte sie, „sie hört die andern gehen und hat Zeitlang darnach … muß doch nach ihr umschauen. …“

Die Umschau war keine erfreuliche; das Thier lag in der Streu und stieß klägliche Töne aus, aber, wie das Mädchen bald erkannte, nicht aus Verlangen nach den abziehenden Gefährten, sondern aus Krankheit und Schmerz. Die geübte Pflegerin sah sogleich, daß es schlimm stand; das Thier mußte offenbar mit dem Futter etwas Ungehöriges verschlungen haben, was es unfähig machte, sich zu erheben. „Jetzt ist es gut, daß ich Dich da behalten hab’,“ sagte sie die Kalbin streichelnd, „wenn uns das unterwegs aufgestoßen wär, wär’s noch schlimmer … ich will Dir gleich einen Trank kochen, der Dir wieder aufhilft. …“

Bald stand sie am Heerde und machte so emsig Feuer an, daß sie darüber gar nicht bemerke, wie eine verrissene, schmutzig aussehende Gestalt, die bald nach Evi’s Entfernung hinter den Felsblöcken bei der Hütte hervorgekrochen war, behutsam an diese heranschlich und, sich auf den Zehen emporhebend, durch das keine Fensterchen hineinsah. Jetzt erst gewahrte Kordel, daß etwas vom Fenster weghuschte, und sprang beherzt der Thüre zu. „Wer ist da?“ rief sie. „Wer schleicht da herum um meinen Kaser? Ah, Du bist’s, Quasi!“ setzte sie zurücktretend hinzu und ließ den Bergstock sinken, den sie wie zur Vertheidigung ergrissen hatte. „Traust Du Dir auch wieder herein in die Ramsau?“

„Versteht sich,“ erwiderte der Bursche keck, „muß doch zeigen, daß ich auch noch auf der Welt bin! Brauchst aber kein so fuchswildes Gesicht zu machen, Kordel, daß ich zu Dir komm’ … solltest Dich eher dafür bedanken! Ich bin Eurem Geißbuben begegnet – die Geiß’ haben sich verstiegen gehabt bis in die schwarze Leiten hinüber – er ist gleich den Graben hinunter, weil er sonst einen Umweg von ein paar Stunden machen müßt, bis er wieder da heraus käm’ … er laßt Dir sagen, er sei schon unterwegs, und Ihr sollt Euch nit aufhalten lassen wegen seiner. …“

„So weit hat das Vieh sich verstiegen?“ erwiderte Kordel, indem sie den Burschen argwöhnisch betrachtete. „Das ist ja sonst gar sein Brauch nit – das muß uns Jemand absichtlich versprengt haben! Meinst es nit auch, Quasi?“

„Ich mein’ nur,“ sagte er, ihrem Blick ausweichend, „daß es wohl ein Vergelt’s Gott verdienen thät’, daß ich da herauf gekraxelt bin, um Dir die Botschaft zu bringen … aber behalt’s, Kordel, wenn’s Dich so hart ankommt – ich bin jetzt einmal da, wir sind allein miteinander – jetzt möcht’ ich einmal richtig erfahren, wie es denn ist mit uns Zweien.“

„Das kannst lang wissen,“ sagte Kordel kurz und wieder am Heerde beschäftigt.

„Ich wohl,“ erwiderte er lauernd, „aber ob Du es auch noch weißt? Ob Du noch daran denkst, wie Du mir begegnet bist, selbiges Mal – von Bertelsgaden herein?“

„Warum nicht?“

„Du hast gesagt – wenn ich ein Jahr lang gut thun und in Dienst gehen wollt’ und wollt’ den Branntwein lassen … dann sollt’s wieder sein zwischen uns, wie vor und eh’ … Ich hab’s nit vergessen, Kordel! – Zuerst hab’ ich darüber gelacht und bin wüthig gewesen über Dich und Deinen Stolz und bin hinaus in die Ebne’t und bin mit dem Kastel über der Achsel und mit dem Draht herumgezogen im Land … aber es hat mir keine Ruh’ gelassen. Immer wieder ist mir Deine Red’ eingefallen und zuletzt. …“ Er hielt einen Augenblick inne, als ob es ihn Ueberwindung koste, das auszusprechen, was ihm auf der Zunge saß. … „Zuletzt“ sagte er wie beschämt und doch unwillig über diese Scham, „zuletzt hab’ ich mir vorgenommen, ich will – thun, was Du verlangst...“

Kordel blickte ihn an; in ihrem Blicke lag die Ueberraschung wegen dieses Entschlusses mit dem Unglauben an seine Ausführung gepaart. Quasi verstand den Blick und rief hastig, eh’ sie etwas erwidern konnte: „Ich weiß, was Du Dir denkst! Du glaubst es nit, daß ich das will – Du haltst es für ganz unmöglich, daß ich das könnt’; so schlecht komm’ ich Dir vor, daß Du meinst, an mir ist doch Chrisam und Tauf’ verloren! Gesteh’s ein, Du hast das selbiges Mal nur deswegen gesagt – weil Du gedacht hast, so bringst mich am Ersten an … denn was Du verlangst, das geschieht doch niemals …“

„Das ist nit wahr,“ sagte Kordel ruhig, „das hab’ ich nit gedacht – und denk’s noch nit … Zum Umkehren ist es niemals zu spät. …“

(Schluß folgt.)



Der Guano und seine Fundorte.

Hätte einer unseren biederen ackerbautreibenden Altvordern gesagt. „Es wird eine Zeit kommen, wo der Bauer den besten Mist vom entgegengesetzten Ende der Erde, viele, viele hundert Meilen über weite Meere her beziehen wird“ – sie hätten ihn ausgelacht und die Richtigkeit in seinem Oberstübchen in Zweifel gezogen. Und doch ist diese Zeit gekommen, kein einsichtsvoller Landwirth lacht mehr über die Zumuthung, seine Felder mit antipodischem Dünger zu durchsetzen; der nimmer rastende menschliche Unternehmungsgeist hat das ehemals Unmögliche und Lächerliche möglich und vernünftig gemacht, tagtäglich sind viele mit Dünger schwerbelastete Schiffe auf hoher See, während der europäische Landmann mit kluger Berechnung den Mehrbetrag erwägt, den ihm das kostbare Düngmittel bei der nächsten Ernte verschaffen soll.

[261]

Die Chincha – Inseln an der peruanischen Küste.
1. Aussicht von der nördlichen nach der mittleren Insel.     2. Guanobruch.     3. Brückenbau zur Verschiffung des Guano.     4. Ausschütten des Guano.     5. Mangueras (Schläuche) zur Verladung des Guano.

[262]

So spielt denn seit einigen zwanzig Jahren der Guano (nach der Sprache der Quichua’s richtiger „Huanu“, d. i. Mist, Dünger) unter den Artikeln des überseeischen Handels eine bedeutende Rolle; ja das Neue und Eigenthümliche der Sache macht die Guanofrage zu einer der merkwürdigsten Erscheinungen der Neuzeit, und als solche hat sie die allgemeine Aufmerksamkeit zweier Welttheile auf sich gezogen. Greift sie doch in die verschiedensten Interessenkreise ein: Schiffer, große und kleine Kaufleute, Landwirthe und Gärtner, ja selbst Chemiker geht sie unmittelbar an, für die nächsten Betheiligten ist sie sogar eine Lebensfrage.

Der Gebrauch jenes starken Düngers, der meist aus den Excrementen von Seevögeln besteht und unter dem Namen Guano bekannt ist, ist übrigens thatsächlich viel älter, als allgemein angenommen wird. Die Araber[1] kannten schon im 12. Jahrhundert seine vorzüglichen Eigenschaften, und in Peru, dessen Küstengestade und Inseln weitaus die größten Guanolager aufzuweisen haben, kannte man seine Nutzanwendung lange vor der Ankunft der Europäer, jedenfalls vor dem Jahre 1200 nach Chr. Garcilasso de la Vega, der Vater der peruanischen Geschichte, theilt, indem er den Fleiß und die Sorgfalt lobt, womit die alten Peruaner den Boden bauten und den Ackerbau ehrten, Ausführliches über die Guanogewinnung mit. „Zur Zeit der Könige Incas war man so wachsam auf die Erhaltung der Vögel, welche den Guano bilden, daß es während ihrer Brütezeit bei Todesstrafe Jedermann verboten war, die Inseln zu besuchen, damit diese Thiere nicht erschreckt und von ihren Nestern verscheucht würden. Ebenso war es bei der nämlichen Strafe verboten, zu irgend einer Zeit auf den Inseln oder anderswo diese Vögel zu tödten.... Jede Insel war auf Befehl der Incas einer Provinz zugewiesen, und wenn jene groß war, zweien oder dreien zugleich. Es wurden daselbst Grenzsteine gesetzt, damit die Bewohner einer Provinz nicht in das Gebiet einer andern übergreifen konnten, und, noch genauer eintheilend, wiesen sie mit ähnlichen Grenzbezeichnungen jedem Dorfe, jedem Bürger seinen Theil an, indem sie ungefähr schätzten, wie viel ein jeder nöthig hatte. Bei Todesstrafe durfte kein Dorfbewohner von fremdem Gebiete wegnehmen, denn es war Diebstahl; sogar von seinem eigenen Platze durfte er nicht mehr Guano wegführen, als ihm nach dem Bedarf seiner Grundstücke zugeschätzt wurde; wer mehr nahm, wurde des Ungehorsams bestraft etc.“ Die spanischen Eroberer nahmen den Gebrauch der Urbewohner an, der sich bis heute erhalten hat.

Nach Europa und zwar nach Cadix kam der peruanische Guano zuerst zu Anfang des vorigen Jahrhunderts in kleinen Proben, wurde aber damals, wie es scheint, nicht weiter beachtet. Chemisch untersucht wurde er zum ersten Male aus Veranlassung Alexander von Humboldt’s, der im Jahr 1804 einige Proben davon mit nach Paris brachte. Trotzdem durch diese wie die folgenden Analysen die Bedeutung und Wichtigkeit des Guanodüngers glänzend dargethan wurde, ließ doch die Einfuhr bedeutender Quantitäten noch lange auf sich warten. Bis zum Jahre 1840 waren nur wenige zaghafte Versuche gemacht worden; da endlich traf in England eine größere Ladung von zwanzig Fässern ein, welche eine Anwendung in größerem Maßstabe gestatteten. Vor dem glänzenden Erfolg, von dem auch die folgenden Versuche begleitet waren, verstummten alle kleinlichen Vorurtheile, so daß in kurzer Zeit die Guanoeinfuhr bis zu einer ungeahnten Höhe stieg.[2] Nach Deutschland, wo man ihn indirect über Großbritannien bezog, kam der erste Guano im Jahr 1841.

Aus der erhöhten Nachfrage nach dem kostbaren Vogeldünger entstand bald eine neue, vielverheißende Quelle des Schwindels. Hier wurde der echte Stoff verfälscht (von 20 Sorten fand der Chemiker Stöckhardt 14 gemischt, die besten darunter höchstens drei Viertel, die schlechtesten kaum mehr als ein Drittel so viel werth als guter, reiner peruanischer Guano!), dort wollte man neue, unerschöpfliche Guanolager aufgefunden haben, die sich aber in der Regel qualitativ und quantitativ als werthlos erwiesen, wie an den übrigen Westküsten Amerika’s, in Süd-Afrika, auf „Amerikanisch-Polynesien“ etc.; denn der Dünger liegt an den meisten dieser Orte dünn, ist häufig mit vegetabilischen Stoffen durchsetzt und kommt überhaupt nur selten dem Peru-Guano an Güte gleich.

Beachtenswert, da er an Güte dem peruanischen Vogeldünger am nächsten, als Frühjahrsdünger sogar gleichkömmt, ist der norwegische Fischguano. Schon im Jahr 1855 vereinigten sich in Norwegen mehrere intelligente Männer zur Gründung einer Gesellschaft unter dem Namen „det norske Fiske-Guano-Selskab“ mit einem Kapital von 150,000 Thaler, um auf Anregung des Professors Stöckhardt in Tharandt und anderer anerkannter Chemiker die großen Massen bisher nicht benutzter Abfälle, die sich beim Fang und der Zubereitung des Stockfisches namentlich in den großartigen Fischereien der Lofoden-Inseln ergeben, nutzbar zu machen. Jährlich werden nun über 20 Mill. Fischköpfe, Rücken etc. durch Maschinen zu einem gleichförmigen Product zu billigen Preisen verarbeitet, das sich jährlich auf 50,000 Centner belaufen soll.

Ueber die Bildung des Vogelguano haben neuere Forschungen das klarste Licht verbreitet. Unser Landsmann Tschudi hat die Species der Seevögel, von denen die massenhaften Excrementenanhäufungen an den Küsten von Peru herrühren, näher bestimmt; es sind nach ihm: Eine neue von Tschudi bestimmte Mövenart, der schwarze Scheerenschnabel, Schlangenvogel, Pelikan, Scharbe und vorzüglich aber der bunte Toelpel.[3] Diese Vögel nisten auf unbewohnten Inseln und auf windgeschützten steilen Vorgebirgen und bringen die Ruhezeit am Tage und die Nacht dort zu. Ihre Menge ist so außerordentlich groß, daß sie wörtlich große Flächen dicht bedecken und, wenn sie in Schwärmen auffliegen, Züge bilden, die Wolken gleichen und für Augenblicke die Sonne verdunkeln. Ihre Nahrung besteht ausschließlich aus Seethieren, besonders Fischen, die sich in endlosen Schaaren in dem fast ewig ruhenden Meere aufhalten. Bei der ungeheueren Gefräßigkeit dieser Vögel, denen überdies die Nahrung nie mangelt, und der damit in Verhältniß stehenden Excrementenabsonderung begreift man leicht, daß im Verlauf von Jahrhunderten auf den im Ganzen wenig umfangreichen Inseln so bedeutende Mistniederlagen („Huaneras“) gebildet wurden, daß sie zu den neueren geologischen Formationen gezählt werden können.

