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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[225]
Almenrausch und Edelweiß.
Aus dem bairischen Hochgebirge.
Von Herman Schmid.[1]
(Fortsetzung.)


Evi’s Wangen glühten, ihre Pulse flogen; der Athem stockte, und der Busen schien das Mieder sprengen zu wollen, dennoch gewann sie es über sich und vermochte gelassen zu antworten. Eine lachende wonnevolle Aussicht, ein Bild voll Liebe und Glück hatte sich wie durch einen Zauberschlag vor ihren Blicken aufgethan, aber sie schloß herzhaft die Augen davor zu und wandte sich von der Lockung ab, nach einer Zukunft hin, eben so reich an düstern und farblosen Tagen der Freudlosigkeit, als die andere Seite von Leben und Sonnenschein schimmerte. „Es ist nicht das erste Mal, daß Du mich so fragst,“ sagte sie, „und ich mein’, ich hab’ Dir schon geantwort’ darauf! Warum soll ich heut’ anders reden, als vorgestern auf dem Scharten-Kaser? Ich sag’ Dir, wie dazumal, Mentel, daß Du Dir das aus dem Sinn schlagen mußt – mit uns Zwei kann’s niemals nichts werden!“

„Red’ nit so, Evi!“ erwiderte zärtlich drängend der Bursche. „Ueberleg’ Dir’s wohl, denn es ist mein Unglück, wenn Du dabei bleibst … aber es ist nit Dein Ernst! Du sagst jetzt nur so, weil Du meinst, Du willst mir einen Verdruß ersparen, oder aus Zorn, weil Du Dich nit aufdringen willst!“

Evi senkte die Augen. „Ich hab’ Dir’s gesagt, wies ist!“ flüsterte sie.

„Wie’s Dir um’s Herz ist? Gewiß und wahrhaftig so? … Ich kann’s nit glauben, Evi … Es ist schon neulich was in Deiner Red’ gewesen und in Deiner Weis’, was mich gemahnt hat: Glaub’ ihr nicht … sie verbirgt’s nur … im Herzensgrund hat sie Dich doch gerad’ so gern, wie Du’ sie. Und jetzt ist es wieder so! Und wenn Du’ auch noch so ein böses Gesicht machst … es ist was in mir, was mir sagt: Glaub’ ihr nit – Almenrausch und Edelweiß die g’hören all’mal z’samm!“

„Du bildst Dir viel ein, Mentel,“ erwiderte sie verwirrt.

Er trat ihr näher, legte den Arm um ihre Hüfte, ohne daß sie es hinderte, und sagte noch herzlicher. „Ich bild’ mir’s nit blos ein, Evi, daß Du mich auch gern hast – ich weiß es gewiß! Inwendig, da in mir drin, hab’ ich’s schon lang gespürt,“ fuhr er zärtlich fort, indeß sie wortlos stand in steigender Verwirrung „… seit heut’ Nacht aber weiß ich’s gewiß …! Wie ich fort bin auf die Pürsch, bin ich an Deiner Kammerthür’ vorbei kommen, Evi … da bin ich einen Augenblick stehen blieben und hab’ Dir eine gute Nacht gewünscht in Gedanken … der Mond hat glöckelhell hereingeschienen auf den Boden – da hab’ ich vor Dein’ Thürgeschwell’ was Weißes liegen seh’n, und wie ich mich gebückt hab’ darnach, ist’s der Zettel da gewesen … Es steht ein Spruch d’rauf: hör’ zu, Evi, ob Du ihn nit kennst!“

Er las, während Evi gluthroth sich in die Lippen biß und mit den Blicken am Boden festgewurzelt schien:

„Hier liegen drei Buchstaben,
Damit will ich Dich begaben:
Der erst’ ist Gold und Edelstein,
Ich will Dich lieben ganz allein;
Der Zweit’ ist Sammt und Seiden,
Will niemals von Dir scheiden;
Der Dritte der heißt Rosenroth –
Ich will Dich lieben bis in’ Tod!“

„– Das ist ein altes Sprüchel –“ stammelte Evi.

„Aber ist es nit von Dir? Hast es nit Du geschrieben? Von Einem von den Weiberleuten im Haus muß es sein – meinst, ich weiß nit, daß keine Andere drunter ist, die so schreiben kann wie Du? – Wirst den Zettel wohl aus Deinem Kasten verstreut haben oder aus Deinem Gebetbüchel! – Red’, ist er nicht für Deinen Schatz?“

„– Und wenn’s so wär’ – warum müßtest gerad’ Du der Schatz sein?“

„Weil in dem einen Eck von dem Zettel,“ sagte der Bursche zärtlich, „Dein Nam’ steht, Evi, und in dem andern – der meinige! Willst es jetzt noch leugnen, Evi …?“

„… Das sind Kindereien …“ sagte sie entschieden, wenn auch etwas unsicher, und machte sich von Mentel frei. Dieser konnte nichts erwidern, denn der Bauer, der inzwischen die Mutter in eine Ecke hineingezogen und zornig in sie hinein geredet hatte, brach wieder los.

„Wie lang soll die Komödie noch dauern?“ rief er. „Es wird doch nichts d’raus in alle Ewigkeit, und wenn Ihr Euch noch so viel Müh’ gebt, mir und Euch selber was weiß zu machen!“

„Hab’ keine Sorg’, Bühelbauer,“ sagte Evi und trat ihm ernst und ruhig einige Schritte näher. „Wenn ich auch keine [226] Ramsauerin bin, sondern nur ein hergelaufenes Weibsbild, so bin ich doch aus dem Lenggries daheim und viel zu stolz, als daß ich mich in ein Haus einbetteln möcht’, wo man mich nit haben will! Und wenn mir das Herz brechen thät’, lieber will ich meiner Lebtag als Dienstbot ’rumfahren mit meinem Wanderbündel, als so heirathen! Ich nehm’ Keinen, Bühelbauer, wenn nicht der Schwiegervater zu mir kommt und mich bitt’, daß ich seinen Sohn nehmen soll! Ja,“ fuhr sie gereizt fort, als der Bauer in spöttisches Lachen ausbrach, „so wie ich jetzt vor Dir steh’, mit aufgehobenen Händen muß er kommen und mich bitten!“

„Da kannst lang’ warten.“ rief der Bauer und lachte noch höhnischer und lauter.

„Das ist meine Sach’ und mein Ernst ist es auch!“ entgegnete Evi rasch. „Also sind wir fertig mit einander, glaub’ ich, und wenn Du mich vor einer Stunde noch so gelobt hast, ist meines Bleibens doch nimmer auf dem Bühelhof und in der Ramsau … also zahl’ mich aus, Bauer, und laß mich in Gottes Nam’ um ein Haus weiter geh’n mit mein’ Wanderbündel!“

„Vater, thu’s nit“ rief Mentel heftig. „Laß’ sie nit geh’n – ich kann die Evi nit lassen, und wenn sie fort muß, lauf’ ich auch auf und davon!“

„So lauf’ zu, Unnutz!“ zürnte der Bauer. „Lauf’ ihr nach, wenn sie Dir mehr ist als Vater und Mutter und Haus und Hof! Hinaus kannst jede Stund’ – ich werd’ Dich nit aufhalten – aber herein kommst Du mir nimmer, so lang ich ein offenes Aug’ hab’! Ich brauch’ Dich nit, Mentel – lauf zu und probir’s, ob Du’s zuwegen bringst ohne mich!“

„Thu’s nit, Mentel,“ sagte Evi und bot ihm die Hand, indem sie ihn mit einem Blicke ansah, wie ihm aus diesen schönen blauen Augen noch keiner begegnet war. „Denk’ an’s vierte Gebot und sei gescheidt! Du wirst es schon verwinden, Mentel – glaub’ mir’s, Du wirst ein viel besseres und schöneres Weib finden. …“

„Und Du, Evi, Du? Du wolltest wirklich fort? Was willst Du anfangen?“

„– Ich will ein ehrlicher Dienstbot’ bleiben und Gott vor Augen haben wie bisher … Was liegt an einem solchen hergelaufenen Weibsbild, wie ich bin!“

Ihre Stimme brach in mühsam zurückgehaltenem Schluchzen; der alte Bauer aber trat fest vor sie hin. Er hielt das landgerichtliche Schreiben in der Hand, das er, wie von einem plötzlichen Einfall überrascht, während der letzten Reden des Paares ergriffen und durchflogen hatte. „Und hab’ ich Dir Unrecht gethan?“ rief er streng. „Bist Du etwan nit, was ich Dich geheißen hab’? Hast Du nit selbst gesagt, Du bist aus dem Lenggries, und heiß’st Du nit Evi?“

„Eva Klostermairin,“ sagte sie ruhig, „das ist mein’ Nam’!“

„Und ein Jahr ungefähr bist bei uns herinnen in der Ramsau – nit wahr? Dann ist es schon richtig … dann will ich Dich nit aufhalten, Mentel,“ fuhr er, gegen diesen gewendet, mit verächtlichem Hohne fort, „dann geh’ nur – kannst Deine saubere Braut gleich hinein begleiten nach Bertelsgaden in’s Landgericht …“

„Vater …“ stammelte der Bursch, und auch Evi blickte entsetzt nach dem Bauer.

„Da in dem Schreiben steht’s,“ sagte dieser. „Es ist ein Befehl vom Landgericht an den Gemeindevorsteher – ich soll ein liederliches Weibsbild aufsuchen, aus dem Lenggries, das vor ungefähr einem Jahr in ihrer Heimath davon gelaufen ist und der Gemeinde ihr Kind auf der Schüssel gelassen hat. … Ich mein’ ich brauch’ mich nit viel anzustrengen mit dem Suchen … das Weibsbild heißt auch Eva Klostermairin. …“

„Mein Bas’l,“ flüsterte Evi in sich hinein, erschrocken und so leise, daß nur sie selber es vernahm.

Mentel hatte es getroffen, wie ein Blitz; mit brechenden Knieen schwankte er dem Tische zu. „Vater,“ rief er, „Du siehst ja, daß das nit sein kann! Das muß eine Irrung sein … solche Namen giebt’s mehr …“

„An einem und demselben Ort? – Aber meinetwegen, sie soll selber reden … Wann sie’s nit ist, die das Landgericht sucht, wird sie sich wohl ausweisen können!“

Evi schwieg und ließ ihren Blick finster und wie vorwurfsvoll von dem einen der Anwesenden zum andern gleiten. Zwischen ihr und Mentel hatte sich eine Kluft geöffnet, die unausfüllbar war, über welche keine Möglichkeit hinüberzutragen vermochte – wie eine Erleuchtung durchzuckte sie der Gedanke, Mentel die unvermeidliche Trennung weniger schmerzlich zu machen, wenn sie diesen Irrthum benützte und seiner unwürdig erschiene … dann war er geborgen für immer, war wieder ausgesöhnt mit Vater und Mutter …

„Red, Evi,“ sagte Mentel vor Aufregung fast keuchend, „mach’ Dich und mich nit unglücklich und red’! Nit meinetwegen, Evi – ich kenn’ Dich ja und leg’ die Hand für Dich in’s Feuer … aber red’, damit die zu Schanden werden, die so was von Dir glauben können! … Bist Du …“

„– Ich bin die Eva Klostermairin …“ sagte sie mit absichtlichem Doppelsinn. Wie besinnungslos taumelte Mentel von ihr hinweg; der Bauer hatte sich an seinen Tisch gesetzt, die Bäuerin hielt das Gesicht mit der Schürze verhüllt; eine schwere lastende Stille trat ein, wie nach einem zerschmetternden Gewitterstreiche Alles angstvoll lauscht und davor zurückbebt, den ganzen Umfang der Zerstörung zu überschauen.

„… Zahl’ sie aus, Bäuerin,“ sagte nach einiger Zeit der Alte, ohne sich umzublicken. „Sie soll fort geh’n in der Still’ – ich will nichts davon wissen, wer sie ist – aus meinem Haus soll sie nit auf’s Landgericht geliefert werden – dem, was ihr gehört, lauft sie doch nicht davon!“

Mentel lag mit Gesicht und Armen unbeweglich über den Tisch gebeugt; nebenan zählte die Frau Evi in klingenden Stücken den Liedlohn vor. „Ich bedank’ mich für Dein’ Dienst, Bühelbäuerin, und für alles Gute, was Du mir gethan hast …“ sagte sie mit schmerzgepreßter Stimme und haschte nach ihrer Hand, um einen Kuß darauf zu drücken. Die Frau zog hastig die Hand zurück und sagte halblaut und abgewendet. „Behüte Dich Gott – mach’ nur, daß Du bald heim kommst zu Deinem verlassenen Kindel …“

Evi eilte schluchzend der Thüre zu; Mentel machte eine Bewegung, als wolle er aufspringen und sie zurückhalten, sank aber im nächsten Augenblick in seine vorige Stellung zurück.

Die Thüre ging auf – und in ihr stand der Gensd’armerie-Brigadier.

„Da haben wir’s,“ sagte der Bauer, ihn erblickend, und flüsterte Evi, die zurückgetreten war, wie entschuldigend zu: „Das ist nit meine Schuld, so hab’ ich’s nit gewollt, daß sie Dich vom Bühelhof wegführen sollen. … Was verschafft uns die Ehr’, Herr Brigadier?“ sagte er dann, während dieser das Zimmer und die Anwesenden überblickte und mit seinem Eintritte zögerte.

„Es thut mir leid,“ erwiderte der Brigadier, „sehr leid, daß ich es sagen muß – aber ich such’ einen Arrestanten!“

„In Gottes Namen!“ sagte der Bauer. „Wenn’s nit anders sein kann, muß man sich d’rein geben!“ Die Bäuerin aber weinte und jammerte über die Schande, die dem Bühelhof widerfuhr.

„Nun,“ sagte der Gensd’arm etwas verwundert, „wenn Ihr es schon wißt …“

„Wir wissen Alles …“

„Dann bin ich um so mehr charmirt, daß Ihr so gefaßt und so resolut seid! Ihr habt auch Recht – vielleicht geht’s besser aus, als man denkt! – Also voran, Mentel – ich hab’ keine Zeit zu verlieren!“

„Was wollt Ihr mit meinem Sohn?“ rief der Bauer, während Mentel betroffen aufsprang. „Dort steht der Arrestant!“

„Die da?“ sagte der Brigadier, das Mädchen musternd. „Hab’ noch keinen Befehl dazu – jetzt bin ich wegen dem Mentel da!“

„Wegen meinem Sohn? Und warum?“

„Habt Ihr nit gesagt, Ihr wißt Alles schon? – Er hat den Jäger-Gaberl gestochen heut Nacht – der liegt draußen am Kniebis auf Leben und Sterben!“

Wie eine Maschine, deren Räderwerk plötzlich abgerissen, klappte der Alte in seinen Stuhl zusammen; die Mutter stand zuckend und noch bleicher als sonst – Mentel fuhr sich wie rasend über Haar und Stirn. „Vater – Mutter,“ schrie er außer sich, „laßt Euch nit erschrecken! Es ist nit wahr – es muß eine Irrung sein – ich bin unschuldig!“

„Das wird sich wohl zeigen,“ entgegnete kaltblütig der Brigadier. „Der Gaberl ist schon verhört worden, weil er wahrscheinlich den Abend nicht mehr erlebt – er hat auf seinen Eid ausgesagt, daß Du ihm heut Nacht begegnet bist in der Wimbach-Klamm und hast ihm den Stich versetzt!“

„Also doch?“ rief der Bauer, der sich wieder zu sammeln begann [227] und wie krampfhaft aufrichtete. „Also bist Du so schlecht und hast mir noch so frech in’s Gesicht gelogen?“

„Ich bin gewiß und wahrhaftig unschuldig,“ jammerte Mentel, „ich bin mit keinem Fuß hinein gekommen in die Klamm!“

„Das hilft nichts,“ sagte der Brigadier achselzuckend, „es trifft Alles gar gut zusammen. Warum ist Dein Janker zerrissen und Dein Gesicht blutig geschunden – accurat, wie’s der Jäger angegeben hat?“

„Weil ich gestürzt bin – über eine Schneid’ hinunter gestürzt …“ rief Mentel hastig.

Der Brigadier aber fuhr unerschütterlich fort: „Was hast nachher draußen zu thun gehabt in der Nacht? Der Gaberl hat Dich ganz deutlich erkannt, trotz der Finsterniß und trotz Deines geschwärzten Gesichts!“

„… Ich war aber gar nicht geschwärzt!“

„Das kannst leicht sagen. Wirst Dich wohl abgewaschen haben … und woher kommt denn nachher der Ruß – da am Ohr’ und am Backen?“

„Weil ich mich in eine Kohlhütten geflüchtet hab’,“ sagte Mentel tonlos und selbst erliegend unter der Last der Anschuldigungen, denen er nicht zu widerstehen vermochte.

„Sehr charmirt,“ sagte der Brigadier, „wenn Du das beweisen kannst! Jetzt liegt einmal der Verdacht auf Dir, und ich kann Dir nicht verhehlen, daß es schlimm aussieht mit Dir – also mach’ Dich reisefertig; bei Gericht drinnen werden sie’s schon auseinander klauben!“

„Ich gehe nicht,“ rief Mentel wie ein Rasender. „Vater, hilf mir … bei meiner Seel’ und Seligkeit – ich hab’s nit getan!“

„Verschwör’ nit auch noch Dein ewig’s Glück,“ sagte der Bauer abgewendet, „Dein zeitliches hast schon verscherzt und verloren! Geh’ lieber in Dich und leg’ Dich nit auf’s Leugnen, wie die rechten Spitzbuben!“

„Jesus – Maria!“ schrie Mentel wieder, „sag’ das nit, Vater! Stoß Dein’ Sohn nit so von Dir!“

„Ich hab’ keinen Arrestanten zum Sohn,“ sagte der Alte hart, „und keinen, der auf dem Weg ist in’s Zucht…“

„So glaubt mir denn kein Mensch, daß ich unschuldig bin?“ jammerte der Bursche und sank vor der Bäuerin in die Kniee, das Gesicht in ihrem Schooße verbergend. „Du, Mutter – Du kennst mich – Du mußt mir glauben!“

„Wie kann ich denn, wenn Alles gegen Dich zeugt?“ erwiderte sie weineud.

