Die Gartenlaube (1863)/Heft 16
Die Mägde fingen an, die Tische abzuräumen; Evi war darunter und kam in Gaberl’s Nähe.
„Nun,“ rief er ihr sich aufrichtend zu, „Jungfer Kellnerin, oder muß man vielleicht schon Mamsell sagen – gar keine Zeit?“
„Zeit? Zu was?“ fragte Evi, ohne sich irre machen zu lassen.
„Wozu sonst, als zum Plaudern!“
„Wüßt’ nit, was wir Zwei zu plaudern hätten miteinander!“
„Was? Behüt’ Gott sagen wenigstens, wenn’s auch sonst nichts gäbe! Ich geh’ fort!“
„Glück auf den Weg!“
„– Und Du fragst gar nit wohin?“
„Mir ist’s gleich; Dein Weg ist doch nit der mein’!“
„Wer weiß!“ sagte er leiser, da sie eben an den Tisch neben ihn herankam. „Ich komm’ hinaus in die Gegend von Benediktbeuren, das ist nimmer weit von Deiner Heimath von Lenggries!“
„… Ich hab’ nichts zu suchen im Lenggries,“ sagte sie nun muthig und wollte fort, weil ihre Arbeit beendigt war. Er hielt sie am Rocke fest und schlug ein wildes Gelächter auf.
„Man findet oft, was man nicht sucht!“ sagte er. „Weißt, Evi, ich frag’ nichts darnach, was die Leut’ von Dir reden – ich kümmere mich um das nicht, was früher gewesen ist – aber ich begreif’s, daß Du nicht in Deine Heimath zurück willst, und daß Du hier herum in die Länge nicht bleiben kannst, mußt Du spüren, … ich wüßt’ einen Ausweg! – Ich bin Forstwart geworden!“ sagte er näher rückend, als sie schweigend stand. „Ich hab’ mein gutes Auskommen, hab’ ein schönes Häuschen mitten im Wald, in einem grünen Schlag, wo kein Mensch hinkommt und Einem die ganze Welt auf den Buckel steigen kann – nichts geht mir ab drinnen als eine saubere fidele Haushälterin … Was meinst, Evi, das wär’ ein Plätzchen für Dich!“
„Ich muß’ leiden,“ sagte Evi, glühend vor Scham und Entrüstung, „daß Du mir einen solchen Antrag machst! Es wird ja doch wieder einmal eine andere Zeit geben, und ich kann Dir wenigstens drauf sagen, daß ich mir nicht getrauen thät’, mit Dir unter einem Dach zu sein!“
„… Warum?“ fragte er mit funkelnden Augen.
„Weil ich fürchten thät’, es müßt’ heut’ oder morgen einstürzen über dem, der einen unschuldigen Menschen in’s Unglück gebracht hat!“
„Pfeift der Wind aus diesem Loch?“ lachte der Jäger. „Eine saubere Unschuld das! Und wenn er unschuldig wär’, geht’s mich was an? Das Gericht hat ihn verurtheilt!“
„Auf Deine Aussag, daß Du ihn genau und gewiß erkannt hast – auf Dein Zeugniß hin, das Du beschworen hast. … Und Du getraust Dir, allein im Wald zu leben? Fürchtest Du nit, daß er lebendig wird und daß jeder dürre Ast Dir die drei Finger zeigt, mit denen Du Gott zum Zeugen angerufen hast für die Unwahrheit?“
„Wer sagt das?“ fuhr der Jäger auf. „Wer kann das sagen? Wer getraut sich, mir das in’s Gesicht zu behaupten? – Der Mentel ist’s gewesen, sag’ ich, und kein anderer Mensch!“
„Und ich sag’, er ist’s nit gewesen!“ rief Evi sich losmachend. „Beweisen kann ich’s freilich nit, aber die Stund’ wird nit ausbleiben, wo Alles aufkommt!“
Sie eilte fort; Gaberl sah ihr durch die Dunkelheit nach. „Das will ich abwarten, denk’ ich,“ murmelte er. „Also diesmal wär’ ich abgefahren! – Und warum wohl? Weil sie den Mentel wirklich für unschuldig hält? – Bah, wenn es sie auch wurmt, daß sie nicht Bühelbäuerin geworden ist, wie sie sich vielleicht gedacht hat, … das ist vorbei, der kommt nicht mehr heraus aus dem Schlaghäusel … auf den kann sie nimmer rechnen, wegen dem also hat sie mich nicht ausschlagen. – Es muß was Anderes dahinter sein! – Etwa der Maler? Unmöglich wär’s nicht – ich will immerhin meine Augen aufmachen. Daß er so ganz zufällig daher gekommen sein sollte und sich in der Schönau einquartiert, kommt mir ganz sonderbar vor … warum nicht in der Ramsau, wie im vorigen Jahr? Will mir der Farbenklexer auch in’s Gehege kommen? Er soll sich in Acht nehmen, er hat ohnehin etwas bei mir auf dem Kerbholz. … Und wenn sie sich noch so sehr sperrt und spreizt … kein Anderer soll sie haben, so lang ich einen Finger rühren kann; so muß sie zuletzt noch froh sein, wenn ich mich annehme und ihrer erbarme!“
Er nahm Büchse und Ranzen auf und schritt durch die Bäume, unter denen es ganz still und einsam geworden war, dem Hause zu, aus dessen Fenstern rother Lichtschein in die Dämmerung fiel. Die Jungen tobten nach Lust und Kraft oben auf dem Tanzboden aus; die Alten saßen in der Zechstube im Erdgeschoß und hielten sich mit gleichem Eifer an das Ersatzmittel in den Krügen.
Reinthaler war inzwischen noch eine Strecke gegen Berchtesgaden hinaus gegangen, um Abendluft und Abendstille zu genießen und die letzten rothen Lichter an den Felsen des hohen Göll verglimmen zu sehen. Er war in einer ihm selbst unerklärlichen befangenen Stimmung; es war ihm fast feierlich zu Muthe, als sollte irgend ein ernstes unerwartetes Geschick in sein Leben eintreten. [242] Vergebens sann er darüber nach. War es das Wiedersehen der lieben langentbehrten Bergwelt, die den warmherzigen Verehrer und Freund geistig in die Arme preßte? – War es das Wiederfinden jenes eigenthümlichen Mädchens, der Sennerin vom Scharten-Kaser, deren liebliche Züge ihm selbst in den Zerstreuungen der Stadt nicht wieder aus der Seele geschwunden waren? Hatte ihn das Schicksal des armen Burschen so sehr erweicht, mit dem er den heitern Abend in der Almhütte verlebt hatte? Er fand es nicht aus und war eben wieder in der Nähe des Wirthshauses am Stein angekommen, als er an der gegen die Wiesen gewendeten freien Seite desselben eine Gestalt in weißen Hemdärmeln bemerke, in welcher er Evi zu erkennen glaubte. Rasch schlug er den schmalen Wiesenpfad ein und stand, ehe er bemerkt worden war, neben dem Mädchen, das vor einem kleinen Bildstöckchen kniete. Der Stock trug ein roh gemaltes, kaum mehr kenntliches Bild der armen Seelen, die in den Flammen des Fegefeuers sitzend dem Verübergehenden die gerungenen Hände entgegen strecken, um ein Vaterunser zu erbitten als Labsal in ihrer Feuerpein und ihm zum Dank dafür das darunter um einen Todtenkopf angemalte Sprüchlein zuzurufen:
„Ich bin einmal gewesen das, was Du heute bist;
Was ich bin, wirst Du werden – geh’ zu, mein lieber Christ!“
„Grüß Gott, Evi!“ sagte Reinthaler herzlich, während sie sich erhob und mit niedergeschlagenen Augen und beklommener Stimme den Gruß erwiderte. „Ich wollte Dich schon vorhin anreden,“ fuhr er fort, „aber ich habe die Wirthin nach Dir rufen und zanken gehört, und da ich weiß, daß sie ein strenges Commando führt, unterließ ich es, um Dir nicht Verdruß zu bereiten. …“
„Ich bin jetzt fertig mit der Arbeit,“ erwiderte sie, „es ist einen Augenblick Ruh’, d’rum bin ich da heraus und hab’ frische Luft geschöpft. …“
„Und für die armen Seelen gebetet – nicht wahr?“
„Ja wohl,“ rief sie mit ausbrechenden Thränen, „für eine gar arme, arme Seel’! O mein Herr Reinthaler, was ist der Mensch für ein heutiges Geschöpf. … Sie sollten ein Bild malen davon! Wie kurz ist die Zeit, seit Sie bei mir ein’kehrt sind im Scharten-Kaser, und wie hat sich Alles verändert seitdem!“
„Leider ich habe davon gehört. Und auch Dich treffe ich hier, in beschränkten, offenbar nicht angenehmen Verhältnissen und nicht als frische Sennerin auf frischer, grüner Alm?“
„Das ist wohl vorbei für alle Zeit,“ sagte sie traurig. „Ich werd’ wohl da auch nit bleiben und den Weg wieder unter die Füß’ nehmen … vielleicht find’ ich in der Stadt einen Platz, ich hab’ ein weitschichtiges Basl in München. …“
„Und glaubst Du Dir dort zu behagen?“ fragte der Maler, indem er neben Evi dem Hause zuschritt. „Ich hab’ es ganz anders im Sinn. Ich habe bisher das ganze Jahr in der Stadt gelebt; der Besuch der Kunstsammlungen, die Anregung des Umgangs mit Freunden schien mir unentbehrlich, und nur einige Monate brachte ich auf dem Lande zu, meine Naturstudien zu machen. Jetzt habe ich es gerade umgekehrt vor: ich will von nun an ganz auf dem Lande wohnen und bleiben und nur im Winter einige Wochen in die Stadt gehen zu Gallerien und Genossen – ich will mich ganz der Natur an’s Herz werfen, in diesen Bergen leben und mich in ihnen begraben lassen…“
„Da wird’s viel schöne Gemäl’ geben,“ meinte Evi.
„Gott geb’ es. Eines liegt mir sehr am Herzen – es ist der hohe Göll mit diesem Thal bei Sonnenuntergang. Das Bild ist schon fast fertig und ist schuld, daß ich heuer etwas früher kam, als sonst; ich wollte dem großen Künstler da oben erst noch einige Farbentöne ablauschen.“
„Es ist schad’, daß unser Eins das nit zu seh’n bekommt!“
„O, Du kannst es seh’n, Evi! Ich wohne keine Viertelstunde weit, drüben in der Schönau, wo ich mir ein Bauergütchen gekauft habe und mir ein recht freundliches Heim bereiten will. Komm’ nur und besuche mich – ich möchte Dich ohnehin gern malen und Deinen Kopf für ein Bild benützen.“
Evi erwiderte nichts, aber sie schritt hastiger vorwärts. „Du sagst nichts?“ fragte er. „Ich verstehe Dich – mein Antrag hat Dich verletzt; aber sei unbesorgt, Du kannst ohne Scheu zu mir kommen – ich werde heirathen…“
„Da thun Sie Recht daran – ich wünsch’ alles Glück. …“
„Ich glaub’ es und danke Dir. Und Du fragst nicht einmal, wen ich heiraten will?“
„Ich werd’ die Fräule doch nit kennen…“
„Doch – Du kennst sie; es ist kein Fräulein. Ich will auf dem Lande und nur der Natur leben, die ich nachzubilden trachte – in so einfache Verhältnisse paßt keine Städterin mit ihren Ansprüchen. Ich habe mir ein Landmädchen ausgesucht – kurz, ich will Dich heiraten, Evi – wenn Du mich willst!“
Sie blieb stehen und schlug die mächtigen blauen Augen fest zu ihm auf. „Sie sind kein Solcher,“ sagte sie schmerzlich, „der eine Fopperei treibt mit einer so ernsthaften Sach’ … für was soll ich also eine solche Red’ nehmen? Ich bin eine ungelehrte Bauerndirn’, arm wie eine Kirchenmaus, – die man nur so aus Gottes Gnad’ und Barmherzigkeit mit fortkommen laßt … die gar nichts hat, gar nichts – nit einmal ein’ ehrlichen Namen!“
„Dein Stand, Deine einfache Natürlichkeit ist es, was mich zu Dir führt,“ erwiderte Reinthaler. „Deine Armuth kommt nicht in Betracht; was ich verdiene und habe, genügt für Beide … das Andere – was man Dir nachredet, habe ich wohl gehört – aber es stört mich nicht, denn ich glaube es nicht.“
„Ist das wahr?“ rief Evi mit einem Tone, der aus dem tiefsten Herzen kam, und hatte im Augenblick seine beiden Hände zwischen die ihrigen gefaßt. „Ist das wirklich wahr?“
„Gewiß – Deine Augen, Deine Stirne können nicht täuschen und ein beflecktes Bewußtsein bergen! Du selbst bist mir Bürge für Dich! Zeitlebens bin ich bestrebt, die Geheimschrift zu enträthseln, die Gott in seiner ewig herrlichen Natur geschrieben hat, und sollte diese wenigen durchsichtig klaren Züge mißverstehen?“
„O, das thut wohl … das ist wie ein frischer Trunk Wasser …“ stammelte Evi und beugte die weinenden Augen auf die Hände des Malers.
„Und Du willigst ein?“ sagte er, indem er sie sanft an sich zog und einen leichten Kuß auf ihre Stirne drückte. „Du sagst Ja?“
Sie wehrte ihn ab, richtete sich auf und schüttelte den Kopf. „Nein, Herr Reinthaler,“ sagte sie fest, „es wär’ wohl ein großes Glück für mich, ein Glück, wie ich’s gar nit werth bin, – aber ich will gar nit heirathen – ich will ledig bleiben. …“
„Du bist nicht klug,“ erwiderte Reinthaler lächelnd. „Welchen Grund hättest Du dazu? Glaube mir, ich verlange nicht, daß Du gleich Feuer und Flamme sein sollst für mich – aber ich meine, Du sollst gut fahren mit mir und mich lieb gewinnen, wenn Du mich nur erst näher kennst und wenn … das ist allerdings ein bedenkliches Wenn! – wenn Du nicht schon einen Andern lieb hast. … Sei aufrichtig, Mädchen – ist das der Grund?“
„Ich will’s sein,“ sagte sie fest. – „Sie haben’s errathen. …“
„Und dieser Andere? Wirst Du ihm je angehören können? Wirst Du ihn heirathen?“
Evi schüttelte nur den Kopf; reden konnte sie nicht.
„Und dennoch?“
„– Er ist im Elend … er kann mich vielleicht noch einmal brauchen – ich will aushalten bei ihm!“
„Ich verstehe Dich,“ sagte Reinthaler weich, „und danke Dir dafür. …“
„– Und Sie sind mir nit bös derentwegen?“ flüsterte sie durch Thränen.