Alexander v. Humboldt hielt die Zeit von drei Jahrhunderten für kaum hinreichend zur Bildung einer auch nur wenige Linien hohen Guanoschicht. Dieser Annahme widersprechen die Versuche Tschudi’s. Ein bunter Toelpel, den er längere Zeit in Gefangenschaft hielt, lieferte ihm bei ziemlich spärlicher Nahrung täglich 3½ bis 5 Unzen Excremente. Im Zustande der Freiheit kann dieses Gewicht, bei der Leichtigkeit, mit der sich diese Thiere ihre Nahrung verschaffen, fast auf das Doppelte geschätzt werden. Angenommen nun, daß zwei Drittel des Gewichts durch Verflüchtigung verloren gehen, da bei den Excrementen der Urin mit inbegriffen ist, so bleiben von einem Vogel täglich 11/6–15/6 Unzen feste Substanz zurück. Dieser Gewichtsverlust ist gewiß nicht zu gering angegeben, wenn wir bedenken, daß die Excremente durch die brennende Tropensonne in kürzester Zeit mit einer festen Kruste überzogen werden, wodurch die Verdunstung der wässerigen und salzigen Theile bedeutend beschränkt wird. Auf diese schnell inkrustirte Masse, die bei dem gänzlichen Mangel an Regen an der peruanischen Küste nicht mehr aufgeweicht wird, häufen sich in kurzen Zwischenräumen immer wieder neue und lassen also einen nicht unbeträchtlichen Rückstand. Wenden wir diese Beobachtungen auf einen bestimmten Fall an: Die Insel Iquique hat 220,000 Fuß im Geviert und war mit einem jetzt abgetragenen, dreißig Fuß mächtigen Guanolager bedeckt. Wenn eine halbe Million Vögel (was bei dem dichten Nebeneinanderhocken derselben noch gering gerechnet ist) die Insel bewohnt und im Jahre, als Minimum angenommen, nur eine vier Linien hohe Schicht gebildet hätten, so wären elf Jahrhunderte mehr als hinreichend gewesen, dieses Lager anzuhäufen; in drei Jahrhunderten also eine fast neun Fuß hohe Schicht. Diesen Schluß zu bekräftigen, erinnert Tschudi beiläufig an die Quantitäten von Dünger, welchen etwa fünfzig Tauben in einem Schlage, der einige Monate lang nicht ausgefegt worden ist, erzeugt haben, und an die Excrementenmassen, welche eine gut gefütterte Gans in wenigen Tagen hervorbringt.

Die obersten Schichten, also die jüngsten Ablagerungen des [263] Guano haben eine weißlich-graue, zuweilen ganz weiße Färbung, so daß sie bei starkem Sonnenschein das Auge blenden und weithin in See sichtbar sind. Etwas tiefer ist der Guano mehr grau, in’s Gelblichbraune übergehend. Beide Schichten liefern den sehr geschätzten Huano blanco (weißen Guano). Weiter nach unten wird die Schichtenbildung immer dunkler, zuerst hellgelb und braungelb, dann gelbbraun und rothbraun und endlich ganz dunkelbraun und chocoladenfarbig.

Auch die Dichtigkeit und Festigkeit der Guanomasse ist in den verschiedenen Ablagerungen eine sehr verschiedene. Die obersten (jüngsten) Schichten sind meist weich und zähe, ähnlich frisch aufgetragener Lehmerde; weiter unten wird die Masse lockerer, pulverförmig, zuweilen zu großen Stücken zusammengeballt; die untersten Schichten endlich tragen ganz den Charakter des Gesteins, haben einen krystallinischen Bruch und sind ziemlich schwer zu bearbeiten.

Je nach den Fundorten, nach der Tiefe und dem Alter der Lagerung und nach klimatischen Einflüssen, denen die untersuchten Proben unterlegen waren, sind die chemischen Analysen des Guano außerordentlich verschieden ausgefallen. Im Allgemeinen sind (namentlich durch Denham Smith) im Guano folgende Bestandtheile nachgewiesen: Wasser, schwefelsaures Kali und schwefelsaures Natron, Chlorkalium, Chlornatrium, oxalsaures Ammoniak, oxalsaures Natron, phosphorsaures Natron, phosphorsaures Ammoniak, phosphorsaurer Kalk, phosphorsaure Ammoniak-Magnesia, phosphorsaure Harnsäure, harnsaure Ammoniak-Magnesia, oxalsaurer Kalk, Sand, Eisenoxyd, Thonerde, Humus und organische Stoffe, die letzteren um so mehr, je jünger die Schichten sind. In diesen jüngeren Schichten ist namentlich das harnsaure Ammonium stark vertreten, an dessen Stelle in der Tiefe bei ziemlicher Wassergehaltlosigkeit mehr schwefelsaures und oxalsaures Natron und Chlorkalium treten. Der Guano ist desto werthvoller, je größer sein Gehalt an Ammonium, Phosphorsäure und Alkalien ist.

Im Allgemeinen gedeiht der Guano nur gut, wo völlige Regenlosigkeit und mithin Mangel an Vegetation herrscht. Der Regen verwäscht und entsalzt den Dünger, nimmt ihm damit seine vorzüglichsten Eigenschaften und ist im Allgemeinen der Bildung mächtiger Lager hinderlich. Wir finden deshalb den besten und verhältnißmäßig meisten Guano auf den regenlosen Gestaden und Inseln Peru’s; fast an allen anderen Punkten der Erde, wo er in größeren oder kleineren Quantitäten gefunden wird, fehlen jene hauptsächlichsten Bedingungen zu seiner Güte.

Die Huaneras von Peru – zwischen 6–21° südlicher Breite – sind nach einem Regierungsbericht in drei große Sectionen abgetheilt. Die Guanolager des Südens (von Loa bis Acari) liegen größtentheils an der Küste der Provinz Tarapaca und befinden sich auf Felsenabhängen in mehr oder weniger breiten und tiefen Schluchten gegen das Meeresufer hin. Die Masse des hier noch lagernden Guano schätzt Rivero auf 8 Millionen (?) Tonnen. Die Lager des Nordens (von Callao bis Lambayeque) sind ausschließlich auf Inseln meist in nächster Nähe der Küsten; sie sollen im Ganzen 851,101 Tonnen Guano enthalten. Die Huaneras von Mittelperu (von Acari bis Callao) zählen unter sich die größten und wichtigsten, die überhaupt bekannt sind. Sie liegen auf den Chinchainseln, drei kleinen Eilanden unter 13° 52’ südlicher Breite, ungefähr zwölf englische Meilen westnordwestlich von der Hafenstadt Pisco. Schon die alten Peruaner holten von hier den größten Theil ihres Guanobedarfs, und noch heute ist auf diese Inseln das Hauptaugenmerk der peruanischen Regierung und der meisten Guanounternehmer gerichtet. Die Befürchtungen, die bedeutenden Vorräthe der Chincha-Inseln möchten in verhältnißmäßig kurzer Zeit erschöpft werden, riefen mehrere Untersuchungen an Ort und Stelle hervor, die freilich sehr verschiedene Resultate ergeben haben. Die Abschätzung Rivero’s (1847) lautete auf 10 Millionen Tonnen, eine Regierungscommission schlug im Jahre 1853 den Vorrath zu 12 Millionen Tonnen, Admiral Moresby, ebenfalls 1853, zu 8½ Millionen, der französische Ingenieur Taraguet 1854 nur zu 7 Millionen Tonnen an. Mit dieser Abschätzung stimmen die Ergebnisse einer unter M. D. Rucker im Sommer 1862 vorgenommenen Untersuchung überein. Der Werth des auf den Chincha-Inseln noch vorhandenen Guanos würde sich sonach (die Tonne mit 6 Pfd. Sterl. bezahlt) auf circa 42 Millionen Pfd. Sterl. belaufen. Die verschiedenen Bohrungen ergaben an einigen Stellen eine Mächtigkeit des Lagers von 105 engl. Fuß, während keine der Inseln sich mehr als 200 bis 250 Fuß über den Meeresspiegel erhebt. Noch ganz unversehrt liegen die Huaneras auf der südlichen Insel; am meisten wird auf der nördlichen Insel verladen, während die mittlere gegenwärtig verlassen ist. Im Jahre 1857 erreichte die Guanoausfuhr von den Chincha-Inseln die enorme Höhe von 490,657 Tonnen, im Sommer 1862 130,000, am 10. November 1862 allein 86,746 Tonnen. Nehmen wir nun, sehr gering gerechnet, eine jährliche Durchschnittsausfuhr von 300,000 Tonnen an, so würden die Guanolager der Chincha-Inseln von jetzt ab in circa 27 Jahren erschöpft sein!

Für die Peruaner ist der Guanohandel von größter Wichtigkeit. Die Regierung, in deren Auftrage mehrere Agenten in Lima die Ausfuhr des gesuchten Artikels vermitteln, zog im Jahre 1857 aus ihren Huaneras fünf Achtel der gesammten Staatseinnahmen. Im Jahre 1859 gewann sie aus dem Guanohandel nahe an sechzehn, im Jahre 1861 nahe an siebzehn Millionen Dollars.

Ueber das Ausgraben und die Einschiffung des Guano auf den Chincha-Inseln geben verschiedene Reisende, unter andern Tschudi und die Mitglieder der Novara-Expedition, ausführliche Berichte. Die Arbeiter verladen den Guano während der Nacht von 11 bis 6 Uhr in der Frühe und graben ihn da, wo es ihnen beliebt, begreiflicher Weise da, wo es ihnen am wenigsten Schwierigkeiten macht. Die Lager, welche unsere Abbildungen zeigen, werden in Zellen abgetheilt, in deren jeder ein Arbeiter mit dem stellenweis ziemlich beschwerlichen Losbrechen des Guano beschäftigt ist. Der abgebrochene Schutt wird dann auf Handkarren oder in Säcken zu den größeren, auf Schienenwegen rollenden Wagen gebracht, die ihn, 2½ Tonne auf einmal, den „Mangueras“ (Schläuchen) zuführen. Dicht am Meeresufer nämlich sind Wandungen von Rohrflechtwerk angebracht, zwischen die der Guano hingeschüttet wird (s. Abbildg.); von ihnen aus wird die Masse durch 25 bis 30 Ellen lange, aus grobem Segeltuch gefertigte Schläuche (ähnlich den Rettungssäcken unserer Feuerwehren) in die am Ufer haltenden Boote (Lanchas) geleitet. An mehreren Punkten der Küste sind die Mangueras an weit über den Uferrand vorspringende, durch Ketten und Taue oder durch Holzpfeiler getragene Brücken befestigt; ihre Stelle wird hier auch wohl durch lange Holztrichter ersetzt. Durch die Einrichtung solcher brückenartiger Vorbauten ist es möglich geworden, den Guano direct in die Schiffe zu leiten, was von großem Werthe ist, da durch das Umladen aus den Lanchas sowohl Zeit als Dünger verloren geht. Zu den unvermeidlichen Verlusten gehört z. B. der feine Staub, der beim Einschütten in die Schläuche entsteht und der von dem frischen, während des Tages und eines Theils der Nacht wehenden Winde in das Meer geführt wird. Viel größer jedoch ist der Verlust, der aus der schlechten Construction der Brücken an den Mangueras entsteht. Die großen, hier gegen schwache Böschungen gelehnten Lasten drücken oft die Rohrwände ein und bilden dann große Schlipfe, die in das Meer stürzen. Ebenso nachtheilig ist der schlechte Zustand vieler der zum Verschiffen gebrauchten Lanchas; monatlich müssen Ladungen von 20–30 Tonnen in’s Meer geworfen werden, um solche gebrechliche Fahrzeuge zu retten.

Als Dr. Scherzer vor ein paar Jahren die Chincha-Inseln besuchte, lebten auf der nördlichsten von ihnen 350 Menschen, nämlich 50 Fremde, meist Kaufleute, Speculanten, Wirthe etc., 50 Chinesen und 250 Peruaner und Neger. Im Jahre 1858 hatten die nördliche und mittlere Insel (von denen die letztere jetzt unbewohnt ist) noch zweitausend Einwohner. In früheren Jahren verwendete man zur Guanoausbeute fast ausschließlich Chinesen. Ein peruanischer Menschenhändler, Namens Domingo Elias, hatte mit Genehmigung der Landesregierung auf seine Kosten mehrere hundert Chinesen eingeführt und von diesen die Guanolager bearbeiten lassen. Während ein freier Arbeiter in der Regel 1–1½ Doll. täglichen Lohn erhält, bezahlte Elias den armen Teufeln 5 Doll. monatlich, sowie eine Reisration per Tag, und erzielte dadurch einen ungeheueren Gewinn. Gegenwärtig erhalten die Arbeiter, wie es scheint ohne Unterschied der Nationalität, für je zwanzig Säcke (fast ebenso viele Centner) 4 Realen (½ spanischen Thaler); einzelne Arbeiter fördern im Tage 60–80 Säcke. Die Huano-Compagnie in Lima hat mit einem Unternehmer von Pisco den Contract gemacht, den Guano zu 10 Realen (1¼ span. Thaler) per Tonne zu verladen, dabei muß er die Arbeiter bezahlen und verköstigen, indem er ihnen täglich zweimal zu essen und das nöthige Wasser, welches nach eigenem Uebereinkommen von den Schiffen (je zwei Gallonen auf ein Individuum) bezogen wird, verabreicht.