„… Ich glaub’ Dir, Mentel!“ sagte Evi, welche leise hinzugetreten war und ihm die Hand auf die Schulter legte.

Als ob ihn eine Natter berührt hätte, schüttelte er die Hand ab und sprang auf: „Weg von mir, Du Abscheuliche!“ rief er. „Rühr’ mich nit an! Ich bin ein verlorener, ein elender Mensch … aber Du hast mich am elendesten gemacht! Geh’ mir aus dem Weg’, und wenn ich in’s Zuchthaus muß, so will ich ein ehrlicher Kerl bleiben und nichts mit Dir zu thun haben, Du Vagabundin, Du!“

Evi erwiderte nichts, sondern schritt der Thüre zu, während Mentel dem Brigadier zurief: „Gehen wir, Herr Brigadier – ich bin fertig auf dieser Welt!“

Der Gensd’arm hatte seine Brieftasche hervorgezogen und zögerte noch etwas. „Es fehlt nur noch, daß der Vorsteher mir meinen Rapport unterschreibt … aber ich will zum Gemeindspfleger gehen – das wär’ doch zu hart für den Vater …“

„Geben Sie den Zettel her,“ sagte der Bauer, „so lang’ ich Vorsteher bin, thu’ ich meine Schuldigkeit …“

Er unterschrieb mit sicherer Hand und blieb aufrecht stehen, bis der Brigadier mit seinem Gefangenen aus der Stube war. Evi hatte sich schon zuvor unbeachtet hinausgeschlichen. Als die Thüre sich schloß, knickte er schweigend in den Stuhl zusammen; die Mutter tastete wie schwindelnd um sich und glitt neben der Bank zu Boden. „Jetzt ist es aus,“ stöhnte sie, „ganz aus. … Jetzt kannst alle Stund’ gehn, Vater, und kannst mir die Truhen bestellen!“




4. „Die heiligen drei König.“

Mehr als ein halbes Jahr und mit ihm der Winter war vorüber; das sonnige Pfingstfest hatte dessen Macht auch in den innersten Bergthälern gebrochen, und es war erklärlich, warum vor dem Wirthshause „Am Stein“ bei Berchtesgaden so ungewöhnlich viel Gäste versammelt waren und sich im Freien herumtrieben. Die Luft war warm, würzig und mild; der „Stein“, der riesige Felskoloß, welcher das in seinen Schutz geflüchtete Wirthshaus gewaltig überragt, war schon mit Grün bedeckt, denn die herabhängenden Flechten und Moose trieben neue Spitzen, an Weide, Hartriegel und Wildrose brachen frische Blätter auf, und dazwischen hatte der Schlehenstrauch die nackten schwarzen Spitzen über und über mit weißen Blüthen besteckt. Die Wiesen, links vom Hause, über welche man fernhin Dächer und Thürme des Marktfleckens erblickt, leuchteten im saftigsten Rasenschmuck, reichlich verziert mit Primeln und Ranunkeln, Feldnelken und Vergißmeinnicht, die wie verschüttet streckenweise dicht bei einander standen; rechts hoben sich die stattlichen Buchen und Ahornbäume, unter welchen Sitzplätze für die Gäste angebracht waren, und rauschten mit den jung belaubten Kronen lustig ineinander – gegenüber, getrennt durch das jenseit des Sträßchens steil absinkende Thal, richtete sich der hohe Göll breit, ernst und erhaben empor in dem frischen Rasenkleide, das seine Sohle umwallt, mit dem dunklen Waldgürtel, der seine Mitte schürzt, mit dem Schneeschmuck auf der Brust und dem Eisdiadem um die Felsenstirne, das nur manchmal und auch dann nicht völlig der glühenden Julisonne weicht. Zudem war „Freinacht und Tanzmusik“ im Wirthshause, denn es galt die Nachkirchweih’ in dem unscheinbaren, aber baumumrauschten und andachtschauernden Kirchlein, das damals – vor genau vierzig Jahren – noch nicht um eine frostige gothische Capelle vertauscht und als Eigenthum eines Großen der Erde öde gelegt und umzäunt worden war.

An den Tischen unter den Bäumen lebte und schwirrte und summte es wie um einen schwärmenden Bienenstock; aus allen Thälern und von allen Hängen ringsum waren die Bauern herzugewandert, mit Weib und Kind, Burschen und Mädchen in ihrer eigenthümlichen, damals von städtischen Schnitten und Mustern noch weniger entstellten Bergtrachten. Unter den Landleuten fehlten hie und da auch Gruppen von Bewohnern des nahen Marktes nicht, Bürger und Salinen-Arbeiter, die einen freien Abend hatten, Holzschnitzer, die es einmal gewagt, sich von der Werkbank loszuschrauben, und etwa der Oberschreiber vom Rentamt oder Landgericht als Wurzel-Ausläufer des regierenden Beamtenthums. So munter und laut es vor dem Hause zuging, wurde die Fröhlichkeit doch übertroffen und übertönt durch Clarinette und Trompete, die aus den offenen Fentstern des Hauses schmetterten und pfiffen, und vom mürrischen Gerumpel einer Baßgeige unterstützt, es weithin verkündeten, daß das junge Volk sich dort zu den Freuden des Tanzes zusammengefunden.

Zwischen den Zechtischen und Bänken vor dem Hause schritt der Jäger Gaberl im grauen, grünverbrämten Sonntagsrocke mit Stutzen, Jagdtasche und Hirschfänger hin und wieder und spähte mit steigendem Mißmuth ringsum nach einem leeren Platze, um sich niederlassen und auch an dem allgemeinen Vergnügen Theil nehmen zu können. Die Bauern bemerkten ihn und seine Absicht wohl; es wäre auch möglich gewesen, durch Aneinanderrücken ein annehmbares Plätzchen zu gewinnen, aber sie wollten nicht und machten sich’s noch bequemer und breiter als zuvor. Jeder Jäger war ihnen verhaßt: die Jagd war damals noch ein ziemlich allgemeines Vergnügen der Bauern in jenen Gegenden; es war, als ob sie noch eine dunkle Erinnerung aus der Zeit bewahrt hätten, in welcher sie als Herren von Grund und Boden auch den Wildbann geübt, und die strenger gehaltene Ordnung des seit einem Jahrzehnt eingezogenen baierischen Regiments wollte ihnen nach der schwachen Herrschaft nicht einleuchten, die ihnen aus den letzten Jahren der macht- und kraftlos gewordenen gefürsteten Probstei noch in der Erinnerung war. Gegen Gaberl hatte die Abneigung noch einen besonderen Grund; ihm gab man die Schuld, daß der Mentel vom Bühelhofe in der Ramsau, einer der saubersten, kräftigsten und wackersten Burschen der ganzen Landschaft, in Schande und Strafe gerathen war. Man fragte und grübelte nicht viel darüber, ob es mit Recht oder Unrecht geschah, ob Mentel schuldig war oder nicht; selbst alle die kleinen Fehden und Feindschaften zwischen den Burschen der einzelnen Thäler oder Dorfschaften, sonst auf Leben und Tod verfochten, waren vergessen und ruhten eine Weile; das Volk vereinigte seinen Haß gegen den gemeinsamen Feind.

Dem Jäger war diese Stimmung kein Geheimniß, aber sie [228] irrte ihn nicht, und die Abneigung, die man ihm erwies, gab er reichlich zurück; er wandte ihnen hinwieder den Rücken zu und sah sie mit Blicken der Geringschätzung an, die denen ihres Hasses ebenbürtig waren.

„Guten Abend,“ rief ihn einer der Burschen mit spöttischem Seitenblicke an, „es ist recht schad, daß Ihr so spät kommt – vor einer halben Viertelstund’ hätt’s noch Platz genug gegeben, da bei uns!“

„Ich will keinen Platz bei Euch!“ erwiderte Gaberl giftig. „Der Platz, wo Ihr Alle von Rechtswegen hingehört, ist ganz anderswo!“

„Und wo denn nachher?“ rief es grollend entgegen.

„Das sag’ ich Euch, wenn ich einmal besser Zeit habe,“ war die Antwort; „jetzt mag ich nur mit ordentlichen Leuten zu thun haben!“ Damit schritt er dem Ende der Sitzplätze zu, wo unweit der Straße ein kleines Tischchen angebracht war, mehr um den Ueberblick der Gegend zu geben, als um zum Zechtisch zu dienen. Die Bauern sahen ihm grimmig nach und steckten flüsternd die Köpfe zusammen; das Unwetter stand ausgebildet im Luftkreise, aber noch grollte es von ferne und harrte des Augenblicks, sich entladen zu dürfen.

„Mit Verlaub,“ sagte der Jäger zu dem dort allein sitzenden und städtisch gekleideten Gaste. „Da giebt’s wohl noch ein Plätzchen für mich! – Was seh’ ich!“ rief er dann, als der Fremde sich ihm zuwendete und leicht bei Seite rückte. „Der Herr Reinthaler! Sind Sie auch wieder da! Habe Sie ja seit vorigem Herbst nicht mehr gesehen – wissen Sie, seit dem fidelen Abend, wo wir damals im Scharten-Kaser zusammengetroffen sind! Da sieht man’s – Berg und Thal kommen nicht zusammen, aber die Leut’!“

„Ich bin gestern angekommen,“ sagte der Maler, „und will den Sommer in der Schönau zubringen! Die Gegend ist unerschöpflich an Schönheit aller Art!“

„Das wohl,“ entgegnete achselzuckend der Jäger, „die Gegend wär’ schon recht – aber die Leut’, die Leut’, die sind einmal zu schlecht! Wenn ich die Gegend anschaue, kommt mich das Fortgehn auch schwer an, wenn ich aber an die Leute darinnen denke, geh’ ich lieber heut’ als morgen!“

„So wollt Ihr fort?“

„Allerdings. Ich habe heut’ beim Forstmeister in Berchtesgaden meine Abschieds-Aufwartung gemacht, drum bin in solcher Gala. Ich bin hinaus versetzt worden in die Ebene, bin selber Forstwart geworden … es hätte auch nicht mehr gut gethan, mit mir und dem Bauernvolk!“

„Ich glaube das,“ erwiderte der Maler. „Ihr habt es etwas gar scharf angepackt, und wie ich Euch schon bei unerem letzten Zusammentreffen gewarnt habe. … Allzu scharf macht schartig!“

Der Jäger hob eben den frisch gefüllten Maßkrug und blies den Schaum davon hinweg, schielte aber dabei spöttisch nach dem Maler hinüber. „Ja so,“ sagte er, nachdem er getrunken, „das hätt’ ich beinahe vergessen! Sie sind ja auch ein Wilddiebs-Advocat, Einer von denen, die’s den Spitzbuben recht bequem machen wollen und sie mit Pelzhandschuhen anfassen möchten! Sind Sie denn noch der alten Meinung? Ich hab’ wohl Unrecht gethan, daß ich den Kerl hineingebracht habe? Ich hätte wohl fein still halten und mich von ihm abstechen lassen sollen?“

„Ich versteh’ Euch nicht. Ich bin, wie gesagt, gestern angekommen und weiß nicht, was geschehen. Von wem redet Ihr?“

„Von wem sonst, als von dem übermüthigen, fürwitzigen Burschen, mit dem ich schon voriges Jahr im Scharten-Kaser aneinander gerathen bin! Sie waren ja dabei und haben mich zurückgehalten! Ich habs damals schon gewußt, daß er mir noch einmal eingeht – und es ist auch so eingetroffen schon am andern Tag. Mich wundert, wenn in der Stadt nichts von der Geschichte erzählt worden ist – aber wenn Sie’s nit wissen, kann ich’s Ihnen wohl sagen …“

Er erzählte und blies dabei mit sichtbarem Wohlbehagen die Tabakwolken aus seiner Ulmerpfeife vor sich hin. „Er hat freilich geleugnet bis auf den letzten Augenblick,“ schloß er dann, „aber es hat ihm nichts geholfen – die Ueberweisung war allzu stark. Die Schwärzer hatten auf ihn ausgesagt, daß er in der Nähe gewesen, als Wilddieb war er auch bekannt und als ein abgesagter Feind von mir, so hat man nicht viel Federlesen mit ihm gemacht. Es war sein Glück, daß der Stich nicht tiefer gegangen war und daß ich mit acht, neun Wochen Betthüten davon gekommen bin, sonst wär’s ihm an den Kragen gegangen. So ist das Messer abgeglitscht, und er ist davon gekommen mit Zuchthaus auf unbestimmte Zeit!“

„Armer Bursche!“ seufzte Reinthaler. „Das ist ein schlimmer Boden für die an frische freie Luft gewöhnte Bergpflanze! Aber der Fall beweist wieder, wie sehr ich Recht habe … die Furcht vor großer Strafe hat den Burschen in eine noch größere hineingejagt! Armer Bursche,“ wiederholte er und setzte noch betrübter hinzu: „Und armes Mädchen!“ Vor seiner Seele stand das volle Bild des fröhlichen Almerlebens im Scharten-Kaser, und die damals aufgegangene Vermuthung warf ihr Streiflicht darüber. „Wo ist das Mädchen hingekommen?“ fragte er dann.

„Sie meinen wohl die Evi, die Sennerin?“ entgegnete der Jäger mit lauerndem Blick. „Die ist von ihrem Bauern mit Schand’ und Spott fortgejagt worden – sie hat sich auch schlecht ausgeführt … Man redt nicht gern davon!“

„Unbegreiflich!“ sagte Reinthaler mißtrauisch. „Sollte ich mich in diesem Mädchen so sehr betrogen haben? Und wo ist sie jetzt?“

Der lauernde Blick des Jägers wurde noch schärfer. „Stellen Sie sich nicht an, als wenn Sie’s nicht wüßten …“

„Wie sollt’ ich! Muß ich Euch nochmal sagen, daß ich erst gestern angekommen bin?“

„So schauen Sie dorthin!“ sagte Gaberl leise und deutete mit dem Finger unmerklich in das Gedränge. Der Maler verfolgte mit den Augen die eingeschlagene Richtung, und über seine Züge glitt ein flüchtiges Roth, das dem spähenden Jäger nicht entging. „Steht es so?“ brummte er in sich und seinen Krug hinein. „Ist es mir doch schon im Kaser verdächtig vorgekommen – aber weil ich die Fährte einmal habe, will ich sie so wenig wieder verlieren, als mein Schweißhund!“

„Das Mädchen ist noch schöner geworden!“ rief Reinthaler, der inzwischen Evi nicht aus den Augen verloren hatte, wie sie, sich durch das Gedränge windend, dem Schenkmädchen einen Arm voll Krüge nachtrug. „Und wie der grüne Lenggrieser-Hut sie kleidet! Ich brauche eine solche Figur in eins meiner Bilder – ich muß sie begrüßen und anreden, daß sie mir dazu sitzt!“ Er erhob sich rasch und wollte fort, hielt aber flüchtig inne, um noch dem Jäger zuzurufen: „Wir treffen uns wohl wieder?“

„Gewiß,“ erwiderte Gaberl tückisch, „und das vielleicht recht bald!“

Er sah Reinthaler nach, dann stützte er die Ellbogen auf den Tisch und den Kopf darein und sah unbeweglich vor sich hin – dunkle Pläne und Vorsätze jagten durch sein Gemüth wie Wetterwolken durch einen rauhen sonnenlosen Tag. Er bemerke darüber nicht, wie es dämmerte und wie allgemach die meisten Gäste sich verloren, entweder die verschiedenen Wege in ihre Heimat antretend oder sich dem Hause zuwendend, in welchem der Polsterl-Tanz oder der Kaminkehrer getanzt wurde, einer der landesüblichen Scherze, wie sie bei keiner Nachkirchweih fehlen durften.

(Fortsetzung folgt.)


Auch ein Oberpräsident.
1.

Wer vor etwa 30 bis 40 Jahren durch die Berge, Thäler und Ebenen Westphalens reiste, erinnert sich wohl, einer merkwürdigen Persönlichkeit begegnet zu sein. Es war ein alter, kleiner Mann im blauen Leinwandkittel, wie ihn der gewöhnliche Westphale trägt, eine blaue preußische Dienstmütze, mit rotem Streif und schwarz-weißer Cokarde, bedeckte das graue, dichthaarige Haupt. Bekleidet war er gewöhnlich mit hellen Beinkleidern oder landesüblichen Gamaschen; den Stock in der Hand, die qualmende kurze

[229]

Der alte Vincke.


