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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[33]

Der Festungs-Commandant.[1]

Erzählung von Levin Schücking.
1.

Der Panduren-Oberst von der Trenck war nach seiner Gefangennehmung durch den Rittmeister von Frohn in Wien angekommen und in einem Hotel auf dem Graben abgestiegen. Nach den von der Kaiserin Maria Theresia gegebenen Befehlen erschien bald darauf ein Adjutant des Commandanten der kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt bei ihm, um ihm Hausarrest anzukündigen. Ueber die gegen ihn erhobene Anklage werde er später hören. Der Oberst von der Trenck wies dem Adjutanten die Thüre und befahl einem der Panduren, die ihn begleiteten, ihm den Wirth herbeizuholen. Der Wirth kam.

„Mein Herr,“ sagte Trenck, „ich will den Abend ins Burgtheater fahren – schaffen Sie mir dazu eine elegante Equipage mit Vieren und mit Dienern in anständiger Livree!“

Der Wirth sorgte für die Equipage, und ein paar Stunden später fuhr der mit Hausarrest bestrickte Oberst in vollem Staat in seinem Vierspänner vor dem Portal des Burgtheaters vor, in welchem heute die Kaiserin erwartet wurde. Er nahm einen Logenplatz ein und wartete ruhig auf den Beginn des Stücks, während die Blicke aller Anwesenden an ihm hafteten.

Die Kaiserin kam – der Vorhang rollte auf – da erscheint in einer der Logen ein Officier, der Graf von Gossau, in welchem Trenck einen seiner eifrigsten Ankläger, seinen erbittertsten Feind erblickt. Wie ein zorniger Löwe fährt der Oberst in die Höhe – er verläßt seinen Platz – er taucht nach wenig Augenblicken wieder auf in der Loge des Hauptmanns; dieser wendet sich und sieht zu seinem Schrecken die kolossale Gestalt mit dem fürchterlichen halbgeschwärzten Gesicht hinter sich … über sich … fühlt er die Faust des Trenck an seinem Halse, fühlt sich in die Höhe gerissen und schwebt dann, noch bevor er recht zur Besinnung gekommen, über der Logenbrüstung – der zornige Pandurenoberst beabsichtigt nichts Geringeres, als den unglücklichen Hauptmann in’s Parterre hinunter zu schleudern. Dieser hat kaum Zeit gehabt seinen Degen zu ziehen, ohne ihn doch gebrauchen zu können, denn Trenk greift nach demselben und sticht sich dabei durch die Hand. Sofort entsteht ein grenzenloser Aufruhr im Hause; die zunächst Sitzenden aber werfen sich rasch genug zwischen die beiden Ringenden, um den Hauptmann zu retten, der im nächsten Augenblick verloren scheint. – Die Kaiserin fährt entrüstet empor … eine solche Verhöhnung ihrer Würde, von einem Menschen, dem sie so eben hat Hausarrest geben lassen, ist sie nicht zu dulden gewillt. – Die Wache erhält die schärfsten Befehle, und ehe viel Zeit vergeht, sitzt der Oberst von der Trenck fluchend und zähneknirschend in seinem Vierspänner, diesmal umgeben von einer Abtheilung Grenadiere, welche ihn nach Hause escortiren und vor seinem Zimmer im Wirthshause einen hinreichend starken Posten zurücklassen, um den Begriff Arrest seinem Verständniß näher zu bringen. –

Die Untersuchung wird eingeleitet und fortgesponnen, Trenck vertheidigt sich mit derber Beredsamkeit und mit dem Aufgebot alles dessen, was einem so berühmten Soldaten in solcher Lage zu Hülfe kommen muß. Das nächste Ergebniß war, daß der mit der Leitung der Untersuchung beauftragte Feldmarschall Cordua der Kaiserin ein Gutachten vorlegte, worin er der Majestät anheimstellte, den Proceß gegen den Obersten von der Trenck niederzuschlagen, weil die Anschuldigungen gegen denselben nicht der Art seien, um ein Kriegsgericht zu rechtfertigen, und weil sie vielfach den Charakter der Rachsucht, Verleumdung oder des Eigennutzes trügen; dagegen aber dem Obersten aufzugeben, zur Entschädigung mehrerer eigenmächtig von ihm cassirter Officiere die Summe von 12,000 Gulden zu zahlen. Die Kaiserin genehmigte diesen Antrag. Der Oberst von der Trenck aber schwur hoch und theuer, er werde keinen Kreuzer hergeben, zu dem er nicht rechtskräftig verurtheilt sei.