Daß für civilisirte menschliche Wesen der Aufentalt auf diesen [264] Misthaufen en gros – selbst die Ansiedlerhütten sind auf Guano gebaut – kein angenehmer, läßt sich denken. Die gebildete Nase liegt in einem fortwährenden Kampfe mit den ätherischen Entäußerungen der edlen Mistnatur, der man weit und breit auf den Chincha-Inseln nicht etwa so aus dem Wege gehen kann, wie in unseren großen Städten einem nächtlichen Geburtstag. Der üble Geruch des Guano wird bereits mehrere Meilen weit in See verspürt. Die Inselbewohner, namentlich die Arbeiter, sind mit dem feinsten „Poudre à la Guano“ parfümirt und über und über bedeckt und sehen braun wie die Lohgerber aus; doch soll ihr Gesundheitszustand ein äußerst günstiger sein. Das vorherrschende Uebel ist Leberleiden; dagegen sollen Lungenkranke im ersten Stadium sogar nach den Inseln kommen, um daselbst Heilung zu suchen, und in der That nach einem längeren Aufenthalte physisch wohler zurückkehren. Ein deutscher Arzt, Middendorf aus Altenburg, der seit mehreren Jahren in Arica gelebt und häufig mit Guanoarbeitern verkehrt hatte, versicherte Dr. Scherzer, daß diese das geringste Contingent seiner Patienten gestellt hätten, und schloß daraus, daß der getrocknete animalische Dünger trotz seines häßlichen penetranten Geruchs keine üblen Folgen auf den Gesundheitszustand derjenigen auszuüben scheine, welche seine Gewinnung und Verschiffung besorgen. Die Einathmung der mit Düngerstaub geschwängerten Luft ist zwar äußerst unangenehm, aber nicht schädlich.

Das gesellschaftliche Leben mag bei dem andauernden Verkehr fremder Schiffe, von denen oft hundert auf einmal ankern, ein erträgliches sein. Außer den circa hundert Holzhütten steht auf der Nordinsel ein großes Hotel, das jedoch nur als Schule, hie und da auch zu theatralischen und musikalischen Vorstellungen dient.

Noch heute nisten und brüten, ohne sich beirren zu lassen, Tausende und Abertausende von Seevögeln auf der südlichen und mittleren der Chincha-Inseln, gleichsam als wollten sie die Lücken ausfüllen, die der Mensch in ihr Düngerreich geschlagen hat.

 Was die Väter geräuschlos begonnen,
Die Enkel vollenden das Werk;
Geläutert von tropischen Sonnen
Schon thürmt es empor sich zum Berg.

Sie sehen im rosigsten Lichte
Die Zukunft und sprechen in Ruh:
Wir bauen im Lauf der Geschichte
Noch den ganzen Ocean zu.

Aber so viel sie sich auch abmühen, mit dem maßlosen Verwüster, dem Menschen, halten sie nicht gleichen Schritt: es wird eine Zeit kommen, wo man keinen Guano mehr von den Chincha-Inseln holt, wo die peruanische Regierung keinen Heller mehr aus ihren erschöpften Huaneras zieht. Wo bleibt da die weise Fürsorge der alten Incas?
G. Hth.

Aus den Zeiten der schweren Noth.
Nr. 9. Die Plünderung Lübecks 1806.
Von P. J. Wilcken.

Das furchtbare Unglück, welches im November des Jahres 1806 über die freie Reichs- und Hansestadt Lübeck hereinbrach, hat schon Zschokke mit der Verwüstung Magdeburgs durch Tilly verglichen. War die Katastrophe Lübecks allerdings nicht eine so vollständige, wie die jener andern unglücklichen Stadt, so war sie dagegen eine weit ungerechtfertigtere, unverschuldetere und schlug wie ein Blitz aus heitrer Höhe auf ein völlig harmloses Gemeinwesen herab. – Staat und Stadt Lübeck befanden sich mit aller Welt im Frieden, dennoch überzog sie die Kriegsfurie in wenig Tagen und lieferte in der durchaus neutralen Stadt eine mörderische Schlacht und überantwortete sie einer Plünderung, wie dieses Jahrhundert in Europa ihres Gleichen nicht aufzuweisen hat.

Die unmittelbare Veranlassung gab Blücher, welcher später selbst nur mit tiefem Bedauern von dieser traurigen Geschichte gesprochen haben soll. Die Plünderung selbst fällt zunächst den französischen commandirenden Generalen Bernadotte, Murat, Soult zur Last. Auf alle diese Männer sind mehr oder minder Anklagen gehäuft. Es dürfte daher sowohl interessant als auch speciell von historischer Wichtigkeit sein, aus den eigenhändigen Aufzeichnungen eines Lübeckischen Rathsherrn jener Zeit so wie einiger anderer betheiligter Personen eine kurze, getreue Darlegung der betreffenden Ereignisse zu erhalten. Wir betonen ausdrücklich, daß alles nachstehend Erzählte auf genaueste Authentizität Anspruch macht.

Die Schlacht bei Jena war verloren (14. Oct.), und General Blücher wandte sich mit seinem aus den Trümmern der preußischen Armee geretteten Heerhaufen nach dem Mecklenburgischen. Als er dort einzurücken begann, flüchtete Alles, was fliehen konnte, durch Lübeck in das dänische Gebiet. Dies ging schon seit dem 20. Oct. Nacht und Tag ununterbrochen fort. Die noch im Lauenburgischen stehenden 1000 Mann Schweden erschienen am 31. Oct. gleichfalls vor den Thoren, bemächtigten sich, als man sie nicht einlassen wollte, mit Gewalt des Mühlenthores und drangen ein. Ihr Oberst Mörner ließ dem Senat anzeigen, daß ihn die Noth zwinge, hierher zu retiriren, und daß er gewillt sei, zu Schiffe nach Stralsund zu gehen; Alles, was er und seine Leute nöthig hätten, sollte vom schwedischen Consul bezahlt werden. Die Truppen wurden einquartiert und zwanzig bis dreißig von ihnen in Beschlag genommene, meist schwedische Schiffe zu ihrem Transport eingerichtet. Dennoch vergingen, obgleich man Tag und Nacht damit beschäftigt war, drei bis vier Tage, ehe man sie an Bord bringen konnte, was theils in Lübeck selbst, theils in Travemünde geschah. Am 4. November verließen die letzten Schiffe die Stadt, doch war ihnen der Wind conträr, die Schiffe konnten so wenig von Travemünde abgehen, als die auf der Trave befindlichen herunter kommen.

Seitdem Holland von den Franzosen in Besitz genommen war, brachten die Engländer viele Colonialwaaren nach Lübeck, und Handel und Schifffahrt und Wohlstand waren auf einer lange nicht erlebten Höhe. Das Laden und Entlöschen der Schiffe war kaum zu bewältigen, und die Trave wimmelte von Fahrzeugen aller Art. Die Schweden hatten den Durchmarsch durch die völlig friedliche Stadt durch Einschlagen der Thore erzwungen, sonst aber Mannszucht gehalten und keine Gewaltthat verübt.

Vom 4. November Vormittags an kamen versprengte Trupps Preußen von hundert Mann, bald mehr, bald weniger, theils mit, theils ohne Waffen an; auch Weiber und Marketender. Ihr Gesuch um Aufnahme in die Stadt ward abgeschlagen; dagegen ward ihnen Essen und Trinken auf ihre Lagerplätze vor den Thoren geschickt. Am 5. November langten jedoch von Schönberg und Ratzeburg her größere Schaaren an, durchbrachen Mittags 12 Uhr die geschlossenen Barrieren des Mühlenthors und stellten sich auf den Hauptplätzen und Straßen der Stadt auf. Der General Blücher, der Prinz von Braunschweig Oels und mehrere hohe Officiere traten im goldenen Engel[4] ab.

Um 4½ Uhr begab sich Blücher auf das Rathhaus, wo der Senat im Audienzzimmer versammelt war. Nachdem er mit einer leichten Verbeugung eingetreten, redete er den Senat mit folgenden Worten an: „Meine Herren, das Schicksal hat mich zu Ihnen und in diese alte berühmte Stadt geführt, in der ich hoffe, Unterstützung für meine ermatteten Truppen zu finden, um so mehr, da Sie bis jetzt vom Kriege verschont geblieben.“

„Ew. Excellenz,“ erwiderte der dirigirende Bürgermeister, „gebe ich zu bedenken, daß wir zu wenig darauf eingerichtet sind, Ihre Wünsche zu befriedigen; zudem stehen wir in Verhältnissen, die uns Vorsicht gebieten.“

„Wie soll ich das verstehen, meine Herren?“ rief Blücher, „wollen Sie feindlich gegen mich verfahren?“

„Wie könnten wir gegen Ew. Excellenz feindlich verfahren wollen?“ antwortete der Bürgermeister. „Wir bitten um Schonung dieser guten Stadt!“

„Meine Herren,“ sagte Blücher streng, „ich bin ein Mecklenburger und habe mein unglückliches Vaterland nicht schonen können, jedoch verspreche ich Ihnen, wenn Sie mich und meine Truppen [265] mit dem Nöthigen versehen lassen, so soll Ihnen kein Haar gekrümmt, auch der Staub soll Ihnen nicht gekehrt werden.“

Blücher setzte noch hinzu, er sei seit drei Wochen von einem stärkeren französischen Corps verfolgt, habe sich fast täglich schlagen müssen und sei dadurch auf’s Aeußerste ermüdet; er wolle hier nur eine kurze Zeit der Ruhe genießen und sich im Falle eines Angriffs in das Holsteinische ziehen, um sich dort zu schlagen; jetzt ersuche er um Gotteswillen (was er einigemal wiederholte), daß man ihm helfen möchte.[5] Er requirirte deshalb eine augenblickliche Lieferung von 80,000 Broden aus Roggen und Weizen, 40,000 Pfd. Ochsen- oder Schweinefleisch, 30,000 Flaschen Wein und Branntwein, 50,000 Stück holländ. Ducaten, augenblickliches Quartier für seine Truppen, Fourrage für 5000 Pferde und den sämmtlichen Vorrath an Pulver und Blei, – dann sollten sämmtliche Einwohner auf’s Schonendste behandelt werden!

Man erwiderte ihm, Geld könne ohne Bewilligung der Bürgerschaft nicht verabfolgt werden, Pulver sei wenig, Blei gar nicht vorhanden, in Bezug auf Quartier, Verpflegung und Fourrage solle das Mögliche geschehen. Mit diesem Bescheide entfernte sich Blücher, dem es vor allen Dingen um Unterbringung seiner Truppen zu thun schien, und diese wurde denn auch in kürzester Frist beschafft. – Nur am Rathhause blieb eine Lübische Wache; die übrigen Wachthäuser und Thore besetzten die Preußen; Artillerie, Munitionswagen und Bagage standen auf den öffentlichen Plätzen, die Pferde vor den Kanonen.

Am 6. November Morgens von 4 Uhr an besetzten die Preußen die Thore – mit Ausnahme des Holstenthors, durch welches der eventuelle Rückzug gehen mußte, – mit Artillerie; um 6½ Uhr wurde Alarm geschlagen; die Gassen wimmelten von Soldaten; Alle schienen ernst und in sich gekehrt; wer ein wenig zögerte, wurde mit dem Stocke herbeigetrieben; die Meisten nahmen im Gehen ihr Frühstück ein.

Etwas nach 9 Uhr erfuhr man in der Stadt, daß französische Cavallerie bereits mit der preußischen eine halbe Stunde vor der Stadt im Handgemenge sei und obsiege und daß drei französische Corps gegen die Stadt anrückten: Bernadotte über Schwerin und Schönberg, Murat über Ratzeburg und Grönau, Soult über Schönberg und Crumesse. –

Die Preußen hatten inzwischen die Thore und Wälle der Stadt möglichst stark mit Artillerie armirt, doch gehört die detaillirte Beschreibung ihrer Aufstellung ebenso wenig in diese Skizze, wie diejenige der sich immer mehr und mehr entspinnenden Gefechte außerhalb der Thore. Blücher, mit seinem Adjutanten zu Pferde, ritt beständig von einem Posten zum andern, aus einer kurzen Stummelpfeife rauchend, die er fleißig aus seinem am Sattel hängenden Tabaksbeutel stopfte und wozu er sich das Feuer selbst schlug. Er trug einen einfachen blauen Ueberrock, runden Hut ohne Abzeichen und einen Säbel. Unter ihm commandirte am Burgthor der Herzog (Prinz) von Braunschweig-Oels.

Der Senat hatte sich schon früh wieder versammelt und in Anbetracht der überall sichtbaren Defensiv-Anstalten beschlossen, den General Blücher durch eine Deputation an sein Versprechen zu erinnern, die Stadt verlassen zu wollen. Es war noch nicht halb neun, als die Deputation den General auf einem der öffentlichen Plätze – dem Kuhberge – zu Pferde haltend fand. Er antwortete: die Umstände hätten sich seit gestern geändert; der Feind sei ihm näher, als er geglaubt, und an Abzug, da bereits alle Defensiv-Anstalten getroffen wären, nicht zu denken; er werde sich vielmehr bis auf den letzten Mann zu halten suchen. Der Senat möchte befehlen, daß die Bürger in den Häusern blieben und Alles wohl verschlossen hielten; er wäre gezwungen, sich nicht nur vor, sondern auch in der Stadt zu schlagen.

Um 11 Uhr warf die preußische Cavallerie die französische noch einmal bis auf eine halbe Stunde vor Lübeck – nach Irweladorf – zurück, aber dieser Erfolg war nur ein vorübergehender. Sie wurde auf’s Neue zurückgeschlagen, und jetzt nahm der Herzog von Braunschweig sie hinter die Kanonen und in die Stadt zurück. Auch die preußischen Batterien, die noch im Freien gestanden, mußten hinter die Barrieren gezogen werden, und die französischen Colonnen begannen den unmittelbaren Sturm. Sie litten außerordentlich, doch wurden die Leute, so wie sie fielen, vom Platze gebracht. Schon ließ Bernadotte größere Kanonen herbeiführen, um zündende Geschosse in die Stadt zu werfen, während man an anderen Thoren bereits ungefüllte Granaten warf: – da wurde der Feind durch einen Zufall Herr der Stadt.