„Wie könnt’ ich! Ich ehre das schlichte Herz, das zart genug ist, den einen Eindruck, dem es sich geöffnet, für immer zu bewahren. … Komme, was da will, – sei überzeugt, Du wirst immer einen treuen, brüderlichen Freund an mir haben! …“
Schweigend und Hand in Hand erreichten sie das Haus, aus welchem ihnen die Töne eines neubeginnenden Ländlers entgegen schallten. „Wir wollen für heut’ von etwas Anderem, von heitern Dingen reden,“ unterbrach Reinthaler die Stille. „Warum tanzest Du nicht, Evi? Ist das auch gegen die Treue für Deinen unglücklichen Schatz?“
„Mir ist nit tanzerisch,“ sagte sie, „und wenn’s wär’, von den Burschen tanzt Keiner mit mir … Sie wissen ja warum!“
„Dann tanze ich mit Dir.“ rief der Maler, „sie sollen es Alle sehen und sich schämen! Gieb mir Deine Hand, Evi – wenn auch für’s Leben, aber für den Tanz darfst Du sie mir so wenig verweigern, als damals auf dem Scharten-Kaser!“
Mit einem Anfluge seiner sonstigen freundlichen Laune führte er das nur schwach widerstrebende Mädchen die halbdunkle Stiege hinauf in den großen Vorplatz, der trotz holperigen Bodens und niedriger Decke zum Tanzsaale diente. An den weißen Kalkwänden [243] brannten einige Talgkerzen vor schimmernden Blechschilden und reichten eben nothdürftig hin, um den Knäuel der Tanzenden und die kleine vergitterte Erhöhung zu erhellen, auf welcher die Musikanten sich abarbeiteten im Schweiße ihres Angesichts. Die Burschen und Mädchen machten auf Reinthaler’s Ruf dem ankommenden Paare Platz, aber es schien nicht gern zu geschehen; befremdliche Blicke fielen auf dasselbe. Alles steckte die Köpfe zusammen und zischelte. Einem Andern wäre der Zutritt kaum gestattet worden, aber der Maler, der schon seit einigen Jahren in die Gegend kam, war allgemein bekannt; denn damals war ein Maler dort noch etwas Seltenes. Ueberdies war er allgemein beliebt, und das auf Städter doppelt aufmerksame und mit dem Spotte wie der ernsten Rüge gleich bereitwillige Volk wußte nicht das Mindeste davon zu erzählen, daß er in irgend einer Weise Anstoß oder Verdacht erregt habe. Er erfuhr daher keinen Widerspruch, als er den Musikanten ein Geldstück hinwarf und rief: „Laßt mir den Extra-Tanz, Ihr Buben! den nächsten laß’ ich Euch aufspielen! Und schaut mir meine Tänzerin freundlicher an – sie ist ein braves Mädchen, das sag’ ich Euch, und Ihr werdet’s auch noch erfahren!“
Der Tanz begann, die Bauern sahen ruhig zu, wenn sie auch ihre eigenen schmähsüchtigen Gedanken nicht so schnell loswerden konnten. Hinter ihnen aber stand Gaberl und betrachtete das Paar mit zornfunkelnden Blicken; er hatte Evi vermißt, gesucht und dann mit dem verhaßten Maler im vertraulichen Gespräche hinter dem Hause erblickt. Unbemerkt war er ihnen auf der Stiege nachgeschlichen und brütete darüber, wie er seine eifersüchtige Wuth an ihnen auslassen könne. Im Vordrängen kam er mit einem Burschen in etwas unsanfte Berührung; es war derselbe, mit dem er kurz zuvor unter den Bäumen den kleinen Wortwechsel gehabt hatte. „Was will der Grünling da?“ rief der Bursche. „Was hat der unter uns zu thun?“ Das Wort wirke wie der Funke auf lange vorbereiteten dürren Zunder, es hallte von dreißig Kehlen wieder, und im Augenblicke waren die Bursche um den Jäger herum in einander gedrängt und verwickelt, daß er sich nicht zu rühren und zu regen vermochte. „Auseinander, Ihr Kerle!“ rief er. „Oder ich mache mir Luft und steche ein Paar über den Haufen!“ – „Was willst, grüner Lump?“ tobte es ihm entgegen. „Laß Dein Käsmesser stecken und scher’ Dich zum Teufel, wo Du hingehörst!“ – „Nein,“ schrie ein Anderer, „er soll uns zuerst sagen, wo wir hingehören, weil er sich doch unter uns mischt! Er soll sich jetzt die Zeit nehmen und soll uns sagen, wo wir hingehören!“ – „Ja, das soll er, das muß er!“ schrie der Haufen, während einige Aeltere und Besonnenere bemüht waren, die Streitenden zu trennen und den Jäger von den würgenden Händen der Gegner zu befreien. Der Knäuel wälzte sich der Treppe zu, als einer der Rauflustigen mit ein paar Schlägen die Kerzen von den Leuchtern schlug und völliges Dunkel über das Gewirre hereinbrach. Sie war das Zeichen zum allgemeinen zweck- und sinnlosen Kampf. Man sah nur eine ringende Menge, hörte nur das Krachen der abgetretenen Stuhlbeine, das Schmettern der an die Wand fliegenden Krüge, das dumpfe Klatschen schwerer Hiebe und das verworrene Durcheinanderrufen von wuthentbrannten Stimmen.
Reinthaler und Evi waren beim Beginn des Gedränges in eine Beugung des Stiegengeländers getreten, welches einen freien Raum bildete, aus dem eine Thür in ein Gastzimmer führte. „Um Gotteswillen,“ rief der Maler, als sich die dunkle Menge gegen sie heranwälzte, „das wird gefährlich! Sie bringen den Jäger um, wenn man ihn nicht wegbringen kann … Mach’ die Thüre hinter uns auf, Evi … ich reiße ihn heraus und stoße ihn da hinein ...“ Vergebens wollte sie ihn zurückhalten; im entscheidenden Augenblicke war der muthige Mann bereits hinzugesprungen und hatte den Jäger blitzschnell herausgerissen, denn von dieser Seite hatte Niemand Angriff oder Hülfe erwartet. Er drängte ihn in die geöffnete Thüre, nicht ohne Widerstand, weil dieser glaubte oder sich wenigstens so anstellte, als sei es einer seiner Feinde, der ihn umschlungen halte. Er hatte den Hirschfänger gezogen; bei dem schwachen Scheine des Lichtes, mit welchem die schreiende Wirthin von unten herbei kam, sah man das Eisen blinken – ein schwacher Schrei ertönte, und die Thüre flog hinter dem entronnenen Jäger in’s Schloß ...
Das Licht kam herbei und löste augenblicklich die Verwirrung; die Wuth der Kämpfenden war wie mit einem Schlage entflogen und machte dem Jammer und der Trauer Platz. Zwischen Stiegengeländer und Thüre lag der Maler bewußtlos und ein breiter Blutstrom quoll unter seinen Kleidern hervor auf den Boden. Die Bursche brachen bei dem erschütternden Anblick in ein Wehegeschrei aus. „Der gute freundliche Herr!“ riefen sie durcheinander. „Unser Maler, der kein Kind beleidigt hat! Das hat kein anderer Mensch gethan, als der vermaledeite Jäger – wir haben unsere Fäuste und unsere Stecken und höchstens einen ehrlichen Schlagring! Lauft’s ihm nach! Fangt’s den Spitzbuben, den Mörder!“
Im Augenblick eilten Einige die Stiege hinab und umliefen das Haus, Andere drangen in das Zimmer, in das Gaberl sich geflüchtet hatte; sie trafen nichts, als das geöffnete Fenster, durch das er mit keckem Satze entsprungen war.
Der ohnmächtige war indessen in das Zimmer auf’s Bett gebracht worden. „Lauft hinein in den Markt!“ schrie die Wirthin. „Holt den Doctor und das Landgericht und den Herrn Cooperator – der arme Narr stirbt uns unter den Händen! – Muß mir das in meinem Hause passiren! Und Du,“ fuhr sie Eva an, die Reinthaler mit hereingetragen hatte und nun zu Füßen des Bettes stand, den Verwundeten mit erschrockenen thränenlosen Augen anstarrend, „Du machst, daß Du mir je eher je lieber aus dem Haus kommst! Ich hab’s schon von den andern Mägden gehört, daß Du mit dem Maler schön gethan hast und mit dem Jäger! Du willst allen Mannsleuten den Kopf verdrehn – Du bringst überall den Unfrieden hin und Mord und Todschlag!“
Evi erwiderte nichts; sie blieb in der Nähe des Kranken, bis der Arzt kam, und ging mit der Hülfe an die Hand, die sie leisten konnte. Die Untersuchung der Wunde, die den Unterleib getroffen hatte, brachte Reinthaler zum Bewußtsein zurück. Er verbiß den Schmerz, überblickte die Umstehenden und errieth schnell den Zusammenhang der Ereignisse. „Sagen Sie nur offen, wenn es Gefahr hat,“ sagte er zu dem Arzte, „ich möchte mich vom Tode nicht überraschen lassen ...“
„Sie scheinen eine unverdorbene Natur zu haben und gesunde Säfte,“ erwiderte dieser achselzuckend, „die haben schon oft Wunder gewirkt!“
„Auf ein Wunder wollen wir nicht warten,“ sagte Reinthaler mit schwachem Lächeln. „Ich weiß genug … mein großes Bild bleibt unvollendet! Was ist es doch um unsere Hoffnungen und Entwürfe! Sie zerbröckeln und zerfließen wie Ufersand am Wasser! Meine Pläne sind hinter mir … die Sonne meines eigenen Tages neigt sich zum raschen Untergang, und nur die eine Hoffnung wird wahr, – ich werde begraben sein zwischen meinen geliebten Bergen!“
„Sie müssen ruhig sein, Herr,“ unterbrach ihn der Arzt. „solche traurige Gedanken verschlimmern Ihren Zustand.“
„Ich bin nicht traurig,“ sagte er, „ich bin nur ernst, wie es bei der großen Reise ziemt, die ich so plötzlich antreten muß.“
Der Landrichter erschien, um die Aussage des Sterbenden aufzunehmen. Er hatte nur wenig anzugeben, und der Beamte schien damit nicht zufrieden zu sein. „Und dabei bleiben Sie stehen, mein Herr?“ sagte er mit vollster Amtsmiene. „Wollen Sie diese Angabe mit hinübernehmen in die Ewigkeit?“
„Ich bleibe dabei und will es verantworten,“ sagte er. „Es war nicht böse Absicht, es war ein unglücklicher Zufall. Der Jäger hatte den Hirschfänger zu seiner nothwendigen Vertheidigung gezogen –ich riß ihn hinaus und bin in dem Gedränge selbst in die bloße Klinge gerannt ...“
Er unterzeichnete das Protokoll mit erlöschender Kraft; der Beamte schüttelte ihm ernst und schweigend die Hand und ging. In der Thüre erschien der Kaplan mit den Sterbesacramenten, der klingelnde Meßner ihm zur Seite.
„Leben Sie wohl,“ sagte Reinthaler – „Du auch, Evi ... verlaß mich jetzt … ich hab’ es gut mit Dir im Sinne gehabt ... ich habe nur noch kurze Zeit vor mir – die gehört dem höchsten Herrn ...“
Weinend gingen Alle; fast eine Stunde war der Geistliche allein bei dem Leidenden. Als er die Thüre wieder öffnete, war der Maler verschieden. Das Auge, das so treu und liebevoll an Gottes schöner Natur gehangen, war gebrochen, um sich jenseits für die eine ewige Schönheit zu öffnen. ...
Von dem Jäger war nirgends eine Spur zu finden; als man in Evi’s Kammer nachsah, hatte sie ihre Habseligkeiten zusammengepackt und war verschwunden.
Einige Tage später wurde Reinthaler begraben; die ganze Bevölkerung war leidtragend herbeigeströmt; nach der sinnigen Sitte [244] des Berchtesgadner Ländchens wurde er als Junggeselle von Greisen zum Grabe getragen. Sechs alte Männer in blauen Kitteln hatten den Sarg auf den Schultern, die Silberhaare mit frischen Rosen, den Erstlingen des Jahres, bekränzt. Manche Thräne, manches herzliche Gebet wurde dem Jünglinge zu Theil, dem mitten im vollen Leben und Streben eine unerbittliche Hand Einhalt geboten und ihn sammt seinen Entwürfen und Hoffnungen in deren Heimath und Wiege begraben hatte.
Der Kirchhof war längst wieder stille und menschenleer, nur Evi kniete noch am frisch aufgeworfenen Hügel und schien sich nicht losreißen zu können von dem edlen Freundesherzen, das er deckte.
Nach einer Weile trat ein Mädchen zu ihr hin, faßte sie am Arme und sagte leise: „Komm mit, Evi ... es ist Zeit – es ist kein Mensch mehr auf dem Freithof.“
„Es hat auch kein Mensch mehr Ursache zum Weinen und Beten, als ich,“ erwiderte Evi, ohne sich von den Knieen zu erheben.
„Dasselbe ist leider wahr,“ sagte die Mahnerin. „Wie schlecht hab’ ich’s damals auf dem Scharten-Kaser errathen, wie ich Dich mit Deinen drei Schätzen geneckt und Dir das Schnaderhüpfel vorgesungen hab’ von den heiligen drei Königen …! Der Eine ist todt, der Andre ist auf und davon, der Dritte … ach daß Gott erbarm! Komm’ fort von hier, Evi, und sag’, wohin Du willst?“
„Ich weiß selber nit, Kordel – es ist Alles Eins!“
„Ich hab’ mir’s gedacht und bin deswegen herkommen. Wie wär’s, wenn Du mit mir gingst? Es ist das Beste, wenn Du den Leuten eine Zeit lang aus dem Gesicht kommst. Ich hab’s daheim nit ausgehalten in der Ledermühl’, wie’s aber Frühjahr ’worden ist, da bin ich wieder auf den Steinberg auf meine Alm, und daß ich keine Sorg’ hab’ wegen daheim, hab’ ich mein’ guten alten Vater mit hinauf genommen. Wie wär’s, wenn Du mit mir ginst? Meinem Bauern ist’s recht … droben sind wir allein, Evi, mit unserm lieben Herrgott allein und können unser Leidwesen miteinander klagen und tragen!“
Weinend erhob sich Evi, fiel Kordel um den Hals und verließ mit ihr den Kirchhof. Der Abend brach ein, und der hohe Göll, vom Sonnenuntergang beleuchtet, stand allein Wache bei dem einsamen Künstlergrabe.
Bald hatten die Mädchen das Wirthshaus am Stein und rüstig ausschreitend die Schönau hinter sich; hatten sie doch noch ein gutes Stück Weges zurückzulegen, ehe sie die Ramsau erreichten, um dann des andern Tages die Alm in der Nähe des Scharten-Kasers zu besteigen. An der Ecke, ehe der Weg sich in den finstern Tannenwald thalwärts verliert, machten sie einige Augenblicke Rast. Ueber den langgestreckten Stangenzaun hin dehnte sich die reizende Hügelflur, die der gesunde Sinn des Volkes nicht umsonst mit dem Namen der Schönau bezeichnet hat. Wie friedliche grüne Wellen reihten sich die Höhen und Tiefen wiesengrün und saatgelb aneinander; dazwischen Hütten und Höfe, aus denen der Rauch gastlich über die Giebel und Obstbaum-Wipfel emporstieg; dunkelgrüne Schöpfe von Laubbäumen und schwarze Striche von Nadelholz, wie kräftige Schatten in dem lichtvollen Bilde, das breit hingelagert der Untersberg abschloß mit seinen rothen geheimnißvoll schimmernden Marmorklüften. Darüber hin schwebte der ländliche Gesang ferner fröhlicher Menschenstimmen, die Glocken des Weideviehs bimmelten und klangen, und von Berchtesgaden herauf tönten einzelne Schläge verwehten Abendgeläuts.
„Sei wohlgetröst,“ sagte Kordel, die auf dem Zaune Platz genommen hatte, zu ihrer Gefährtin, die ihr zu Füßen auf einem alten Baumstumpf saß und traurig in die verschwimmende Abendglorie hinaussah. „Nimm Dir ein Beispiel an mir, ich hab’ auch Alles schon verloren gegeben, und es ist mir doch noch besser gegangen, als ich gedacht hab’. – Der Quasi ist selbiges Mal mit verdächtig gewesen und eingesperrt worden, da hat er sich auf mich berufen, er könnt nit dabei gewesen sein, er sei in derselben Nacht und um dieselbe Zeit in meiner Kammer gewesen. Seine Cameraden haben es auch überall ausgesprengt, und Du kannst Dir einbilden, was es für mich gewesen ist, wie ich hinein gemüßt hab’ in’s Landgericht, zu der Verhör … ich hab’ aber Alles gesagt, wie’s die lautere Wahrheit ist, zuletzt haben sie’s doch geglaubt, und das Gered’ davon ist auch unter die Leut’ kommen. Dem Quasi ist nichts geschehen, aber ich bin doch los von ihm, denn der Landrichter hat ihm gesagt, ich sei ein ordentliches Mädel und wenn er mich nicht in Ruh lasse, hab’ er es mit ihm zu thun. Seitdem hat er keinen Fuß mehr in die Ledermühl’ gesetzt, und ist fort und vagirt draußen im Land herum, als Hafenbinder, wie ich gehört hab’, und soll immerfort betrunken sein von Branntwein. Nur manchmal kommt er in die Ramsau herein und stellt sich mir unverhofft in den Weg und erschreckt mich aber er ’traut sich nit, mich anzureden. So kann’s bei Dir auch gehn und so wird’s gehn – sie werden auch dahinter kommen, daß Du nit dieselbige bist, die sie in Lenggries suchen …“
„Mir ist’s nit so gut ’worden,“ entgegnete Evi, „mir haben sie nit so leicht geglaubt; der Schreiber hat mich angefahren, das könnt’ eine Jede sagen, und das Leugnen wär’ was Gewöhnlichs bei den – bei denen, wie ich eine wär! Mit Müh’ und Noth hab’ ich’s erbettelt, daß sie mich nit gleich mit Gewalt hinausgeführt haben nach Lenggries … Du weißt schon, wie … die schrecklichen Wörter bring’ ich nit über die Zung’. – Sie haben zuerst hinausgeschrieben und haben meine Angab’ nach Tölz hinaus geschickt, aber es ist keine Antwort zurück ’kommen, und wenn sie da ist, liegt sie am Landgericht und kein Mensch erfahrt’s und ich bring’s meiner Lebtag nimmer an, daß ich …“
„Du mußt es haben, armer Narr, Du hast Dir’s ja selber angethan. Aber es kommt schon noch auf, warum Du’s gethan hast, und wenn der Bühelbauer auch noch so viel herumgeschrieen hat, und hat den Leuten erzählt, warum er Dich Knall und Fall fortgejagt hat … die Leut’ meinen doch in der Still’, es könnt wohl ein bissel anders gewesen sein. Das kommt mir vor, als wenn Du was verlieren thätst in der Ramsau, und der Winter kommt und der Schnee liegt haustief, daß man meint, er wollt’ nie wieder weggehn … es wär’ umsonst, wenn Du Dich plagen wolltest mit Graben und Schaufeln im Schnee und wolltest das Verlorene suchen, aber wenn der Auferstehungstag vorbei ist, da geht er von selbst und schmilzt und verschwind’t, als wenn er nie dagewesen wär’, und was verloren gewesen ist, das liegt offen und frei da im Gras und zwischen den Blümeln …“
Deutschlands Herrlichkeit in seinen Baudenkmälern.