Pfeife mit silberbeschlagenem Masernkopf im Munde, so schritt er rasch daher. Ein rundliches Gesicht, mit etwas kurzer, aufgestülpter Nase zeigte auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches, doch blickten bei längerm Ansehen die Augen lebendig, scharf und gescheidt genug umher. Der geschlossene Mund mit etwas aufgeworfener Unterlippe verrieth Wohlwollen, aber auch entschiedene Energie und kluges Selbstbewußtsein; die ganze Figur, Gang und Bewegung machte den Eindruck des Leichtbeweglichen, der raschen Entschiedenheit, der lebendigen Theilnahme an Allem, was um ihn her lebte, webte und vorging. Wem dieser Mann im blauen Kittel auf Chausseen, Feld- und Waldpfaden begegnete, konnte den Unbekannten leicht für einen westphälischen Bauer, für einen ländlichen Beamten [230] oder so etwas halten, denn er trug nicht selten die Embleme des Dienstes, ein Actenstück oder eine Ledermappe mit Skripturen in der Tasche oder unter dem Arme mit sich herum, ohne daß man wundersviel dahinter suchen mochte.

Aber den nämlichen Mann mit Dienstmütze und blauem Kittel sah man, wie er raschen Schrittes über die Straße der Stadt eilte, gefolgt von allerhand dienstbeflissenen, schwarzbefrackten Herren in Hüten, denen man es ansah, daß ihnen der kleine blaue Domino keineswegs gleichgültig war.

Noch mehr. Wenn Wege und Straßen im Festschmucke prangten, wenn die bewimpelten Häuser und die Glocken der Thürme der wogenden Volksmasse den Einzug des Thronfolgers oder Königs verkündeten, wenn der Sechsspänner heranstürmte und der Monarch im grauen Soldatenmantel freundlich grüßte: dann saß gar oft neben ihm der Mann mit dem klugen Gesicht und dem nämlichen blauen Kittel, in welchem man ihm draußen in Flur und Wald begegnete. Auch die Pfeife war selbst neben dem Landesfürsten nicht vergessen.

Dieser Mann war kein Anderer, als Freiherr Ludwig von Vincke, der Oberpräsident von Westphalen.

Werfen wir, ehe wir zur Schilderung des Mannes übergehen, einen Blick auf dieses Westphalen und seine Bewohner.

Bekanntlich scheidet sich Westphalen in zwei sehr verschiedene Landschafts- und Bevölkerungsmassen: in das Flachland, welches sich von der Egge und dem Haarstrang, im Nordosten vom Teutoburger Waldgebirge begrenzt, gegen Westen nach Holland, Hannover und Oldenburg zu jenen unabsehbaren Haideflächen und Torfmooren ausbreitet, und in die gebirgigen Landestheile, südlich vom Haarstrang und der Egge, das Paderbornerland, Sauer- und Siegerland, die Grafschaften Ravensberg und Mark.

In dem einsamen Sand-, Moor- und Haidelande nun, in jenem Baum- und Buschgrün, jenem tiefen Frieden, wo jedes Bauernhaus wie im Haine vergraben liegt, wohnt ein sehr merkwürdiger Menschenschlag. Er ist je nach den verschiedenen Landstrichen verschieden, ohne seine specifisch zusammengehörigen Seiten zu verleugnen. Der Westphale zeigt im Ganzen einen starken, kräftigen Wuchs, er liefert ausgezeichnete Beiträge zum Gardecorps nach Berlin, ist breitschultrig und hübsch gewachsen, sein Naturell seinem Boden angemessen. Hager und sehnig mit scharfen, schlauen, tiefgebräunten, vor der Zeit von Mühsal und Leidenschaft durchfurchten Zügen, die Frauen voll früher, üppiger Blüthe, aber mit eben so frühem, zigeunerhaftem Alter, so begegnet Dir das Paderborner Volk. Hier findest Du die rauchigsten und dachlückigsten Hütten, die ärmlichsten Heerdstellen, die ärgste Noth neben dem frömmsten Aberglauben, der tollsten Gespensterfurcht, neben Hexenglauben und sympathetischen Curen. Der Name „grober Paderborner“ begegnet Dir durch ganz Westphalen. Die Einwohnerschaft des Hochlands, der lieblichen, gewerblichen Flußthäler, praktische Köpfe, ein gemachtes schlaues Handelsvolk zeigt gefälligere Formen, aber Allen wohnt eine gewisse Zurückhaltung gegen fremde Lebensformen, ein ernstes, gegen freundliche Ironie stutziges Wesen bei, das überhaupt den Westphalen andern Deutschen gegenüber charakterisirt. Er stemmt sich gern mit der ganzen Zähigkeit seiner Volksnatur gegen das Neue, besonders wenn es ihm durch irgend eine Gewalt aufgedrungen wird. Dieser Sinn ist so alt wie die westphälischen Eichen. Karl der Große brauchte dreißig Jahre unaufhörlichen Kampfes, um die Freiheit in Westphalen zu brechen, und erhoben sich nicht früher noch auf westphälischem Boden die Schaaren, welche die Römerherrschaft abschüttelten? Westphalen war es, wo die communistische radikalste Reaction gegen den Bestand kirchlicher, staatlicher und socialer Zustände empor wuchs, die wir die Unruhen der Wiedertäufer nennen.

Vor allen Westphalen ist der Bewohner des Münsterlandes eine interessante Erscheinung, ein Rest eines absonderlichen Wesens, welches in unsern Tagen, in welchen sich alles Menschliche abschleift und nivellirt, einen höchst pikanten Originalitätsreiz gewährt. Nach uralter Sage gelangten einmal der Herr und sein Jünger St. Peter nach Westphalen, das sie mit Eichenwäldern bedeckt und nur von Schweinen bewohnt fanden. Petrus drang in den Herrn, diese Einsamkeit auch mit Menschen zu bevölkern; Christus schüttelte das Haupt, als aber der Jünger nicht abließ, versetzte er: „Nun, ich will Deinen Wunsch gewähren, aber Du wirst sehen, was daraus entsteht!“ Darauf stößt der Herr einen von den Schweinen zurückgelassenen unästhetischen Gegenstand, der vor ihm lag, mit dem Fuße an und sprach: „Werde ein Mensch.“ Alsobald erhebt sich ein trotziger, starker Kerl von der Erde und fährt den Herrn mit den Worten an: „Wat stött he mie?“ (Was stößt er mich?) Das war der erste Westphale, dessen Nachkommen dann der Sympathie für Schweinefleisch so treu blieben, daß der Maler auf dem Fenstergemälde in der Wiesenkirche zu Soest das Osterlamm beim Abendmahl in einen Schinken verwandelt hat. Sollen wir uns hiernach wundern, daß der berühmte Gelehrte Justus Lipsius seine in Westphalen geschriebenen Briefe „aus der Barbarei bei den Breifressern“ datirte, daß Voltaire’s „Candide“ so manchen Unglimpf über das Land schleuderte? Jedenfalls hat der Racencharakter hier seinen Typus bewahrt. Es ist dies vorzugsweise die feste, knorrige Eichenholznatur, die ererbte Sitten und Anschauungen festhält, einen religiösen Sinn nährt, gute Hauswirthe und tüchtige Soldaten giebt, daneben aber nicht ohne Fanatismus, Härte, Eigensinn ist. Dieser Starrsinn hat bei dem Bauer die gute Folge, daß er seinen Besitz erhält. Vergeblich würde man einem rechten westphälischen Hofbesitzer für ein zum Bestande seines Colonats gehöriges Grundstück das Zwanzigfache des Werths bieten: „davon bruk wie nich to küren!“ wäre die Antwort. Man ist schwer von Begriff, ohne eigentliches Wohlwollen, mißtrauisch, unzugänglich für die Macht der Form, ohne Schwung und Enthusiasmus, der „sich gern in’s Allgemeine taucht, gern mit dem vollen Strom des Lebens geht.“ Irgendwelches Organ von Idealismus besitzt der Münsterländer nicht. Villen, schöne Gartenanlagen und Parks finden wir auch neben den Schlössern des Adels nicht, diese zeigen eine eben so eigenthümliche Schmucklosigkeit, wie die ländlichen Friedhöfe.

Der am prägnantesten ausgebildete Theil westphälischen Stammes ist aber seine aristokratische Genossenschaft. Der Adel Westphalens hat auf die Geschichte des Landes einen imposanten Einfluß geübt, seine Vergangenheit zeigt eine Reihe von eigenthümlichen Kernnaturen von viel absonderlichen, viel abstoßenden Eigenschaften, aber in Allen ist tüchtige zähe Kraft; es sind praktische realistische Menschen, hart, unbeugsam, in alter Zeit vornehmlich, zu Zorn und Gewaltthat geneigt, sie haben einen starken Unabhängigkeitssinn. Wer Originale des frühern westphälischen Adels kennen lernen will, der lese die sorgfältig und geistvoll von Levin Schücking gezeichneten „Westphälischen Charaktere“. Gestalten, wie Rudolph v. Langen, Hermann v. Busch, Ferdinand v. Fürstenberg, drei historisch bedeutende Charaktere auf dem Gebiete der Wissenschaft, wandeln an ihm vorüber. Kriegshelden, wie Bernhard v. Horstmar im 13. und vor allen Walter v. Plettenberg, der „Bombenfürst“ genannt, Heermeister des deutschen Ordens, am Ende des 15. Jahrhunderts, einer der Helden, welche im deutschen Pantheon, der Walhalla, einen ehrenvollen Platz gefunden haben; ferner die derbste und schroffste Adelsnatur, Christoph Bernhard v. Galen, Fürstbischof und Schlachtenheld zugleich, der das Schwert gegen die Generalstaaten, Holland, Frankreich, Kurbrandenburg, Dänemark und die Türken schwingt, schließen sich an. Wer kennt ferner nicht den Staatsmann, Minister v. Fürstenberg, seit 1763 an der Spitze des Münsterlandes, wie er mit genialer Schöpferkraft im Sinne der neuen Humanitätsideen des Jahrhunderts wirkt, einen geistreichen Kreis, repräsentirt durch die Fürsten Galyzin, Hamann, Jacobi, Hemsterhuys, Stollberg und Goethe, dem verrotteten Münster näher bringt? Er war eine echt westphälische, gegen alle Form gleichgültige Natur, klein im grauleinenen Kittel und Lederkäppchen, reitend auf einem kleinen Pferde, und so zerstreut, daß er den Namen seines Lieblingsrößleins statt seines eignen Namens unter eine Verordnung schrieb, ein genialer Abenteurer, dessen Sonderlingseigenschaften wie ein vererbtes Stammgut durch mehrere Generationen hindurchgehen. Die letzte mächtige Verkörperung westphälischer Stamm- und Raceeigenschaften trat 1837 auf die Schaubühne europäischer Ereignisse und stellt jene Eigenschaften in der ausgeprägtesten Vollendung dar. Es ist der Erzbischof Freiherr v. Droste zu Vischering. Wir werden seine nähere Bekanntschaft machen.

Die meisten adeligen Excentricitäten sind von der Cultur, „die alle Welt beleckt“, beseitigt, der Adel hält sich nach dem Umschwung aller seiner Verhältnisse mit vornehmer Resignation und in ruhiger Zurückgezogenheit auf seinen Gütern, bringt einige Zeit des Jahres in seinen stattlichen Hotels entre cour et jardin in Münster zu, wo er eine streng abgesonderte Gesellschaft bildet, trägt ererbte Schulden ab, vergrößert seine Besitzungen, wird täglich reicher, sorgt für strengkirchliche Erziehung seiner Kinder und beschränkt [231] seine Theilnahme am geistigen Leben der Nation auf Unterstützung des religiösen Vereinswesens.

Der würdigste aller adeligen Männer dieses Landes ist aber der Mann, zu dessen Bilde wir nun zurückkehren. Auch ohne nach Westphalen einen Fuß gesetzt zu haben, kannte zu der Zeit vor 30–40 Jahren jeder gebildete Preuße den Namen des Oberpräsidenten dieser Provinz, jene mit dem gewaltigen v. Stein verschwisterte Natur. Vinckes Persönlichkeit, seine großartige, volksthümliche Wirksamkeit war nirgends ein Geheimniß; man war auf ihn gespannt nicht nur als auf eine individuelle Besonderheit, man hatte sich gewöhnt, ihn als die Spitze, als den hervorragendsten Ausdruck einer großen Stammes-Gesammteit zu sehen, zu verehren und zu lieben. Zwar konnte auch dieser Staatsmann, welcher auf das Wohl und die Hebung Westphalens mit eminenter Thätigkeit eingewirkt hat, so wenig, als sein großer Zeitgenosse und Freund, der Minister v. Stein, nicht mit gleichen Augen von den heterogenen Bestandtheilen seines Wirkungskreises betrachtet werden; auch er, dessen nur auf das Wahre und Gute gerichtete Thätigkeit die verschiedensten Interessen durchkreuzte, rief die entgegengesetztesten Gefühle der Liebe und des Mißwollens, der Bewunderung oder der Scheelsucht hervor, aber sein Charakter, Geist, seine Stellung und Arbeit sichern ihm das dankbare Andenken nicht nur seiner nähern Landsleute, sondern namentlich in unsern Tagen aller bravgesinnten Deutschen. Es ist nicht die Absicht, sein Leben chronologisch zu schildern. Das hat Mancher schon, wenn auch fragmentarisch, gethan. Ein Bild des „alten Vincke“ wollen wir zu zeichnen versuchen, in welchem sich der Mensch, der Westphale und der Geschäftsbeamte, speciell der Vorgesetzte der Provinz in seiner so großartigen, als liebenswürdigen Eigenthümlichkeit abspiegele.

Ein ganz kurzer Blick auf seinen Lebensgang ist gleichwohl nicht zu umgehen.

Vincke tritt in einem Lebensalter in die höhern Kreise der öffentlichen Thätigkeit, wo unsere heutige Beamtenjugend kaum das erste Stadium der Vorbereitung betritt. Er ist zu Minden geboren und gehört einer alten in Minden, Ravensberg und Osnabrück begüterten Familie an, der begabte Sprößling eines an Bildung und Ehren reich gesegneten Hauses, eines Vaters, der vom großen Preußenkönige bewundert, in den preußischen Dienst gezogen sich rühmen durfte, daß Friedrich II., so oft er nach Minden kam, bei ihm wohnte. Der frühzeitig für Recht und Freiheit, namentlich die nordamerikanische, glühende Sohn giebt die gewünschte Seemannscarrière auf, wird einer der musterhaftesten und dankbarsten Zöglinge des Pädagogiums in Halle und seines Dirigenten, des alten Kanzlers Niemeyer, und bezieht die Universitäten Marburg, Erlangen, Göttingen. Seine äußere Erscheinung war unbedeutend. Klein und jugendlichen Aussehens wurde er später, schon 30 Jahre alt und Präsident, für einen Knaben angesehen. „Sü es, was dat Jüngesken sick krus mäket,“ sagte eine münsterländische Bauerfrau, als der ihr unbekannte Präsident über ihre Zögerung, einen Schlagbaum aufzuschließen, sich ereiferte.

Die große Krisis des öffentlichen Lebens, in welche seine akademische Bildung fällt, konnte auf den feurigen Sinn Vincke’s nicht ohne Einfluß bleiben; wir erfahren, weß Geistes Kind in politischer Hinsicht schon der Student war. „Kann ich,“ so schrieb er damals in Beziehung auf das Wöllner’sche Religionsedict (1788), „meinem Vaterlande in einem öffentlichen Amte nicht dienen, ohne vorher Heuchler, Schleicher, Intrigant und Schmeichler zu werden, so begabe ich mich zurück.“ In Vincke’s Studentenzeit (1792–1795) treten die Wirkungen der französischen Revolution sichtbar über die Grenzen Frankreichs auch in Deutschland heraus. Schauseite und Kehrseite der großen Welterschütterung kommen zur Anschauung; der Kriegsschauplatz rückt Vincke sehr nahe, der Kanonendonner von Mainz, Frankfurt und von der Lahn dröhnen bis Marburg hinaus. Werden wir uns wundern, wenn wir auch unsern jungen Freund von frühreifem Verstande, größter Lebhaftigkeit und dem wärmsten Herzen voll den Ideen ergriffen finden, welche keinen denkenden Menschen damals unberührt ließen? Schon damals erklärte er sich gegen jede Absonderung der verschiedenen Schichten der Bevölkerung, gegen den Kastengeist des Junkerthums, gegen Rangverhältnisse und Titelsucht, stimmte laut und eifrig ein in das Lob der Oeffentlichkeit und Freiheit, und erklärte sich gegen Steuerfreiheit des Adels und des Clerus.

Kaum 24 Jahre alt tritt v. Vincke nach glänzend bestandenen juristischen und cameralistischen Prüfungen in den preußischen Staatsdienst, und hier ist das Feld, wo seine treffliche Natur sich in ihrer ganzen Verdienstlichkeit und Originalität von den Vorstufen des öffentlichen Beamtenthums bis in die höchsten Stellungen hinein zu entfalten beginnt. Auf diesem Gebiete wollen wir ihn nun begleiten.