Die zum Burgthor führende Straße wird durch einen breiten Damm gebildet, welcher die Trave von der Wackenitz scheidet. Ein Regiment Corsen stand in der Wackenitztiefung vor den Kugeln fast geschützt. Ein Tambour desselben watete dicht am Damme entlang bis an das Geländer eines Gärtchens, das zu einem nahe innerhalb der Barriere liegenden Häuschen, der sogenannten Brauer-Wasserkunst, gehörte. Ihm folgten alsbald sechs bis acht Corsen. Sie fanden einen kleinen versteckten Fußsteig, der bei dem Bau eines Lusthauses im Sommer zur Herbeischaffung von Materialien gedient. Dadurch gelangten sie bis an das neugebaute Lusthaus in dem Rücken der Barriere und somit der hier aufgestellten Batterien; bei dem starken Gewühl und Dampf wurden sie nicht sogleich bemerkt. Plötzlich begann der Tambour die Trommel stark zu rühren, die ihm Gefolgten feuern den Preußen in den Rücken, und so wie diese in augenblicklicher Bestürzung ihre Kanonen schweigen lassen, stürmt Bernadotte die Barriere und dringt in die Stadt.

Der Herzog von Braunschweig soll kurz vor diesem entscheidenden Moment sein Commando einem Obristlieutenant übergeben haben. In dem von Blücher nach Berlin gesandten Berichte werden dem Herzoge die bittersten Vorwürfe gemacht.

Das Gefecht wogte nun in den Straßen hin und her; mehrmals warf Blücher selbst die Franzosen große Strecken zurück. In diesem Gewühl war es auch, daß der Oberst von York – der spätere General York von Wartenburg – welcher bereits blessirt nach Lübeck gekommen war, abermals schwer verwundet auf das Pflaster niedersank und unter die Füße getreten wurde.

In den Straßen wurde mit Kanonen geschossen; bald wurden auch die übrigen Thore von innen geöffnet, und die Preußen konnten sich nun nicht mehr halten. Wer nicht gefangen oder niedergemacht war, zog sich fechtend durch das Holstenthor zur Stadt hinaus. Etwa um 3½ Uhr Nachmittags befand sich Lübeck gänzlich in den Händen der Franzosen. Die Divisionen Murat’s und Soult’s waren inzwischen auch eingezogen; in allen Straßen stand es gedrängt voll; die Verwundeten wurden in die Kirchen, das neugebaute Waisenhaus und andere größere Häuser gebracht.

Der letzte entscheidende Angriff der Franzosen geschah unter dem fürchterlichen Geschrei: à la mort! à la mort! – bald darauf erscholl Victoria! über Victoria! – Jetzt sandte der während der ganzen Zeit versammelt gebliebene Senat eine Deputation an Bernadotte, die ihn auf der Straße zu Pferde haltend traf. Er hörte sie gnädigst an, gab das Versprechen, Stadt und Senat möglichst zu schützen, erklärte aber zugleich, daß fortan, da er die Stadt erobert habe, die Befehle von ihm ausgehen würden und daß er den Colonel Maison zum Commandanten der Stadt ernenne.

Den drei commandirenden Generalen wurden sogleich Quartiere angewiesen, aber an ein regelmäßiges Einquartieren der Mannschaften war nicht zu denken. Ueberdies hatten sich fast alle Bürger in ihren Häusern eingeschlossen. So kam es, daß viele Officiere und Soldaten sich mit Güte oder Zwang selbst Quartiere suchten. Das Militär, welches die Stadt als eine feindliche und erstürmte ansah, war kaum aus den Gliedern getreten, als es die Hausthüren und Fensterläden der Bürger einzuschlagen begann. Wer sein Hab und Gut nicht freiwillig hergab, wurde ohne Ansehen der Person geschlagen, gemißhandelt oder gemordet. Die Schränke mußten geöffnet werden; was den Plünderern gefiel, nahmen sie; was sie nicht wegbringen konnten, zerschlugen und vernichteten sie; Vielen rissen sie die Kleider vom Leibe. Ueber hundert, zum Theil angesehene Bürger flüchteten auf das Rathhaus. Mit zerrissenen Kleidern, oft halb entblößt, erschienen sie mitten im Gewühle von Officieren, Fourieren und Requisiteuren, deren Forderungen unerschwinglich waren und sogleich ausgeführt werden sollten; sie weinten, schrieen und pochten, daß man sie aus den Häusern getrieben, daß man ihnen nichts als die Lumpen gelassen. Man ließ die an Bernadotte abgefertigte Deputation auch zu Murat und Soult sich verfügen und um Schonung flehen, wie um geschärfte Ordre, daß das Eigenthum der Bürger nicht verletzt werde. Die Befehlshaber bedauerten das Unwesen ihrer Soldaten sehr; der Soldat habe geglaubt, da die Stadt mit Sturm genommen sei, nach der raison de guerre plündern zu dürfen, indessen solle dem bald Einhalt gethan werden. Dessenungeachtet dauerte dieser Zustand die Nacht hindurch bis in den nächsten Tag. Erst als der Senat Bernadotte wiederholt um Schonung angefleht und [266] vorstellig gemacht, daß er bei der Plünderung durchaus nicht im Stande sei, die Forderungen der Herren zu befriedigen, wurde mittels Trommelschlag auf den Gassen bekannt gemacht, daß die Stadt unter dem Schutze des Kaisers stehe und von jetzt an noch statthabende Plünderung auf das Strengste und militärisch bestraft werden solle. – Dies half Etwas. Bernadotte selbst und mehrere hohe Officiere steuerten persönlich den Gewaltthaten und setzten sich der Wuth des Militärs aus, das wirklich einige seiner Vorgesetzten verwundete.

Sowohl in der Stadt, als draußen vor den Thoren, wo nunmehr größtentheils die Artillerie und Cavallerie untergebracht wurde, hatten viele Menschen ihre Häuser verlassen, Mobilien, Vieh und Fahrniß preisgebend; was der Soldat dort vorfand, wurde meistentheils vernichtet; dasselbe Schicksal hatten die Gartenhäuser, wo sogar Fußböden und Tapeten nicht verschont blieben.

Daß bei so viel Jammer und Elend auch manche komische Scene mit unterlief, kann nicht geleugnet werden. So war der fast siebenzigjährige bekannte Licentiat S. eine sonderbare Erscheinung. Es hatten sich auch bei ihm eine Anzahl französischer Soldaten Quartier gemacht und Speis’ und Trank gefordert. Dagegen protestirte er sogleich und suchte ihnen zu bedeuten, daß sein Haus kein Wirthshaus sei; sie aber beraubten ihn seiner Uhr und seiner Gelder, erbrachen die Schränke und den Keller und bedrohten ihn mit Schlägen. Darauf zog er sich in das Zimmer seiner Haushälterin zurück und hüllte sich in Frauenkleider; Weiberröcke bedeckten seine Beinkeider, ein kattunenes Kleid seine Brust, ein Kopfzeug sein gelehrtes Haupt und eine schwarze Saloppe schützte ihn vor Kälte; so stieg er durch des Nachbarn Haus auf die Gasse und gelangte in’s Rathhaus. Hier bahnte er sich mit knöchernen Armen und Händen eine Gasse zum Senat, immerfort pochend und lärmend; man wich ihm aus, in der Meinung, mit einem aus dem Tollhause entsprungenen Frauenzimmer zu thun zu haben. Endlich erkannte man ihn und hörte seine Leiden an, wobei er als Grund seiner Vermummung angab, daß er gehört, die französische Nation achte das weibliche Geschlecht. – In dieser letzten Beziehung waren andere Bürger nicht so zuversichtlich, und manche von ihnen, die hübsche Frauen und Töchter besaßen, bemalten ihnen die Gesichter mit gebranntem Kork, damit ihre Schönheit den unwillkommenen Gästen nicht in die Augen falle.

Kaum hatten die Generale ihre Logis bezogen, so gelangten folgende Requisitionen an den Senat: – man solle sogleich die ledigen Pferde einfangen, schleunigst die todten Körper von der Gasse entfernen; Gebäude zu Lazarethen und eine Quantität Leinwand zu Verbänden anweisen; 40 Pferde zu Courier- und Extrafuhren binnen zwei Stunden stellen; große Quantitäten Wein, Federvieh, Wild, Fische, Austern etc. schaffen; täglich 150,000 Pfd. weißes Brod, 50 Ochsen und 80 Schweine liefern; einige Kirchen für die Gefangenen einräumen etc. Schon war es acht Uhr Abends, als Alles ausgeführt werden sollte, eine Aufgabe, die fast eine übermenschliche genannt werden konnte! Verwundete gab es etwa 4000, zu denen indeß täglich noch mehrere von außen her kamen; etwa ein Drittheil derselben starb schon in den ersten Tagen.

In den Kirchen waren circa 6000 Gefangene; die Thüren waren mit Wachen und Kanonen besetzt; man reichte ihnen durch die Kirchenfenster blos gekochtes Mehl, schwarzes Brod und Stroh; die Verunreinigung und Beschädigung im Innern war gräulich. Einige hundert Arbeitsleute und die Gärtner vor den Thoren besorgten das Reinigen der Gassen; die zahlreich in den Strömen herumtreibenden Leichname zogen die Fischer heraus; es waren ihrer mehr als tausend. Die Gesammtzahl der Gefallenen ließ sich nicht gut bestimmen; die Franzosen schafften ihre Todten bald auf die Seite, doch schätzt man die Gebliebenen auf 7–8000. Ein einziger Kutscher schaffte von den Gassen und aus den Lazarethen 600 Menschen und 25 todte Pferde.

In der Nacht rückten immer frische Truppen ein und mußten einquartiert werden, so daß oft hundert Mann auf ein Haus kamen; den auf diese Weise logirten Soldaten blieb es überlassen, wie sie sich Essen, Trinken und Nachtlager verschafften; der Hauswirth war ganz in ihren Händen, und wenn er nicht schaffte, was verlangt wurde, erfuhr er mannigfache Mißhandlung. So wurde ein Prediger in vollem Ornat gezwungen, eine Mulde auf die Schulter zu nehmen und Fleisch herbei zu schleppen. – Zum Glück waren die meisten Ankömmlinge sehr ermüdet und suchten, sobald man sie gespeist hatte, die Ruhe.

Am 7. Morgens 7 Uhr ward Generalmarsch geschlagen, und bald standen 30,000 Mann Franzosen zum Abmarsch fertig, die unter dem Prinzen Murat nach Ratkau zogen, einem Kirchdorfe, 1½ Stunde von der Stadt entfernt, wo sich die Ueberbleibsel der Preußen gesetzt hatten. Um 2 Uhr Nachmittags traf in Lübeck die Nachricht von der Kapitulation Blücher’s ein. – Die uns gestellte Aufgabe, die Katastrophe Lübeck’s kurz zu schildern, wäre somit gelöst; die furchtbaren Leiden, welche von nun an unausgesetzt zu ertragen waren, mag sich ein Jeder selbst ausmalen. Zum Schlusse soll noch angeführt werden, wie Napoleon selbst sich über das Ereigniß ausgesprochen hat.

Am 9. November beschloß der Senat, eine Deputation an den Kaiser nach Berlin zu senden, deren Instruction hauptsächlich darin bestand, dem Kaiser die gegenwärtige Lage der durchaus neutralen Stadt auf das Lebhafteste zu schildern; daß sie ganz zu Grunde ginge, wenn sie keine Erleichterung erhielte, daß sie bei der Einnahme geplündert und um den Werth von etwa zwölf Millionen Mark gebracht sei; daß sie noch jetzt an 60,000 Mann Truppen und mehrere Tausend Kranke und Verwundete zu unterhalten hätte, – sowie um einigen Ersatz des ungeheuern Schadens und um augenblickliche Erleichterung zu flehen.

Die Deputation kam in Berlin sogleich zur Audienz, fand den Kaiser außer einem Adjutanten allein im Zimmer, wurde sehr herablassend empfangen, ruhig und mit Theilnahme angehört und erhielt die Antwort: er nehme die Stadt in seinen Schutz; daß sie geplündert, sei Blücher’s Schuld, Ruhe und Ordnung sollten hergestellt werden, er werde versuchen, für den erlittenen Verlust Ersatz zu beschaffen; die Handelsfreiheit anlangend, so träfe dieses Leiden seine Nation auch, er werde den Engländern alle Häfen der Länder, die ihm zu Gebote ständen, verbieten lassen, weil dies das einzige Mittel sei, jene Nation, die Urheberin so vielen Blutvergießens, einmal zum Frieden zu zwingen! –

Darauf entließ er die Deputation mit einer leichten Verbeugung. –

Wir enthalten uns aller kritischen Bemerkungen; wir haben uns in vorstehender Skizze von Lübeck’s Unglückstagen auf die Mittheilung rein historischer Thatsachen und derjenigen Aeußerungen beschränkt, welche die leitenden und umgebenden Persönlichkeiten selbst zu jener Zeit und zum Theil mitten in der Action darüber gethan. Es ist ein Scherflein Kulturgeschichte, das wir liefern wollten!

Ein deutscher Freihandelsapostel.