Wenn uns die Kunst im Allgemeinen das treue Abbild des gesammten äußeren und inneren Lebens eines Volkes und einer Zeit gewährt, so gilt dies ganz besonders von der Baukunst. In seinen Bauwerken legt ein Volk ein in steinerner Sprache geschriebenes Zeugniß ab von sich und seinen Bestrebungen, von dem was es geahnt und gewollt, gedacht und gekonnt. So erzählen uns noch nach Jahrtausenden Griechenlands Tempel von der Griechen Herrlichkeit, Römerbauten von der Römer Stärke, und so erzählen uns heute noch auf deutschem Boden deutsche Bauten von deutscher Macht und deutscher Größe. Ein solches Denkmal deutscher Macht und Größe aber ist der Dom zu Limburg an der Lahn.
Deutschland stand unter der glänzenden Herrschaft der Hohenstaufen auf dem Höhepunkte seiner Macht, und zur selben Zeit bildete sich hier eine Bauweise aus, die eine durchaus nationale, deutsche genannt werden muß. Die Geschichte giebt ihr den Namen der romanischen, im Anschlusse an die Bezeichnung, welche für solche Sprachen, die aus der Verschmelzung römischer und germanischer Elemente zu jener Zeit entstanden sind, gebräuchlich ist. Der germanische Volksgeist ist es, der auf Grund altrömischer Tradition neugestaltend sich bethätigt. Dem deutschen Volke aber war es vorbehalten, den neuen Baustyl in technischer und ästhetischer Beziehung zu einer Vollkommenheit zu erheben, die die gleichzeitigen Bestrebungen anderer Völker germanischen Ursprungs weit hinter sich zurückläßt. Hat aber die Geschichtsforschung den schönen Irrthum, als sei die gothische Baukunst eine Erfindung des deutschen Volles, unwiderruflich zerstört und ist es noch lange nicht entschieden,
[245][246] ob die deutsch-gothischen Bauwerke den gothischen Bauwerken Frankreichs, des Geburtslandes dieses Styles, ohne Weiteres voranzusetzen sind: so haben wir ein um so größeres Recht, den Styl, in welchem der deutsche Volksgeist am klarsten und lautersten und im vollen Bewußtsein seiner Individualität sich ausgesprochen, in welchem die hohe Zeit deutscher Macht und Herrlichkeit einen entsprechenden Ausdruck gefunden hat, als einen vorzugsweise nationalen, deutschen zu beanspruchen.
Die Kunst des romanischen Styles umfaßt die Zeit vom 11. bis in die ersten Decennien des 13. Jahrhunderts. Von antik-römischen Grundformen ausgehend, weiß sie dieselben in eigenem Geiste umzuprägen. Strenge und Einfachheit sind den Werken der Frühzeit eigenthümlich. Reicher, bewegter, phantastischer gestaltet sich der Bau im Laufe des 12. Jahrhunderts; die Zeit des Sturmes und Dranges, die über das Abendland hereingebrochen war, die der Kreuzzüge, spiegelt sich auch in den Bauwerken des Jahrhunderts. Am Schlusse desselben und zu Anfang des folgenden hat die romanische Kunst ihren Gipfelpunkt erreicht. Aber schon machen sich fremde Elemente, einer neuen Geistesströmung angehörig, geltend und bahnen den Uebergang zu einer anderen Kunstweise.
Die romanische Kunst hat mit frischer Kraft und kühnem Geiste die altchristliche Kirchenform umgeschaffen. An Stelle der aus antiken Bruchstücken zusammengebauten Basilika setzt sie einen rhythmisch gegliederten, in ansteigender Bewegung der raumschließenden Wölbung entgegenstrebenden baulichen Organismus. Und für die innere Gliederung hat die romanische Kunst die entsprechende äußere Gestaltung gefunden und in dem jetzt organisch mit dem Langhause verbundenen Thurmbau an der Westseite der Kirche, dem sich oft weitere Thurmanlagen anschließen, die Höhenrichtung des ganzen Baues auch äußerlich machtvoll ausgesprochen. So erhebt sich, mannigfach gruppirt, in klarer übersichtlicher Gliederung, feierlich und ernst das Gotteshaus, weithin seine Bestimmung verkündend allem geistigen Leben, aller Cultur eine Pflegstätte zu sein. – Der romanische Styl wendet zur Ueberdeckung der Oeffnungen den Halbkreis an, zu dem später der Spitzbogen als zweite Bogenform kam. Der Charakter des vollendeten romanischen Styles ist der eines durchgebildeten Wölbbaues.
Ein glänzendes Beispiel romanischer Baukunst aus der Schlußzeit der Epoche giebt der um’s Jahr 1235 geweihete Dom zu Limburg an der Lahn. Die Grundform der Kirche ist die der gewölbten Basilika. Ein mächtiges Mittelschiff, von dem gleich hohen Querschiff durchschnitten, bildet den Mittelpunkt der ganzen Anlage. An dieses schließen sich die Seitenschiffe und der Chorumgang, über welchem sich Gallerieen, Emporen befinden. Das Licht wird dem Mittelschiff aus der Höhe durch Fenster, die über den Dächern der niederen Seitenschiffe angebracht sind, zugeführt. Zwischen den Fenstern und den Oeffnungen der Emporen zieht sich eine zierliche Wandgallerie, das Triforium, hin. Der Innenbau, durch mächtig aufstrebende Gewölbträger und leichthin laufende horizontale Abschnitte glücklich gegliedert, gewährt eine ebenso würdevolle als imposante Erscheinung. Und das reiche Innere hat in einem glänzenden Aeußeren Gestalt gewonnen. Seinen ganzen Reichthum, seine volle Pracht entfaltet der Styl an ihm, gleichsam als wolle er noch einmal seine ganze Herrlichkeit zusammenfassen in einem Werke. Und so strebt denn der Dom empor, malerisch auf einem Felsvorsprunge sich erhebend, siebenthürmig, weithin sichtbar im deutschen Lande, ein Zeugniß deutschen Geistes, ein Denkmal deutscher Herrlichkeit.
Wann, wie und durch wen Amerika zuerst entdeckt wurde.
Als in unvordenklicher Zeit unsere germanischen Altvordern auf ihrem Wanderzuge von der mittelasiatischen Hochebene her von den übrigen Zweigen der indoeuropäischen Völkerfamilie sich gesondert hatten und in unsern Erdtheil eingerückt waren, da hat sich – so wird jetzt ziemlich allgemein angenommen – der germanische Wanderstrom zunächst in den Norden Europa’s ergossen. Dort hat er sich eine Weile gestaut, dann aber, wieder in Bewegung gerathen, südwärts sich geschoben, das eigentliche Germanien oder Deutschland allmählich bis zu den Alpen füllend, Kelten und Slaven aus seinem Wege drängend, jene westwärts, diese ostwärts.
Ein ansehnlicher Theil der Germanen schloß sich aber dieser Weiterwanderung in südlicher Richtung nicht an, sondern blieb in Skandinavien fest angesessen, wo sich nach Jahrhunderten aus dem blutigen Wirrsal urgermanischer Adelsrepubliken, aus der Anarchie des Jarlthums die Königsherrschaft entwickelte und in den drei Reichen Dänemark, Norwegen und Schweden Throne aufbaute. Diese gelangten jedoch erst dann zu größerer Festigkeit, als die nordischen Könige die höchst vortrefflichen politischen Handhaben, welche das römisch-christliche Wesen dem Königthum darbot, erkennend und werthend, dem neuen Glauben nach und nach den Sieg über den urväterlichen verschafften. Herb und hart genug ging es dabei her. Denn in Skandinavien hatte sich mit dem religiösen Glauben der Ahnen des ursprünglichen Germanenthums ganze Kraft und Härte noch frisch erhalten zur Zeit, wo dasselbe in Deutschland bereits der durch Karl den Großen empfohlenen und befohlenen romanisch-christlichen Cultur mehr und mehr gewichen war. Lange und heftig haben sich die trotzigen Bonden (Freibauern) und stolzen Jarle (Edlinge) des Nordens gegen das Unterfangen gesträubt, ihnen mittelst List und Gewalt zugleich mit den christlichen Dogmen auch das Joch königlicher Despotie aufzulegen, und als die Mehrzahl sich endlich dennoch gefügt, gab es immer noch eine Anzahl von Unbeugsamen, welche lieber Haus, Hof und Heim verließen, als daß sie den fremden Göttern oder einem Könige ihre Kniee gebogen hätten.
Solche Männer waren es, welche von Norwegen aus Island, das „Eisland“, besiedelten. Sie brachten Weib und Kind, Vieh und Waffen, Erde von der Stelle, wo der Opferaltar ihres heimischen Lieblingsgottes Thor stand, sie brachten auch die „Hochsitzsäulen“ ihres väterlichen Hauses an Bord ihrer „Langschiffe“ und steuerten kühn dem wunderbaren Eiland zu, wo aus Gletscherspalten rothglühende Lavaströme brechen und das unterirdische Feuer mächtige Säulen siedenden Wassers aus Schneegefilden thurmhoch in die Lüfte steigen läßt. Hierher, in diese insularische Abgeschiedenheit von einer Welt, welche neue Götter anbetete und neue Lebensformen anthat, hatte das Germanenthum seine theuersten Schätze gerettet: seine Rechtssatzungen und Sitten, seine religiösen Vorstellungen und Mythen, seine Heldensagen und seine Culte. Hier hat es diesen Hort gehütet und gemehrt. Hier, auf der fernen Insel, blühte eine Cultur auf, deren schriftliche Erzeugnisse den Völkern germanischer Zunge von Rechtswegen nicht weniger ehrwürdig sein sollten, als den Indern ihre Veda’s und den Juden ihr Pentateuch. Hier, auf Island, nämlich ist die germanische Bibel aufgezeichnet worden, die „Edda“, d. i. die Urahne, die Urgroßmutter, welche den spätesten Enkeln noch von dem Glauben der Väter, von den alten Stammgöttern und Stammhelden erzählt.
Das freie isländische Gemeinwesen ist freilich nach dem Jahre 1000 unter der Einwirkung des vom Mutterlande herübergreifenden Christenthums allmählich zerfallen, und mit der Unterwerfung der Insel unter Norwegen (i. J. 1261) hatte die eigenthümliche Bildung ein Ende, welche auf diesem Eilande während seiner Unabhängigkeit zur Entwicklung gekommen war. Allein es knüpft sich an die Besiedelung Islands durch die Normänner oder Normannen, welcher Name den skandinavischen Völkerschaften gemeinsam, den Norwegern aber par excellence zukam, ein Ereigniß, welches uns berechtigt, etwas weiter auszugreifen. Denn das gemeinte Ereigniß war kein geringeres als die erste Entdeckung von Amerika.
Lange hatte das skandinavische Germanenthum in Dunkelheit und Schweigen verharrt, als wollte dasselbe seine ganze Kraft und Wildheit erst recht concentriren, um sie dann um so furchtbarer über die südlicheren Länder Europa’s, wo der ungeheure Tumult der Völkerwanderung nach und nach endlich zum Stehen gekommen, losbrechen zu lassen. Sowie die Männer des Nordens, die Normänner, vom 8. Jahrhundert an auf der Bühne der Weltgeschichte erschienen, geschah es in der gewaltsamsten Rolle. Zerstörung bezeichnete [247] ihre Pfade. Auf abenteuerliche Seefahrt, auf erbarmungslosen Kampf, auf Raub und Beute war all ihr Sinnen gestellt. Aus diesem Skandinavien, welches man die „Werkstätte der Völker“ genannt hat, ging eine solche Ueberfülle von kriegerischer Wildheit und Begehrlichkeit hervor, daß man leicht begriff, wie diese Männer daheim nicht Platz gehabt, alle diese „Wikinger“ und „Berserker“ und „Seekönige“, welche auf ihren offenen „Drachen“ den wüthenden Meeren trotzten und den Tod lachend gaben und lachend empfingen.
Wehe den Küsten, auf welche der Sturm eines jener normännischen Seezüge fiel, wie sie Sommer für Sommer von Skandinaviens Gestaden ausgingen, den seßhaften Völkern sich furchtbar machend, Deutschen wie Kelten und Slaven! In jede zur Landung ladende Bucht, zu jeder Strommündung schwammen die schrecklichen Wikingerdrachen heran, und weit in’s Binnenland herein trugen dann ihre Insassen Mord und Brand. Und doch sollte auch hier sich bewahrheiten, daß es wie in der Natur so auch in der Geschichte eigentlich keine absolute Zerstörung giebt. Denn aus dem wilden Antrieb zu normännischem Seeraub entwickelte sich jene edle Abenteuerlust, welche ihre Thaten in das Buch der Weltgeschichte einzuzeichnen verlangte. Aus Piraten und Mordbrennern wurden Staatengründer. So der Normann Rurik mit seinen Gefährten mitten unter Slaven und Finnen am Dnepr und Wolchow (852), so Rolf Gangu, der erste Herzog der Normandie (911), von wo aus ein Schwarm von Normannen unter Führung des Robert Guiscard zur Eroberung von Unteritalien aufbrach. Rolf’s Abkömmling, Wilhelm der Bastard, der Sohn Robert’s des Teufels und der schönen Wäscherin Arlete, entriß, wie bekannt, England den Angelsachsen (1066), und während in der südöstlichsten Ecke Europa’s, am Bosporus, die gefürchteten Streitäxte normännischer Söldner, der „Waräger“ oder „Wäringer“, den kaiserlichen Palast von Byzanz bewachten, spannten im äußersten Nordwesten des Erdtheils Landsleute von ihnen die Segel auf, um kühn in Meerstriche vorzudringen, in welche bis dahin nur die Phantasie und auch diese nur schüchtern sich gewagt hatte.
Ein hartes, trotziges, heldisches Geschlecht, diese Nordmänner; vor keinem Wagniß, vor keiner Mühsal, vor keinem Tod zurückschreckend, aber auch vor keiner Gewaltthat. Auf sich selbst gestellte Naturen von Granit und Eisen. Man versteht unschwer, wie einer dieser Krieger auf Olaf’s des Heiligen Frage: „An wen glaubst Du?“ zur Antwort geben konnte: „Ich glaube an mich.“
Ja, sie glaubten an sich, sie vertrauten der eigenen Kraft, dem eigenen Muth, und dieses Kraftgefühl verlieh dem ursprünglich so spröden und brüchigen altnordischen Naturell eine Beweglichkeit und Unternehmungslust, die rastlos von Erfolg zu Erfolg eilte. Vom 9. Jahrhundert an sehen wir die äußersten Küsten und Inselgruppen der Nordsee durch Normannen entdeckt und theilweise in Besitz genommen. Schon früher sogar hatten sie auf Irland Niederlassungen gegründet und im nördlichen Schottland Spuren ihrer Anwesenheit zurückgelassen. Eines ihrer Raubgeschwader sodann fand i. J. 861 den Archipel der Faröer auf. Die Shetlands-Inseln wurden seit 964 häufig von ihnen besucht. Weiterhin entdeckten und eroberten sie die Orkaden und Hebriden.
Als im Jahr 863 der Sommer gekommen und die Fjorde Norwegens vom Eise frei geworden, zog ein vielberufener Wiking[1], Naddod geheißen, seinen Drachen, d. h. sein Seeschiff, vom Strande in die Salzfluth, um mit seiner Gefolgschaft eine Fahrt nach den Faröern zu thun. Von einem Sturm gepackt, wurde sein Schiff weit nordwestwärts über den Curs hinausgetrieben, welchen er halten wollte. Endlich tauchte eine Küste von fremdartigem Ansehen vor ihm aus den Wogen auf. Er erblickte ein gebirgiges Land, und sämmtliche Berggipfel waren mit Schnee bedeckt. Deshalb nannte er es Snjoland (Schneeland). Es heißt, ein schwedischer Seefahrer, Gardar, habe ganz kurz nach Naddod, ebenfalls von einem Sturm verschlagen, das Schneeland in Sicht bekommen, ja sogar dasselbe umschifft und so gefunden, daß es eine Insel sei. Dann habe er angelandet und sogar auf der Insel überwintert, auch die Kunde von dem neuen Land nach Skandinavien heimgebracht und daß es ein gutes Land sei. Das lockte im Jahre 867 einen muthigen Mann, den Floke, Vigerde’s Sohn, eine Fahrt nach dem neugefundenen Eiland zu unternehmen. Um den Weg zu finden, nahm er, wie die Sage meldet, drei geweihte Raben mit – die Raben galten für weissagende Vögel und waren dem Odin geheiligt – welche er auf offenem Meere nach einander fliegen ließ. Der erste wies ihm zu den Shetlandsinseln, der zweite zu den Faröern, der dritte nach der großen Insel den Weg, welche ihrer Küstengestaltung nach die von Naddod und Gardar gesehene sein mußte. Floke landete an der Südwestküste, da, wo jetzt Skalholt liegt, und nannte die Insel nach den ungeheuern Massen von Treibeis an der Küste Island, Eisland. Sie erschien ihm jedoch nicht sonderlich zur Ansiedelung einladend, obgleich damals in Folge des reichlichen Vorhandenseins von Waldung das Klima der Insel unverhältnißmäßig milder und fruchtbarer war, als es heute ist, und er kehrte bald wieder heimwärts (872). Hierdurch nicht abgeschreckt, machten sich zwei Jahre später zwei reiche, engbefreundete Bonden, Ingulf und Leif, aus ihrem Heimathlande Norwegen auf, mit Weib und Kind und Knechten und Mägden, mit Geräth und Zeug, Vieh und Saatfrüchten, um auf Island sich niederzulassen. Diese Männer, denen mehrere Sippen und Freunde bald nachfolgten, sie waren die Patriarchen der isländischen Colonisation, die Gründer des isländischen Gemeinwesens, in welchem, wie schon oben berührt worden, das Germanenthum seine letzte ureigene, reine und ungemischte social-politische Gestaltung erhielt. Der kleine Freistaat gedieh, und die Bevölkerung wuchs rasch an, weil die monarchisch-centralistischen Tendenzen, wie sie Gorm der Alte in Dänemark und Harald Schönhaar in Norwegen verfolgte, viele freiheitstrotzige Jarle (Edlinge) und Karle (Bauern) bewog, nach Island überzusiedeln.