Was war es doch, das dem preußischen Beamtenthum gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts, also zur Zeit der öffentlichen Thätigkeit Vincke’s, eine so eigenthümliche, achtungsvolle Anerkennung verschaffte? – Seit der Revolution bis 1806 war das von Friedrich II. zurückgelassene kleine Königreich schnell emporgewachsen. Seine Adler schwebten über die Länder der alten Sachsen bis zur Nordsee, über das Maingebiet und das Herz Thüringens, sie beherrschten die Elbmündung, umkreisten Böhmen von zwei Seiten. Preußens Scepter reichte bis tief in das Weichselthal und bis zur alten Polenhauptstadt. Aber mit dieser Größe stand die innere bildende Kraft nicht im Verhältniß. Alle Vergrößerung des Ländergebiets war nicht durch eine starke innere Triebkraft gemacht, sie war die Frucht ruhmloser Feldzüge, aufgedrängt von übermächtigen Feinden, ohne Autorität und innere Festigkeit. Verhängnißvoll war es besonders, daß der letzte Regulator fehlte, welcher unablässig und ehrlich die Regierung begleitet, den Wünschen des Volkes Ausdruck giebt, die öffentliche Meinung. Die Presse war bevormundet, gelegentliche Flugschriften gewaltthätig unterdrückt. König Friedrich Wilhelm III., ein Herr von strenger Rechtlichkeit und maßvollstem Sinne, empfand, daß in der alten absolutistischen Weise des großen Königs fortzuregieren ihm unmöglich sei. Friedrich hatte bei allem Geist das Ganze doch nur durch die Eigenmacht seines Willens, als der letzten Instanz, zusammengehalten. Er hatte das wagen können. Unter seinen Nachfolgern mußte die Controle des Regierungsbeamtenthums in den Beamten selbst gesucht werden. Hiermit begann in Preußen die Herrschaft der Büreaukratie. Mit ihr wuchs die Zahl der Aemter, Behörden, Zwischenbehörden. Aus dem Bestreben, die Starrheit der alten Zeit gerecht, gründlich und human umzubilden, wuchs Weitläuftigkeit und Actenschreiberei hervor. Die Eigenmächtigkeit des alten monarchischen Regiments ging nun in die Willkür der Beamten über, gegen die es beim Mangel einer freien Presse keine Rettung gab. Aber außer der Kraft und Opferfähigkeit, welche trotzdem im Volke selbst einer großen Zeit entgegenschlummerte, ward auch in der Beamtenwelt Preußens ein neues und hoffnungsreiches Leben sichtbar. Die ehrliche Arbeit, Intelligenz und Rüstigkeit desn Willens einzelner Höhergestellten erfüllt mit hoher Achtung im Vergleich mit dem spätern französischen Beamtenwesen; das Personal der Obergerichte und der höhern Verwaltung umschloß in der Regel die Blüthe der preußischen Intelligenz, ja es concentrirte sich hier die stärkste Kraft des Bürgerthums, die höchste Bildung des Adels. Das waren seit den alten Coccei, Carmer u. A. geschulte, gescheidte, redliche, feste Männer von großartiger Arbeitskraft, stolzem Patriotismus, von Unabhängigkeit des Charakters, welcher sich in der Handhabung des Rechts noch durch keine Ministerialrescripte beirren ließ. Sie stammten zum Theil aus Bürgerhäusern, aber auch der bessere Theil der Adelsfamilien schloß sich an. Es ist eine Freude, in jener Zeit des Schwankens den Blick auf die stille Arbeit dieser Männer zu richten. Sie haben als oberste Richter und Provinzialverwalter ihr preußisches und deutsches Bewußtsein dauerhaft durch schwere Zeiten getragen, haben in gleicher Weise auf ihre Umgebungen gewirkt. Auch unter der Fremdherrschaft wirkten sie in ihren Kreisen mit kalter Selbstbeherrschung fort, tief in ihrer Seele eine bessere Zeit vorbereitend. Das waren die Stein, Sack, Merkel und viele Andere und nicht der Letzte unter ihnen Ludwig von Vincke.

Als derselbe 1798, 24 Jahre alt, zum Landrath des Kreises seiner Vaterstadt Minden, mit einem Gehalt von 300 Thalern, ernannt war, zeigte er ein so jugendliches Aussehen, daß König Friedrich Wilhelm III., als er ihm bei Gelegenheit der großen Revue bei Petershagen in Minden vorgestellt wurde, sich gegen Herrn von Stein äußerte: „Macht man hier Kinder zu Landräthen?“ Die Antwortet lautete: „Ja, Majestät, ein Jüngling an Jahren, ein Greis an Weisheit.“

In seiner landräthlichen Wirksamkeit zu Minden spiegelt sich bereits das ganze Bild seines künftigen Treibens ab. Er hatte das Glück unter der Leitung einer der bedeutendsten Persönlichkeiten Deutschlands zu arbeiten, des Freiherrn von Stein, damals obersten Verwalters der westphälischen Landesteile. Freilich fehlte [232] es bei der energischen Derbheit dieses Staatsmannes nicht an heftigen Auftritten und spitzigen Correspondenzen zwischen Beiden, zumal Vincke ein bedeutendes Erbe väterlicher Heftigkeit besaß; allein Stein erkannte schnell den hohen Werth des jungen Mannes und verhalf ihm bald zu höherer Wirksamkeit. Es galt den Augiasstall eines nichtsthuenden Vorgängers aufzuräumen. Der feuereifrige junge Landrath fuhr unter die Faulpelze seiner Unterbeamten und weckte sie aus vieljährigem Schlummer. Um 4 Uhr des Morgens war er schon an der Arbeit oder auf dem Wege, einen langschlafenden, lahmen Bürgermeister oder Schulzen zu wecken. Bald wußte Jeder, daß er keine Minute vor dem kleinen quecksilbernen Landrathe sicher war. Bald lernten ihn auch seine Kreisinsassen, seine „lieben Bauern“ kennen, lieben, achten, ihm vertrauen und Rath und Hülfe bei ihm suchen. Er konnte stundenlang mit ihnen reden, ohne zu ermüden, war aber selbst kurz, bündig und immer beim Kern der Sache. Er umfaßte das Wohl des Volkes nach allen Richtungen und zwar nicht als Actenwurm oder auf schriftlichem Wege, überall untersuchte er persönlich, kroch in den Küchen und auf den Speichern umher, untersuchte die Wiesen, Felder und Wälder, die Feuerspritzen, Brandeimer und Wasserbehälter und sammelte eine ihn unbeschreiblich fördernde Orts- und Personenkenntniß. Wie stand er mit seinen Bauern? – Eines Tages besucht ihn ein Oberförster von Bülow, ein strenger, adelstolzer Herr, der es unter seiner Würde hält, sich irgendwie mit dem Volke gemein zu machen. Als er keinen Bedienten findet, tritt er durch die Thür und sieht zu seinem Entsetzen den Landrath von Vincke bei zwei Bauern am Ofen in aller Gemüthlichkeit mit übergeschlagenen Beinen sitzen; alle drei schmauchten ihr Pfeifchen im dampferfüllten Zimmer. Weniger gemüthlich ging es ein andermal bei einem reichen ländlichen Bürgermeister zu, der bei jeder Pflicht zu spät kam. Im westphälischen blauen Kittel betrat Vincke in früher Morgenstunde den Hof des Herrn, ward von den Hausmägden für einen frischen, jungen Bauer angesehen, auf die Frage, ob der Herr auf sei, ausgelacht, von ihnen zum Kaffee geladen und mußte zwei bis drei Stunden auf den Langschläfer warten, den er dann zum Schrecken des Hauses gründlich abkanzelte.

Zwei größere Reisen in’s Ausland lassen auf Vincke’s deutsch-westphälische Natur manches interessante Streiflicht fallen. Von dem 1800 in höherem Auftrage nach England unternommenen Ausfluge (von Minden bis London brauchte man damals 24 Tage!) brachte er zur Verwertung in seiner Heimath die wichtigsten landwirthschaftlichen Notizen höherer Kategorie, höchst interessante Details über Blindenanstalten, Irrenhäuser, Fabrikwesen und Schulen mit, fühlte dagegen bei seiner Vorstellung am Hofe zu St. James, zu welcher Haarkräusler und Kleiderkünstler ihn zu seinem Leidwesen ganz neu ausstaffiten, die höchste Langeweile und muß auf einer musikalischen Soirée beim Herzog von York beinahe verhungern.

Man wollte damals in Preußen die Merino-Schafe einführen. Vincke hatte als Kammerassessor in Berlin einen Bericht über die Schafzucht eines schlesischen Grafen abgestattet und war mit Thaer in nahe Beziehung getreten. Dies lenkte die Blicke auf ihn und veranlaßte seine Sendung nach Spanien.




Sport und Sportsmen in England.
I.
Was ist Sport – Seine Bedeutung für das englische Volk – Das Cricketspiel – Das Rudern und Segeln – Der Fischfang mit der Angel – Der Salm.

Was ist Sport? – Vor allen Dingen ist der Begriff, den dieses Wort einschließt, aufzusuchen. Denn Sport ist ein durch und durch national englisches Ding, und die einfache Uebersetzung in die Sprache eines anderen Volkes ist geradezu unmöglich, da mit der Sache ein entsprechender Name fehlt. Zudem sind die Engländer selbst nicht einig, welcher Umfang dem Ausdruck zu geben sei, und manchen Dingen, die die Einen darunter rechnen, bestreiten Andere die Ehre dieses Ranges. Das Wörterbuch sagt aus: Sport ist Vergnügen. Dies ist zum Mindesten ungenau. Ein Wörterbuch kann freilich keine Erläuterung, sondern muß eine Uebersetzung geben, und soll diese in einem einzigen Worte geschehen, so kommt Vergnügen vielleicht noch am nächsten.

Von welcher Seite nun aber den Begriff fassen und festhalten? – Das Einfachste scheint, mit einer Aufzählung der hauptsächlichsten Beschäftigungen anzufangen, die zum Sport gerechnet werden. Haben wir durch eine äußere Uebersicht eine ungefähre concrete Vorstellung gewonnen, so werden wir mit Hülfe dieser leichter die allgemeinen Charaktere entdecken. – Obenan unter den verschiedenen Arten des Sport stehen denn die fünf Ballspiel, Pferderennen, Jagd, Fischfang und Wasserfahrten. Diese sind, so zu sagen, die Blume des Sport, und auf sie wird der Name in vorzüglichem Sinne angewandt. Sie aber erschöpfen bei Weitem nicht die reiche Mannigfaltigkeit von Belustigungen, welche in Wahrheit dahin gerechnet werden müssen. Das Reich des Sport ist im Grunde überhaupt kein fest und ein für alle Mal abgeschlossenes. Die verschiedenartigsten menschlichen Thätigkeiten können unter Umständen den Charakter eines Vergnügens dieser Art annehmen. Ganz besonders wird eine Beschäftigung zum Sport, wenn Einzelne darin eine hohe Vollkommenheit erlangen und öffentliche Wettkämpfe, einen sogenannten Match, unter einander zur Belustigung einer größeren Menge veranstalten. So unter Anderm die einfache Fortbewegung des Menschen auf seinen Füßen: Dauerläufe und Wettmärsche sind häufig anzusehen, und gelten als Sport unter der besondern Bezeichnung Pedestrianism. Aehnlich Schwimmen und Rudern und manche andere Thätigkeiten untergeordneter Art.

Unter dieser bunten Vielfältigkeit von Belustigungen, theils Einzelner, teils einer größeren Anzahl, fallen folgende allgemeine und unterscheidende Merkmale des Sport in’s Auge. Alles abstracte Vergnügen, jeder bloße Genuß des Geistes oder der Seele, ist dem Begriffe fremd. Es ist immer eine äußere, eine körperliche Verrichtung, eine natürliche Thätigkeit von Mensch oder Thier, deren eigene Ausübung oder Anschauung das Vergnügen gewährt. Und gerade in diesem realen, physischen Elemente liegt ein großer Theil des Einflusses, den der Sport auf die Ausbildung der Manneseigenthümlichkeit des Engländers hat. Sodann ist es immer eine Thätigkeit, die von irgend einer Seite die Entwickelung einer besonderen Vollkommenheit voraussetzt, sei dies Körperkraft und Ausdauer, oder Gewandtheit und Geschick. Daher die so gewöhnliche Verbindung des Wettstreitens, des Ringens um den Preis der höheren Vollendung, mit fast allen Arten des Sport. –

Von der Bedeutung des Sport in dem Leben und in der Bildung des englischen Volkes kann sich der Ausländer kaum eine vollkommene Vorstellung machen, ohne dieses Treiben aus der Nähe mit angesehen zu haben. Es sind weniger die Gegenstände und Weisen der Belustigung, die das Interesse und die Bewunderung des fremden Beobachters auf sich ziehen, als vielmehr der Geist, mit dem die Nation sie auffaßt und belebt. Ein jedes Volk hat sein Vergnügen; manche der englischen Sports sind uns selbst vertraut und auf deutschem Boden heimisch. Aber es fehlt hier die tiefe und – es ist nicht zu viel gesagt – die wirklich großartige Durchdringung des nationalen Lebens mit jenem Element. Was den Sport so hoch über die Vergnügungsarten anderer Völker stellt und ihn im eigentlichen Sinne des Worts zu einem Culturelement macht, ist namentlich Zweierlei. Das Eine ist die Allgemeinheit, mit der er von dem ganzen Volke in allen seinen Kreisen getheilt wird. Jeder Engländer, ohne Ausnahme, von dem königlichen Prinzen und dem Nobleman durch die zahllosen Abschichtungen der Gesellschaft herunter bis zum gewöhnlichen Droschkenkutscher und Straßenkehrer, ist ein geborener Sportsman, das heißt, ein Mensch, der am Sport Freude und Lust findet und den lebendigsten Antheil nimmt. Dies schließt natürlich nicht aus, daß Einzelne es darin den Andern zuvorthun und sogar nicht selten aus dem Vergnügen einen Beruf machen. Nichts kann einem Fürsten in England eine sicherere Popularität gewinnen, als wenn er ein guter Sportsman ist, der seinen Fuchs hetzt und auf seinen Gaul wettet wie der erste und letzte seiner Unterthanen. Der Umstand aber, daß die Vornehmsten und Besten des Volkes in jenen Belustigungen voran stehen, giebt diesen selbst eine Weihe und einen Adel, und bewahrt sie am sichersten vor gefährlicher Ausartung. Der andere Punkt, den ich vorhin im Sinne hatte, ist die Intensität und die Mächtigkeit des Interesses, welches der Einzelne am Sport

[233] nimmt. Man muß die Wichtigkeit, die wirkliche Innigkeit und Andacht angehört haben, mit welcher der englische Sportsman seine Angelkunst und seine Cricketspiele, seine Segelfahrten und sein Waidwerk wie die höchsten Fragen des Staatswohles und des Heiles seiner Seele discutirt, um zu verstehen, daß es sich in der That dabei um mehr als eine gewöhnliche flüchtige Lust, daß es sich um ein bleibendes Stück des Menschen handelt. Und jenes außerordentliche Interesse kann bei einem Volke des Geldes unmöglich in die Brust gebannt bleiben; es muß einen klingenden Ausdruck finden. Nichts als das ist die Wette, welche fast unzertrennlich zu allen Arten des Sport gehört, bei denen ein Preiskampf stattfindet, ganz besonders aber bei den Pferderennen wahrhaft ungeheuerliche und nicht selten an Tollheit grenzende Dimensionen erreicht. Die Wette, soll ich mich so ausdrücken, ist nur die Uebersetzung eines großen Interesses in ein anderes, welches den Gedanken des Engländers nicht minder nahe liegt und seinem Wesen nicht weniger eigenthümlich ist.

Eine vollständige Beschreibung aller einzelnen Arten, eine umfassende Theorie und Anleitung zur Praxis, mit anderen Worten eine Erschöpfung des Gegenstandes würde die Aufgabe eines vielbändigen und eigentlich nie abzuschließenden Werkes sein. Uns aber kommt es nicht auf eine solche Erschöpfung an, nicht auf eine Durchwanderung des ganzen, unabsehbar weiten Gebietes. Wir haben genug, wenn wir uns, so zu sagen, einige der Höhenpunkte aussuchen und von da eine oberflächliche Umschau halten. Als die hervorragendsten Charaktere des Sport, denen wir eine Betrachtung im Einzelnen zuwenden können, wurden schon oben Cricketspiel, Segeln, Jagd und Fischfang und Pferderennen genannt.

Das Cricketspiel ist eine Verbindung verschiedener Hantirungen, welche Körperkraft und Geschicklichkeit in gleichem Maße üben und auf die Probe stellen. Werfen und Fangen, Schlagen und Laufen sind gewissermaßen die Grundelemente, aus denen das Spiel zurecht gemacht ist. Es wird regelmäßig von zwei gegeneinander streitenden Parteien unternommen, welche je elf Mann zu zählen pflegen. Auf einem ebenen Rasengrund sind in einer Entfernung von zwanzig bis dreißig Schritt zweimal drei Stäbe senkrecht in den Boden gesteckt, auf denen ein vierter querüber lose aufliegt. Dies sind die beiden sogenannten Wickets, welche den eigentlichen Gegenstand des Streites bilden. Jede Partei strebt mit dem Ball das Wicket der andern zu treffen, so daß der unbefestigte horizontale Stab herunterfällt. Die Abwehr des Balls geschieht durch einen Schläger oder Preller, mit welchem derselbe abgefangen und zu der Partei, die ihn schickt, zurückgeschlagen wird. Während dieser Zeit, die hingeht, bevor der Ball von der andern Partei wieder gefangen ist, darf der Spieler, welcher ihn zurückgeschlagen hat, zu dem andern Wicket hinüber und zu dem seinigen zurück, überhaupt so vielmals als möglich hin- und herlaufen. Nur muß er es so abmessen, daß er in dem Augenblick, wo der Gegner den Ball wieder in der Hand hat und im Begriffe steht, ihn auf’s Neue nach dem Ziele zu werfen, entweder neben seinem eigenen oder dem fremden Wicket steht, um den Ball in einem Falle abschlagen, im andern die Absendung verhindern zu können. Die Zahl jener Läufe, welche eine Partei vor der andern voraus hat, entscheidet schließlich das Spiel. Die Regeln und Vorschriften im Einzelnen sind ziemlich verwickelt. Alle Umstände und Verhältnisse sind vorgesehen und durch eine Art Gewohnheitsrecht geordnet: so die Entfernungen, die Art und Weise wie geworfen und gefangen werden muß, namentlich auch die Beschaffenheit des Balls und der Schläger. Letztere bestehen in einem flachen Stück Holz, am untern Ende in einen runden, zweihändigen Griff zugeschnitzt. Der Verbrauch an diesen Instrumenten ist ungeheuer, da sie zu Dutzenden durch den Stoß des Balles am Griffe abgebrochen werden. Nur altes, ausgelagertes Weidenholz gilt als dazu verwendbar, und auf den öffentlichen Spielplätzen sieht man die Scheite in hohen Schobern aufgeschichtet. Der Ball ist nicht elastisch. Das Material, aus dem er angefertigt wird, ist Strick und Leder, die, in künstlicher Weise zusammengearbeitet, eine Kugel fast von der Härte eines Steines geben. Der gewöhnliche Preis eines solchen Cricketballs ist nicht weniger als zwei bis drei Thaler. Die Wucht und Stoßkraft, womit derselbe auffliegt, ist eine außerordentliche und kann, wenn er den Körper des Spielers trifft, leicht eine schmerzliche Verwundung verursachen. Die Unterschenkel pflegen daher durch eine Leder- oder Korkschiene geschützt zu werden. Die große Geschicklichkeit besteht darin, den mit dem Preller zurückgeschlagenen Ball auf der Mitte der geöffneten Hand zu fangen und sofort die Finger zu schließen. Mancher Anfänger aber muß, ehe er die gehörige Sicherheit erlangt, sein Lehrgeld in einem zerbrochenen Finger oder unglücklichen Falls gar in einem eingeschlagenen Nasenbein bezahlen.