Bei Hippel in der Mittelstraße gleich hinter den „Linden“ kneipte in den vierziger Jahren die „absolute Kritik“ und „absolute Freiheit“ der Berliner Literaten in noch ungeschiedener, mostiger Gährung um Bruno Bauer und Max Stirner herum. Ersterer, Märtyrer der Hegel’schen Philosophie und der absoluten Kritik, ein kleiner, gedrungener, knorriger und grober Mann mit einer fabelhaft imposanten Stirn, war der Mittelpunkt, der Tonangeber, die entscheidende Majestät unbarmherzigster, das Kind im Mutterleibe nicht schonender Kriegführung gegen Alles und Jedes, was irgendwie Miene machte, als Berechtigtes oder nur Bestehendes gelten zu wollen. Er hatte für Alles nur eine Kategorie, ein Wort, das man sonst nie aus einem gewaschenen Munde vernimmt und das noch weniger gedruckt oder geschrieben wird. Alles war ihm schon längst verdaut, verbraucht, Excrement. Ich weiß noch, wie ich damals die zum Theil jungen, verständigen und geistreichen Damen, die mit kneipten, als Heldinnen anstaunte, daß sie das Alles ruhig aushielten. Aber sie brachten diese Opfer als Heroinen der Emancipation des weiblichen Geschlechts, die, wie alle mögliche Geistesrichtungen der Zeit, mit vertreten war.

Mir gefiel die ungeschlachte Tyrannei dieses kritischen Absolutisten (der jetzt den feudalen Absolutismus alphabetisch ordnet und als Kreuzzeitungs-Lexikon redigirt) so wenig, daß ich nur selten [267] Abende bei Hippel zubrachte, nachdem ich die Haupthelden kennen gelernt. Von diesen erwähne ich nur noch Max Stirner, Verfasser und Erfinder der Haifischphilosophie: „Der Einzige und sein Eigenthum“, der sein erheiratetes Eigenthum verspielte und verpraßte und endlich selbst verhungerte, dabei aber immer der gutmüthigste und nobelste Mensch gewesen war.

Unter diesen chaotischen Massen von Staats- und Zukunftsgläubigern, die damals bei Hippel für Geld und auf Credit kneipten, zeichnete sich für mich bald ein junger, braver, körperlich und geistig ungemein elastischer Unbekannter durch An- und Uebermuth und unverwüstliche Schlagfertigkeit gegen jeden kritischen und persönlichen Angriff aus, wobei er nie ausfallend, nie persönlich, geschweige grob ward. Er war auch absolute Kritik, aber nur im Dienste wirklicher, praktischer Freiheit, die mir damals als „Handelsfreiheit“ zum ersten Male als neue, reizende, gewaltige Gottheit erschien und mich so packte, daß ich ihr sofort leidenschaftlich zu dienen begann. Ich haschte und packte die hingeschleuderten Blitze des elastischen, südlich-braunen Unbekannten, den sie immer Faucher nannten, mit mehr Eifer als Geschick und machte mir Lanzen daraus, die ich mit aller meiner Kraft in einem Localblatte gegen die Mahl- und Schlachtsteuer, gegen die Stadtmauer (die nun schon seit mehren Jahren wirklich wackelt) und gegen die Schutzzöllner im Allgemeinen so lustig brach, daß die Splitter und Spähne nur so herumflogen. Faucher selbst fing damals schon an, schwereres Geschütz gegen allerlei staatliche Verkrüppelungen der Industrie und des Handels, namentlich gegen das Staatsbanksystem und gegen den verbissenen Schutzzöllner Gustav Julius loszuprotzen, besonders in der Bruno Bauer’schen Literaturzeitung und den Börsen-Nachrichten der Ostsee.

So kamen Freihandels-Ideen in die Welt in Formen und wissenschaftlicher Schärfe, wie nie zuvor, und die, welche sie vertraten und für sie kämpften, fanden sich plötzlich einander und bildeten einen „Freihandels-Verein“, in dessen Versammlungen wir viel freier, viel glücklicher und viel solider waren auf unserm festen Boden, als die kritischen Absolutisten bei Hippel. Unser Verein war eine bestimmte, positive Gestalt aus dem Chaos heraus. Wir strichen unsere politischen Forderungen an den Staat und boten ihm im Gegentheil ein reiches, gebildetes, zufriedenes, steuerkräftiges Volk, wenn er nur so gut sein wollte, nicht mehr Leute zu cujoniren und sie ungeschoren arbeiten, verdienen, kaufen und verkaufen zu lassen. Wir baten blos für alle fleißigen Hände um Erlaubniß, ungebunden arbeiten und auch dem Staate viel Geld verdienen zu dürfen, und schenkten ihm dafür gleich im Voraus alle unsere landrechtlichen Ansprüche auf Constitution und Kammern, auf alle die elende, erlogene Freiheit, die nach Hansemann blos viel Geld kostet.

Dadurch unterschieden wir uns wesentlich von allen andern liberalen Bestrebungen und Parteien und waren geradezu überzeugt, daß Alles, was sie verlangten, nicht besser erreicht werden könnte, als auf unserm Wege. Wir wollen und können keine Partei sein. Adam Riese, Arithmetik und Naturgesetze sind weder königlich noch republikanisch. Ich weiß nicht mehr, wie dieser unser Freihandelsverein entstand. Jedenfalls war Faucher der genialste und anregendste Hauptfactor darin. Roback, Director der Handelslehranstalt, personificirte die liebenswürdigste, anekdotenreiche Jovialität und den Humor schutzzöllnerischer Verirrungen, J. Prince Smith, jetzt mit Faucher Mitglied der zweiten Kammer, in Vorträgen und in geharnischten, kurzen, schlagenden Broschüren, die ihm von England her angeborne Thatsachen- und Zahlen-Dialektik gegen die staatlichen Zwangsanstalten, der dicke Stein kladderadatschigen Hohn gegen die Handels- und Industrie-Künstler, die zu einander sagten: „Schlägst Du Deinen Juden, schlag’ ich meinen Juden“ (und das ist das wahre Princip aller Zollmaßregeln zwischen verschiedenen Staaten), Dr. Wiß, jetzt amerikanischer Consul in Amsterdam, die Kritik staatlichen Zwanges, und David, ein Berliner Kaufmann, die Nachtheile und Verwüstungen des Schutzzolls in ganz speciellen Gebieten des Handels. Ich selbst wurde auch nicht für überflüssig gehalten, da ich scharf aufpaßte, um die schlagendsten Thatsachen und Pointen immer gleich als kleine Münzen in Notizen und Correspondenzen unter’s Volk zu schleudern. Doch wir schreiben hier keine Schilderung der Freihandelspersönlichkeiten, sondern nur eine Skizze zu dem Portrait des genialsten und schlagfertigsten Apostels der Gewerbe- und Handelsfreiheit. Sein Leben bis zu der Zeit unseres Freihandels-Vereins ist in wenigen Zügen abzumachen.

Dr. Julius Faucher, Mitglied des preußischen Landtags, ist von Geburt ein Berliner und Franzose. Das erklärt viel in seiner vielfach unerklärlichen Individualität. Er wurde 1820 (den Tag hat er mir nicht genannt, sich wohl auch wenig darum bekümmert) – an der Berlinischsten Ecke geboren, unter den Linden und der Friedrichsstraßen-Ecke der Kranzler’schen Officier-Conditorei gradeüber. Das Haus gehörte, glaub’ ich, seinem Vater, der damals ein bedeutendes Ladengeschäft in Officier-Artikeln u. s. w. darin betrieb. Er gehörte zur französischen Colonie, deren Mitglieder Nachkommen der aus Frankreich vertriebenen Emigranten sind, welche inter Friedrich Wilhelm II. eine bereitwillige Aufnahme in Berlin fanden und eine Menge Cultur, Bildung und Industrie einbürgerten. Die Fauchers waren aus der Provence gekommen und sind noch jetzt in zwei Zweigen, in Berlin und Kassel, vertreten. Leon Faucher und die beiden napoleonischen Generale desselben Namens stammen aus derselben Familie.

Julius Faucher ist als echter Berliner zugleich noch ein echter Franzose und zwar ein Provençale. Seine Züge, sein Profil, seine Farbe, sein ganzes flinkes, elastisches, impulsives Wesen sind südlich romanischer Art und erinnern mit keinem Atom an deutsche Tugenden und Untugenden. Diese süd-romanische Flinkheit des Geistes und Körpers, unter scharfen Berliner Gamins an der scharfen Ecke aufgewachsen und täglich noch gewetzt und gewitzigt auf dem französischen Gymnasium und durch mathematische Studien auf der Universität, durch weite, übermüthige Ausflüge und Fußreisen, durch zweischneidigen Berliner Witz und die Alles in Grund bohrende absolute Kritik, durch allerhand Häkeleien und Hänseleien junger, übermüthiger Freunde, deren Witz und Spott er durch sein stets schlagfertiges, geniales Wesen auf die Mensur herausforderte und immer mit bewundernswürdiger Schonung und Kaltblütigkeit zu ertragen oder auf die Gegner so zurückzuschleudern wußte, daß es ihnen nicht weh that, – dies Alles und noch mehr, als ich weiß, gehört dazu, um uns diesen merkwürdigen Faucher als Person und Charakter einigermaßen zu erklären.

Damit haben wir aber freilich noch nicht den scharfen, kenntnißübermüthigen, volkswirthschaftlichen Jourualisten und cäsarischen Agitator, der, wo er sich auch hinstellt und den Mund aufmacht, Alles fesselt und mit sich fortreißt, sie mögen wollen oder nicht. Es ist wahr, daß er, von 1843 an in die Bewegung der Geister gerissen und nicht mit deutscher Gemüthlichkeit und Michelei am Boden kleben bleibend, besonders die praktischen Beziehungen verschiedener Völker zu einander mit scharfem Blick in’s Auge faßte, namentlich die Parteikämpfe in England, und dadurch zum Selbststudium der volkswirthschaftlichen Literatur Englands und Frankreichs geführt ward.

Das war just sein Feld und Fach. Das erfüllte und entzündete seine eigenste Natur und seine Specialität. Dazu kam der für die ganze deutsche Freihandelsbewegung günstige Umstand, daß der gediegenste und zugleich populärste volkswirthschaftliche Schriftsteller und Enthusiast, der geborne Engländer John Prince Smith, von Elbing nach Berlin übersiedelte, sich mit Faucher sofort befreundete und um ihn herum der Berliner Freihandelsverein zum freudigsten Leben und tüchtiger Wirksamkeit zusammenschoß. Wenn ich genau sagen sollte, wer ihn eigentlich gestiftet, würde ich mir damit helfen, die Stiftung ganz abzuleugnen. Wir kamen eben zusammen und disputirten und lachten über die ungeheuere Pfiffigkeit der Staatslenker und Handelsminister, die sich immer so fleißig über militärisch-zöllnerische Grenzen hinweg bedrohten und wirklich oft ihre eigenen Juden schlugen, wenn England oder Frankreich seine Juden schlug, d. h. die ihrem eigenen Volke künstlichen Mangel, künstliche Theurung verordneten, wenn die Zöllner und Sünder anderer Staaten ihren Unterthanen die Werte und Waaren anderer Völker vertheuerten. Man nannte das Repressalien, Gegenseitigkeit. Von der Heydt nennt’s am Ende noch so.

Also wir kamen eben zusammen und immer wieder zusammen und wurden ihrer immer mehr, und Noback erzählte in der trockensten, jovialsten Art seine volkswirthschaftlichen Anekdoten, und der dicke Stein machte volkswirthschaftliche Couplets und Kernsprüche dazu, und David sang Psalmen über Callico und Cotton, und John Prince Smith stand zuweilen auf und ereiferte sich und zerlegte mit dialektischer Schärfe irgend einen neuen Schutzzöllner-Unsinn des Tages, und Faucher schoß dazwischen hin und her, theils persönlich, theils mit Bemerkungen, die uns Alle überraschten, und war oft ebenso unerklärlich rasch verschwunden, wie er gekommen. [268] Lauter Witz, Leben, Scharfsinn, substantiellste, mir ganz neue, bezaubernde Wissenschaft, welche ganze Welten von Vorurtheilen und Staatsdoctrinen zertrümmerte und ein Völkerleben des Friedens, der Freiheit, des Wohlstandes und der Bildung eröffnete, wie es keine politische Partei je zu hoffen und zu versprechen gewagt. Und aus diesem Vereine gingen die Zeitungsartikel und Broschüren hervor, welche wirklich und wahrhaftig den Grund zu der volkswirthschaftlichen Massenbildung legten, die jetzt anfängt, Staaten zu regieren und alle schöpferischen Kräfte der Völker für einander zu erlösen.

Es waren die glücklichsten Abende meines Lebens. Die ganze Welt wurde mir neu geschaffen und jedes Ding darin in einem neuen, schöneren, kosmopolitischen Lichte gezeigt. Ich erwähne das, weil ich weiß, daß es den Meisten, die sich um Volkswirthschaft nicht sonderlich gekümmert haben und Faucher zum ersten Male reden hören, wie dies neuerdings Tausenden passirt sein muß, ganz ebenso geht. Es sagen zwar hinterher Manche, es war Schwindel, Sophistik mit viel Phantasie und kecker Behauptung, aber sie werden’s nicht wieder los und bemühen sich hernach vergebens, in den gemüthlichen Zustand ihrer Froschperspective zurück zu sinken.

Faucher und der dicke Stein schrieben damals besonders für den „Altvater“ der Handelsfreiheit, die Börsen-Nachrichten der Ostsee. Aber das war Alles nichts gegen das lebendige Wort. Faucher ist seitdem immer Journalist gewesen. Aber Faucher ist weniger Schriftsteller. Faucher muß reden. Dann ist er immer ein Gott, der um und um beschwingte Gott Mercur, dem Minerva und die Musen willig dienen und vor welchem sogar der ungeschlachte Schlachtengott Mars die Honneurs macht und hinter dem abgenommenen Helme flucht, daß er nichts Gescheidtes gelernt habe, um sich davon, wie andere anständige Leute, selbst nähren zu können.