Geborene Seefahrer, wie sie waren, mußten die Isländer ihre Blicke nicht nur ostwärts, dem alten Heimathlande zukehren, sondern auch bald westwärts richten, nach dem großen Ocean hin. Ein widriger Zufall zeigte auch hier dem Unternehmungsgeist zuerst die Bahn. Im Jahre 876 oder 877 ging, ob auf den Faröern oder auf Island ist ungewiß, der Sohn des Ulf Kraka, Gunnbjörn, zu Schiffe und wurde von einem Orkan weitin nach Westen entführt. Rückgekehrt, sagte er aus, daß er westlich von den nach ihm benannten Gunnbjörn-Klippen zwischen Island und Grönland eine weitgestreckte unbekannte Küste geschaut habe. Dieses Gunnbjörn’s Augen sind darnach aller Wahrscheinlichkeit zufolge die ersten europäischen gewesen, welche ein Stück der neuen, der transatlantischen Welt gesehen haben.
Atlantis war aus den Wogen des „Meers der Finsterniß“ aufgetaucht; die Ahnungen der Alten waren in der Erfüllung begriffen.
Indessen währte es doch noch volle hundert Jahre und drüber bis zur Stunde, wo ein Mann der alten Welt seinen Fuß zuerst auf den Boden der neuen setzte. Das war Erik der Rothe (Raudi), eines gewaltsamen, unbändigen Geschlechts würdiger Sprößling. Er stammte von Edlingen oder jedenfalls von Freibauern, was eigentlich ursprünglich Eins und Dasselbe gewesen. Sein Vater hieß Thorwald. Verschiedene Umstände, worunter auch eine mittelst mehrerer Morde contrahirte Blutschuld, veranlaßten Vater und Sohn, ihr angeerbtes Heimwesen in Norwegen aufzugeben und nach Island hinüberzugehen. Es sind, wie auch dieses Beispiel wieder darthut, keineswegs immer makellose Charaktere, an deren Namen große, weltgeschichtliche Vorschritte sich knüpfen. Thorwald und sein Sohn bauten sich im nordwestlichen Island an. Jener starb bald darauf, und der rothe Erik führte die Thorhild, eines angesehenen Hauses Tochter, als Ehefrau heim. Allein es war ihm nicht beschieden, fortan das ruhige Dasein eines Landbebauers zu führen. Ein Streit, in welchen er ohne sein Zuthun mit seinem Nachbar Eyjulf Saur verwickelt wurde, nahm rasch weite Dimensionen und jene bluträcherische Wildheit an, welche auf Island, wie daheim in Skandinavien, oft mehrere Generationen hindurch in Fehde begriffene Familien decimirte. Das Ende vom blutigen Liede war diesmal, daß Erik der Rothe vom Volksthing für drei Jahre für „friedlos“ erklärt, d. h. für so lange aus Island verbannt wurde.
Wie Friedlose zu thun pflegten, rüstete Erik sein Schiff, in unbekannte Fernen zu schweifen. Als er im Jahr 982 vom Snäfellsjökul aus in See stach, sagte er einem Gastfreunde zum Abschied, daß er gesonnen sei, das Land aufzusuchen, welches Gunnbjörn, der Sohn des Ulf Kraka, vor Zeiten gesehen. Er fand es wirklich und betrat die Küste bei jenem Vorgebirge, welches die englischen Schiffer heutzutage Cap Farewell, die holländischen Staatenhoek nennen. Drei Sommer und drei Winter verbrachte der kühne [248] Mann mit der Untersuchung des neuaufgefundenen, unermeßlich weithingedehnten Landes, welches er Grönland nannte, das grüne Land. Denn, sagte er, die Leute würden sehr verlangend werden, dahin auszuwandern, wenn das neuentdeckte Land einen so schönen, lockenden Namen führe. Man sieht, der erste Europäer, welcher amerikanischen Boden betrat, hatte schon etwas von einem Yankee an sich. Da unterdessen sein Bann zu Ende gegangen, kehrte er im Sommer von 985 nach Island zurück. Im folgenden Jahre wanderte er förmlich nach Grönland aus und schlug zu Hrattahlid an der vom vorhin genannten Vorgebirge gebildeten Bucht, die er Eriksfjord nannte, seinen Sitz auf. Er hatte auch nicht falsch gerechnet; der Name des „grünen“ Landes bewährte seine Anziehungskraft. Noch in demselben Sommer von 986 langten vierzehn Schiffe mit Einwanderern aus Island in Grönland an, welches dann bis zum Ende des 14. Jahrhunderts eine blühende normännische Colonie gewesen ist.
So war wiederum ein Pfeiler der Brücke gefunden, mittelst welcher die Europäer über das mächtige Thal, in welchem der atlantische Ocean fluthet, nach und nach in die westliche Hemisphäre hinüber gelangen sollten.
Unter den Ersten, welche neben Erik dem Rothen von Island aus Grönland besiedelten, war Herjulf, der Sohn des Bard. Der hatte einen Sohn, Björn oder Bjarne, einen kühnen, gewandten, waghalsigen jungen Mann, welcher frühzeitig ein „Langschiff“ erworben hatte und damit jene im Norden althergebrachten sommerlangen Seezüge unternahm, die im Laufe der Zeit aus reinen Raubzügen allmählich ein Gemisch von Raub- und Handelsfahrten geworden waren. Zur Zeit, als Herjulf von Island nach Grönland übersiedelte, befand sich Björn in Norwegen. Als er im Jahre 1000 heimkehrt, bei der heimischen Insel Anker warf und erfuhr, wohin sein Vater ausgewandert, ließ er sogleich den Anker wieder heben und den Bug des Schiffes westwärts kehren; „denn,“ sagte er, „ich will den Winter über, wie gewohnt, bei meinem Vater herbergen.“
Nun kannte aber weder Björn noch einer seiner Schiffsgesellen das westliche Meer, und sie hatten auch von der Lage von Grönland nur eine sehr unbestimmte Vorstellung. Kein Wunder daher, daß sie, nachdem sie drei Tage lang frisch in den Ocean hineingesegelt, nicht mehr wußten, wo sie sich befanden. Nachdem sie hierauf viele Tage und Nächte hindurch auf der unendlichen Wasserwüste fortgetrieben worden, erblickten sie endlich Land. Aber dasselbe zeigte keine Schneeberge, keine Gletscher, es konnte demnach nicht Grönland sein. Es war auch nicht dieses, sondern vielmehr jener nordamerikanische Landstrich, welcher um Jahrhunderte später den Namen Neu-Schottland erhielt. Björn, des Herjulf Sohn, muß uns demzufolge für den Europäer gelten, welcher das Festland von Nordamerika zuerst erblickt hat. Ganz richtig schließend, daß Grönland nördlicher liegen müsse als das neugefundene Land, schlug er längs der Küste desselben einen nördlichen Curs ein und gelangte am nachmals so benannten Neufundland und Labrador vorüber glücklich zur Südspitze von Grönland und dort zu seines Vaters Behausung.
Falls man Grönland nicht zählen will, ist, wie meine Darlegung ausweist, Björn Herjulfson der erste Entdecker Amerika’s gewesen, und zwar fünfhundert Jahre früher, als der Genuese Colon auf Guanahani landete.
Die Kunde von einem großen neuen Lande im Südwesten, welche Björn nach Grönland brachte, fand dort begierige Hörer, die sich angemuthet fühlten, die gemachte Entdeckung weiter zu verfolgen. Da war vor Allen Erik’s des Rothen, des Patriarchen vom „Grünen Land“, erstgeborner Sohn Leif, welcher ein solches Abenteuer zu wagen brannte, und der stach denn auch wirklich im Jahre 1001 in dem Langschiff Björn’s, welches er diesem abgekauft hatte, mit fünfunddreißig Begleitern in See. Unter seinen Schiffsgesellen befand sich auch, wie zu melden wir nicht vergessen wollen, ein „Südmann“, d. h. ein Deutscher; denn Südmänner hießen die Nordmänner ihre deutschen Stammvettern, wie sie die Bewohner der britischen Inseln Westmänner nannten. Und so war denn ein Deutscher – Tyrker hieß der Mann – mit dabei, als die ersten Europäer den Continent von Amerika betraten.
Leif nämlich und seine Gefährten verfolgten glücklich, aber in umgekehrter Richtung, den Curs des Björn. Sie fanden und berührten zunächst Neufundland, das sie seines Steinreichthums wegen Helluland (Steinplattenland) nannten. Weiter südwärts steuernd fanden sie eine flache, mit Waldungen dicht bedeckte Küste und gaben derselben den Namen Markland (Waldland, heute Neu-Schottland). Und weiter den südlichen Curs haltend, gelangten sie von da mit steifem Nordost binnen zwei Tagen an eine Insel, und das war die Insel Nantucket, die östlich vor dem festen Lande lag und noch liegt. Sie fuhren in die Montaup-Bucht ein und von da in die Mündung des Taunton-River. Eine Strecke flußaufwärts gingen sie an’s Land.
Ich unterlasse nicht, als ein denkwürdiges Zusammentreffen zu erwähnen, daß Leif Erikson und seine Gefährten im Jahre 1001 des Festland von Nordamerika gerade an derselben Stelle zuerst erblickten, nämlich beim Cap Cod, wo der erste Zug der puritanischen „Pilgerväter“, der Gründer der Neu-Englandstaaten und folglich der Vereinigten Staaten von Nordamerika, am 9. November 1620 der westlichen Erdhälfte zuerst ansichtig wurden. Aber der Landungsplatz war nicht derselbe. Denn die puritanischen Insassen der „Maiblume“, in deren Kajüte am 11. November 1620 die erste demokratische Verfassungsurkunde der transatlantischen Welt und zugleich der modernen Geschichte entworfen ward, segelten in die große Bay von Cap Cod ein und warfen in der kleinen Bucht Anker, an deren Gestade sich sofort die Blockhäuser von Neu-Plymouth erhoben, während Leif und seine Gesellen zwischen Nantucket und dem Festland durch und dann, wie schon gesagt, in die Bay von Montaup ein und den Taunton aufwärts fuhren.
Höchst angenehm überrascht und gefesselt durch die Milde des Klima’s, das üppige Wiesengrün, die prächtigen Forste und den Fischreichthum der Gewässer, beschlossen unsere Abenteurer, am Taunton zu überwintern, zogen ihr Schiff an’s Land und blockten Hütten auf. Dann durchstreiften sie die umliegende Landschaft, deren Beschaffenheit zu erkunden. Eines Tages hatte sich unser Landsmann Tyrker von den Uebrigen verloren, fand sich aber bei Einbruch der Nacht wieder zu ihnen, in so freudig aufgeregter Stimmung, daß er ganz vergessen hatte, seine Gefährten verständen kein Deutsch, und dieselben mit Ausrufungen der Freude in dieser Sprache überschüttete. Sie fürchteten schon, der Mann sei närrisch geworden, da fand er aber wieder isländische Sprachlaute und theilte mit, daß er Rebstöcke und Weintrauben in Fülle gefunden. Und dieser Anblick, der den guten Tyrker an die Rebengelände am heimischen Rhein erinnern mochte, hatte die weinselige deutsche Seele in solches Entzücken versetzt. Freilich, es waren selbstverständlich nur wilde Weinranken, und die Trauben – es war gerade die Zeit ihrer Reife – mochten nicht übermäßig süß schmecken. Allein in der Wildniß nimmt man es nicht so genau, und die Gaumen der Nordmänner waren nicht verwöhnt. Genug, Tyrker’s Entdeckung erregte solches Wohlgefallen, daß Leif mit Zustimmung seiner Gefährten dem ganzen See- und Flußgestade den Namen „das gute Weinland“ gab.
Nachdem der Winter vergangen, segelten Leif und seine Gesellen nach Grönland zurück, wo ihm um seines Landfundes willen der Ehrenname des Glücklichen ertheilt wurde. Die Schilderungen der Heimgekehrten vom guten Weinland erregten den Wunsch, dasselbe noch weiter zu erforschen und dann auch zu besiedeln; denn es versprach doch ganz andere Vortheile, als das unwirthliche Grönland. Im folgenden Jahre fuhr zum Zweck weiterer Entdeckung Leif’s Bruder Thorwald mit dreißig Begleitern nach Weinland, wo sie Leif’s Hütten am Taunton richtig auffanden und daselbst überwinterten. Im folgenden und zweitfolgenden Sommer unternahm Thorwald Küstenfahrten in südlicher Richtung, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß er bis zu den Gestaden von Maryland vorgedrungen. Der Tod setzte seinen Unternehmungen ein Ziel, denn Thorwald starb in Weinland an einer Wunde, welche er im Kampfe mit den Urbewohnern des Landes erhalten hatte.
Hier sehen wir also die Eingebornen von Amerika zum ersten Mal erscheinen, aber den Beschreibungen der normännischen Abenteurer zufolge waren es keineswegs die kräftigen, schlank und hoch gebauten Rothhäute, wie sie später zu Ausgang des 16. und zu Anfang des 17. Jahrhunderts von den englischen Einwanderern in diesen Gegenden vorgefunden wurden, sondern es waren „Wichte“ oder „Zwerge“ (Skrälinger, von skrael, klein), wie sie von den normännischen Weinlandsfahrern verächtlich genannt wurden. Wir können uns unter diesen Skrälingern, diesen „Abschnittseln von Menschen“, nur Eskimos denken und müssen also annehmen, daß diese Race zu Anfang des 11. Jahrhunderts den nordamerikanischen Continent viel weiter südwärts hinab bewohnt habe, als heutzutage. [249] In der Zeit, welche zwischen der ersten Entdeckung Amerika’s durch die Nordmänner und der zweiten durch Colon verstrich, muß demnach in der westlichen Hemisphäre eine großartige Völkerwanderung vor sich gegangen sein. Durch dieselbe müssen Stämme von Rothhäuten aus Centralamerika nordwärts geschoben worden sein, und diese Indianer haben dann ihrerseits die Eskimos bis in die Polarländer zurückgedrängt.
Thorwald’s Schicksal schreckte seine Verwandten nicht zurück, die Besiedelung Weinlands ernstlich in Angriff zu nehmen. Im Jahre 1005 that ein dritter Sohn Erik’s des Rothen, Thorstein, eine Fahrt dahin, allein eine epidemische Krankheit zehntete seine Begleiter und raffte ihn selber weg. Umsichtiger vorbereitet und reicher gerüstet, führte zwei Jahre darauf Thorfinn Karlsefne eine Schaar von 160 Männern aus Grönland nach Weinland. Sie hatten Milchvieh und alles zur Ansiedelung nöthige Zeug und Geräthe bei sich. Auch befanden sich bei der Gesellschaft fünf Frauen, worunter Gudrid, die Gattin Thorfinn’s. Die Stelle am Taunton, wo Thorfinn sein Haus aufblockte und seinen Hof einfenzte, ist genau nachweisbar, weil durch einen mit Runenschrift versehenen Fels bezeugt. Diese zweifelsohne von dem Manne selbst herrührende Rune heißt: „Nam Thorfinns“, d. h. Gut oder Grundstück Thorfinn’s. Hier gebar die Gudrid ihren Sohn Snorre, den ersten Europäer, der auf dem Boden Amerika’s zur Welt gekommen. Der Vater des Knaben wurde durch Tauschhandel mit den Skrälingern ein reicher Mann, gerieth aber später mit den Eingebornen in solche Mißhelligkeiten, daß er für gut fand, im Frühling von 1010 mit seiner Familie nach Grönland zurückzukehren.
Die normännische Ansiedlung am Taunton aber blieb bestehen und dehnte sich aus. Wir wissen, daß nach der Bekehrung der isländischen Colonisten auf Grönland im Jahre 1121 der Bischof Erik von da nach Weinland schiffte, um die dortigen noch heidnischen Ansiedler ebenfalls zum Christenthum herüberzuführen, was ihm auch gelang. Man hat Ursache, zu glauben, daß ein alter Rundbau aus Steinen, getragen von acht schweren Rundpfeilern mit roher Deckplatte, wahrscheinlich eine Taufkapelle, welche noch heute zu New-Port auf Rhode-Island aufrecht steht, von eben diesem Bischof Erik erbaut worden sei.