Cricketspiel ist von allen Sports, welche in eigener Ausübung und nicht im bloßen Zuschauen bestehen, der bei Weitem verbreitetste. Es ist buchstäblich nicht zu viel gesagt, daß es keinem Engländer fremd ist, welcher nicht geradezu den ärmeren Classen angehört. Der Knabe wird in die Kunst eingeweiht, sobald er nur kräftig genug ist, Ball und Schläger zu führen, und die Unterrichtung im Cricket ist, beiläufig gesagt, für einen tüchtigen Meister ein gutbezahlter Beruf. Aber das Spiel gehört durchaus nicht allein, ja nicht einmal vorzugsweise, der Jugend. Der erwachsene Mann und selbst der vornehme Mann bewahrt ihm nicht nur ein lebhaftes Interesse, sondern pflegt es und übt es selber fort, und mancher Graukopf tritt noch in die Schranken. Das Cricket ist aber auch, mit seiner kräftigenden Bewegung im Freien, von allen Sports vielleicht der, welcher den Körper am meisten bildet und stählt; jedenfalls ist es, mit seinem Wetteifern in wirklicher Geschicklichkeit, von allen der edelste. Nirgends fühlt sich der Sohn Albions wohler und heimischer, als auf dem Rasenanger, in dem leichten Beinkleide und der flacheingedrückten farbigen Mütze, der Uniform des Cricketspielers, Ball und Schläger in der Hand. Im ganzen Lande umher, in Stadt und Flecken, bestehen Clubs, welche die Pflege dieses Sport zum Zwecke haben; der erste von allen ist der sogenannte Marylebone-Cricket-Club, dessen Spielregeln fast allgemein angenommen sind. Und mehr: – wo den Angelsachsen sein rastloser Unternehmungsgeist hinführt, wo er auch sei auf dem Erdboden, daß er seinen Fuß hinsetzt und ein Haus baut, überall nimmt er sein Cricket mit. Unter Canada’s rauherem Himmel, unter der heißen Sonne des Ganges, in Nord und Süd, überall findet er einen grünen Plan für seinen Sport, der, wie Erholung uns allen, sein Bedürfniß ist.

Die Freude und das Interesse am Spiele steigern sich zu einem höheren Grade bei einem Cricket-Match, das heißt bei einem Wettstreit, welchen zwei übrigens einander fremde Parteien von Spielern auf eine Herausforderung hin um die Ehre und den Preis des Sieges veranstalten. Namentlich pflegen die verschiedenen Clubs sich in dieser Weise zu messen, und während des ganzen Sommers vergeht fast kein Tag, wo nicht irgendwo auf dem Boden Englands einer oder mehrere solcher Kämpfe ausgefochten werden. Der Spielplatz wird bei solcher Gelegenheit abgeschlossen und von den Zuschauern ein Eintrittsgeld erhoben. Ein unparteiischer Schiedsrichter, welcher immer ein gründlicher Kenner des Spieles sein muß, wird bestellt, um die Einhaltung der Regeln zu überwachen und etwa entstehende Streitigkeiten durch seinen Spruch zu schlichten. Der Preis, um den gestritten wird, besteht in Geld oder in einem andern Werthgegenstand, die von Freunden dieses Sport ausgesetzt oder durch Unterzeichnung aufgebracht werden. Der Ruf eines Clubs steht hier auf dem Spiele, und so wird denn von beiden Seiten das Höchste aufgeboten und mit einem Eifer gestritten, als ob es Ehre und Existenz gälte. Das Ballwerfen und Abschlagen wird da oft professionellen Spielern anvertraut, die darin eine außerordentliche Fertigkeit besitzen und nicht selten zehn Guineen und mehr für einen Nachmittag erhalten. Bringt der erste Tag keine Entscheidung, so wird der Kampf ausgesetzt und am folgenden frisch aufgenommen; bisweilen zieht er sich bis zum dritten und länger hin. Auch Absonderliches fehlt nicht, für welches der liebe Gott in dem Geiste der Engländer einen besonders großen Platz gemacht zu haben scheint. Vor nicht langer Zeit erhielt unter Anderm eine englische Gesellschaft von fernen Landsleuten in Australien eine Herausforderung. Welch gefundenes Essen! Die leidenschaftlichen Sportsmen hatten nichts Eiligeres zu thun, als sich mit dem nächsten Dampfer einzuschiffen und auf dem fernen Continent den Match auszumachen, worauf sie umgehends die Rückfahrt nach der Heimath antraten. Dem Londoner Publicum zeigten im vergangenen Sommer die Blätter einen rätselhaften Match unter der Ueberschrift: „Ein Arm wider ein Bein“ an. Tausende von neugierigen Zuschauern fanden sich auf dem Platze ein und trafen eine Gesellschaft von zweiundzwanzig Invaliden aus dem Greenwich-Hospital. Elf von ihnen hatten wirklich nur einen Arm. die Andern nur ein Bein. Mit den wunderlichsten Bewegungen führten die begeisterten Krüppel das Spiel aus, welches eigentlich [234] den vollen und kräftigen Gebrauch aller Gliedmaßen voraussetzt. –

Durch das Gebot der Verhältnisse auf das Wasser gleichsam angewiesen, sind die Engländer auch in Wahrheit zu dem ersten und unternehmendsten Schiffervolk des Erdballs geworden. Und so haben sie denn auch ihre besondern Wasserbelustigungen. Rudern und Segeln, in Verbindung mit Wettkämpfen, bilden den sogenannten aquatischen Sport.

Die Heimath des Ruderers ist der Fluß. Auf den bewegten lebendigen Wellen der Themse, des Tyne, des Clyde und der andern herrlichen Ströme der drei Königreiche, – da wo die Fluthung des Wassers selbst und der nie ruhende Verkehr von Dampfern und andern Fahrzeugen Schwierigkeit schaffen, – da ist am Ersten ein kräftiger Arm und eine sichere Hand zu erproben und zu zeigen. Das Rudern ist vorzugsweise ein Vergnügen des Knaben und Jünglings. Auf den Schulen der Aristokratie und auf den Universitäten ist es, wo dieser prächtige Sport vor Allem seine begeisterten Verehrer und seine tüchtigen Meister zählt. Der beliebteste Platz für Rowing-Matches oder Boat-Races, das sind die Ruderwettkämpfe, ist das Bett der Themse, von der London Brücke stromaufwärts. Bald sieht man dort Einzelne in langen pfeilgespitzten Flachbooten, bald ganze Gesellschaften in größeren Nachen sich messen. Keines dieser Feste ist aber berühmter, als der große Match, welcher alljährlich an der bezeichneten Stelle zwischen den Universitäten Oxford und Cambridge ausgerudert zu werden pflegt. Die beiden altgelehrten Anstalten senden dazu die besten Leute des Faches, die sie unter ihrer Studentenschaft aufzuweisen haben. Es ist eine große Auszeichnung, ein Vertrauensvotum, unter die Acht gewählt zu werden, mit welchen jede ihr Boot bemannt, und so die Ruderehre der Universität auf seinen Arm gestellt zu erhalten. Die Ufer des Flusses, wo sie zugänglich sind, und die zahlreichen Brücken pflegen an diesem Tage mit einer Menge von Zuschauern beiderlei Geschlechts und der höchsten Classen besetzt zu sein. Denn nicht selten haben Pairs von England einen Sohn unter den einen oder den andern Achten, und manche der zartblonden Töchter Albions schickt klopfenden Herzens ihr blaues Auge den stattlichen Jünglingen nach, die sich ihrerseits an dem Bewußtsein der schönen Gönnerschaft zu doppelter Anstrengung begeistern.

Edler noch als das Ruder ist das Segel, und Yachtfahrten zählen zu den vornehmsten Sports. Es ist eine Liebhaberei des Adels und anderer reicher Leute in England, ein gutbemanntes Segelboot, nicht selten bis zu mehreren hundert Tonnen Gehalt, zu ihrem Privatvergnügen zu besitzen. Große Geldsummen werden oft auf diese ansehnlichen Spielzeuge verwandt: sie werden mit der größten Sorgfalt gezimmert und mit höchstem Geschmack und Comfort ausgestattet. Zahlreiche Clubs pflegen und fördern die Segelbelustigung. In Seehäfen und an den Flußmündungen werden häufige Wettfahrten unternommen, die sogenannten Regattas. Der Eigenthümer einer Yacht, welcher mit um den Preis streitet, pflegt dabei auf seinem Schiff zu sein, um an der Ehre und zuweilen an der Gefahr des Kampfes in unmittelbarster Weise Theil zu nehmen. Für sportlustige Freunde und Angehörige wird ein Dampfer nebenher geschickt, der die Boote in einiger Entfernung begleitet und auf dem sich’s die Gesellschaft unterdessen wohl sein läßt. Am Ufer versammelt sich eine bunte Menge, welche dem Verlauf des Streites mit größter Spannung folgt, die Abgehenden mit Winken und Zuruf entläßt, und den an der Spitze des Geschwaders heimkehrenden Sieger mit tobendem Hurrah empfängt. Gewöhnlich wird derselbe Weg zweimal zurückgelegt, das heißt, die Aufgabe der Fahrzeuge ist, bis auf eine gewisse Entfernung hinauszusegeln, draußen zu wenden und dann nach dem Auslaufungsplatz zurückzusteuern. In diesem Sport sind neuerdings auch internationale Wettkämpfe zu verschiedenen Malen unternommen worden. Franzosen haben sich mit den Engländern gemessen, aber in der Regel den Kürzeren gezogen, während die kühnen Yankees manchen wohlgewonnenen Preis dem ärgerlichen John Bull hinweggetragen haben. –

Der Fischfang mit dem Netz ist Handwerk, aber kein Sport. Dieser Name kommt vielmehr nur zwei andern Fangweisen zu. Die eine von ihnen ist das Spießen, wobei die Fische in der Nacht durch Fackelschein angelockt werden und für die unzeitige Neugier mit dem kalten Tode zu büßen haben, der sie von der kräftig gezielten Stoßlanze des lauernden Feindes trifft. Doch ist diese Art wenig in Gebrauch; am häufigsten wird der Aal so gefangen. Der eigentlich verbreitete und wahre Sport ist das Angeln, – bei uns kaum bekannt, in England zu einer förmlichen und schwierigen Kunst ausgebildet, deren Uebung nicht Wenige über alle andere Erdenlust setzen. Angeln heißt nicht, sich in wartender Geduld an’s Wasser setzen und den Haken hinein hängen lassen. Will der Sportsman auf Erfolg rechnen, so muß er eine Menge von Kenntnissen und Hantirungen los haben, die nur durch lange Beobachtung und Uebung erlangt werden können. Von den dritthalbhundert Gattungen verschiedener Fische, welche die Flüsse und Seen und Küstengewässer Englands behausen, will fast jeder auf seine eigene Weise gefangen sein, und dem passionirten Angler ist es nicht nur darum zu thun, überhaupt etwas an den Haken zu kriegen, sondern gerade seinen bestimmten Fisch nach Hause zu bringen. Vor allen Dingen geht durch diesen ganzen Sport die Grundclassification von Süß- und Salzwasser-Angeln. Nicht allein, daß in dem verschieden beschaffenen Element anders gebildete Thiere mit andern Gewohnheiten leben, sondern der ganze Apparat und Aufzug ist natürlich ein verschiedener, je nachdem der Angler auf starkem Boot in das schaukelnde Seegewoge hinaussegelt, oder seine Leine in dem stillruhigen Spiegel des Binnensees oder dem sanftgleitenden Fluß auswirft. Ein ganz verschiedenes Fischen ist es mit der Ruthe oder mit der bloßen Leine, mit dem natürlichen Wurm oder dem künstlichen Köder. Und so giebt es tausend Einzelheiten und Unterschiede, welche Angelkunst und Angellust für den Geübten in der That zu einem der abwechselndsten und anziehendsten Zeitvertreibe machen.

Der Fisch aber, welcher von allen so zu sagen als der vornehmste und dessen Fang als der oberste Sport dieser Gattung angesehen wird, ist der Salm, der „König des Baches“, wie ihn pomphaft seine Verehrer nennen. Dieses stattliche Thier erreicht ein Gewicht von 15 bis 20 Pfund, und nicht selten weit mehr, und ist frischgesotten das schmackhafteste Gericht, welches der Engländer einem Gaste vorzusetzen hat. Die Flüsse von Westengland und Wales, vor Allem die schottischen Bergwasser, sind außerordentlich reich an diesem köstlichen Bewohner. Der jährliche Fang in dem Fluß Tay wird allein auf 70,000 angeschlagen, und ganze Schiffsladungen voll, in Eis gepackt, gehen aus den Häfen Schottlands nach der hungrigen Hauptstadt. Gesetze binden die Verfolgung des Salms an gewisse Schranken, um eine Verminderung des dem englischen Gaumen wie dem Angler fast unentbehrlichen Thieres zu verhindern, welche bei der stets wachsenden Nachfrage und dem nie erschlaffenden Sportsinn sonst schnell eintreten müßte. Die eigentliche Zeit, in der dem Salm nachgestellt wird, ist Spätfrühling und Frühsommer. Vom Mai zum August, gleichzeitig mit der Londoner Saison, wüthet der Krieg gegen den friedlichen Fisch. Wenn das Parlament vor der heißen Augustsonne hinwegschmilzt und London nach dem Land auswandert, kommt auch er aus der Saison und erhält seinen Waffenstillstand bis zum kommenden Frühjahr.

Der Sportsman, welcher dem Salm nachgeht, macht sich in der ersten Frühe eines warmen Junimorgens hinaus an den Fluß. Am liebsten hat er die Zeit nach einem lauen Regen, welcher die Fische nach der Oberfläche des Wassers zu ziehen pflegt. Er wählt sich in der Regel am Ufer einen guten Stand, oder rudert auch wohl auf einem Kahn eine kurze Strecke in’s Wasser hinein. Das Geräthe besteht in der gewöhnlichen langen Angelruthe und einer Leine, welche mehrere hundert Ellen mißt, aber zum guten Theil auf eine Rolle gewunden ist. Der Köder ist die sogenannte Fliege, das ist eine aus Zwirn, Draht und andern Ingredienzen nachgebildete Libelle, deren gebogener Leib von festem Eisen selbst den tückischen Haken bildet. Die Fliege ist am Ende der Leine befestigt. Etwa zwei Ellen über ihr ist ein Stück Kork angebracht, das Float genannt, welches auf dem Wasser schwimmt und den schweren Köder nicht tiefer hineinsinken läßt. Der Angler wirft die Leine aus und hält sein Auge unverwandt, oft stundenlang, auf den Kork gerichtet, bis endlich mit einem Nu der ersehnte Moment erscheint und das Float unter Wasser geht. Jetzt beginnt der eigentliche Sport und die wahre Kunst. Das Untersinken des Float ist das untrügliche Zeichen, daß ein Biß geschehen ist, das heißt, daß ein Fisch den Köder geschluckt hat und mit dem Haken im Halse die Leine sammt dem Korke fortzieht. Die nächste Bewegung des Anglers ist ein kurzer Ruck mit der Ruthe: er dient dazu, das Eisen dem Thiere fester in’s Fleisch zu bohren. Dann aber wird die Leine fahren gelassen, und der Fisch wickelt sie im Fortschießen ab. Ist sie zu Ende, so wird sie und an ihr das [235] Opfer herangewunden, aber nur um sogleich auf’s Neue losgelassen zu werden. So tobt sich das arme gefangene Geschöpf in seinem eigenen Elemente aus. Endlich schleudert ein kräftiger Zug des Sportsman den Fisch auf’s Ufer. Er versichert sich seiner durch Hand oder Fuß, und reißt den blutenden Haken mit Gewalt aus Maul und Eingeweide.