Wir wollen die schriftstellerischen Verdienste Faucher’s durchaus nicht über die Achsel ansehen, sondern meinen nur, daß sie gegen sein lebendiges Wort zurücktreten. Als Redacteur der Stettiner Börsen-Nachrichten von 1846 an wurde er mit seiner Feder allerdings bedeutend genug: er fegte damit ganz Norddeutschland rein von den Ueberresten schutzzöllnerischer Feiglinge und Bettler, die nicht „bestehen“ zu können vorgeben, wenn der Staat keine Armeen an den Grenzen zum Schutze gegen bessere und billigere Waare des Auslandes aufstellt und alle Inländer zwingt, die schlechtere Waare allein zu kaufen und mit jeder Elle Kattun, jedem Viertelpfund Zucker etc. ein Almosen an die Fabrikanten zu zahlen.

Aber er fegte mit der Feder nur in bereits volkswirthschaftlich gebildeten Köpfen. Er kann oder will nicht populär schreiben. Dagegen giebt es nichts Faßlicheres und Fesselnderes als sein lebendig Wort. Er fängt ganz ungenirt und ohne Phrase, ganz leicht und spielend mit irgend einem alltäglichen Dinge an, das Jedem vor der Nase liegt und bekannt ist. Mit einem Satze, einem Blitze zeigt er dann eine allgemein gültige, volkswirthschaftliche Wahrheit ganz handgreiflich, und Jeder wundert sich, daß er sie bisher nie sah. Nun sieht’s auf einmal Jeder, nun packt er’s und ist ganz glücklich darüber und horcht mit gespanntester Aufmerksamkeit, wie der Redner, wie der kecke, gedrungene, flinke Sprecher ohne alle Rednerei spielend, mit dünner, etwas heiserer, nicht einmal wohlklingender Stimme allen Rednerpomp Lügen straft und in ganz gemeinen, kleinen Alltäglichkeiten Gesetze und Wahrheiten nachweist, die sich unerbittlich über die ganze Erde hinweg geltend machen und Jeden bestrafen, der sie verletzt, und Jedem wohlthun, der sie frei walten läßt. In dieser eigensten Specialität macht’s ihm Keiner nach, obwohl wir die jahrelang fortgesetzte, auf einem bestimmten Gebiete verharrende, jetzt mit jedem Tage siegreichere praktische und volksrednerische Thätigkeit eines Schulze-Delitzsch viel höher stellen. Faucher wirke auch in Stettin durch das lebendige Wort im Freihandels-Verein und in Privatkreisen viel rascher und durchgreifender, als mit der Feder. Stettin ist eine bombenfeste Freihandelsstadt geworden.

Die politischen Kämpfe von 1848 scheinen ihn wenig oder nur unangenehm berührt zu haben: politisches Parteigezänk hatte keine Ohren für die staatswirthschaftlichen Bedingungen wahrer und wirklicher Freiheit für alle Menschen über politische Grenzen des „Zwangsstaates“ hinaus. Er ging in die Paulskirche, nicht um einen Kaiser machen zu helfen, sondern die „Tariffragen“ zu bewachen. Später finden wir ihn thätig, um einen Kongreß der Handelsstädte für Vertretung volkswirthschaftlicher Bildung zu Stande zu bringen. Er agitirte dafür in Hamburg und Bremen und vertrat auf dem Kongreß selbst Elbing.

Als der militärische „Zwangsstaat“ in Berlin und Frankfurt aller Volksvertretung und Volkswirthschaft mit Säbeln und Bajonneten ein Ende gemacht und den noch nicht beendeten Bürgerkrieg gegen Natur- und Menschenrechte als „Staatsrettung“ gegen die Interessen, von denen dieser Staat lebt, begonnen hatte, kam Faucher nach Berlin zurück und erklärte dem ganzen Principe des „Zwangsstaates“ den Krieg durch Gründung der „Berliner Abend-Post“. Auch die größten Feinde dieser radicalsten und zugleich friedlichsten aller Zeitungen, die je in der Welt erschienen sind, können, wenn sie sonst nur gebildete Menschen sind, ebenso stolz auf diese Erscheinung sein, wie auf deren philosophischen Vorgänger, die Halleschen und Deutschen Jahrbücher von A. Ruge. So etwas war eben nur auf Grund der abseitigsten und tiefsten wissenschaftlichen Bildung und Kritik möglich, und die Abend-Post nur in Berlin, wo die absolute Kritik dem absoluten Zwangsstaate in’s Gesicht ihre Feste und Siege gefeiert hatte und nun durch die Abend-Post alle Positionen in allen Stadien der alltäglichen Wirklichkeit zergliedert und zersetzt wurden.

Wir widerstehen der Versuchung, diesen kritisch-volkswirthschaftlichen Radicalismus hier erklären zu wollen. Nur so viel, daß er nichts weiter verlangte, als ehrliche, volle Freiheit in Angebot und Nachfrage, in Production und Verwerthung aller Bedürfnisse und Lebensbefriedigungsmittel, also z. B. in Bezug auf den Staat selbst und seine Zwangsmittel für Selbsterhaltung, daß nur der für den „Staat“ bezahle, der ihn brauche, und je nach Leistung und Gegenleistung, und nur der zum Militärbudget beitrage, der für geleistete Soldatendienste nach dem Marktpreise etwas schuldig geworden sei. Man müsse sich Staat, Soldaten etc. je nach Bedürfniß kaufen können, etwa von Compagnien, die uns ja auch je nach Bedürfniß mit Gas, Wasser, Kohlen etc. versorgen.

Dies sieht, so plötzlich in den Zwangsstaat hineingestellt, mehr komisch als gefährlich aus; aber es ist weder das Eine, noch das Andere, wie wir das Princip in einzelnen praktischen Richtungen ja bereits in England sehr ruhig, wohlthätig und großartig wirken sehen. –

Die Abend-Post wird als besonderes Organ des volkswirthschaftlichen Radicalismus und somit als eine vorher kaum geahnte, geschweige versuchte wissenschaftliche Schöpfung eine ewige Merkwürdigkeit bleiben, wenn auch nur als Curiosität der Presse, wiewohl ich für meinen Theil immer noch hoffe, daß er später einmal die Menschheit wirklich von aller „Zwangsstaaterei“ erlösen werde. Die Abend-Post erschien im „Bullenwinkel“, dicht am Hausvoigtei-Platz, wo die Redacteurs und Mitarbeiter Abends „kneipten“. Das waren glückliche, geniale Abende, obgleich bald Dieser, bald Jener vermißt und als ausgewiesen oder eingesteckt gemeldet ward. Dabei fürchteten wir uns weder vor Hinckeldey, noch Manteuffel und meinten, wir würden sie unbedingt überleben, wie’s denn auch wirklich gekommen ist. Verbot, Confiscation, Postdebits-Entziehung, Ausweisung, Preß-Processe, Gefängniß – darauf waren stets Alle gefaßt, und namentlich mich empfingen sie Abends oft mit Vorwürfen, daß ich noch nicht eingesteckt oder über die Grenze gebracht sei. Aber ich kam nur einige Monate später in England an, als die beiden Abend-Postillons Faucher und Meyen.

Sie waren wegen Postdebits-Entziehung und mehrerer eingeleiteten Preß-Processe 1850 hinübergegangen. Ich folgte ihnen im Mai 1851 auf einem Hamburger Schiffe, wo die damals österreichische Polizei in Hamburg mich und zwei ungarische Officiere vergebens gesucht hatte, da wir zwischen zwei Schafheerden auf dem Deck unter Stroh staken.

Der Erste, der mir in London von alten Berliner Leidens- und Freudensgenossen entgegenkam, war Faucher. „Kommen Sie morgen früh nur gleich in die Redaction und fangen Sie an!“ sagte er. „Vorläufig giebt’s nur 25 Schillinge wöchentlich, aber Sie können leicht mehr verdienen.“

Er saß schon mitten in der gewaltigsten Arbeit als Berichterstatter über das damalige Weltereigniß, den ersten kosmopolitischen Tempel der volkswirthschaftlichen Religion, die große Ausstellung. Dazu hatte er eine deutsche Ausgabe der „Illustrated London News“ begründet und alle möglichen literarischen Kräfte dafür engagirt. Unter diese führte er mich gleich den folgenden Morgen ein. Leider wurde sie durch das Ungeschick eines ganz unfähigen Redacteurs noch vor Beendigung der Ausstellung verdorben.

Wir kletterten an diesem ersten Tage in London auf den „Top“ eines Omnibus und fuhren nach seiner Privatwohnung. [269] Er hatte sich schon ganz hübsch häuslich eingerichtet. Die junge Frau saß auf einem echt englischen Bequemlichkeitsstuhl, die in Deutschland noch immer Seltenheiten sind, die zweijährige „Lucy“ saß spielend auf dem Teppich daneben und sah mich mit großen, verwunderten Augen an. Für mich hatte dies Bild deutscher Häuslichkeit nach langem Umherirren und begrabenem eigenen Haus- und Herzensfrieden etwas ungemein Rührendes. –


Julius Faucher.

Da wir weiter keine Gelegenheit haben, Faucher’s Familienleben in dieser Skizze zu berühren, bemerken wir hier nur, daß er sich in Berlin 1845 mit Fräulein Karoline Sommerbrod verheirathet und Lucy das einzige Kind am Leben geblieben ist. Später wohnte er in eigenen hübschen Villa’s zu London. Bis 1855 correspondirte er hauptsächlich für deutsche Zeitungen und importirte damit ein reiches Material von Aufschlüssen über alle mögliche englische Verhältnisse, die bisher uns räthselhaft erschienen. Während der Zeit hatte er tüchtig Englisch gelernt, besonders in den Discussions-Clubs, in denen er hernach selbst oft genug als hinreißender Redner in englischer Sprache von den beredtesten Engländern bewundert und mit Beifall überschüttet ward, wie ich es selbst oft genug als Augen- und Ohrenzeuge erlebt habe. Im Jahre 1855 wurde er durch Codden’s Einfluß Mitredacteur der von der Freihandels-Partei mit großartigen Mitteln ausgestatteten, täglich zweimal erscheinenden Zeitung: „Morning and Evening Star“ (Morgen- und Abendstern). Also der deutsche Journalist und Redacteur sitzt plötzlich mitten in der City von London im eigenen Zimmer, im eigenen, großen Palaste der Partei, welche die Kornzölle abgeschafft und England jetzt zum durchgebildeten Freihandelsstaate erhoben, als Mitredacteur ihrer Zeitung! Eine Wandelung und eine Situation, wie sie nicht so leicht zum zweiten Male vorkommen wird.

Es ist hier nicht der Ort, diese Wirksamkeit zu schildern. Aber nicht unterlassen kann ich, wenigstens zu erwähnen, was es immer für ein Fest für mich war, mit Faucher durch dieses unerschöpflich geheimnißvolle Ungeheuer London zu flaniren. Die unentwirrbarsten Labyrinthe, das unabsehbarste Gewinde und Getöse des betäubenden Welt- und Kleinverkehrs, Menschen, Trachten, Physiognomien, Gebäude, Straßen, Stadtteile – Alles verrieth ihm auf den ersten Blick Geheimnisse und Erklärungen dazu, wie sie Niemand vorher geahnt oder gesehen und wie sie hernach Jeder als schlagend richtig und ganz wesentlich findet. Das ist seine Specialität, sein Dämon. Sein Auge ist ein volkswirthschaftliches Genie, ein culturgeschichtlicher Hellseher.

Im Jahre 1860 besuchte er einen volkswirthschaftlichen Congreß in Deutschland. Angeregt durch dieses neue Leben gab er mit dem 1. Jauuar 1861 seine sehr anständig und fest honorirte Wirksamkeit in London auf und verbreitete sofort die volkswirthschaftliche Bewegung in Süddeutschland, wo er, von Ort zu Ort eingeladen, rasch hinter einander Köln, Fraukfurt, Offenbach, Hanau, Wiesbaden, Darmstadt, Dietz, Dillenburg, Herborn, Mainz, Kassel, Karlshaven, Fulda, Heidelberg, Worms, Karlsruhe, Heilbronn, Stuttgart, Göppingen, Reutlingen, Ludwigsburg, Ulm, Kirchheim, Nürnberg, Würzburg etc. besuchte und überall mit dem größten Erfolge volkswirthschaftliche Vorträge hielt und praktische Anregungen hinterließ.

Daß er auf den drei volkswirthschaftlichen Congressen zu Köln (wohin er von England eingeladen worden war), Stuttgart und [270] Weimar nicht fehlte und es nicht an sich fehlen ließ, versteht sich. Seinen norddeutschen Feldzug (Hamburg, Lübeck etc.) begann er im Mai 1862. Dann folgte im Herbste der schlesische durch Breslau, Kattowitz (diese neue Wunderstadt der Industrie), Neiße, Glogau, Liegnitz, Waldenburg, Freiburg etc.

Am Abend des 30. März trat er in der Centralhalle zu Leipzig, umgeben von den Fahnen sämmtlicher Zollvereinsstaaten und einem dichtgedrängten Publicum, als erster Redner zur Feier des vor dreißig Jahren vollzogenen Beitritts zum Zollverein auf; einige Tage später mit demselben glänzenden Erfolge in Chemnitz. Die sächsischen Zeitungen berichteten darüber wie über einen Cäsar, der „kam, sprach, siegte“. „Das ist eine bedeutende Persönlichkeit“ heißt es in einem Privatberichte aus Leipzig. „Ich habe selten einen glänzenderen, kenntnißreicheren Redner gehört, als diesen Mann. Nur noch zwei, drei solche Kräfte, und die Bewegung ist da.“

Welche Bewegung? Spitzen nicht schon die Spitzel die Ohren? Brauchen sich keine Mühe zu geben. Die Bewegung für volkswirthschaftliche Bildung und den Zollverein und die praktische Einheit Deutschlands und aller Völker kann und soll Niemand mehr hindern. Dafür ist Faucher da und Schulze-Delitzsch und Max Wirth und sind die Früchte da, die sie gesäet und die jede fleißige, gebildete Hand wieder und weiter sät, um Früchte daraus zu zeitigen. Faucher wird hoffentlich seine Feldzüge fortsetzen. Die von ihm begründete „Vierteljahrschrift für Volkswirthschaft und Culturgeschichte“ ist allerdings nicht für’s Volk, aber sie soll und wird eine feste Burg der strengen, unerbittlichen Wissenschaft für die Männer von Fach sein.