Von da an aber wird die Kunde von Weinland immer spärlicher und verstummt in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ganz. Was aus der dortigen Niederlassung geworden, wie sie untergegangen, ob die Ansiedler ausgestorben, ob sie den Angriffen der Skrälinger erlegen, ob sie nach Grönland zurückgekehrt, Niemand weiß es zu sagen, und selbst die Sage flüstert nicht davon. Es mag das davon herrühren, daß auch Grönland, welches den Verkehr Islands mit Weinland vermittelt hatte, im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts plötzlich wieder aus der Geschichte verschwand. Denn damals ist die normännische Colonie auf Grönland in Folge von entsetzlicher Winterkälte, Mißwachs, Hungersnoth und Pest vollständig ausgestorben. Das Land selbst verscholl hinter ungeheuren Eismassen und wurde erst im 16. Jahrhundert wieder aufgefunden.
Dies ist die Geschichte von der ersten Entdeckung Amerika’s ..... Im März des Jahres 1477 kam mit einem Bristoler Stockfischfahrer ein italischer Seemann nach Island, Christobal Colon. Ob der Mann schon damals mit dem Gedanken seines Lebens sich trug, über das große Westmeer hin nach der Küste von Ostasien zu gelangen? Ob er gar vielleicht auf Island durch lateinisch redende Geistliche Kunde erhalten von der normännischen Entdeckung eines neuen Erdtheils südwestlich von der Eisinsel? Möglich, aber kaum wahrscheinlich. Denn erstens treffen wir in den Aufzeichnungen Colon’s nicht die leiseste Spur einer solchen Mittheilung, und zweitens wollte er ja bekanntlich nicht einen neuen Erdtheil, sondern nur einen westlichen Seeweg nach Ostasien aufsuchen und keineswegs ein wildes „Weinland“, sondern vielmehr die goldschimmernden Städte von Katai und Zipangu.
Die Herrschaft der Kirche über die Völker und Staaten so wieder herzustellen, wie sie im „glorreichen“ elften Jahrhundert war, hat sich die Hierarchie seit der Restauration immerdar bemüht. Es ist der fünfte Papst, der seit 1815 die dreifache Krone trägt, und wie verschieden in ihrem Charakter und ihrer weltlichen Politik diese fünf Päpste gewesen sein mögen, die Idee zu verwirklichen, die durch diese dreifache Krone ausgesprochen wird, ist meist ihr Streben gewesen. In vielen Staaten ist es ihnen gelungen, bei den Herrschern den Glauben zu erwecken, daß die Kirche für die weltliche Gewalt eine Stütze sei, die nicht fehlen dürfe, wenn nicht Alles fehlen solle. Nach Heilmitteln gegen die angebliche revolutionäre Krankheit der Zeit überall suchend, wo sie nicht zu finden sind, haben verschiedene Regierungen mit dem heiligen Stuhl Verträge geschlossen, die seine Macht auf Kosten der ihrigen vermehren und dem geistlichen Einfluß, dem Mönchswesen, sogar dem Jesuitismus Thüren und Thore öffnen. Am weitesten geht in dieser Beziehung das österreichische Concordat, das, nicht zufrieden damit, die Kirche zu einem Staat im Staate zu machen, einen Zustand der Dinge vorbereitet, der leicht den Staat der Kirche unterthänig machen kann. Eine Hierarchie im Geist des Mittelalters - das ist das Ziel einer mächtigen und weit verbreiteten Partei, im Protestantismus sowohl wie im Papstthum. Den Völkern sagt man, daß ein weltbeherrschendes Papstthum sie gegen die Tyrannei der Könige schützen werde; den Königen sagt man, daß dasselbe Papstthum, wenn sie mit ihm auf gutem Fuße blieben, ihnen den stummen Gehorsam der Völker sichern werde. Nicht blos in Rom, Madrid und Avignon werden solche Dinge gesagt, sondern auch mitten unter uns. Wahrlich, es gehört Muth, viel Muth dazu, das in Deutschland zu thun, wo das hierarchische System, als der finstere Ferdinand II. es zur Herrschaft erhob, einen dreißigjährigen Krieg entzündete, der zwei Drittheile der deutschen Bevölkerung, zwanzig Millionen Menschen, vernichtete und ganze Provinzen zu Einöden machte.
Nach jenem Kriege stößt man in Oesterreich bis zur Zeit Maria Theresia’s auf eine Kette von Maßregeln der Verfinsterung und brutalen Verfolgung Freidenkender. Es ist der pfäffische Geist, dem die weltliche Gewalt ihr Schwert geliehen hat, der alle diese Gräuel, die Gegenreformation in Böhmen, Mähren und Schlesien, wie das Blutgericht in Eperies hervorgerufen hat. Vereinzelte Aeußerungen blutgieriger Unduldsamkeit sind diese Gräuel nicht, sie entspringen vielmehr einem System, und zwar eben jenem hierarchischen System, das uns neuerdings wieder empfohlen wird. Wie ausgebildet dasselbe war, ergiebt sich aus der Thatsache, daß seine Urheber, die wir in den beiden engverbundenen Mönchsorden der Jesuiten und der Dominikaner suchen müssen, ein Handbuch der Wissenschaft der Verfolgung geschrieben haben. 1558 in Rom als Leitfaden für die geistlichen Gerichte gedruckt, aber sorgfältig geheim gehalten, wurde es von den Jesuiten und Dominikanern zwei Jahrhunderte lang gemeinschaftlich befolgt und 1761 von den ersteren, die eben mit den Dominikanern im Streit waren, im Auszuge veröffentlicht. Die von allen Seiten angefeindeten Väter Jesu verloren in ihrer Wuth die Besinnung und verriethen ein gemeinschaftliches Geheimniß, um der Welt zu zeigen, daß die von Niemand verfolgten Dominikaner ganz eben so schlimm seien, wie sie selbst. Ein französischer Schriftsteller, Michiels, hat sich (in der in Gotha erschienenen deutschen Ausgabe seiner „Geheimen Geschichte der österreichischen Regierung seit Ferdinand II. bis auf unsere Zeit“) das Verdienst erworben, den Hauptinhalt dieses „Handbuchs für Inquisitoren“ wieder bekannt zu machen. Da man heute von gewisser Seite alles Abscheuliche vertheidigt, so hat sogar die Inquisition ihre Vertheidiger, ja ihre Lobredner – Louis Veuillot, die Mitarbeiter der römischen Civilta Cattolica und Andere mehr – gefunden. Wir wollen jetzt die Inquisition aus ihrem eigenen Handbuch kennen lernen und die Mittel zeigen, durch welche die vielgepriesene kirchliche Weltordnung der Vergangenheit von ihren Werkzeugen aufrecht erhalten wurde.
Fast alle Bestimmungen des „Handbuchs für Inquisitoren“ waren auf Befriedigung der Herrschsucht, der Geldgier und der Grausamkeit der Kirche berechnet. Der Inquisitor konnte nicht blos Geldstrafen auferlegen, sondern auch Vermögenseinziehungen [250] und Amtsentsetzungen aussprechen. Die Geldstrafen waren zum Unterhalt des Glaubensgerichts und seiner vielen öffentlichen und geheimen Diener bestimmt, die Vermögenseinziehungen vermehrten die Güter der Orden. Den Kindern eines Ketzers Mitleid zu schenken, verbot das Gesetzbuch der Dominikaner. „Theilnahme für die Kinder des Schuldigen, die man an den Bettelstab bringt, darf die Strenge des Gerichts nicht mildern, da die Kinder nach göttlichen und menschlichen Gesetzen für die Sünden der Väter gezüchtigt werden.“ Das geheime Motiv dieses Satzes ist leicht zu begreifen. Wenn man den Familien Mitleid gezeigt und Anstand genommen hätte, sie in’s Elend zu stoßen, so wäre es unmöglich gewesen, sie zu plündern, und man hätte ihnen wenigstens einen Theil ihrer Güter lassen müssen. Wenn man sie nicht plünderte, so verlor das Heilige Gericht seinen Gewinn, wie die Kaufleute zu sagen pflegen; und ließ man ihnen einen Theil ihrer Güter, so schmälerte man die Einkünfte der ehrwürdigen Väter. Bei dem Gedanken an eine solche Schmälerung empörte sich ihr Herz.
Ihr Geschäftsbuch fährt daher fort: „Die rechtgläubigen Kinder der Ketzer sind von dieser Strafe nicht ausgenommen, und man darf ihnen nichts lassen, nicht einmal den Pflichttheil, der ihnen von Natur zu gebühren scheint. Das ist durchaus nothwendig, um die Väter von dem großen Verbrechen der Ketzerei abzuschrecken.“ Das ist der Vorwand; der wahre Zweck besteht darin, das Vermögen der Dominikaner zu vermehren und ihre Casse zu füllen. Die mitleidigen Männer, wie leicht ließen sie sich rühren! „Indessen,“ sagt das Handbuch, „können die Inquisitoren aus Gnade für den Unterhalt der Ketzerkinder sorgen, die Söhne in einem Handwerk unterrichten lasten, und die Töchter bei einer achtbaren Frau derselben Stadt unterbringen. Denjenigen, welche ihre Jugend oder ihre Kränklichkeit unfähig macht, für sich selbst zu sorgen, kann man eine kleine Hülfe leisten.“ Ja, eine kleine und gewiß eine sehr kleine!
Wie dem Vermögen der Kinder, so erging es auch der Mitgift der Frau, ja oft selbst dem Vermögen eines Verstorbenen. „Nach dem Tode eines Ketzers,“ sagt das Handbuch, „kann man seine Güter noch immer einziehen und die Erben derselben berauben, wenn man ihm bei seinen Lebzeiten auch den Proceß nicht gemacht hat. Die Kinder und Erben der Ketzer genießen die Wohlthat der Verjährung in Beziehung auf ihre ererbten Güter erst nach einem Zeitraume von vierzig Jahren und zwar nur unter der Voraussetzung, daß sie während dieser Zeit in gutem Glauben gewesen sind, denn wenn sie inzwischen entdeckt haben, daß der Verstorbene ein Ketzer gewesen ist, so können sich die Inquisitoren auch nach vierzig Jahren der Güter bemächtigen.“
Jeder Ketzer verlor in Folge der bloßen Thatsache der Ketzerei alle Stellen, und es bedurfte nur dann eines Urtheils, wenn Begünstiger der Ketzerei ebenfalls abgesetzt werden mußten. Auch die Kinder der Gottlosen wurden sofort aus ihren Aemtern entfernt und zu allen öffentlichen Anstellungen unfähig erklärt. Die politische und bürgerliche Aechtung erstreckte sich von väterlicher Seite auf das zweite Geschlecht, überschritt aber von mütterlicher Seite das erste nicht. Folglich konnten der Sohn und die Tochter, der Enkel und die Enkelin eines Ketzers keine Pfründe erhalten, kein Amt bekleiden. War es aber die Mutter, die sich vom Satan verführen ließ, so verschonte der Fluch die unschuldigen Häupter ihrer Enkel und Enkelinnen. Auch die Geflüchteten und die rückfälligen Bekehrten, die man trotz ihrer Reue verbrannte, da das Feuer seine Rechte nie verlor, führten den Untergang ihrer Nachkommenschaft herbei. Ein Mann, der unkirchlicher Ansichten überführt oder beargwöhnt wurde, verbreitete mithin Armuth und Hunger um sich und theilte den Seinigen vor seinem Tode einen Peststoff mit. Nichts entging dem Orden, der die Gegenwart an sich riß, der ganzen Familie blos einige Lumpen überlassend, und die Zukunft unfruchtbar machte. Welche Macht erwuchs aber auch dem Orden, welche Gewinne, welche Fischzüge machte er! Stellen, Pfründen, Güter, Schlösser, Hausgeräth, Diamanten und baares Geld, Alles fiel in seine Hand. Es war ein beständiges Einstreichen und Besitzergreifen. Die mörderischen Speculanten sangen jeden Tag ein Tedeum, um Gott für ihren Wohlstand zu danken. Welch’ ein Geschäft wäre zu machen gewesen, wenn man die Heilige Hermandad in eine Actiengesellschaft hätte verwandeln können! Welche Dividenden wären den Capitalisten zugefallen!
Um das Werk der Beraubung und Verfolgung zu krönen, führten die Geschäftsleute in Kutten auf ihre Schlachtopfer noch einen letzten Streich. Jede angebliche Ketzerei hatte den vollständigen Verlust jeder Art von Autorität zur Folge: die Diener und Bauern brauchten ihrem Herrn, die Unterthanen dem König, die Soldaten dem General, die Frau dem Manne, die Kinder dem Vater nicht mehr zu gehorchen. Jeder einem Ketzer geleistete Eid war nichtig, kein Ketzer konnte einen letzten Willen machen oder anvertrautes Gut zurückfordern.
Wie stand es nun mit den Garantien der Gerechtigkeit und Unparteilichkeit, welche die Urtheilssprüche umgaben? Um Jemand in seinem Hause zu verhaften und in die Kerker der Inquisition zu schleppen, bedurfte es eines einzigen Angebers, der seine Aussage insgeheim machte und sie nicht durch Zeugen zu unterstützen brauchte. Sogar an einem öffentlichen Gerücht und an den hingeworfenen Aeußerungen einiger Bummler, daß Der und Jener vom katholischen Dogma abweichen dürfte, hatte man genug. Der Richter ließ die Schwätzer vorladen und verhörte sie. Zu Gunsten des Glaubens, wie das Handbuch sagt, wurde das Zeugniß eines Jeden angenommen, welcher reden wollte oder mußte. In dieser Beziehung ist die in dem düsteren Buche abgedruckte Liste erbaulich. Als zum Zeugniß zuzulassen werden genannt: Excommunicirte, Mitschuldige des Ketzers, Ehrlose und Verbrecher aller Art, Ketzer, Götzendiener und Juden, sogar Meineidige, die in derselben Sache und zum Nachtheil des Angeklagten falsch geschworen haben. „Wenn ein Zeuge,“ sagt der fromme Gesetzgeber, „einen Meineid geleistet hat, so kann er seine erste Aussage zurücknehmen, und der Richter muß sich an die zweite halten, vorausgesetzt, daß sie den Gefangenen belastet, denn wenn sie diesem günstig ist, so gilt die erste.“ Das Gericht kümmerte sich also nicht um die Wahrheit und schenkte der Unschuld keine Beachtung; es suchte blos Schuldige, oder vielmehr Schlachtopfer.
Als Zeugen ließ die Inquisition auch die Frau, die Kinder, die übrigen Verwandten und die Dienstboten des Angeklagten zu. Der Bruder konnte gegen den Bruder aussagen, der Vater den Sohn anklagen, der Sohn den Vater belasten: „denn,“ sagt die Inquisition, „man ist Gott mehr Gehorsam schuldig, als den Eltern, und kann man den Vater als Feind des Vaterlandes tödten, so kann man seine Verbrechen gegen den Höchsten um so mehr enthüllen.“ Auch wurde der Sohn, der die ketzerische Gesinnung seines Vaters verrieth, zur Belohnung für seine Schändlichkeit von den Strafen befreit, welche die Kinder der Schuldigen trafen. „Die Aussagen von Zeugen aus der Familie,“ sagt das Handbuch, „sind sehr nothwendig, weil das Verbrechen der Ketzerei gewöhnlich im Umkreise des Hauses vorkommt.“ Welche Sicherheit blieb bei solchen Gesetzen der Familie! Gleich einem Nachtvogel nistete sich die Unruhe unter den achtbarsten Dächern ein. Herren und Diener, Väter und Söhne fürchteten sich gegenseitig, Brüder betrachteten sich mit Argwohn. Als in Toulouse ein Vater 1312 seinen Sohn angeklagt hatte, bekannte er auf der Folter, daß der Haß ihn fortgerissen habe, einen Unschuldigen zu verleumden.
Eine Gegenüberstellung der Zeugen und der Angeklagten fand nicht statt, denn das wäre zu gerecht gewesen, und nicht einmal die Namen der Ankläger wurden bekannt gemacht. Die Vertheidigung war ein bloßer Schein oder eine freche Verhöhnung. Das Gericht wählte den Sachwalter des Dulders selbst, und dieser war immer ein frömmelnder Diener der Inquisition. „Seine Hauptsorge,“ sagt das Handbuch naiv, „muß darin bestehen, den Angeklagten zu ermahnen, daß er, wenn er schuldig ist, gestehe und um Verzeihung für sein Verbrechen bitte.“ Die Verzeihung war der Tod in den Flammen, der Tod unter großem Schaugepränge. Zwei Zeugen oder Angeber, die zum Abschaum der Menschheit gehören konnten, genügten zu einer Verurtheilung. Das nächste Autodafe zierte ein Schlachtopfer mehr, oder es verfaulte 20 Fuß tief unter der Erde.