Dies ist der glückliche Ausgang. Zuweilen aber hält ein starker Fisch den Angler stundenlang in Schweiß und Arbeit, schießt im Wasser auf und ab und reißt schließlich die Leine entzwei. Das muß dann so gut hingenommen werden, als sich der Aerger über einen mißlungenen Fang verwinden läßt. Wenig hilft dem Sportsman das Bewußtsein, daß sich das verwundete Thier an dem unerbittlichen Haken in seinem Leibe zu Tode rasen muß. Er muß mit leerem Sack und vergebens lecker gemachter Zunge nach Hause ziehen und für diesmal den Sport verwünschen. Denn das Angelvergnügen erreicht seinen Gipfel und Abschluß eigentlich erst, wenn der herrliche Fisch auf silberner Schüssel dampft und der Lust des Fanges die gastronomische Krone aufgesetzt wird. Geduld macht hungrig, und je länger ein armes schuldloses Thier den Feind warten ließ, um so wackerer wird ihm dieser außer dem Eisen auch den Zahn fühlen lassen.

Daß die Lust des Wettstreitens auch zu weit getrieben werden kann, zeigt uns das Beispiel von Angling-Matches, welche von Zeit zu Zeit um goldene Becher, silberne Theekessel und Anderes veranstaltet werden. Hier fehlt in der That das Element für ein gegenseitiges Messen, da das Gewicht des Fisches den Ausschlag giebt. Es erfordert wohl Geschicklichkeit, überhaupt einen Fisch zu fangen; daß aber gerade ein Zwanzigpfünder an meinem und nur ein Fünfzehner an Deinem Strick anbeißt, das ist doch wahrlich nichts, was vernünftiger Weise mir zum Verdienst angerechnet werden kann.

J. Hopf.



Ein Besuch auf Caprera.
Von W. Rüstow.

In den ersten Tagen des Februar ward beschlossen, daß ich nach Caprera gehen solle. Das nächste Schiff der Compagnie Rubattino, welches die Caprera zunächst liegende Insel Maddalena berührte, verließ Freitag den 13. Februar Genua, und am 15. zwischen acht und neun Uhr Morgens ankerten wir nach einer zum Ende stürmischen Fahrt im Hafen von Maddalena. Das Erste, was uns in die Augen fiel, war das große Segelboot Menotti’s, des Sohnes Garibaldi’s, der mit Ricciotti und zwei andern Gefährten, Bedeschini und Pastoris, von Caprera herübergekommen war, um die Sardegna zu erwarten. Menotti kam an Bord und begrüßte uns. Er wollte zuerst die mitgebrachten Waaren ausladen und uns dann nach Caprera hinüberführen.

Wir stiegen an’s Land, mußten zunächst mit der Douane verkehren, die eine unausstehliche Ueberwachung gerade des Verkehrs mit Caprera ausübt, und erlebten, daß Bruzzesi, mein Waffengefährte von 1860, den ich auf dem Schiffe wiedergefunden hatte, nur mit Mühe einen silbernen Ehrenkranz, von Bürgern Leipzigs für Garibaldi als eine Weihnachtsgabe bestimmt, vor der vorgängigen Sendung nach Cagliari – o bureaukratischer Schematismus! – bewahrte und mit einigen Franken statt der anfänglich verlangten achtundvierzig als Zoll auslöste.

Endlich ließ uns Menotti ankündigen, daß er zur Abfahrt bereit sei, aber bei dem stürmischen Wetter nur Bruzzesi und mich mitnehmen könne. Kurz nach zwölf Uhr schifften wir uns ein und nach anderthalbstündiger Fahrt legten wir das Boot zwischen den Klippen angesichts des Palastes von Caprera fest und schifften uns aus.

Ich eilte mit Bruzzesi den Strand hinauf, die Windmühle vor dem Hause und das steinerne Haus selbst betrachtend mit seinem nördlichen älteren und dem ganz neuen südwärts daran gebauten etwas höheren Theile. Der Theil der Insel, welcher Garibaldi gehört, ist mit Allem, was darum und daran hängt, so vielfach geschildert, daß ich mich auf eine förmliche Beschreibung nicht einzulassen brauche; wir werden indessen diese Räume allmählich durchwandern, wie ich sie als Hausgenosse nach und nach durchwandert habe. Wir betraten durch die vordere Thüre jenen Raum des älteren Steingebäudes, welcher früherhin als Salon diente; von dort gingen wir durch die Küche in den hinteren Hausflur und drangen ungemeldet durch die Thüre rechter Hand, – gegenüber dem gegenwärtigen Salon zur Linken, – in das Heiligthum des geliebten Kranken ein. Er zog mich sogleich zu sich nieder und küßte mich ab; ich durfte nicht zweifeln, daß ich ein willkommener Gast sei. Von der Ausrichtung meiner mannigfaltigen Aufträge konnte vorerst nicht die Rede sein. Fragen und Antworten drängten sich. Ich blieb fast eine Stunde mit Garibaldi allein, Bruzzesi ging nur ab und zu.

Statt hier zu versuchen, Alles wiederzugeben, was wir uns erzählten, will ich vor Anderm erzählen, wie ich den General fand. Viel besser, als ich es erwartet, namentlich nach der Photographie, die ihn auf dem Krankenbett darstellt. Das Gesicht war das des Dictators der beiden Sicilien von 1860. Vielleicht hie und da ein graues Haar mehr, aber ich könnte kaum sagen, daß ich eins mehr bemerke. Der Ausdruck des Gesichtes heiter. Er lag auf einem Bett oder einer Art Sopha, welches mit einem verschiebbaren Lesepulte versehen war; über dem rothen Hemde trug er einen Schlafrock nach seiner Façon, einen Poncho aus türkischem Schlafrockzeug von grüner Grundfarbe, eine fezartige niedrige Mütze auf dem Kopf. Das Zimmer ist das gleiche, welches er bewohnt, seit das ältere Steingebäude steht, heiter, nach Süden gelegen. Tische mit Briefen, Büchern, einem Barometer, einem Thermometer u. s. w. stehen zu beiden Seiten des Bettes.

Wir waren nicht lange beisammen, – Bruzzesi war eben anwesend, – als Garibaldi nach Polen fragte: was für Nachrichten ich hätte? was ich von der Sache dächte? wie sich Preußen, wie sich Deutschland dazu verhalten würde?

Wir sind auf diesen Gegenstand während meiner Anwesenheit auf Caprera mindestens fünf Mal zurückgekommen, wie es wohl natürlich ist, bald allein, bald in kleinerer, bald in größerer Gesellschaft. Es würde mir schwer werden, die einzelnen Gespräche völlig auseinander zu halten. Ich gebe daher lieber ihren Inhalt im Allgemeinen an.

Die Tagesblätter, sagte ich, so sehr im Allgemeinen der polnischen Insurrection günstig, seien doch ziemlich einig darin, derselben keinen Erfolg vorauszusagen. – Hier unterbrach mich Garibaldi mit der Bemerkung, daß die Meisten 1860 auch wohl die Landung von Marsala für eine Verrücktheit erklärt hätten, die der Erfolg unmöglich krönen könne.

Indem ich dies zugab, sprach ich die Meinung aus, daß die Tagesblätter bei ihren Voraussagungen sich wohl auf die allgemeine Lage Europa’s stützten, welche einen bedeutenden Einfluß auf die Schicksale dieser Insurrection eines continentalen, überall eingeschlossenen Landes haben müsse. Die Gefahren jedoch, welche ich fürchte, lägen hauptsächlich in den Polen selbst.

Zunächst sei die Insurrection jetzt noch wesentlich eine Insurrection der Verzweiflung und folglich ohne einheitliche Organisation; nach dieser Organisation müsse sie aber streben, um zu triumphiren. In wessen Hände würde nun die Organisation gerathen? Ich fürchte sehr, daß sie wiederum, wie so oft, in die Hände der aristokratisch-clerical-diplomatischen Partei komme, und damit aller Wahrscheinlichkeit nach in die entschiedenste Abhängigkeit von Napoleon. Ein solches Ergebniß werde aber die nothwendige Folge haben, daß die Sympathien der Völker für die Sache Polens sich merklich abkühlten. Was ich aber noch mehr fürchte, sei die falsche Anwendung des Nationalitätsprincips, welche die Polen würden machen wollen, vielleicht noch ehe sie irgend welche sicheren Erfolge errungen hätten. Die „alten Grenzen“ seien ein Stichwort der Polen. Diese alten Grenzen z. B. gegen Deutschland herzustellen, sei aber eine reine Unmöglichkeit. Abgesehen davon, daß das Nationalitätsprincip gewiß nicht das Höchste sei, daß die Civilisation ihre Vorrechte habe, das Princip der Freiheit aber, in dem alle Völker sich begegnen könnten, über ihm stehe, werde auch selbst das Nationalitätsprincip dadurch verletzt, wenn man mathematische Grenzen, die vor hundert Jahren bestanden hätten, wie sie damals [236] bestanden, zurückfordern wolle, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, daß die Culturgrenzen, die wirklichen Nationalitätsgrenzen sich ganz und gar geändert hätten. Auf solchem Boden könne keine Revolution von heute als berechtigt erscheinen. Denn in Wahrheit sei sie bloße Reaction. Wenn die alten Grenzen Polens, wie sie vor der ersten Theilung – und es giebt nicht wenige Polen, die noch weiter zurückgehen, – hergestellt werden sollten, so würden von Deutschland Landstriche gewaltiger Ausdehnung abgetrennt werden müssen, in denen alle Civilisation bis in’s Innerste hinein eine rein deutsche sei. Eine solche Forderung also müsse das deutsche Volk wenn nicht gegen die polnische Insurrection einnehmen, wenigstens lau für dieselbe machen, nicht etwa weil das deutsche Volk einer schlecht angebrachten Berufung auf frühere überwundene Zustände eine ebensolche Berufung auf alten Actenstaub entgegenstellen wolle, was sie wohl könne, sondern weil die Forderung eine widernatürliche, allen gegebenen Bedingungen widersprechende, eine freiheitsfeindliche sei. Das deutsche Volk werde nicht im geringsten gegen eine Grenzregulirung auf billigen Grundlagen gegen Polen etwas einzuwenden haben. Aber z. B. ehe sich der Charakter, die Tendenz der polnischen Insurrection ausgesprochen hat, den Polen Alles anbieten, was ihre ausgelassensten Kehlen verlangen, etwa auf die Gefahr hin, an seinen östlichen Grenzen nur ein neues Filial des kaiserlichen Frankreich entstehen zu sehen, das widerspreche den Forderungen der Vernunft, sei entgegen allen wirklichen Interessen der Freiheit und der Civilisation. Ganz Aehnliches, wie von dem Verhältnis der Polen zu dem deutschen Volke, lasse sich von dem Verhältniß der Polen zu dem russischen Volke sagen, welches letztere vortrefflich sei und durchaus keinen Unterschied seiner eigenen und der polnischen Interessen in der Einigung auf dem Boden der Freiheit anerkenne.

Garibaldi sagte hierauf, daß ich ihm aus der Seele spreche, daß ja wirklich die Interessen der Völker dieselben seien, daß in der That die Völker, welche sich erhöben, sich am meisten davor hüten müßten, dieselben Zankäpfel, wie der alte Monarchismus, zwischen sich zu werfen. Er versprach mir, bei der ersten Gelegenheit, die sich ihm dazu bieten würde, den Polen gerade diese Worte der Liebe zuzurufen, Ermahnungen, die Völker der Nachbarländer als die Freunde zu erkennen, welche sie seien.

„Und was wird Preußen thun?“ fragte er jetzt.

„In Preußen,“ erwiderte ich darauf, „muß man noch mehr, als anderswo, Regierung und Volk unterscheiden. Das preußische Volk ist in der Arbeit begriffen, seine innere Freiheit herzustellen und zu befestigen. Bei der großen Intelligenz, die in ihm alle Schichten durchdringt, und bei dem Wege, den die Regierung eingeschlagen hat, sieht es aber, daß es den größten Theil der Arbeit dem Ministerium überlassen kann. Es steht auf der Lauer und betrachtet, wie dieses sich in eine unvernünftige Verwickelung nach der andern stürzt und so eifrig daran arbeitet, sich völlig unmöglich zu machen. Die preußische Presse wird sich, einige wenige Reactionsblätter ausgenommen, mit der größten Entschiedenheit gegen eine Betheiligung Preußens an der Unterdrückung Polens aussprechen,[2] das Ministerium wird auch das letzte Stückchen Grund, welchen es noch im Volke haben mochte, unter den Füßen verlieren. Eine große Zahl von Truppen auf längere Zeit mobil zu erhalten, ist aber bei den Opfern, die zu Gunsten der neuen Militärorganisation erforderlich werden, ohne Steuererhöhung oder Anleihe unmöglich. Die Deputirtenkammer wird aber zu diesem Zwecke eine Steuererhebung oder eine Anleihe nicht votiren; dessen bin ich sicher. Dann steht das Ministerium an dem Abgrunde, den es sich gegraben. Eine Anleihe negociirt ihm kein Banquier ohne das Votum der Kammer; eine Steuererhöhung kann es mit offenem Bruch der Verfassung selbst anordnen. Nun ist aber die bisher noch vorgehaltene Maske ganz gefallen. Und wozu dann diese finanziellen Schwierigkeiten führen, das werden wir sehen. Ich hoffe für Deutschland und für ganz Europa von ihnen das Beste.“

Garibaldi, der diese Verhältnisse wenig kannte, wie sie überhaupt in Italien wenig bekannt sind, begriff sie doch sogleich. Indessen fragte er mich, ob es nicht wenigstens möglich sei, aus Preußen Waffen und Leute nach Polen hinüberzuschaffen, um die Insurrection zu stärken. Ich erwiderte, daß dies, wenn auch schwierig, doch nicht unmöglich sei, ob und in welchem Umfange es aber geschehen werde, das werde wieder wesentlich davon abhängen, wie sich die Polen zu dem deutschen Volke stellten. Das deutsche Volk denke im Ganzen zu groß, um sich dadurch feindlich gegen die Freiheitsbestrebungen der Polen stimmen zu lassen, aber lau werden müßte es immerhin, wenn die Polen die große wirklich bestehende Differenz zwischen dem deutschen Volke und den deutschen Regierungen nicht zu würdigen wüßten oder sie nicht würdigen wollten.

Füge ich noch hinzu, daß wir auch über das Verhältniß Ungarns zu Polen redeten, so wird das Vorhergehende etwa den Inhalt unserer Gespräche über die polnische Sache zusammenfassen.

Unser erstes Gespräch ward vorläufig dadurch unterbrochen, daß ich zum Essen abgerufen wurde. Die Tagesordnung auf Caprera ist in Bezug auf Essen und Trinken diese, daß Morgens zwischen 7 oder 8 Uhr jeder nach dem Verhältnisse, wie er gerade aufsteht oder Lust hat, in den Salon hinabsteigt, um seinen Kaffee zu trinken; um 12 oder 1 Uhr vereinigt die Hauptmahlzeit Alle, die sich eben im Palazzo Garibaldi befinden – heute war diese Hauptmahlzeit verspätet worden –; Abends um 7 Uhr wird in derselben Weise die Abendmahlzeit eingenommen. Garibaldi erscheint gegenwärtig nicht bei den Mahlzeiten im Salon, sondern er ißt auf seinem Ruhebette. Beim Essen geht es lebhaft und munter zu; an Provisionen aller Art fehlt es nicht, einige Gemüse liefert bereits der Anbau Capreras, die Hauptrolle spielt die Jagdbeute aus dem nahen Sardinien; dann kommen zahlreiche Sendungen von Früchten, Eingemachtem, gutem Wein von Freunden auf dem Continent. An baarem Gelde allein fehlt es dabei fast ganz, aber Niemand vermißt es; man fühlt sich dort in dem glücklichen Zustande des Naturmenschen. Gar manche Summe, die nach Caprera kommt, erscheint dort nur, um die Insel zu guten Zwecken alsbald wieder zu verlassen. Zweihundert Franken, die ich seitens einer befreundeten Dame für die Verwundeten und Gefangenen von Aspromonte, insbesondere für die unglücklichen Deserteurs von der regulären Armee mitgebracht hatte, wanderten augenblicklich ihrer Bestimmung zu.

Garibaldi hatte mich aufgefordert, sein Haus als das meine zu betrachten, und Pietro angewiesen, mir und Bruzzesi ein Zimmer zu geben. Dies bezogen wir nach dem Essen im obern Stockwerke des Doppelgebäudes. Zunächst hatte ich dann mit Albanese, dem gegenwärtig allein noch bei Garibaldi weilenden Arzte, zu verkehren. Er wohnte mir gegenüber, aber um zu ihm zu gelangen, mußte ich ein anderes Zimmer durchschreiten, in welchem sich außer sonstigen Dingen auch Spuren zeigten, daß hier das Schneiderhandwerk betrieben werde. Es war das Zimmer Fasoli’s, eines jungen Calabresen, der schon 1860 mit uns war, sich 1862 wieder zu Garibaldi gesellte und jetzt mit diesem auf Caprera lebt. Auf dem Collegium (Gymnasium) von Catanzaro, seiner Vaterstadt, hatte er, wie es auf den neapolitanischen Gymnasien Sitte war, ein Handwerk und zwar schneidern gelernt, die Gefangenschaft in Varignano hatte ihm von Neuem Zeit und vielfache Veranlassung gegeben, seine Kunst zu üben. Jetzt nannte er sich mit Stolz den Schneider von Caprera. Da er mir entdeckte, daß er Mangel an rothen Hemden leide, war ich so glücklich, ihm eines, welches ich zuviel hatte, sogleich zurücklassen zu können. Der Flanell zu diesem Hemde war aus Berlin!