Als Mitglied des preußischen Landtags (gewählt von Delitzsch) hat Faucher selten und wenig gesprochen. Dieser Constitutionalismus ist nicht sein Feld und Fach. Es wird ihm wahrscheinlich sehr gleichgültig sein, ob wir ’n Bischen mehr oder weniger von der Freiheit kriegen, die blos Geld kostet, das Andere für deren Unterdrückung mißbrauchen. Faucher muß seine Feldzüge fortsetzen. Auch wird er mehr thun. Sagte er doch neulich erst, er sei noch ein Anfänger.

H. Beta.



Das Ende des Polizei-Spions.
Ein Vehmgericht des neunzehnten Jahrhunderts.

„Alles schon dagewesen,“ sagte der weise Rabbi Ben Akiba, und so möchte man fast vermuthen, daß die heutige Junkerpartei, freilich unter veränderten Umständen, dieselben Ansprüche erhebt, wie vor der Katastrophe des Jahres 1806, als der Minister Haugwitz und der geheime Cabinetsrath Lombard die Geschicke des preußischen Staates leiteten. Wie diese Gardeofficiere ihre Säbel auf den öffentlichen Trottoirs wetzten, um die Franzosen damit in Stücke zu hauen, und wie sie bei Jena eine moralische Niederlage erlitten, welche viel schlimmer war, als die militärische, hat uns die Geschichte genugsam gezeigt; wie viele dieser Menschen aber späterhin den Bestrebungen eines Freiherrn von Stein, eines Schill und eines Dörnberg zur Einigung Deutschlands verräterisch entgegenarbeiteten, darüber ist wenig bekannt geworden, da man es in den höhern Kreisen aus leicht begreiflichen Gründen für zweckdienlich gefunden hat, das damalige Thun und Treiben der verirrten Söhne mit dem Mantel der christlichen Liebe zuzudecken. Es wird daher nicht uninteressant sein, wenn wir eine seltsame Begebenheit, welche sich am Hofe des Königs Jerôme am Ende des Jahres 1810 zu Kassel zutrug, mit kurzen Worten erzählen, da dieselben ein trübes Schlaglicht auf die damaligen Zustände wirft.

Ein gewisser Herr von B., dessen Stammgut keine tausend Meilen von der idyllischen Spree entfernt lag, hatte wie so viele Andere seines Schlages bei Jena Fersengeld gegeben und nach dem für Preußen so unglücklichen Friedensschluß zu Tilsit bei seinen Verwandten in der Mark sich als Krippenreiter herumgetrieben, weil es am preußischen Hofe Nichts mehr zu schmarotzen gab und er sich in Berlin seiner Schulden halber nicht mehr sehen lassen durfte. Da schrieb ihm nach längerer Zeit ein Verwandter aus Kassel, daß es sich am neuen Hofe des Königs Jerôme sehr gut leben lasse, wenn man nur seinen deutschen Charakter verleugne und die gehörige Portion Serviltät zur Schau trage. – Es war in der That eine traurige Zeit, als Leute, die auf ihren alten Adel pochten und sich stets für die sichersten Wächter der Fürstenthrone ausgegeben hatten, von nahe und ferne nach der Wilhelmshöhe eilten, um dem aufgedrungenen Usurpator ihre Huldigungen zu erweisen, während der bei weitem ehrenhafter gesinnte Mittelstand sich grollend in die engeren Familienkreise zurückzog. Die Sittenlosigkeit, welche am westphälischen Hofe herrschte, hielt die Junker nicht ab, ihre Frauen und Töchter mitzubringen, im Gegentheil glaubte man eine bessere Aussicht auf Carriere zu haben, wenn man bei den Liebeshändeln einer schönen Gemahlin oder coquetten Schwester zur rechten Zeit ein Auge zudrückte.

Herr von B. im Besitze einiger hundert Louisd’or fand sich bald auf dem glatten Parquetboden des Kasseler Hofes zurecht, nachdem er der lockenden Einladung seines Verwandten gefolgt war, und wußte sich in kurzer Zeit die Gunst einflußreicher Männer und Frauen zu erwerben, ja den König selbst wußte er für sich zu interessiren, indem er ihm eine reiche Auswahl von Anekdoten aus der Chronique scandaleuse des Berliner Hofes auftischte. General d’Albignac, der damals bei Jerôme in hohem Ansehen stand, bot ihm seine Fürsprache an, falls er wieder in die militärische Carriere treten wolle; allein v. B. hatte seit dem Tage von Jena allen Geschmack daran verloren; er hatte eingesehen, daß der Dienst im Felde himmelweit von dem Parademarsch verschieden sei, außerdem wußte er, daß der Kaiser Napoleon seinem Bruder auf das Bestimmteste vorgeschrieben hatte, bei dem Avancement in der Armee den Adel ja nicht zu bevorzugen, sondern nur auf die Tüchtigkeit zu sehen. Da ihm sein Stammbaum allein deshalb in dem Heere keine höhere Stellung verschaffen konnte, so beschloß unser Junker, denselben desto mehr im Hofleben zu verwerthen, und der Großkronjägermeister, Graf von Hardenberg, derselbe, welcher den hannöverschen Marstall so getreu verwaltet hatte, wußte ihm eine Charge zu verschaffen, die ihm einen reichlichen Gehalt bot und ihm nebenbei die Gelegenheit gab, seinem angeborenen Hange zum Intriguiren zu folgen. Graf Bercagny, der Generaldirector der Polizei und ein vorzüglicher Menschenkenner, hatte Herrn von B. längst beobachtet und glaubte aus gewissen Thatsachen, die ihm zu Ohren gekommen waren, mit Recht schließen zu können, daß dieser unter einer gewissen Dressur ein brauchbares Werkzeug für seine Zwecke werden könne.

Schon längst hatte der Vorstand der Sicherheitsbehörden sich nach einem passenden Agenten für die höheren Kreise umgesehen, denn er wußte wohl, daß es unter dem norddeutschen Adel nicht blos Junker gab, sondern auch Edelleute, welche die Erniedrigung ihres Vaterlandes mit Ingrimm ansahen und danach strebten, das verhaßte Joch abzuschütteln. Den Umtrieben dieser nachzuspüren, hielt Bercagny für seine höchste Aufgabe, und es gelang ihm ohne große Mühe, v. B. durch reiche Geschenke und Versprechungen für diesen Zweck zu engagiren. Unter dem Mittelstande und unter dem Volke, welche beide Stände der westphälischen Regierung ganz besonders abhold waren, wurde die geheime Polizei durch den räthselhaften Commerzienrath Gärtner und durch den berüchtigten Würz verwaltet, die wiederum, ohne daß Bercagny es wußte, mit Fouché und Savary in Verbindung standen. Außerdem gab es in Kassel im Ministerium des Innern noch ein gewisses Bureau, in dem regelmäßige Conduitenliste über Beamte und andere einflußreiche Leute geführt wurden, deren Domestiken sogar als Spione gegen die eigene Herrschaft benutzt werden konnten. Dieses unmoralischste aller Institute fand späterhin nach den sogenannten Befreiungskriegen bei den legitimen Regierungen ungemeinen Beifall, obgleich man sonst schnell genug bereit war, alles Gute, was die französischen Institutionen mit sich führten, gründlich zu beseitigen. Herr v. B., der diese Conduitenlisten fleißig mit füllen half, sollte bald genug zu seinem eigenen Entsetzen erfahren, daß diese unheimlichen Papiere zuweilen wie ein zweischneidiges Schwert wirken.

Das Jahr 1809 brachte eine bewegte Zeit mit sich. Dörnberg, Schill und Friedrich Wilhelm von Braunschweig zeigten, daß es unter der Aristokratie noch Männer gab, die für Deutschlands Ehre und Recht ihre Degen in die Wagschale warfen. Da bei [271] allen diesen Unternehmungen das Königreich Westphalen am meisten gefährdet war, so hatte Herr v. B. Gelegenheit genug, sich durch eine unrühmliche Thätigkeit bei den Chefs der französischen Polizei beliebt zu machen. Schon früher hatte er im Auftrage Bercagny’s alte Verbindungen unter der Junkerpartei in Berlin wieder angeknüpft, um das Thun und Treiben der dortigen Patrioten auszukundschaften. Namentlich war der Freiherr von Stein dieser Clique ein Dorn im Auge, und mit Freuden ergriff dieselbe die Gelegenheit, den großen Staatsmann dermaßen zu compromittiren, daß Napoleon auf seine Entfernung dringen mußte. Herr v. B. wurde von Potsdam aus benachrichtigt, daß an einem gewissen Tage ein Hausirer auf der Straße zwischen Marburg und Gießen zu arretiren sei, der einen Brief an den zu Homburg weilenden Fürsten von Wittgenstein zu übergeben habe, in welchem Stein seine Pläne enthülle. Dieses aufgefangene Schreiben war denn auch der Grund zu des großen Ministers Entlassung. Bei dem Dörnberg’schen Aufstande spielte die Verrätherei des Herrn v. B. wieder eine große Rolle, da er sich durch seine aalglatte Natur das Vertrauen der Verschworenen zu verschaffen gewußt hatte. Unter dem Vorwand der Jagdliebhaberei trieb er sich auf den Gütern des Herrn von Malsburg umher, von wo aus er über die Pläne der Patrioten und über ihre Organisation mehrfache Berichte an den Grafen Fürstenstein (le Camus) und an den General Reubell schickte. Ja er hatte die Frechheit, mit dem Insurgentenheere bis zu der Knallhütte zu reiten, und bei dem unglücklichen Gefechte und der Auflösung der Patrioten ward es ihm leicht genug, Kassel auf Umwegen zu erreichen, wo er die Proscriptionslisten mit ausarbeiten half. Schlau, wie er war, hatte er alle Spuren seiner Verrätherei zu verwischen gewußt, so daß die Feinde der Regierung wirklich der Ansicht waren, dieselbe sei von dem ebenso patriotischen als klugen Herrn v. B. gründlich düpirt worden. Auch war letztere vorsichtig genug, die Thätigkeit ihres Agenten nicht durch officielle Gunstbezeigungen anzuerkennen, denn das hätte Argwohn erzeugen können, im Gegentheil wurde derselbe ganz im Geheimen durch eine bedeutende Geldsumme belohnt, während er nach wie vor seine unbedeutende Hofcharge bekleidete. –

In der westphälischen Armee herrschte damals ein eigenthümlicher Geist; die meisten Officiere waren bürgerlicher Abkunft und gewannen die militärischen Institutionen, welche aus der französischen Armee stammten, deshalb lieb, weil der frühere Gamaschendienst mit dem alten Zopfe beseitigt war und das Avancement nach Verdienst und Tüchtigkeit ging. Auch war der König Jerôme wegen mancher versöhnenden Eigenschaften nicht unbeliebt, jedoch blieb man im Herzen deutschgesinnt, und wenn man auch Krawalle und Putsche sogleich mit den Waffen zu unterdrücken bereit war, so war doch der größte Theil der Führer und Soldaten entschlossen, bei einem ernstlichen Aufstande auf die Seite des Vaterlandes zu treten. Nichts beleidigte aber den esprit de cops mehr, als die geheime Aufpasserei der französischen Generäle am Kasseler Hofe, die freilich die eigentlich schmutzige Arbeit durch Renegaten, wie v. B., verrichten ließen. So konnte es denn nicht fehlen, daß man diesen Spitzeln, hoch oder niedrig, auf die Spur zu kommen suchte, und der Zufall fügte es auch, daß ein patriotisch gesinnter Secretair, der in dem Bureau der höhern Staatspolizei angestellt war, Abschrift von gewissen Papieren nahm, welche den Herrn v. B. ganz besonders incriminirten; auch gelang es ihm, einen eigenhändigen und nicht in Chiffren geschriebenen Brief des schlauen Junkers, in welchem derselbe sich auf das Höchste compromittirte, ohne Aufsehen zu erregen, bei Seite zu bringen. Diese Documente wußte der Beamte auf sichere Weise in die Hände eines Officiers der Gardejäger (früher Dörnberg’s Corps) zu spielen, von dem er mit Sicherheit voraussetzte, daß er ein Mitglied des patriotischen Zweigcomité’s war, das damals heimliche Sitzungen in Kassel, fast unter den Augen der Regierung, hielt.