Man sieht also, daß die Lebenden wie die Todten durch nichts, weder durch den reinsten Glauben, noch durch die offenbarste Unschuld, vor der Inquisition geschützt wurden. Dieses Ungeheuer konnte zu jeder Zeit Jeden mit seinen Fängen an sich ziehen und zwischen seinen Kinnladen zermalmen. Da der Verfolgte nicht allein fiel, da jedem Urtheile die Einziehung des Vermögens folgte, so verfügte das furchtbare Gericht über das Eigenthum ebenso schrankenlos wie über die Person. Ein Vermögen, welches die Blicke der finsteren Mönche auf sich zog, war eine immerwährende Gefahr. Wie viele Reiche hätten in dem Augenblicke, wo man ihnen den Sanbenito über die Augen zog, mit dem römischen Geächteten ausrufen [251] können. „Ich Unglücklicher, mein Haus in Alba richtet mich zu Grunde.“
Ein Institut dieser Art mußte die bürgerliche Rechtspflege, die politischen Körperschaften und selbst die königliche Gewalt weit überragen. Es war ein unwiderstehliches Werkzeug der Unterdrückung; Caligula, Nero und Heliogabal hätten in ihren schlechtesten Tagen nichts Besseres erfinden können. Es war aber auch ein Werkzeug der Erpressung, ein Alles verschlingender Polyp, der das Mark eines jeden Landes von jedem beliebigen Platze aus verzehren konnte. Niemals gab es ein geschäftliches Unternehmen, das so sinnreich eingerichtet war. Binnen hundert Jahren mußte ein Königreich, das man den Inquisitoren überlieferte, ihnen als Eigenthum der todten Hand gehören, wenn sie nicht ihre Räubereien selbst beschränkten, oder wenn die Regierung ihnen nicht Schranken setzte.
Die spanische Geistlichkeit wurde in Folge dessen ungeheuer reich. Am Ende des 17. Jahrhunderts besaß sie in 22 Provinzen des Königreichs Castilien zwölf Millionen Morgen Land, welche 161 Millionen Realen eintrugen. Es war der fünfte Theil des Bodens. Dazu kamen noch Gebäude von ungeheuerem Werth und zufällige Einnahmen, die der Schrecken auf eine bedeutende Höhe trieb. Der Erzbischof von Toledo bezog jährlich 200,000 Ducaten oder 800,000 Thaler unseres Geldes, der Erzbischof von Compostella 60,000 Ducaten oder 210,000 Thaler, der Erzbischof von Sevilla 400,000, der Erzbischof von Valencia 181,000 Thaler. Ordnete ein Sterbender einige tausend Messen für das Heil seiner Seele an, so zog die Geistlichkeit die willkürlich geschätzten Kosten dieser Messen vom Nachlasse ab, ohne auf die Gläubiger, welche häufig keinen Maravedi bekamen, Rücksicht zu nehmen. Die Besitzungen und besonderen Einkünfte der Inquisition sind niemals bekannt geworden, da sie alle ihre Angelegenheiten in ein undurchdringliches Geheimniß hüllte und die Neugier durch die Folter, den Scheiterhaufen und die Erdrosselung, welche reuigen Ketzern als eine Gunst bewilligt wurde, fern zu halten verstand.
Trotz ihres Einflusses, ihres Reichthums und ihrer Macht war die Inquisition nicht zufrieden. Sie entwarf den Plan, sich ein Heer zu schaffen, welches zur Unterstützung ihrer ehrgeizigen Pläne stets bereit sei. Diese Truppen sollten einen neuen Militärorden, St. Maria vom weißen Schwert genannt, bilden und den spanischen Generalinquisitor zum Großmeister haben. Dieser fürchterliche Gedanke und die bereits fertigen Statuten wurden von vierzig adeligen Familien, von den Wortführern der gesammten Geistlichkeit und vom Hohen Rathe gebilligt. Es fehlte blos noch die Genehmigung Philipp’s II. Der König begriff aber, daß er seiner Krone entsagte, wenn er die Organisation einer solchen Macht duldete und einer mächtigen, unversöhnlichen Gesellschaft gestattete, fanatische Banden anzuwerben. Durch Aberglauben und Schrecken bereits zur Herrin der Gemüther geworden, würde sie die Halbinsel bald militärisch beherrscht und das Ausland im Interesse des Glaubens oder ihres eigenen Vortheils bekriegt haben. Der Fürst zögerte, fragte, ob diese Einrichtung auch wirklich nothwendig sei, und entschied sich zum Glück für ihn, für seine Familie und sein Volk niemals. Das Weiße Schwert würde sich binnen Kurzem mit dem Blute der Könige und der Völker gefärbt haben.
Das Handbuch der Inquisitoren enthüllt das System, das von den Dominikanern auf die Jesuiten überging und von diesen auf ganze Länder und Provinzen ausgedehnt wurde. Die Dominikaner hatten in Spanien vielleicht zweihundert Menschen auf einmal verbrannt. Die Jesuiten, die ihre Hauptthätigkeit in Ländern entfalteten, wo der Protestantismus entweder gesetzlich anerkannt war, oder eine große Anzahl unterdrückter Anhänger hatte, ließen ganze Bevölkerungen zu Grunde gehen, Tausende von Flecken, reichen Plätzen und Hauptstädten zum Ruhme des Herrn in Flammen auflodern. Die Inquisition fällte Urtheile, ohne die Zeugen, oft die ehrlosesten Menschen, dem Angeklagten gegenüberzustellen; die Jesuiten verdammten bei ihren geheimnißvollen Berathungen Städte, Provinzen und Völker zu bewaffneten Missionen, Dragonaden und Glaubenskriegen. Und hat die Sturmglocke der Revolution diesem System zu Grabe geläutet? Durchaus nicht; noch im Jahre 1815 haben die Protestanten von Avignon, Nimes, Uzès, Montpellier, Alais, Vigan und Toulouse eine neue Bartholomäusnacht erlebt und die Scheiterhaufen des Mittelalters wieder aufflammen sehen. Und würde man heute, fast ein halbes Jahrhundert nach jenen südfranzösischen Metzeleien, vor einer Wiederholung zurückschrecken? Nein, aber man muß zuvor die öffentliche Meinung bearbeiten, den Protestantismus als den Geist der Revolution, die Kirchenherrschaft als das Heil der Monarchie darstellen, und zu diesem vorbereitenden Werke hat man sich mit Romantikern und politischen Reactionären verbunden, die man noch sehr mild beurtheilt, wenn man annimmt, daß sie vielleicht größtentheils nicht einmal wissen, welchen Zwecken sie dienen.
Seit dem 10. October 1794, jenem Trauertage Polens, wo sein größter und edelster Held, Kosciuszko, besiegt und mit Wunden bedeckt vom Pferde auf das Schlachtfeld von Maciejowice sank, sind die Worte, die ihm da der tiefste Seelenschmerz entpreßte, die Prophetenklage seines armen Volkes geworden. Finis Poloniae! „Das ist Polens Ende!“ – so konnte er ausrufen, der seine Nation kannte, wie kein Anderer, ihre Tugenden, ihre Schwächen und die unversiechliche Quelle ihres Elends. Näher zum Triumph seines Rechtes ist Polen nie wieder geführt worden, als durch seine reine starke Hand. Fast siebzig Jahre sind seit jenem Trauertage über Land und Volk dahingegangen, die ganze Wucht dreier mächtiger Militärstaaten schien jede Regung des alten Nationalgeistes niederdrücken und völlig ersticken zu müssen, und dennoch lebte dieser Geist selbst unter solchem Druck noch fort, jede äußere Lüftung der schweren Grabesdecke zu frischem Aufathmen benutzend, aber gleichwohl bis heute nur, um weder erleben noch ersterben zu können. Die Weltgeschichte kennt nichts Gräßlicheres, als solch einen Todeskampf einer Nation.
Gottlob ist es darum kein Wunder, sondern ein trostreiches Zeugniß für die unzerstörbare Kraft und Gesundheit des Freiheitsdranges in allen Völkern, daß jedem neuen Erwachen Polens die Volksherzen in ganz Europa entgegenschlugen, und wieder waren es die Deutschen, welche all den Haß, den ihre Regierungen für sich verdient hatten, den aber die Polen, ebenso wie Ungarn und Italiener, allzu kurzsichtig und ungerecht auf das Volk der Deutschen mit übertrugen, gegen diese wie jene mit aufopfernder Theilnahme vergalten.
Zweimal in diesem Jahrhundert stand der Polen Hoffnung wieder in voller Blüthe. Napeleon hatte Preußen und Oesterreich besiegt, zwei Thore standen ihm offen, um die Unabhängigkeit in das Land zu führen, und die Polen eilten zu Tausenden unter seine Fahnen. Seine Untreue gegen alle Nationen litt es jedoch nicht, das ganze Polen als ein selbständiges Königreich wieder aufzurichten, ein weder Oesterreich noch Rußland unbequemes „Großherzogthum Warschau“ als Nebenbesitzung des Rheinbundeskönigs von Sachsen war Alles, was „seine Politik“ ihm zu schaffen gestattete. Sein unredlicher Zweck war nur das polnische Contingent, das von 60,000 Man später sogar auf 80,000 Mann erhöht werden mußte. Darum war es auch ganz in der Ordnung, daß seine Kaiserherrlichkeit an dieser Unredlichkeit und Untreue gegen Polen zu Grunde ging; denn ein selbstständiges, mächtiges, Napoleon mit Leib und Seele ergebenes Polen hätte als Operationsbasis dem russischen Feldzuge einen andern Erfolg und der europäischen Geschichte eine andere Wendung gegeben. Wir Deutschen feiern mit Recht seinen Untergang; Polen aber war abermals verloren.
Die zweite Hoffnungsblüthe Polens ging unter dem Strahle der Pariser Julisonne auf. Der Lauf dieser Erhebung ist an unser Aller Augen vorübergegangen, von jener Novembernacht in Warschau 1830, wo Wysocki den Fähnrichen der Kriegsschule zurief: „Polen, die Stunde der Rache hat geschlagen! Wir müssen siegen oder sterben!“ – bis zu dem trüben Octobertage 1831, wo die Trümmer des Polenheeres aus dem Vaterlande flohen und „die letzten Zehn vom vierten Regiment“ als Heimathlose den Boden Preußens betraten. Auch das Strafgericht des russischen Kaisers über das Polenvolk ist noch in Jedermanns Gedächtniß, denn Thaten der unversöhnlichen Gewalt prägen sich ihm unauslöschlich tief ein.
[252]
Damals war Chlopicki der Polen Dictator gewesen; erst nach zweiunddreißig Jahren erhielt er einen Nachfolger in Marian Langiewicz, und wenn die Parallele, welche das Schicksal beider Männer darstellt, sich auch über den neuesten Aufstand erstreckt, so ist Polen abermals verloren. – Allerdings nicht mit ganzer Entschiedenheit dem Aufstand zugewandt, aber vom Volke mit ungetheiltem Vertrauen begrüßt, übernahm Chlopicki am 5. Decbr. 1830 die Dictatur, legte sie jedoch nach der Eröffnung des Reichstags (18. Decbr.) wieder nieder, mußte sie aber nach dem allgemeinen Volkswillen schon am 20. December wieder übernehmen und behielt sie nun, bis der patriotische Verein ihn wegen seiner Strenge und zugleich seiner auf Versöhnung mit Rußland hinzielenden Schritte zur Rechenschaft zog. Da trat Chlopicki am 23. Januar 1831 für immer als Dictator ab, blieb aber bei der Armee und bewies den Polen seine Vaterlandsliebe und seine Tapferkeit im Kampfe, bis er, schwer verwundet, Anfangs März nach Krakau geschafft wurde und damit vom Schauplatz der Revolution verschwand.
Die Ursachen und den Verlauf der jüngsten polnischen Revolution unseren Lesern auszuführen, wäre überflüssig und ist, hinsichtlich des letztern, jetzt noch nicht möglich, so sehr läuft das Gewirre der Zeitungsberichte von den verschiedenen Parteistandpunkten aus durcheinander. Die polnische Emigration, der nationale Geist unserer Zeit, der Sieg desselben durch Garibaldi in Italien, die nationalen Bestrebungen in Deutschland und Ungarn, dies Alles hat zusammengewirkt, um auch die Hoffnungen der Polen neu zu beleben, und der Aufstand soll noch in der Vorbereitung begriffen gewesen sein, als die russischen Rekrutenaushebungen ihn vorzeitig zum Ausbruch brachten. Eine polnische Armee existirte nicht, sie sollte durch den Kleinkrieg von Banden erst gebildet werden. Um so wichtiger mußten für einen solchen Kampf Führer sein, die für solch eine schwere Aufgabe Talent, Geschick, Kriegsübung und Energie genug besaßen.
Als ein solcher Führer wird Marian Langiewicz geschildert. Am 5. August 1827 im Großherzogthum Posen geboren, ward ihm deutsche wissenschaftliche und preußische Militär-Bildung zu Theil, während er im Herzen ein Pole blieb. Er hatte, nach dem Gymnasium zu Posen, die Hochschulen von Breslau und Prag bezogen, war längere Zeit Hauslehrer, trat dann zur Garde-Artillerie [253] in Berlin, verrichtete 1859 bei der Mobilmachung Officiersdienste, nahm aber seinen Abschied, als ihm die Zeit für Polens Erlösung nahe zu kommen schien. Nachdem er eine Lehrerstelle an Mieroslawski’s neuer Militärschule zu Paris kaum angetreten, zog ihn Garibaldi’s Ruf nach Italien, wo er als Adjutant des Generals v. Milbitz den ganzen Feldzug mitmachte und, nach dem vollendeten Sieg über die neapolitanischen Bourbonen, Lehrer der Artilleriewissenschaften an der polnischen Militärschule zu Cuneo ward. Später finden wir ihn in London und endlich in Warschau. Als einer der Hauptleiter in die revolutionären Pläne eingeweiht, ward er auch wegen seines militärischen Rufs sofort der Mann der Situation, dem die Dictatur von selbst zufiel. Niemand kann leugnen, daß Langiewicz sein Feldherrn- wie sein militärisches Organisationstalent, seine Rastlosigkeit und Aufopferungsfähigkeit bereits genugsam erwiesen, um das Vertrauen der Polen in ihn zu rechtfertigen. Trotz alledem ist er Chlopicki’s Nachfolger auch als Ex-Dictator geworden. Warum? Man hat einen französischen Kaiserfinger, man hat die Drohfäuste der sogenannten provisorischen Regierung, man hat die Unglückshand Mieroslawski’s in dieser neuesten „polnischen Wirtschaft“ geschäftig sehen wollen. Die Zeit wird auch den Schleier von diesen „geheimen Beweggründen“ heben; wann aber der Trauerschleier vom Haupte der unglücklichen Polonia gehoben wird, das weiß der liebe Gott!
Croatien war vor 25 Jahren ein Land, welches dem gebildeten Publicum unbekannter war, als die Westküste von Afrika; ja theilweise ist es noch so, selbst von der croatischen Hauptstadt „Agram“ liest man nur selten dürftige Correspondenzen in deutschen Blättern. Meinen Einzug hielt ich dort vor vielen Jahren unter den trübseligsten Umständen, die ich bei einer anderen Gelegenheit meinen freundlichen Lesern bereits mitgetheilt habe.[2] Von Räubern mißhandelt, entkleidet und aus einer tiefen Kopfwunde blutend, fand mich ein bürgerlicher Samaritaner besinnungslos auf der Landstraße, und gewährte mir in seinem gastlichen Hause Pflege und Heilung.
Damals herrschten in Agram noch die absonderlichsten geselligen Zustände, und die öffentliche Sicherheit stand unter Null. Die Nähe der türkischen Grenze sicherte dem flinken Einbrecher, Dieb oder Räuber ein schnelles und strafloses Entkommen, und gewaltsame Anfälle auf das Eigenthum, ja das Leben der Einwohner gehörten selbst in den belebtesten Straßen und am hellen Tage keineswegs zu den seltenen Ereignissen. Wurde die Geschichte zu arg, nahm die Frechheit der Strolche zu sehr überhand, so wurde von Seiten der Behörden „Standrecht“ publicirt, d. h. die Verbrecher, die auf frischer That ergriffen wurden, sofort verurtheilt und hingerichtet; freilich kam dabei ein alter Spruch nur zu oft in Anwendung, denn auch die Agramer hingen, gleich den Nürnbergern, Niemand auf, ehe sie ihn hatten. Unter Trommelschlag wurde dann durch öffentliche Ausrufer publicirt, daß das Gericht, um den wiederholten Räubereien zu steuern, jedem Einwohner das Recht zuspreche, auf einen Fremden, der nach eingebrochener Dunkelheit in seine Wohnung eindringe und auf dreimaligen Anruf nicht antworte, zu schießen; ein Recht, von welchem ein dortiger Büchsenmacher sofort Gebrauch machte, indem er einen Gauner, der in nächtlicher Stunde durch ein Fenster seines Hauses steigen wollte, mitten durch die Brust schoß. Allein nicht nur mit den als vogelfrei erklärten Banditen standen die Behörden in offenem Kampfe, auch die Bürger machten nicht selten von dem Rechte des Stärkeren Gebrauch und sprachen dem Gesetze Hohn. Ich erinnere mich noch, welch enormes Aufsehen der Vorfall machte, als ein reicher Kaufmann, der zugleich Edelmann war, den Zollbeamten, welchen er mit Recht der Schmuggelei im großartigsten Maßstab verdächtig war, sein Haus verschloß und eine vollständige Belagerung desselben mit bewaffneter Hand abwehrte, indem er Jeden niederzuschießen drohte, der ohne seine Erlaubniß die Schwelle überschreite. So lag er mit seinem Personal mit Feuerwaffen an den Fenstern seines inmitten der Stadt gelegenen Hauses im Anschlag, während die Douaniers vor demselben campirten, aber wohl auf ihrer Hut, diesem näher zu kommen, als der Anstand forderte. Während der Zeit wurden die geschmuggelten Waaren von den im Hofe stehenden Wagen abgeladen und Nachts auf Hinterwegen bei Seite geschafft. Ich weiß mich nicht mehr zu erinnern, wie die Sache endete, und ob selbe Folgen hatte, nur ist mir noch gut im Gedächtniß, wie oft nach der Hand der Kaufmann die höheren Zollbeamten in Gegenwart von Zeugen hänselte wegen seines gelungenen Handstreiches, und wie diese den Hohn und den guten Wein des reichen Mannes geduldig hinabschluckten.