An Albanese richtete ich meine Aufträge aus und sprach mit ihm über den Gesundheitszustand Garibaldis. Meine Hoffnungen, daß der General nach seinem Aussehen, wie ich es über alle meine Erwartungen vortrefflich gefunden, bald wieder werde zu Pferde steigen können, spannte Albanese etwas herab. Wenn auch sicher, sagte mir Albanese, schritte doch die Heilung unseres Kranken nur langsam fort, hauptsächlich wohl in Folge der rheumatischen Affectionen, an denen er leide; noch immer kämen Knochensplitter aus der Wunde. In der That ward noch am 16. Februar Morgens wieder einer herausgeholt.

Nachdem ich meinen kleinen Handkoffer geöffnet, begab ich mich wieder zu Garibaldi, um ihm nun die mir mitgegebenen Briefe zu überreichen und sonstige Geschäftsangelegenheiten zu erledigen. Der General gab mir die Schriftstücke, welche den Ehrenkranz der Leipziger begleiteten, und bat mich, ihm dieselben zu übersetzen, was ich sogleich mündlich that und später auch noch schriftlich. Der General bedauerte bei dieser Gelegenheit sehr, daß er nicht deutsch verstehe und daß auch jetzt Niemand auf der Insel sei, der es verstehe. Alle deutschen Briefe müßten, wenn nicht ein so glücklicher [237] Zufall, wie jener, der mich hergeführt, eintrete, nach Genua gesendet werden, wo eine deutsche Dame die Gefälligkeit habe, sie zu übersetzen. Er müsse jetzt den Leipzigern antworten; ob sie italienisch verständen, wisse er nicht, französisch möge er nicht gern antworten. Er werde mir daher eine Antwort italienisch dictiren, und ich solle sie deutsch niederschreiben. So geschah es. Die Antwort habe ich mit nach Florenz genommen und von dort sogleich an Dr. Joseph nach Leipzig abgesendet. Garibaldi sagte, Ricciotti müsse durchaus deutsch lernen, da er schon englisch verstehe, werde es ihm nicht zu schwer werden.

Garibaldi’s Krankenlager auf der Insel Caprera.
Nach einer Original-Photographie mit Garibaldis eigener Unterschrift.

Nachdem ich längere Zeit über verschiedene Angelegenheiten verhandelt, sagte der General, er müsse mir nun auch zeigen, wie er gehe. Ich half ihm aufstehen, gab ihm seine Krücken, und er humpelte vor mir her, durch mehrere Zimmer und in die Küche. Die Sache ging zur Zufriedenheit. Mit der Sardegna war auch ein Paar neuer Krücken angekommen. Bei der Probe, die am 16. mit ihnen vorgenommen wurde, ereignete sich leider der Unfall, daß der General hinfiel, glücklicherweise ohne sich Schaden zu thun; die neuen Krücken erwiesen sich als zu lang, und es mußte vorläufig auf die alten zurückgegangen werden.

Man gab mir noch ein paar deutsche Briefe, die ich übersetzen oder deren Inhalt ich angeben sollte. In dem einen verlangte ein junger Mann aus Hamburg, gestützt auf die edlen Gesinnungen und Thaten des „Herrn Garibaldi“, irgend eine Beschäftigung von diesem, da ihm in der letzten Zeit Alles schief gegangen sei. In dem andern versicherte ein Wiener Doctor, daß er im Besitz eines ganz unfehlbaren Mittels sei, alle Gicht zu curiren. Erst nachdem ihm 600 Curen gelungen, wage er es, dem Helden Italiens seine Dienste anzubieten. Die sämmtlichen Aerzte Garibaldi’s sollten etwa 50 Gichtkranke versammeln, die Heilung vorbereiten, er werde sie vollenden. Das Resultat solle dann vor den Augen des erstaunten Europa enthüllt werden; das Geheimniß aber, welches die österreichische Regierung dem Erfinder gegenwärtig abzudringen suche – nicht. Um schnellste Antwort ward ersucht, weil der Erfinder jetzt noch am besten abkommen könne.

Soviel ich weiß, hat man meinen Rath befolgt, diese beiden Schreiben ohne Antwort zu lassen. In dem Antworten – zum Theil auf blühenden Unsinn – ist Garibaldi viel zu gutmüthig. Mögen die Andern machen, was sie wollen, aber in Deutschland sollte Jedermann darauf hinarbeiten, Garibaldi von den Zudringlichkeiten deutscher Abenteurer aller Art frei zu halten, welche dem deutschen Namen keine Ehre bringen können.

Als am Abend das Wetter ein wenig besser geworden war, besah ich mir den nördlichen Theil der Insel und pflückte einige Blumen und Blätter als ein Andenken, mit welchem ich später vielleicht Freunden eine Freude machen kann.

Am andern Morgen (16. Februar) war ich eben beim Frühstück und in lebendiger Unterhaltung mit den übrigen anwesenden Insulanern, als der General herein gehumpelt kam und sich bei uns niederließ. Bruzzesi und ich lasen die verschiedenen neuesten telegraphischen Depeschen von einiger Bedeutung vor, welche wir fanden, insbesondere diejenigen, welche über Polen etwas sagten. Nachher ward der Katalog der letzten Londoner Weltausstellung hervorgeholt, in welchem der General die Ackerbaumaschinen suchte, mit besonderer Rücksicht auf diejenige, welche auf der Sardegna für ihn angekommen war. Ricciotti, der Mechaniker und Wegbaumeister der Insel, mußte über die vorgefundenen Zeichnungen Aufklärungen geben.

[238] Nachdem ich Garibaldi auf sein Zimmer gebracht, holte ich ihm verschiedene Sachen zum Vorlesen herunter. Zuerst die Antwort an die Leipziger, die er, sowie verschiedene zu Andenken an Freunde bestimmte Photographien, unterschrieb. Nachher las ich ihm eine wörtliche prosaische Uebersetzung des Aspromontegedichtes von Georg Herwegh vor, die ich selbst angefertigt; eine italienische Uebersetzung in Versen hatte ich noch nicht erlangen können. Garibaldi bedauerte, nach meiner schlechten Version die dichterischen Schönheiten des Originales nicht vollständig genießen zu können. Ganz außerordentlich aber sprach ihn die Einleitung zu der bei F. Streit in Coburg erschienenen Uebersetzung der „Stimme aus dem Gefängnisse“ an. Bei deren Vorlesung unterbrach mich Garibaldi mehrere Male durch lebhafte Bravos.

Nach dem Essen machte ich zuerst unter Führung Fruscianti’s einen Besuch in dem Stallgebäude, welches das Oratorium genannt wird. Auf der Nordgrenze des Hofraums, dessen ganze Westseite das Hauptgebäude einnimmt, liegt außer dem Stalle, zwischen ihm und dem Wohngebäude, ein kleines eisernes Haus, aus England gesendet, in welchem jetzt Bassi sein Bureau und seine Wohnung aufgeschlagen hat. Dieses eiserne Haus war der nächste Vorläufer des älteren Steinhauses, aber schon der dritte Bau auf dem Gebiete Garibaldi’s; voraus ging ihm ein kleines hölzernes Haus, welches auf der Südgrenze des Hofraumes noch steht, durch den Garten und ein Stück Hof von dem großen Wohngebäude getrennt. An derselben Stelle stand vor diesem Holzbau der erste Bau des garibaldischen Caprera, ein Zelt. Den östlichen Abschluß des Hofes, parallel dem Wohngebäude, bilden wieder Mauern und Zäune.

Nach meinem Besuche im Oratorium verließ ich mit Bruzzesi, Albanese und Fasoli, sowie einem der Jagdhunde den Hof durch das südliche Thor zwischen dem Garten und dem Holzhause, um einen weiteren Spaziergang durch die Insel anzutreten.

Wir kamen zuerst auf die Wiese, welche südlich an den Hofraum anstößt und auf welcher die beiden gegenwärtig allein auf der Insel befindlichen Pferde sich vergnügten, die Marsala, welche der General bei Calatasimi ritt, und deren Sproß, das Füllen Caprera, auf der Insel selbst geboren, ein allerliebstes Thier, welches sofort eine intime Bekanntschaft mit mir schloß, mich küßte und mir, als wir weitergingen, folgte, um mir den Hut vom Kopf zu stoßen.

Als wir ostwärts zwischen den Büschen die nächste Felsrippe überstiegen hatten, bemerkten wir die von einigen Rübenfeldern eingefaßte Hütte eines der Einwohner Capreras, welche vor der Ansiedelung des Generals sich dort niedergelassen, Ferracciuolo; die Signora Ferracciuolo war beschäftigt Wasser zu schöpfen.

Die Passage der Hütte Ferracciuolo’s gab Veranlassung zur Entwicklung der Bevölkerungsstatistik von Caprera, von welcher ich das Wesentlichste erfuhr. Außer Garibaldi und den Seinen und den Ferracciuolo bewohnen Caprera noch drei Familien oder einzelne Männer, die Familie Sonza, der Isolano und il Pastore, der Hirt einer englischen Dame, welche früherhin den größten Theil Capreras besaß und von der auch Garibaldi seinen Theil erworben hat. Die Dame wohnt gegenwärtig Caprera gegenüber auf Maddalena. Der älteste Bewohner der Insel zählt 98 Jahre; gestorben ist, soviel man weiß, auf der Insel noch kein Mensch.

Als wir zurückkehrten, fanden wir einen Maler, Stefani, und eine von den Mailänder Damen für den General bestimmte Haushälterin vor, welche auf der Sardegna gestern mit uns angekommen und nun bei dem ruhiger gewordenen Wetter von Maddalena herüber gefahren waren. Herr Stefani, von einem Engländer mit der Aufnahme verschiedener Ansichten der Insel beauftragt, suchte sich sofort Aussichten und Standpunkte, und auch die Haushälterin war schon bei ihrem Werke. Sie kramte in den Wäscheschränken. Die Bewohner des Palazzo Garibaldi schienen mir von dem vermutheten Wirken der Haushälterin nicht besonders erbaut. Die Betten, meinten sie, machten sie sich selber, ebenso könnten sie die Wäsche besorgen; wenn etwas zu flicken wäre, so sei Fasoli da, und zu plätten gäbe es nichts. Wozu also diese Unruhe in’s Haus bringen? – Die Glücklichen!

Wir mochten unsern Spaziergang durch die Insel um halb zwei Uhr angetreten haben, und bald nach vier Uhr waren wir zurück. Da erst um sechs Uhr das Essen zu erwarten war, ermunterte ich Fasoli, mich noch auf einem kleinen Spaziergange an die Küste zu begleiten. Wir folgten der großen „Fahrstraße“, welche vom Palazzo Garibaldi in nördlicher Richtung an die Küste führt und zwar zu dem sogenannten Hafen, einer Bucht, welche die Verlängerung einer Schlucht ist, in der ein Gebirgswasser – wenn es Regen giebt, hinabfließt. Seitwärts der Fahrstraße liegen einige Stücke Land, welche der General eingehegt und in Cultur genommen hat. Am Wege steht eine Doppelreihe junger Cypressen, welche Garibaldi hier angepflanzt. Am Hafen steht ein kleines Gebäude, welches das Seearsenal der Insel bildet und zur Aufbewahrung des Segelwerks und der sonstigen Ausrüstung der verschiedenen Boote und Barken dient, aus denen die Flotte von Caprera besteht. Ich zählte deren augenblicklich vier, unter denen sich das große und vortreffliche Boot Menotti’s auszeichnet.

Am 17. Morgens eröffneten wir nach dem Kaffee trinken unsern Tag mit Ackerbauarbeiten. Ich machte mich mit Fasoli und Bruzzesi an das Umhacken des Gartens, die Andern, außer Fruscianti, der im Seearsenal zu thun hatte, und Bassi, der mit der Abfassung zum großen Theil für mich bestimmter Depeschen beschäftigt war, zogen auf eines der Feldstücke gegen die Nordküste hin, um dort dieselbe Arbeit vorzunehmen, welche wir im Garten betrieben. Herr Stefani zeichnete. Ich machte zwischendurch noch einen Spaziergang an den Strand. Am Mittag setzten wir unsere Arbeiten fort, diesmal im Beisein des Generals, der sich draußen in den freundlichen und warmen Sonnenschein setzte, in Gesellschaft des arbeitsunfähigen Sgranalini, der nun auch herübergekommen war. Unter Andern verpflanzten wir heute, an der Fastnacht, einen Mandarinen- und einen Orangenbaum aus den Töpfen, in denen sie bisher gestanden, in den Garten; für den ersteren bereitete ich die Erde nach der Art zu, wie man den Plackboden bereitet. Garibaldi machte mir über meine agronomische Thätigkeit Complimente.

Bei dieser Gelegenheit muß ich bemerken, daß er über die Wetter- und Temperaturverhältnisse der Insel Buch führt. Aus seinen Aufzeichnungen ergab sich, daß die Nacht vom 16. auf den 17. Februar im bisherigen Verlauf des Jahres 1863 die kälteste gewesen war. Das Thermometer hatte + 10 Grad Celsius gezeigt.

Am Nachmittage stattete Capitain Cuneo, ein Freund Garibaldi’s, ihm einen Besuch ab und lud ganz Caprera zu einer Fastnachtssoirée ein. Da das Wetter viel ruhiger geworden war, so stand zu erwarten, daß die Sardegna am Mittwoch Morgen von Porto Torres zurückkehren werde, und da ich keine Zeit zu verlieren hatte, so ward beschlossen, daß ich noch diesen Abend nach Maddalena hinübergehen sollte. Ich packte demnach meine kleine Bagage zusammen, empfing meine verschiedenen Aufträge von allen Seiten und nahm herzlichen Abschied vom General. Dann schiffte ich mich mit Menotti, Bedeschini und Pastoris nach Maddalena ein, und so war mein Besuch auf Caprera beendet.




Die Uhr von Goethe.

Ein halbes Jahrhundert war verflossen, seitdem Wolfgang Goethe in Weimar wohnte, wohin Karl August ihn 1775 aus Frankfurt entführt hatte. Das glücklichste Leben eines Weisen und Dichters neigte sich bereits seinem Untergange zu, in ruhiger Pracht, wie die Sonne am reinen Horizont niedersinkt. Fünfzig Jahre waren es her, daß die Dichtungen des „Götz von Berlichingen“ und des Werther die Stirn des deutschen Apoll mit Lorbeeren bekränzt hatten, die in unvergänglicher Frische erhalten und mit zahlreichen neuen Blättern vermehrt waren. So lange der brave thüringische Herzog sein kleines, liebliches Land beherrschte, so lange war sein Freund, mit dem er als Jüngling getollt und gereist und mit dem er als Mann gedacht und regiert, der unbestrittene Gebieter der mit ihm erstandenen glänzenden Republik der deutschen Literatur. Goethe, im weimar’schen Ländchen als der mächtigste Herr außer dem geborenen Fürsten betrachtet, war in ganz Deutschland und weit darüber hinaus als der vornehmste und erste der

[239] Geister anerkannt, und unaufhörlich ging die Wallfahrt der Großen von Geist wie von Geburt nach der ruhmvollen Dichterstätte an der Ilm, um neidlos seinem reinen Ruhm zu huldigen. Fast war es ein ernster Cultus der Vergötterung, der Goethe in seinem letzten Jahrzehnt zu Theil ward und der noch lange über seinen Tod hinaus erhalten wurde.

Karl August’s fünfzigjährige Regierung war eben erst glänzend und herzlich vom weimar’schen Volke gefeiert worden, als sich die Elite der Dichterstadt und des deutschen Landes anschickte, Goethe’s goldenen Jubeltag als Dichterfürst und Dioskur des Großherzogs von Weimar zu feiern. Am 7. November 1825 waren es fünfzig Jahr, daß Goethe in jugendlicher Kraft und geschmückt mit den ersten Kränzen dichterischen Ruhmes in Weimar eingetroffen; an diesem Tage sollte die Jubelfeier stattfinden.

Der Großherzog Georg Friedrich von Mecklenburg-Strelitz war einer der eifrigsten unter den deutschen Fürsten, seine Verehrung für Goethe an diesem Festtage in sinniger Weise an den Tag zu legen. Er gehörte noch zu dem Geschlecht der aufgeklärten Despoten, welches gewissermaßen die letzte Blüte des dem Tode verfallenen fürstlichen Absolutismus in Deutschland bildete und instinctartig bedacht war, die Interessen des Staats von den persönlichen ihrer Herrscher zu emancipiren. Gegenüber der frivolen Gesinnung Ludwig’s XIV. und der ihm nachäffenden kleinen Tyrannen von Deutschland im vorigen Jahrhundert: l’état c’est moi! proclamirte dies Geschlecht den Grundsatz, daß der Fürst der erste Diener des Staates sei. Georg Friedrich hat seinem Lande mit diesem Grundsatz viel Wohlthaten erwiesen; er kümmerte sich nicht um den Groll seiner Ritter und hob bald nach seinem Regierungsantritte 1816 die noch bestehende Leibeigenschaft auf. Des Volkes Bildung lag ihm ernstlich am Herzen, und die Schulen und Lehrinstitute, die er stiftete, zeugen genugsam davon. Ein braver Herr, der mit Recht als ein Landesvater galt und dem man es nicht nachtragen konnte, daß er als siebzigjähriger Greis sich nicht gut in die neue Zeit von 1848 finden konnte, war er ein Freund der Literatur und der Kunst und liebte es, sich auch als solchen zu zeigen. Er starb fast achtzigjährig erst 1860, geehrt als einer der besten der alten Patriarchenfürsten unter den gekrönten Häuptern Europas.