Der Sylvesterabend des Jahres 1810 füllte die Straßen von Kassel mit regem Leben. Tausende strömten vor dem Palais des Königs zusammen, um die glänzenden Equipagen vorfahren zu sehen, aus denen reichgeschmückte Masken stiegen, welche schnell zwischen betreßten Lakaien die hohe Schloßtreppe hinauf verschwanden. In den Sälen oben wogte ein buntes Leben auf und ab, da Alles, was zu den höhern Kreisen gehörte, eingeladen war, und Jerôme es vortrefflich verstand, solche Feste zu arrangiren. Der König selbst, im Costum Franz des Ersten, schritt an der Seite der schönen Gräfin O. durch die hohen Gemächer und gab hin und wieder näher bekannten Personen ein freundliches Erkennungszeichen. Auch Herr v. B. trieb sich im schwarzen Domino unter der Menge herum, behutsam schleichend, um etwaige Liebesintriguen zu erlauschen, mit denen er dann den andern Tag den Hofscandal bereichern wollte. Da berührte Jemand seine Schultern, und als er sich umdrehte, gewahrte er ein florentinisches Blumenmädchen, welches ihm ein Rosenbouquet überreichte. Als er dieses näher betrachtete, sah er ein sauber gefaltetes Billet darin stecken. Schnell gefaßt, entfernte er sich in einen stillern Corridor, wo er unbeachtet das Briefchen entfaltete und folgende Worte las:

„Theurer Herr v. B.! Eine schöne Dame, die von Ihnen bewundert zu sein glaubt und vor Sehnsucht nach Ihnen stirbt, erwartet Sie diese Nacht. Folgen Sie ohne Bedenken der Ueberbringerin, denn die Gelegenheit möchte sich nicht wiederfinden.“

Der eitle Junker, der sonst aus guten Gründen dergleichen einsame und risquante Abenteuer nicht liebte, überlegte eine kleine Weile, ob er die Einladung annehmen sollte oder nicht, indessen besaß er von seinem frühern Berliner Leben noch Leichtsinn genug, um derselben zu folgen. Am Ende des Corridors, am Eingang des großen Saales, sah er das Blumenmädchen vorsichtig winkend stehen und folgte demselben unbemerkt; doch als sich dasselbe durch eines der Hauptgemächer wand, wo gerade von einer Anzahl Masken ein Menuet getanzt wurde, traf er den König mit seiner Dame, der in der rosigsten Laune zu sein schien. „Heda, Maske! wohin? Die Larve herunter!“ Als dieses natürlich augenblicklich geschah, fuhr Jerôme fort: „Ah, Herr v. B. wieder auf Schleichwegen!“ und auf das Blumenmädchen deutend fügte er hinzu: „das scheint eine gefährliche kleine Hexe zu sein, nehmen Sie sich in Acht!“ Der durch ein vornehmes Kopfnicken entlassene Cavalier stieg nun an der Seite seiner Begleiterin eine Nebentreppe hinunter und gelangte so auf eine weniger frequente Gasse, wo der scharfe, eisigkalte Nachtwind ihn einen Augenblick stutzig machte. Doch das Blumenmädchen schritt unbekümmert weiter, sich nur von Zeit zu Zeit umsehend, ob er auch nachkäme. So gelangten sie auf den Friedrichsplatz und stiegen von dort in die schneeglänzende Aue hinunter. Herr v. B. wäre gern wieder umgekehrt, da er unheimlich zu fühlen begann, indessen fürchtete er den andern Tag wegen seines Kleinmuths ausgelacht zu werden, und außerdem beruhigten ihn die lustigen Gesänge der Gardechasseurs, welche in dem nahen Orangeriepalais einquartiert waren und auf des Königs Kosten die Neujahrsnacht feierten. Als nun seine stumme Führerin direct auf das bekannte Marmorbad zuschritt, welches zu jener Zeit häufig zu galanten Abenteuern benutzt wurde, folgte er unbedenklich, obgleich sie auf alle seine Fragen nur mit einem stummen Kopfschütteln antwortete. An einem kaum merkbaren Seitenpförtchen blieb das Blumenmädchen stehen und klopfte dreimal sachte an, worauf sich dasselbe leise öffnete und v. B. mit seiner Begleiterin eintrat. Dieselbe führte ihn durch eine enge Passage in ein dunkles Zimmer, worauf sie plötzlich verschwand, während er im Finstern um sich tastend fast bestürzt zurückblieb. Da öffnete sich plötzlich eine Thür und ein hoher Mann in Cürassieruniform trat ein, einen Armleuchter mit brennenden Kerzen in der Hand, den er auf einen mit Papieren bedeckten Tisch niedersetzte, ihm folgten noch zwei andere Officiere, nebst einem jungen Manne in Tracht eines Corporals der Gardejäger. Dem saubern Junker ging nun in der That ein Licht auf, und seine Zähne schlugen krampfhaft zusammen, als er sich in dem kleinen Ankeidezimmer des Marmorbades Leuten gegenübersah, an deren Verderben er planmäßig gearbeitet hatte. Zuerst kam ihn der Gedanke an Flucht an, doch wie er die lauernden Blicke seiner Gegner und deren Waffen sah, ließ er diesen fallen und beschloß sich durch unverschämtes Leugnen aus der Klemme zu ziehen. Er nahm die schwarze Sammetmaske herunter, kreuzte die Arme auf der Brust und fragte in arrogantem Tone, was die ganze Procedur bedeute.

„Das werden Sie gleich sehen, Herr v. B.,“ sagte der älteste der Officiere, indem er einen Blick auf die vorliegenden Papiere warf „Sind Sie nicht der Schurke, der im Dienste der geheimen Staatspolizei die besten Männer, um deren Freundschaft Sie heuchlerisch buhlten, verrathen und in das Unglück gestürzt hat? Haben Sie selbst nicht nach der Dörnberg’schen Affaire, als Alles wieder in das alte Gleis gekommen war, und der König selbst gern vergessen wollte, von Neuem wieder das Feuer geschürt und frische Denunciationen gemacht? Leugnen Sie noch? Hier sind die Conduitenlisten über die Garde du Corps, die Gardechasseurs und das [272] erste Cürassierregiment, zu denen Sie so reichliche Beiträge geliefert haben. Diese Notiz über Oberst v. Marschall, aus Melsungen geschrieben, ist von Ihrer eigenen Hand. Schauen Sie (damit hielt er ihm den oben erwähnten Brief vor das Gesicht), können Sie Ihren eigenen Namenszug ableugnen?“

Wie vernichtet stand Herr v. B., die Wucht der Beweise erdrückte ihn fast, doch stotterte er mühsam heraus: „Die Conduitenlisten da auf dem Tische sind nichts als Copien und bedingen keinen Beweis, und was den Brief anbelangt, so habe ich ihn ohne böse Absicht geschrieben, was mir General Allix morgen gern beweisen wird.“

Die Züge seiner Richter verfinsterten sich bei diesen Worten und der Wortführer entgegnete: „Halten Sie uns für so dumm, daß Sie uns mit solchem Gewäsch in die Falle führen wollen? General Allix mag ein ehrenwerther Mann sein, allein als Franzose möchte er Ihre Partei nehmen, da Sie einmal seine schmutzige Wäsche gewaschen haben.“

„Um Gottes Willen, meine Herren, was haben Sie mit mir vor? Soll ich hier heimlich gemordet werden?“ rief der kreideweiß gewordene Junker.

„Nein, morden sicher nicht,“ erwiderte der älteste Officier, „aber hier ist ein junger Mann, der noch ein Wörtchen mit Ihnen zu sprechen hat.“

Der Corporal der Gardejäger trat nun vor, warf einen durchbohrenden Blick auf Herrn v. B. und fragte denselben mit bebender Stimme: „Kannten Sie einen Wachtmeister Hohnemann, den General d’Albignac kriegsrechtlich erschießen ließ? Wurde er nicht durch Ihre Vermittelung in Fritzlar verhaftet? Auge um Auge, Zahn um Zahn!“

„Barmherzigkeit! Tödten Sie mich nicht! Ich will ja Alles bekennen,“ schrie v. B., dem die Haare zu Berge standen.

„Wir sagten Ihnen bereits, daß wir keine Mörder sind, obgleich ein solcher Spion unter allen ehrlichen Leuten vogelfrei ist, aber Satisfaction müssen Sie diesem jungen Manne geben, dessen nächsten Blutsverwandten Sie verriethen,“ ertönte die tiefe Stimme des Cürassierofficiers.

„Ich mich mit einem Corporal schlagen? das geht ja nicht! Ich, ein Herr aus dem ältesten preußischen Adel, soll mit einem bürgerlichen Unteroffizier die Klinge kreuzen! was würden meine frühern Cameraden dazu sagen?“

„Und ich sage Ihnen, Sie werden sich schlagen, oder Ihr Schicksal trifft Sie hier,“ erwiderte einer der Officiere, indem er einen Strick unter dem Mantel hervorzog und die Pantomime des Hängens machte.

Der Junker schauderte zurück, als wenn ihn eine Schlange gestochen hätte, so sehr hatte diese Drohung auf ihn gewirkt. „Nun, wenn es sein muß,“ stöhnte er, „so will ich Satisfaction geben, aber wie und wo und auf welche Waffen?“ –

„Freut mich der preußischen Armee wegen, daß Sie sich dazu verstehen,“ sagte der ältere Officier, „es ist schon für Alles gesorgt; kommen die Herren nur mit in’s Freie, die Sache wird bald abgethan sein. Aber keinen Fluchtversuch, Herr v. B., das muß ich mir ausbitten.“ –

Eine Minute später schritten die fünf Männer, Herr v. B. in der Mitte, über den vor Frost knirschenden Schnee nach der fest überfrorenen Fulda zu, während aus der nahen Orangeriekaserne die muntern Soldatengesänge erschallten und in der Stadt hoch oben in der Höhe die Glocken das neue Jahr einläuteten. Der Mond schien fast mit Tageshelle und erhellte die Winterlandschaft mit einer solchen Klarheit, daß man fast die kleinsten Gegenstände erkennen konnte. Am Ufer des von der strengen Kälte mit fußdickem Eise überbrückten Flusses angekommen, bemerkte v. B. zwei Sappeure, die auf ihre glänzenden Aexte gelehnt eine große Oeffnung betrachteten, unter welcher die schwarzen Gewässer des Flusses rasch dahinströmten.

„Herr Major,“ sagte der eine, militärisch salutirend, „wir hatten schon gedacht, Sie würden nicht kommen, und waren schon besorgt, daß bei der strengen Kälte das Loch wieder zufrieren würde.“

„Alles recht,“ sagte der Cürassier, „geht nur in Gottes Namen und sorgt dafür, daß hier keine Störung eintritt.“ –

Die Sappeure gingen, scheue Blicke hinter sich werfend. –

„Nun, Herr v. B., und Sie, Herr Corporal, treten Sie vor und entledigen Sie sich Ihrer Überkleider; hier sind die Degen“ – einer der beiden andern Officiere zog deren zwei unter dem Mantel hervor – „hier ein Fünffrankenthaler, Kopf oder Wappen?“

„Kopf!“ rief der Gardejäger, ehe der vor Schrecken halbtodte Junker nur sprechen konnte.

„Der Corporal hat die Wahl, übrigens hat das nichts zu bedeuten, denn die Klingen sind gleich lang und gleich gut. Nehmen Sie Ihre Distanz!“

Es dauerte nicht einen Augenblick, so war der Gardejäger schon auf seinem Stande und hatte sich die Augen finster rollend ausgelegt, nur Herr v. B., der mit unsicherer Hand den ihm zukommenden Degen ergriffen hatte, machte keine Miene anzutreten; seine Kniee schlotterten und seine Zähne klapperten, aber nicht vor Kälte, sondern aus Furcht. Todesangst, Scham und Gewissensbisse erzeugten bei ihm einen Seelenkampf, der seinen Geist umnachtete. Vergebens spähte er nach Hülfe umher, plötzlich wie von einem rettenden Gedanken gepackt, sprang er, einen wilden Schrei ausstoßend, nach vorwärts, aber nicht auf seinen ruhig wartenden Gegner, und verschwand mit einem Satze durch die in das Eis gehauene Oeffnung in den Wellen der ruhig dahinfließenden Fulda. Der Sprung war so schnell und überraschend geschehen, daß keiner der Anwesenden ihn daran hindern konnte, auch tauchte er nicht wieder auf, da ihn die Strömung augenblicklich unter die Eisdecke führen mußte. Bestürzt schauten sich die Officiere an, und dem eben noch so furchtlosen Chasseur fiel der Degen rasselnd aus der Hand. –

„Den hat Gott gerichtet, meine Herren,“ sagte der Cürassierofficier, „lassen Sie uns ein Vaterunser beten“ – – –


Trotzdem daß alle Spuren des unglücklichen Ereignisses mit vorsichtiger Hand vertilgt waren und daß die strenge Kälte schon am nächsten Morgen das nasse Grab mit einer festen Eisdecke geschlossen hatte, tauchten doch nach einiger Zeit in Kassel über das Verschwinden des Herrn v. B. Gerüchte auf, welche der Wahrheit mehr oder minder nahe kamen. Dem Polizeiminister waren einige Indicien zu Ohren gekommen, die ihn bewogen, zum Könige zu gehen, um sich Verhaltungsregeln zu holen. Dieser hörte ihn ruhig an und sagte dann gelassen: „Man liebt den Verrath und haßt den Verräther.“ –

Die einzige Folge war, daß die Betheiligten in entfernte kleine Garnisonen versetzt wurden, wo sie bis zu dem Ausbruche des russischen Krieges lebten, in welchem Alle, bis auf Einen, dem wir diese Geschichte verdanken, den Tod fanden. –



  1. Noch heute ist der „Rebsch“, wie die Araber den Vogeldünger nennen, an den Küsten des rothen Meeres ein gesuchter und nicht selten lohnender Handelsartikel; er wird, wenn auch in spärlichen Qantitäten, auf vielen kleinen Inseln des arabischen und persischen Golfs gefunden.
  2. In Großbritannien betrug die Einfuhr von 1814 bis mit 1857 2,373,508 Tonnen (à 20 Ctr.). Von diesem Betrag kam der meiste aus Peru, nämlich 1,664,662 Tonnen.
  3. Tschudi bezeichnet die Angabe mehrerer Autoren, daß auch Flamingos und Kraniche zu den Guano liefernden Vögeln gehören, als irrig.
  4. Der „Goldene Engel“, damals ein angesehener Gasthof, ist noch jetzt das erste Restaurationslocal der Stadt.           Anm. d. Verf.
  5. WS: Im Original fehlenden Punkt ergänzt.