Ein pittoreskeres Bild, als der alljährlich abgehaltene Agramer „Viehmarkt“, zugleich das größte croatische Volksfest, gab, konnte keine Phantasie ersinnen. Auf einem ungeheuren Wiesenplan unfern der Stadt wurde es abgehalten und dauerte mehrere Tage und Nächte lang. Gerade die Nacht mit ihrem bunten Treiben hätte einem Breughel den prächtigsten Vorwurf für seinen genialen Pinsel geliefert. Zwischen den zahllosen, zum Verkauf herbeigebrachten Thieren und ihren Begleitern promenirten, von den vielen Zeltfeuern und dem Lichte des Vollmondes malerisch beleuchtet, der Edelmann und seine Dame im reichen Nationalcostüm; halbnackte Zigeunerhorden tummelten sich daneben um ein halbgebratenes Lamm, welches an einem improvisirten Spieß über einem riesigen Feuer schmorte; der kecke Csikos, die braune Bauerndirne trieben sich in der bunten, in alle Volkstrachten Ungarns, Serbiens und Croatiens gekleideten Menge umher; mächtige Weinfässer, von der Großmuth des Edelmanns gespendet, labten mit ihrem duftigen Inhalt Tausende von durstigen Kehlen und stimmten sie zu begeistertem Jubelrufe; die gut geschulten Militärmusiker zogen den Kürzeren im Wettkampf mit den elektrisirenden Klängen der Zigeunermusikbanden. Dazu ein Geheul in allen Menschensprachen, in allen Thierlauten; das Schmerzgebrüll des ertappten und sofort abgestraften Diebes mischte sich mit dem Jauchzen des Trinkers, der mit seiner Vernunft und seinem Gelde am Rande war; kurz ein Leben, wie es so betäubend, fast sinnverwirrend wohl kaum zum zweiten Mal zu finden sein dürfte!
Auf der sogenannten Harmitzen, einer kleinen, aus wenigen Häusern bestehenden Vorstadt Agrams, wohnte ich zusammen mit einem gewissen Lieser, der ein trefflicher Sänger, ein leidenschaftlicher Jäger und auch sonst ein ganz gebildeter umgänglicher Mensch war. In traulichem Gespräch streiften wir oft, Lieser stets mit der Flinte auf dem Rücken, in Feld und Wald umher, wo mir mein Freund, ein geborner Schweizer aus gutem Hause, durch seine Schilderungen der Wunder seines Heimathlandes oft die Sehnsucht nach der Anschauung desselben recht lebhaft rege machte. Damals war der Schauspieler in den Mittelstädten Ungarns und Croatiens noch ein äußerst unbedeutendes und über die Achsel angesehenes Geschöpf, dessen Schicksal vollständig in den Händen der Obrigkeit lag. Lieser war einem der dortigen Polizeiherren auf Rosenpfaden in’s Gehege gekommen, dieser ergriff die nächstbeste Gelegenheit – eine solche fand sich für die unverantwortliche, gefürchtete Polizeiwillkür stets – und ließ Lieser vorladen, um ihn über ein angebliches Versehen, nach welchem der Sänger auf der Bühne die Censurvorschriften überschritten haben sollte, zur Rede zu stellen. In rohester Weise fuhr ihn der Gewaltige an. Trotz dem, daß sich mein Freund erbot, durch Vorlegung des Soufflirbuches seine Unschuld auf das Schlagendste zu beweisen, überhäufte ihn der Stadtrichter doch mit den pöbelhaftesten Insulten und schloß seinen Sermon mit den Worten: „Bei nächster Gelegenheit lasse ich Sie auf die Bank niederziehen und Ihnen fünfundzwanzig herabhauen.“
„Herr Stadtrichter,“ entgegnete mein freimüthiger Schweizer, „daß Sie mich schlagen lassen können, weiß ich, denn Sie haben die Macht in Händen, daß Sie den Willen dazu haben, glaube ich auch; aber Sie wissen, ich bin ein guter Schütze, ich weiß nicht, ob Sie wissen, daß ich auch ein guter Christ bin, der einen Eid für heilig hält, aber ich bin auch ein solcher, und so schwöre ich
[254] Ihnen hier,“ fuhr er fort, indem er seine Finger auf das vor ihm auf dem Beamtentische stehende Crucifix legte, „wenn Sie mich heute prügeln oder irgendwie ungerecht behandeln lassen, so schieße ich Sie morgen nieder wie einen Hund. Jetzt lassen Sie mich prügeln, wenn Sie Muth haben!“
Diesen hatte der todtenbleich gewordene Mann der Gewalt nun allerdings nicht, er ließ den jungen Künstler während der noch kurzen Zeit seines Aufenthaltes in Agram ungeschoren. Letzterer wurde im Jahre darauf das Opfer eines bösartigen Fiebers und liegt ferne von der geliebten Heimath in fremder Erde begraben.
Ich hielt es für nothwendig, diesen kleinen Charakterzug meines Freundes meiner eigentlichen Mittheilung vorangehen zu lassen, und fahre in meinen Erinnerungen fort: Agram liegt auf einer namhaften Anhöhe, das von uns bewohnte Haus in der oben erwähnten Harmitzen tief im Thale. Es war dies ein alterthümliches, der Gräfin M. gehöriges Gebäude, welches eine Masse kleiner umliegender, größtentheils von Seilern bewohnter Häuschen weit überragte. Diese standen auf der anderen Seite unseres Wohngebäudes, durch kleine mühselig erhaltene Gärtchen getrennt, während wir im Umkreis von 2–300 Schritten keinen Nachbar hatten. Die Gräfin selbst, eine höchst gebildete, liebenswürdige, alte Dame, gehörte einer ansehnlichen, aber verarmten Familie an, und hatte nur noch einen Sohn, der als Officier bei den Grenzern diente. Die tiefe Einsamkeit, in welcher die Gräfin jetzt lebte, die ihre Jugendzeit in glänzenden Verhältnissen in Wien und Paris zugebracht hatte, ließ es ihr wünschenswerth erscheinen, daß zwei junge, lebenslustige Bursche sich in ein paar leerstehende Stuben des unheimlichen Gebäudes einmietheten und durch Geplauder an berufsfreien Abenden ihr die Zeit vertreiben halfen. Die Miethe, die wir zahlten, war kaum der Rede wert und wurde uns in Punsch und anderer den jungen Mägen hochwillkommener Naturalverpflegung reichlich zurückerstattet an unseren Gesellschaftsabenden, denen sich ab und zu einige junge, zur Bekanntschaft ihres Sohnes gehörige Lieutenants anschlossen. Die Dame hatte viel erlebt, wußte ihre Erfahrungen anmuthig zum Besten zu geben, dazu ihr hoher Stand, die Würde, mit der sie alle Entbehrungen ertrug, und die Güte, mit welcher sie denen, die noch minder glücklich gestellt waren, als sie selbst, ihre kleinen Ersparnisse zu Gute kommen ließ: war’s Wunder, daß wir die alte Frau wie ein Wesen höherer Gattung anstaunten und verehrten?
Außer der Eigenthümerin, die den Vordertheil des Gebäudes einnahm, und uns, die wir zwei nach dem ungeheueren Hof zugehende, neben einander liegende Zimmer inne hatten, waren keine Bewohner der großen Räume vorhanden, denn das gräflich M.’sche Haus stand in dem Rufe ein „Spukhaus“ zu sein. Gerade dies war ein Hauptgrund, warum mein Freund Lieser mich beredet hatte, mit ihm dort einzuziehen; er hätte gar zu gerne ein Abenteuer mit Gespenstern bestanden.
Auf unser mehrmaliges Andringen, uns den Grund oder Ungrund der über ihr Haus herrschenden bösen Gerüchte mitzutheilen, gab uns die Gräfin zuerst ausweichende Antworten, später versicherte sie uns im vollen Ernst, daß es dort wirklich jedes Jahr einmal im Hause spuke, und zwar in der Mitternachtsstunde vor dem Christtage. Der Spuk äußere sich jedes Jahr anders, meist aber in unheimlichen, aus dem Hofe und in den Gängen schallenden Tönen. Das Gebäude sei früher ein Kloster gewesen, und in den langen, um das ganze Haus laufenden Corridoren sah man auf einer Seite Nischen und gegen den Hof zu arcadenartige Durchbrüche, in welche hohe, gothischen Fenstern ähnliche Oeffnungen ausgebrochen waren. In diesen Nischen soll in früheren finsteren Zeiten, einer alten Sage nach, mancher widerspenstige oder sonst gegen die strenge Clausur sich verfehlende Mönch, nach dem damaligen Klosterzwange zum Einmauern verurtheilt, sein Leben geendet haben. Mit dieser Sage brachte man die Spukgeschichten des Hauses in Verbindung. Die Gräfin behauptete, sie selber sei von dem Vorhandensein unheimlicher Mächte in demselben überzeugt, nie aber habe sie die Lust gespürt, dem Treiben der Geisterwelt nachzuforschen, sondern mit dem Beginn des verhängnißvollen Abends schließe sich Alles, was zu ihrem Hause gehöre, ein und suche die winselnden, ächzenden Töne, die hörbar durch alle Räume schallen, an sich vorüber gehen zu lassen, bis die Glocke ein Uhr schlage und die Bewohner wieder ein Jahr in Ruhe und Frieden leben könnten. Nie habe der Spuk irgend Jemand ein Leid zugefügt, nie aber habe auch, ihres Wissens, ein Frevler dort die Mitternachtsstunde der Christnacht außer seiner Stube zugebracht.
Dem Andringen Lieser’s, ihm zu erlauben, daß er der Erste sei, der dem Treiben unerklärlicher Mächte in’s Antlitz schaue, gab die Gräfin erst nach, als sie sah, daß alle Versuche, ihn davon abzubringen, fruchtlos waren. Auch ich willigte, auf dessen Aufforderung, das Abenteuer mit ihm in Gesellschaft zu bestehen, erst nach langem Zögern ein, und zwar, wie ich ehrlich gestehe, nur darum, weil ich mich schämte, meinem Freunde eine abschlägige Antwort zu geben.
Die verhängnißvolle Nacht rückte heran, von uns Beiden, jedoch mit ganz verschiedenen Empfindungen, wenn auch in gleich fieberhafter Spannung erwartet. Lieser tollkühn, voll frischen Mutes, seine Pistolen in Stand setzend, genau untersuchend, ich mich ernstlich prüfend, ob ich in der Geisterwelt Stand halten und im entscheidenden Momente nicht das Hasenpanier ergreifen würde. Mein Gewissen ließ die Frage unentschieden, und so sah ich nicht ohne Besorgniß die Stunden bis zur mitternächtlichen Frist immer rascher enteilen.
Die Gräfin hatte sich mit den Dienstleuten, nachdem nochmalige Warnungen vergebens an dem dicken Schweizerschädel Lieser’s abprallten, in ihre Gemächer zurückgezogen, und die lautlose Stille des Hauses wurde nur durch die dröhnenden Schläge der Kirchenuhr unterbrochen, die in meiner Brust ein Echo zu finden schienen. Vergebens suchte mich mein Camerad aufzuheitern; je mehr er mir das gänzlich Gefahrlose unseres Unternehmes vorzustellen suchte, desto wortkarger wurde ich, desto ungemüthlicher stellte mir meine Phantasie den wohlbekannten, langen Gang mit den niedrigen Brüstungen und den in den finsteren leeren Hofraum starrenden hohen Bogenöffnungen vor. Eine kleine Bowle trefflichen Punsches trug Lieser auf eine dieser Brüstungen, setzte zwei Stühle hinter dieselbe, die Pistolen scharf geladen, eine gewaltige Laterne mit brennendem Licht nebst Feuerzeug vor sich hin, und so begannen wir mit dem Schlag halb zwölf unsere Beobachtungsposten einzunehmen.
Von der Dehnbarkeit der Minuten, von der Endlosigkeit einer solchen Stunde kann sich nur der einen Begriff machen, der in ähnlicher Situation ein folgenschweres, ungeheueres Ereigniß erwartet, ohne sich vorher einen Begriff machen zu können, von woher und in welcher Gestalt es eintreten werde. Selbst mein Wagehals wurde stiller und stiller, die selteneren Mittheilungen zwischen uns flüsterten wir uns leise zu, von Zeit zu Zeit scheue Blicke um uns werfend. Das dampfende Getränk lud uns vergebens mit süßen Düften zum Genusse ein, die Gläser blieben leer, und die Sehnerven suchten vergebens das tiefe Dunkel des Hofraumes zu durchdringen, welches eine zweite von Lieser vorsorglich aufgehängte Laterne nur mit noch unheimlicheren Schlagschatten umgab.
Mitternacht schien heute ausbleiben zu wollen. Endlich dröhnte der erste Schlag der erwarteten Stunde, sein mächtiger Schall zuckte mir durch alle Nerven. Auch Lieser war todtenbleich geworden, selbst bei dem matten Licht der Laterne mußte ich dies bemerken. Mechanisch legte er die Hand auf die Pistole, eine zweite hatte ich mit gespanntem Hahn neben mir liegen, und fast tonlos hauchte er mir die Worte zu: „Wenn sich Jemand einen schlechten Spaß mit uns macht, so soll es ihm schlecht bekommen.“
Während ich die Schauer dieser Stunde zu schildern suche, wird mancher Leser, der diese Nummer der Gartenlaube in seiner sonnenbeschienenen heiteren Stube durchliest, lächeln über unsere unnöthige Angst, und keiner wird glauben, daß er in unserer Lage genau dasselbe Grauen empfanden haben würde.
Die Uhr hatte ihre zwölf Schläge verhallen lassen. Lautlose Stille rings umher. Lieser hatte sich erhoben, und sah in großer Erregung in den Hof hinab, über welchem sich in ruhiger Klarheit der gestirnte Himmel wölbte, an dem der Mond hervortrat, der sein zweifelhaftes Licht in die düstern Räume ergoß. Ich rückte meinen Stuhl fest an einen Pfeiler, der mir Schutz versprach, und stierte athemlos in den im tiefen Schatten liegenden endlosen Gang hinab. So verstrich langsam, ach wie langsam! eine endlose halbe Stunde. Bleischwer senkte sich ein verwirrender unruhiger Halbschlummer auf die übermüdeten Augenlider. Wie lange derselbe gedauert, wußte ich nicht zu berechnen, ich wurde, als die Glocke eben Eins schlug, von starken Schlägen, die mit gewaltiger Wucht an dem großen Außenthor thrönten, erweckt und fuhr entsetzt empor. Lieser stand, die Pistole im Anschlag, bereits aufrecht und winkte mir die Laterne zu nehmen. Wir schritten die Treppe hinab; das [255] Pochen dauerte in kurzen unregelmäßigen Pausen fort. Lieser voran, ich mit gehobener Laterne hinter ihm. Wie gerne wäre ich in der Mitte gegangen! Am Thore angelangt, donnerten uns die Schläge mit erneuerter Kraft entgegen.
„Wer ist da?“ rief Lieser.
„Bitte,“ scholl von außen eine ängstliche Stimme, „öffnen Sie, um Gottes Willen.“
„Wer sind Sie?“
„Die Seiler aus der Nachbarschaft. Oeffnen Sie nur.“
Ich steckte den Schlüssel an, den ich in Verwahrung hatte, Lieser stieß das Thor mit Heftigkeit auf. Vor demselben stand, vom Mondlicht bestrahlt, eine Anzahl Männer in halben Nachtkleidern, Schreck und Angst stand leserlich in ihren bleichen Zügen. Auf die Frage, was geschehen sei, erzählten sie, daß seit längerer Zeit aus dem offenen ungedeckten Hofe unseres Hauses die entsetzlichsten Töne erschollen seien, wimmernd, schreiend und wehkagend, als ob hundert Menschen unter den fürchterlichsten Martern gefoltert würden; da hatten sie sich endlich ein Herz gefaßt und hätten, nachdem sie lange von außen zugehört, an’s Thor geklopft, weil sie ein Unglück gefürchtet.