In aufrichtiger Verehrung für Goethe sann Georg Friedrich vergeblich darüber nach, wie er dieselbe an dem goldenen Jubeltage bezeigen könne. Er war nicht von den Fürsten, die da meinen, mit einem Orden tue er schon einem solchen Manne gegenüber das Möglichste; er begriff die Wahrheit, die Bürger ausgesprochen:

... edel sind der Götter Söhne schon,
Die muß kein Fürst erst adeln wollen.

Und einem Dichterkönig wie Goethe gegenüber, wie winzig und sinnlos war da nicht als Zeichen der Verehrung das Spielzeug eines Ordens!

Der Großherzog fand endlich den Weg, um das zu erreichen, woran ihm lag: ein würdiges Geschenk für den Jubeldichter. Die Mutter Goethe’s, die herrliche „Frau Rath“ von der ihr Sohn die Frohnatur und die „Lust zu fabuliren“ geerbt, war schon 1808 gestorben; der Vater gar schon 1782. Die Wirthschaft der Eltern hatte längst ihre Auflösung erhalten; diese und jene Freunde in Frankfurt besaßen etwas davon; das Meiste war verkauft worden, längst in anderen Besitz gekommen. Georg von Mecklenburg empfahl nun seinem Geschäftsträger in Frankfurt am Main dringend an, irgend ein Stück von der Wirthschaft des Goethe’schen Hauses wieder zu erwerben, womöglich geeignet, in dem greisen Dichter eine recht lebhafte Erinnerung an seine schöne Jugendzeit zu erwecken. Es war nicht leicht für den Geschäftsträger, diesem Wunsche zu entsprechen. Was sich fand und echt war, konnte selten als ein für Goethe besonders interessanter Gegenstand angesehen werden, war kaum in eine Beziehung zu seinem Kindesleben im Elternhause zu setzen. Doch die ernstlich betriebene Nachforschung lohnte sich zuletzt in besserer Weise, als man hoffen konnte, nachdem die Wirthschaft seit siebzehn Jahren auseinander gerissen war. Man fand die große, alte Schlaguhr mit dem stattlichen Gehäuse, die in der Familienstube des Ratsherrn Goethe zu Frankfurt gestanden hatte. Welcher Gegenstand konnte wohl geeigneter sein, auf Goethe den beabsichtigten Eindruck hervorzubringen, als diese tagtägliche Mahnerin seiner Jugend, diese Gebieterin des pedantisch geordneten Hauswesens der Eltern, nach deren Fingerzeig und ewig gleichmäßigem gravitätischem Stundenschlag Alles geregelt war?

Der Großherzog war höchst erfreut über diesen Fund. Kurz vor dem Jubeltage sandte er die Uhr nach Weimar an den Kanzler von Müller, den kunstsinnigen Freund Goethe’s, der zu den Wenigen gehörte, mit denen er bei der strengen Zurückgezogenheit in seinem Hause am Frauenplan in fast täglichem Verkehr stand, und der das Arrangement für die Jubelfeier in die Hand genommen hatte. Es bedurfte nur der brieflichen Mittheilung des Großherzogs über die Absicht, welche er mit jenem Geschenk verbinde, um Friedrich von Müller den Werth des letzteren kennen zu lehren und für eine sinnige Ueberraschung damit am Festtage zu sorgen. Der Großherzog hatte die Bitte ausgesprochen, die Uhr derart aufzustellen, daß ihr Schlag zu gewohnter Stunde womöglich den greisen Dichterfürsten erwecke.

Abends vor dem Jubeltage ward nun die Uhr, ohne daß Goethe es ahnte, in sein Haus gebracht. Während er schlief in jenem kleinen, schmalen Zimmer neben dem einfachen Arbeitscabinet, stellte der treue Diener Friedrich sie an die schmale Fensterwand des kleinen Vorzimmers, wo in Schränken die mineralogischen Sammlungen sich befinden. Um fünf Uhr des Morgens pflegte Goethe regelmäßig zu erwachen; auf ein paar Minuten vor fünf wurden die Zeiger der ehrwürdigen Uhr gestellt. Im richtigen Augenblick, am andern Morgen, sollte der Diener den Pendel in Bewegung setzen.

Goethe lag in ruhigem Schlummer, vielleicht umschwebt von Träumen der Erinnerungen an sein langes, schönes Leben. Plötzlich hebt im Vorzimmer schnarrend die Uhr aus, und durch die tiefe Stille tönt ein sonorer, lang aussummender Schlag. Der Dichter horcht, noch im Schlafe, auf. Träumt er, daß er im Elternhause sei und die alte Uhr wieder vernehme, ihren Stundenschlag, der ihn in erster Jugendliebe zu Gretchen getrieben und später zu Lili? - Wieder klingt der Ton an sein Ohr. Nein, das ist kein Traum! Goethe hebt sich hoch auf in seinen Kissen; er fühlt, daß er wacht. Ein dritter Schlag folgt, ein vierter, ein fünfter. Der Dichter läßt ihn verklingen; ein Wonnegefühl preßt ihm das Herz zusammen, und er lauscht begierig dem Auszittern der Tonwelle, bis sie stirbt. Dann zieht er die Klingel an seinem Bett, und als der wartende Diener hereintritt, ruft er ihm wie jubelnd zu:

„Friedrich! Friedrich! Was war denn das? Ich hörte eben die Uhr aus meinem Elternhause schlagen.“

Der Diener nickte lächelnd mit seinem Haupt und wies mit der Hand nach dem Vorzimmer.

„Diese Uhr steht da, Excellenz!“ sagte er mit vor Freude zitternder Stimme.

Mit einem Sprung war der rüstige Greis aus dem Bett, und kaum mit dem Nöthigsten bekleidet, eilte er nach dem Vorzimmer, in dem er, von ein paar Lichtern erhellt, die Uhr aus dem Elternhause am Hirschgraben in Frankfurt erblickte. Ein paar Thränen der Rührung traten in seine großen blauen Augen; lange stand er vor der Uhr und horchte auf ihr gravitätisches Tiktak, auf diesen Herzschlag der elterlichen Wohnung. Eine Fluth von Erinnerungen durchströmte seine Brust; eine Seligkeit kam über ihn, die keine Worte fand. Es erstand vor seinen Augen das Bild des gestrengen Vaters, der schönen, herzigen Mutter, der geliebten, nun auch längst gestorbenen Schwester Cornelia; er sah in Gedanken die Uhr an ihrem alten Platze in der Familienstube, daneben den großen, schweren Sorgenstuhl, den der Vater zuweilen Abends einnahm, in dem er manches Mal gesessen und das Haupt geschüttelt, wenn sein Sohn ihm von dem Universitätsleben in Leipzig und Straßburg mit übermüthigem Frohsinn erzählte, und die Mutter währenddeß am großen Eßtisch in der Mitte des Zimmers ihrem Platz hatte, mit einer Handarbeit beschäftigt und stolz lächelnd ihren Wolfgang von der Seite betrachtend. Wenn dann diese selbe Uhr mit diesem selben Schlag die Stunde anzeigte, in der pünktlich die Betten aufgesucht wurden, stieg Goethe nach seiner Dachstube hinauf und wartete gewöhnlich ab, bis die Alten zur Ruhe gegangen waren. Dann schlich er leise die Treppe wieder hinab, öffnete das Hausthor, und nun ging’s fort zu den lustigen Genossen, um mit ihnen den Abend und die halbe Nacht zu verjubeln. Ein Bild dieser Erinnerungen an die wilde Zeit seiner Jugend reihte sich schnell an das andere; der Greis schwelgte in dieser Fata morgana, bis ein neuer Schlag der Uhr sie wie durch Zauber verscheuchte und ihn an die Wirklichkeit mahnte.

Schon dämmerte der Tag, und wie gewöhnlich öffnete der Dichter die Fenster seines Schlafzimmers. Liebliche Morgenmusik [240] begrüßte ihn aus seinem Garten – die Feier seines goldenen Jubeltages, wie sie vom Großherzog Karl August angeordnet war, hatte damit ihren Anfang genommen. Bald darauf waren alle Wagen der Stadt in Bewegung, alle angesehene Leute auf der Wallfahrt nach des Dichters Hause. Deputation folgte auf Deputation, um ihm Diplome, Medaillen, Ehrengeschenke und dergleichen zu überreichen; der Großherzog und seine Gemahlin besuchten ihn und widmeten ihm eine Stunde; es kamen die Mitglieder der großherzoglichen Familie, die Minister, die höchsten Beamten des Landes, die ersten Damen von Weimar, um der Enthüllung der schönen Büste Goethe’s in seinem eigenen Hause beizuwohnen. Ein großes Festessen im Rathhaussaale fand ihm zu Ehren statt; am Abend wurde seine „Iphigenia“ aufgeführt und der Dichter beim Eintritt in die Loge mit begeistertem Zuruf empfangen. Noch ehe er, kränklich etwas und ermüdet von dem Wirrwarr des Tages, sich zur Ruhe begab, brachte ihm die großherzogliche Capelle eine Abendmusik; die Fenster aller Häuser am Frauenplan waren erleuchtet; in seinen Prunkzimmern feierte ihn eine zahlreiche Gesellschaft. Zahllose und kostbare Geschenke waren in seinem Hause aufgestapelt, aber das theuerste von allen blieb doch die alte Uhr aus seinem Elternhause. Der schöne Tag war reich an Huldigungen und Ueberraschungen, doch die sinnigste unter allen war für ihn die, welche der Großherzog von Mecklenburg-Strelitz ersonnen hatte. Noch als er an jenem Jubeltag in’s Bett ging, sprach er mit Entzücken von der ersten Begrüßung, die ihn erweckte, von jenen fünf Schlägen der Uhr, die ihn in den Garten seiner Jugend, in den Zauberkreis der bunten Erinnerungen seiner Kinderzeit und des elterlichen Hauses versetzt hatten. Er lauschte so lange, bis er diese lieben Töne noch einmal hörte; dann schloß er die Augen und mit dem Gedanken an den Herrn Vater und sein herziges Mütterlein schlief er ein.

Schmidt-Weißenfels.




Blätter und Blüthen.


Der Aufschwung der deutschen Turnerei. Das so eben im Auftrage des Ausschusses der deutschen Turnvereine erschienene „Statistische Jahrbuch der Turnvereine Deutschlands von Georg Hirth“, über dessen Anlage bereits früher in diesem Blatte berichtet worden ist (siehe Gartenlaube Jahrgang 1862, Nummer 49, S. 783), giebt einen neuen Beweis von dem bedeutenden Aufschwunge, den das Turnwesen in Deutschland genommen hat. Die umfangreiche Statistik, die wir als eine gemeinsame wissenschaftliche Leistung der in Einigkeit zusammengehenden Turnvereine zu betrachten haben, zeugt von ernstem Streben, von richtiger Erkenntniß, wie man sie nur von Leuten erwarten kann, die über Umfang und Ziel ihrer Aufgaben vollständig im Klaren sind. Ist es nun im Allgemeinen schon erfreulich, zu sehen, wie ein weit ausgebreitetes vaterländisches Vereinswesen von dem rechten Geiste des Fortschritts getragen wird, so erfreuen nicht minder die Aufschlüsse, welche uns die Statistik selbst gewährt. Es bestanden nämlich (um hier nur der hauptsächlichsten Resultate zu erwähnen) am 1. Juli 1862 in Deutschland 1284 Männerturnvereine in 1153 Ortschaften (883 Städten, 99 Marktflecken und 171 Dörfern). Ihre gesammte Mitgliederzahl betrug 134,507, zu welchen noch 21,463 von den Turnvereinen unterrichtete Schulknaben und 3172 Mädchen kamen; die Zahl der überhaupt in den Schulen Turnenden betrug etwa 200,000. Von den eigentlichen Vereinsmitgliedern waren 57,118 Handwerker, 8984 Hand- und Fabrikarbeiter, 8633 Landwirthe, 30,557 Kaufleute und Buchhändler, 2716 Gelehrte, Advocaten und Aerzte, 3523 Lehrer, 7168 Beamte, 3320 Künstler, 1679 Studenten etc. Die verhältnißmäßig größte Ausbreitung hat das Turnwesen[WS 1] im Königreich Sachsen, wo fast auf jede Quadratmeile ein Turnverein kommt; sodann in Thüringen und am Mittelrhein. Am weitesten zurück stehen Oesterreich und die Provinz Preußen. Die größten Turnvereine sind die von Leipzig, Wien, Hamburg, Nürnberg etc.; in Berlin bestehen ihrer 41, mit zusammen 2808 Mitgliedern. Zu den in 218 Orten bestehenden „Turnerfeuerwehren“ stellen die Vereine 10,855 Mann etc. – Die Statistik giebt nun in umfänglichen Specialberichten und Tabellen Rechenschaft über den Bestand des Vereins- sowohl als des Schulturnwesens in ganz Deutschland, in den verschiedenen Gauen desselben, sowie in den einzelnen Orten, so daß man über alle das Turnwesen berührenden Verhältnisse die genaueste Auskunft erhalten kann. Einige Zugaben – so ein Adreßbuch der deutschen Turnerschaft, Aufsätze über Turngeräthe und Turnhallen, Geschichtskalender – machen das Buch auch in andrer Beziehung werthvoll.

Beachtenswert sind die Worte, mit welchen der Herausgeber seine „Gesammtübersicht“ schließt: „Wie es in Zukunft mit dem Turnen in Deutschland werden wird, ist nicht schwer zu sagen. Die deutschen Regierungen sind sittlich und aus höheren „europäischen Gleichgewichtsrücksichten“ gezwungen, die Sache namentlich beim Militär immer ernster und straffer zu betreiben. Ist aber turnerische Durchbildung, d. h. Fertigkeit in allen männlichen Leibesübungen, ein Haupterforderniß des Soldaten, so muß als unausbleibliche Folge die Gewährung abgekürzter Dienstzeit an alle turnerisch Vorgebildeten eintreten. Dadurch wird von den Staatsbehörden unwillkürlich dem Turnen in den Schulen und in den Turnvereinen die Hand geboten, die das Volk gern annehmen wird. Unterdrückungen, wie im Jahre 1819 in Preußen, wird das Turnen bei seinem gegenwärtigen Umfange nicht wohl mehr zu erleben haben; dagegen liegen Maßregelungen der Turnvereine nicht nur im Bereiche der Möglichkeit, sondern sind sehr wahrscheinlich – hat doch bereits Preußen noch vor ganz kurzer Zeit seine Leistungsfähigkeit in dieser Beziehung bewiesen. Das wird aber die deutsche Turnerschaft nicht irre machen in der Verfolgung ihres Zieles; es wird erreicht, komme es wie es wolle.“




Kleiner Briefkasten.

Herrn N. S., den Verfasser des uns eingesandten Artikels „Meine erste Umsegelung des Cap Matapan. Aus dem Tagebuche eines See-Cadetten“, ersuchen wir, uns zum Behufe einer Zuschrift seine Adresse anzugeben.


C. K. in Kattowitz. Vielleicht finden Sie das, was Sie suchen, in Rumohr’s Geist der Kochkunst, 2. Auflage. Stuttgart 1832.

Hans Angelsen in der schleswigschen Landschaft Angeln. Ihr Gedicht „Die Hermannswache, eine Stimme aus dem verlassenen Bruderstamme“ – können wir zwar nicht ganz mittheilen; aber wir wissen auch, daß eine Strophe desselben und Ihr Begleitungswort genügt, um unseren Lesern diese Stimme lieb und zu einer mahnenden zu machen.

Zwar wild stürmt Nordens Ungewitter
Auf den verlassnen Wächter los,
Bricht seine Zweige frech in Splitter
Und wirft sie an der Erde Schooß;
Doch sinkt gleich seiner Krone Pracht –
Treu hält er fort die schwere Wacht!



Ist, was ich bring’, auch keine Blume,
Gepflückt im Musenheiligthume,
So mag es Gruß und Botschaft sein
Den Brüdern, die uns Liebe weih’n.
Die unserm unverdrossnen Ringen
Das treue Bruderbeileid bringen
Und feuchten Blicks nach Norden schau’n,
Mit uns den Dom der Hoffnung bau’n.
Des deutschen Nordens starker Glaube,
Der wendet sich zur Gartenlaube
Und hofft, daß sie – nicht diese Klage,
Nein, diesen Gruß gen Süden trage.

Möge dieser Gruß unsern Lesern so zu Herzen gehen, daß wir einst denselben mit dem Schlußvers erwidern können:

Ein Morgen folgt auf jede Nacht:
Was Ihr erstrebt, das ist vollbracht!


  1. Mehreren meiner Erzählungen, wie „das Wichtel“ – „der Holzgraf“ – „die Huberbäurin“ – „das Schwalberl“ etc. ist bisher die Auszeichnung geworden, für die Bühne bearbeitet zu werden. Ich verkenne keineswegs das Schmeichelhafte, was hierin für mich liegt, aber ich bin gleichwohl zu der Erklärung veranlaßt, daß ich die dramatische Bearbeitung künftig nur dann gut heißen kann, wenn sich die Herren Verfasser direct mit mir darüber verständigt haben.
    München, 1863.
    Dr. Herman Schmid.
  2. Wir müssen hier bemerken, daß dieser Ausspruch, der im Verlaufe weniger Wochen sich als so treffend erwiesen hat, Ende Februar, also zu einer Zeit niedergeschrieben ist, wo eine solche Ansicht einen sehr richtigen politischen Blick bedingte.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Turwesen