Wir sahen uns betroffen in die bleichen Gesichter. Wir innerhalb der Mauern des Hauses, aus welchem die gräßlichen Laute erschollen sein sollten, hatten keinen Laut, keinen Ton gehört! Die unheimlichste Stille hatte uns eine Stunde lang auf die Folter gespannt! – Ein absichtlicher Betrug war wohl kaum denkbar. Die armen Seiler, rohe ungebildete Halbbauern, waren nicht im Stande, Schreck und Angst so vortrefflich zu heucheln, daß zwei junge Schauspieler dadurch vollständig getäuscht werden konnten, selbst angenommen, daß die Gräfin zu einer solchen Täuschung ihre Hand geboten hätte, was gar nicht mit ihrer Würde und ihrem Charakter vereinbar war.
Genug, das Räthsel wurde uns nie gelöst, und bis zur Stunde weiß ich noch nicht, ob die geheimnißvollen Töne in der Einbildung der Nachbarn existirt haben, oder ob ein toller Spuk unsere eigenen Sinne dergestalt umnebelt hatte, daß die äußeren Eindrücke für uns verloren gingen. Weder ich, noch Lieser wußte sich klar zu machen, was wir von halb ein Uhr bis Eins gethan oder beobachtet hatten, ehe uns die Schläge an dem Thorflügel der Außenwelt zurück gaben. Gerade in der Einfachheit der Mittheilung jener schlichten Leute lag für uns eine erschütterndere Wirkung, als die seltsamsten Phantome hätten hervorbringen können.
Wir verließen bald darauf die Wohnung und ich die Stadt, ohne je wieder etwas von der Gräfin M. und ihrem Spukhause gehört zu haben. [3]
Barnaby. Planlos schlenderte ich eines schönen Tages durch die
Straßen der Stadt, als ich, um eine Ecke biegend, durch ein langes Leinwandgebäude,
dessen Außenseite mit weithin strahlenden Zinnoberschildereien
geschmückt war, angezogen wurde. – Da trafen alle die wohlbekannten,
nichtsdestoweniger aber höchst merkwürdigen Scenen das Auge
des staunenden Zuschauers: – auf dem einen Bilde kämpfte ein Neger erbittert
und erfolgreich gegen ein halbes Dutzend Panther und Leoparden,
die sich sogar theilweise aus der freien Luft herniedersenkten, um ihr schwarzes
Opfer dem Tartarus einzuverleiben; – auf dem andern Gemälde bemerkte
man einen harmlosen Nilfahrer, der sich plötzlich von einigen wohlgenährten
Krokodilen umringt sah, die den Rachen in einer Höhe aufsperrten,
gegen welche sich selbst der Stephansthurm beschämt zurückziehen
mußte; – kurz, ich stand vor einer Menagerie, die durch die draußen befestigten
interessanten Tableaux der Schaulust des verehrten Publicums
nachzuhelfen bemüht war. Nachdem ich den dicken Händen der dicken Frau,
welche hinter der Blech-Cassette thronte, meinen Obolus überliefert hatte,
trat ich ein, früh genug, um noch einige Productionen des Thierbändigers,
der sich durch eine gewaltige Uhrkette, ein nichts weniger als courfähiges
Hemde und ein höchst heiseres Organ auszeichnete, bewundern zu können.
– Ich hörte, wie er den Königstiger witzreich mit Monsieur, den Bären
schlechtweg mit Vetter anredete, opferte abermals meinen Obolus „zum
Besten der Dienerschaft“ und überließ mich alsdann einem beschaulichen
Umherflaniren in den ziemlich umfangreichen Räumen der Menagerie. –
Die Papageien krächzten, die Löwen knurrten, die Affen schrieen – die
Höllensymphonie, die in derartigen Tempeln zu ertönen pflegt, war im
besten Gange. – Als ich aber in allerhand Reflexionen vertieft vor einem
Käfig stand, der irgend ein räthselhaftes Thier barg, bemerkte ich eine behaarte
Hand, die aus einem der benachbarten Gitterkasten hervorkam und
mir emsig zu winken schien. – Pflichtschuldigst gehorchte ich dieser Aufforderung
und befand mich gleich darauf vor einem Käfig, in welchem ein
alter Mandrillaffe sein Domicil aufgeschlagen hatte, und eben diesem
Mandrillaffen gehörte die Hand, die mir so einladend gewinkt hatte. –
Als der alte Bursche sah, daß ich seiner gastfreundlichen Invite Folge leistete,
nickte er befriedigt mit dem Haupte, die eine Hand wie zum Gruße
an die Stirn legend, während er mir seine rauhe Rechte herablassend entgegenstreckte.
Eine Höflichkeit ist der andern werth, dachte ich, und wechselte
mit meinem neuen Freunde einen biedern Händedruck aus; augenscheinlich
zufrieden mit mir, zog er die Pfote zurück, grinste mich huldvoll
an und nickte mir mehrere Male mit seinem blauen Antlitz zu. – Mein
neuer Bekannter war nicht schön, aber er besaß ein gewisses Etwas, das
seine Häßlichkeit vergessen und mich begierig machte, Näheres über seine
persönlichen Verhältnisse zu erfahren; eine logische Ideenfolgerung sagte
mir, daß zu diesem Zwecke die Anknüpfung einer Conversation mit dem
Wärter vermöge gangbarer Münze von Nöthen sei. – Ein anderweitiger
Obolus setzte das erwünschte Zwiegespräch in Scene, und ich erfuhr nun
Folgendes.
Der Mandrill hieß Barnaby und hatte der wechselvollen Schicksale genug erfahren. In zarter Jugend seiner tropischen Heimath entrissen, war er in den Besitz eines umherziehenden Savoyardenjungen gekommen, der ihm die ersten Elemente künstlerischer Ausbilbung hatte angedeihen lassen. Aus den Händen des Savoyarden war er in die eines renommirten Affentheater-Directors gewandert und unter der Anleitung dieses erfahrenen Mannes zu einem geachteten Künstler herangezogen worden. Barnaby hatte seiner Zeit auf dem Schwungseile und als dummer Rekrut aufrichtige Triumphe gefeiert, er war als betrunkener Matrose mit Enthusiasmus begrüßt worden und hatte als Diener der Madame Pompadour durch ungezwungene und decente Komik die Bewunderung der Kenner in allen nur denkbaren europäischen Haupt- und Nebenstädten erregt. Da hatte eines Tages der Affentheater-Director sein Geschäft aufgegeben, die einzelnen Mitglieder seiner Truppe an den Meistbietenden verkauft und Barnaby für eine ziemlich bedeutende Summe einem befreundeten Menageriebesitzer überlassen. Anfangs hatte sich der aus seiner glänzenden Künstlercarriere gerissene Mandrill hinter den rostigen Gitterstäben der Menagerie äußerst unglücklich gefühlt; er war an elegantere Umgebung und an feineren Umgang gewöhnt, als ihm die brüllende und grunzende Nachbarschaft gewähren konnte; später war er in eine Art von stummer Resignation verfallen, die ihn sich in das Unvermeidliche schicken hieß. Aber nie hatte er sich zu einem näheren Verkehr mit der übrigen Menagerie-Gesellschaft verstehen wollen, sondern in selbstbewußter Zurückhaltung seinen Rang und seine Bildung zu wahren gesucht. Nur mit Besuchern der Menagerie, aber auch nur mit solchen, die ihm in irgend einer Beziehung zu Kunst oder Literatur zu stehen schienen, liebte Barnaby umzugehen, eine Neigung, von welcher er mir kurz vorher den für mich schmeichelhaften Beweis abgelegt hatte.
Also ehemaliger Künstler, dachte ich, indem ich Barnabys gefurchte Stirn betrachtete, dereinst an die Acclamationen der Menge gewöhnt, in Zeitungen und Localblättern vergöttert und jetzt hinter die schmutzigen Stäbe gebannt, verdammt zur Gemeinschaft mit allerlei rohem und uncultivirtem Gesindel. Armer Barnaby! Barnaby kratzte sich kopfschüttelnd das Haupt, als ob mein Ideengang auch der seinige gewesen wäre, schüttelte mir melancholisch lächelnd nochmals die Hand, und so schieden wir vorläufig, offenbar als gute Freunde, und mit einander sympathisirend.
Ungefähr eine Woche später schritt ich wieder durch die Straße, in welcher die Menagerie aufgeschlagen war; schon aus der Entfernung bemerkte ich, daß sich zu der einen Bude noch eine andere gesellt hatte. Ich kam näher und las über der Thür des zweiten Zeltes mit mächtig langen Buchstaben die Worte: Niederländisches Affentheater. Armer Barnaby, dachte ich unwillkürlich wieder, ein Institut, ähnlich dem, in welchem du vormals wirktest, und noch dazu dicht bei deinem gegenwärtigen Kerker, der dir so recht aus Herzensgrund verhaßt sein muß! Armer, armer Barnaby! Unter diesen Reflexionen hatte ich, ohne es zu wissen, die Schwelle der Menagerie überschritten und befand mich plötzlich wieder der dicken Dame gegenüber, die mir mit ihren dicken Fingern bereits ein Billet entgegenstreckte. Ein Rückzug war unter diesen Umständen unmöglich; ich griff in die Tasche, bezahlte das Billet und trat ein. Mein erster Gang war natürlich zu Barnaby, aber wie hatte sich mein Freund in der kurzen Zeit verändert! Abgemagert und mit halb geschlossenen Augen lag Barnaby auf seinem Stroh, einen buntbeklebten Reifen an sein Herz pressend. Als er mich sah, richtete er sich ein wenig auf und bot mir, wie neulich, seine Rechte zum Gruß. Darauf legte er sich wieder nieder und schaute mich recht kläglich und wehmüthig an. Selbstverständlich trieb es mich, über den Zustand meines Freundes Aufklärung zu erlangen, und wieder mußte der bewußte Obolus den bewußten Wärter zu fließendem Redefluß bewegen. – „Ja,“ sagte der wackere Hauswart, dem eine ungewöhnlich rothe Nase ein etwas zweideutiges Aussehen verlieh, „ja, mit dem Vieh, dem Barnaby, ist das ’ne eigne Sache. Vor circa acht Tagen hat der Niederländer nebenan sein Affentheater aufgeschlagen, und man kann jeden Ton, den die Musikanten drüben spielen, bei uns hier deutlich hören. Nun blasen sie auch so ein Musikstück da drin, nach welchem die Affen immer tanzen, und als Barnaby das Getute zuerst gehört hat, da ist er rein toll geworden. Er sprang im Käfig hin und her, aber immer im Takt, uberschlug sich und tanzte, daß es zum Todtlachen war. Nachher aber legte er sich ruhig nieder, und seit der Zeit will das Vieh nicht mehr fressen. Blos, wenn sie nebenan
[256] wieder das dumme Stück blasen, kiegt er Leben und fängt die alten Geschichten an. Ich habe ihm da schon den Reifen in den Käfig gethan, damit er’s bequem hat und sich tüchtig ausarbeiten kann. Ueberhaupt kann ich mir den ganzen Kram nicht anders, erklären, als daß das Musikstück dasselbe ist, nach welchem Barnaby früher seine Kunststücke gemacht hat. Wenn das Thier nur fressen wollte; so kann’s nicht mehr lange mit ihm weiter gehen.“
In dieser Weise sprach der Wärter mit der rothen Nase; ich aber stand sinnend vor dem Käfig und schaute das arme Thier an. Ja, so mußte es sein, der Wärter mußte Recht haben; das Musikstück von nebenan mußte Barnaby in irgend einer lebhaften Weise an seine glückliche Vergangenheit, an seine verflossene Künstlerperiode erinnern. Ruhig und unbeweglich lag der Mandrill da, mich schmerzlich mit den halbgeschlossenen Augen anblickend. Da plötzlich ertönte aus der Bude nebenan Musik; es war eine alte Quadrille, die sie im Affentheater spielten. Kaum hatte Barnaby die ersten Takte vernommen, als er sich lauschend aufrichtete. Wie um genauer zu hören, legte er die Hand an’s Ohr, sprang dann mit Zusammenraffung seiner erschöpften Kräfte auf und begann in wilder Hast nach dem Takte der Musik Bewegungen zu machen. Er tanzte wie Jemand, der auf dem Seil geht, sprang durch den Reifen, überschlug sich, stand auf einem Bein, das andere mit der Hand erfassend und hoch empor haltend – kurz, er machte alle nur möglichen Kunststücke und Verrenkungen, aber alles mit nur halbgeöffneten, todtmatten Augen und in fieberhafter Unruhe. Immer schneller wurden seine Bewegungen, immer wilder seine Sprünge, als mit einem Mal das Musikstück drüben aufhörte. Zugleich hörte aber auch der Affe auf; augenscheinlich total ermüdet kroch er zusammen; ein Drehen, ein Zucken – und mein Freund Barnaby war todt!
Die beiden Bennigsen. Bald nachdem der schon durch seine Thätigkeit als Führer der Opposition in der hannoverschen Ständekammer rühmlichst bekannte Herr v. Bennigsen zum Präsidenten des Nationalvereins erwählt und damit zu einer politischen Celebrität ersten Ranges in Deutschland wurde, bemühten sich die illustrirten Blätter nicht nur darum, seines Portraits behufs einer xylographischen Nachbildung habhaft zu werden, sondern auch die Kunsthandlungen begannen männiglich auf diesen Artikel zu speculiren. Ein Berliner Bilderhändler war denn auch der erste, welcher ein sogenanntes „höchst gelungenes“ Portrait des Herrn v. Bennigsen ankündigte und bald darauf massenhaft verkaufte. Nun muß aber zunächst hier bemerkt werden, daß Herr v. Bennigsen trotz vielfachen Ersuchens nie war zu bewegen gewesen – eben weil seinem Wesen nichts mehr zuwider als jede Art von Ostentation – zu einem solchen Zwecke sich photographiren zu lassen; so soll z. B. auch die Zeichnung zu der ersten von ihm in der Illustrirten Zeitung erschienenen Abbildung, ohne sein Wissen, furtim durch einen Zeichner von der Gallerie des hannoverschen Ständesaals gemacht worden sein. Es giebt nun aber in Hannover noch einen zweiten Herrn v. Bennigsen, ein Name von ebenfalls gutem politischen Klang, nämlich den Grafen v. Bennigsen, 1848 unter dem Stüve’schen Ministerium Minister des Auswärtigen, nebenbei bemerkt, als getreuer Meinungsgenosse Stüve’s fortwährend mit diesem befreundet. Der Graf nun ist ein Vetter des Nationalvereins-Präsidenten, und so mochte es durch eine entschuldbare Personen-Verwechselung seitens des Berliner Kunsthändlers, ohne dolus und culpa desselben, gekommen sein, daß derselbe in Berlin angefertigte Kopien eines Bildes des Exministers Grafen Bennigsen (das in Hannover seit länger schon existirte) flottweg als Portraits des berühmten Nationalvereins-Präsidenten, des Freiherrn Rudolph v. Bennigsen, verkaufte. Eines Tages nun ward dem Grafen dies von einem Bekannten, der eben von Berlin kam, erzählt; der Graf B. schrieb also an den Kunsthändler, deckte ihm den Irrthum auf und erbot sich, ihm den Rest seiner Portraits lieber abzukaufen. Die Antwort lautete dahin, daß dieselben mit Vergnügen zu Kauf ständen, daß aber der Herr Graf – falls er Bilder seines Herrn Vetters dafür geben könne – gern für ein jedes solches zwei seiner eigenen in Tausch bekommen solle. Bald nachdem der Graf diesen Brief aus Berlin erhalten, traf er eines Tages seinen Vetter den Freiherrn und bemerke, ihm diese curiose Verwechslung und Offerte mittheilend, dann schließlich heiter: „Daraus kannst Du nun wieder sehen, daß Du doppelt so viel werth bist wie ich.“
A. M. H. aus L. Wer der deutschen Nation eine Geistesgabe vorlegen will, darf nicht von einer Redaction erbitten, daß „sie am Ende ein Auge zudrücke und auch mal Unbedeutendes Gnade finden lasse.“
- ↑ Altnord. Viking, Mehrzahl Vikingar, von Vik, Busen, Meer. Ein Wiking also eigentlich ein „Meermann“, Seefahrer. Den wahren Sinn des Wortes trifft aber besser unser „Seeräuber“.
- ↑ Aus dem Tagebuche des alten Komödianten. Leipzig, im Verlage von Otto Wigand: der arme Josy.
- ↑ Es wäre dem Schreiber dieses ein Leichtes gewesen, einen befriedigenderen Schluß zu erfinden, da er die Ueberzeugung in sich trägt, daß
eine natürliche Lösung des Räthsels vorhanden sein muß. Da ich aber
dieselbe nicht gefunden, so ziehe ich es vor, dieses Erlebniß wahrheitsgetreu
zu schildern, ohne Zusatz, ohne Ausschmückung, als ein Geheimniß,
zu dessen Aufhellung ich wenigstens keinen Schlüssel entdeckt habe.
Anmerk. d. Verf.