Seine Feinde hatten jetzt gewonnenes Spiel. Sie boten alles auf, ihn zu verderben. Die Untersuchung wurde in die Hände seines Todfeindes, des Generals Löwenwalde, gelegt. Nach der Darstellung des preußischen Vetters unsers Obersten wurden öffentlich Alle aufgefordert, welche wider ihn zu klagen oder zu zeugen hatten, und es sei den sich Meldenden ein Ducaten Tagegeld versprochen; sie seien in Schaaren gekommen, und aus dem Trenckschen mit Sequester belegten Vermögen seien dazu innerhalb vier Monaten 15,000 Gulden aufgewendet – der preußische Trenck betheuert auf seine Ehre, ihm selber seien von dem Präsidenten Grafen Löwenwalde tausend Ducaten geboten, wenn er wider seinen Vetter zeugen wolle!

Man brachte die bestochene Maitresse eines Officiers herbei, welche betheuerte, sie sei eine natürliche Tochter des Generals Grafen Schwerin und eine Concubine des Königs von Preußen gewesen; sie habe in der Nacht des Ueberfalls bei Sohr das Zelt des Königs getheilt und sei Augenzeuge gewesen, wie der Oberst von der Trenck in das Zelt gestürmt, um den König gefangen zu nehmen; dieser aber habe ihn durch Geld und Edelsteine bestochen, und der Oberst habe ihn entfliehen lassen.

Diese und viele andere gegen ihn erhobene Anklagen wußte der Angeklagte nach und nach trotz endloser Weitläufigkeiten und Rechtschicanen zu entkräften; von einer jedoch gelang es ihm nicht, sich zu rechtfertigen, und bei der sittenstrengen Monarchin reichte [34] diese allein hin, ihn zu verderben. Dieser Punkt betraf eine Gewaltthat Trenck’s wider eine Müllerstochter in Böhmen. So war denn das Ende des ganzen Verfahrens wider ihn – ein Todesurtheil, welches Maria Theresia in lebenslängliche Haft auf dem Spielberge verwandelte! Das Vermögen des Obersten blieb dabei sequestirt, jedoch so, daß er eine gewisse Verfügung darüber behielt und daß seine Beamten ihm ihre Rechnungen zur Genehmigung vorlegen mußten.

Ein Gefangener, wie der Freiherr von der Trenck, dem man obendrein noch Rücksichten schuldig war, dem um seiner früheren Verdienste um Oesterreich willen eine gewisse Freiheit der Bewegung gestattet werden mußte, war jedoch nicht eben leicht zu hüten. Es war eine Aufgabe, welche einen energischen und umsichtigen Geist erforderte, einen Mann von außergewöhnlichen Fähigkeiten; und so überrascht es uns nicht, wenn wir in dem Augenblick, in welchem wir selbst, dem Pandurenoberst folgend, den Spielberg, das feste Schloß bei Brünn, dem die neuere Geschichte eine so traurige Berühmtheit gegeben hat, betreten – wenn wir zu dieser Zeit als Commandanten da oben einen der tüchtigsten österreichischen Officiere finden – den Oberstwachtmeister von Frohn.

Es ist ein schweres, trauriges, mit einer schmerzlichen Pflichterfüllung verknüpftes Amt, was unsrem Freunde geworden. Auch hat er in dem Augenblick, wo ihm die Ordre zugekommen, es zu übernehmen, zornig das Papier fortgeschleudert, das ihn zu einer Art Kerkermeister machte, und lieber seinen Abschied zu verlangen beschlossen. Dann aber hat er sich gesagt:

„Du bist Deiner Kaiserin Kriegsknecht und hast zu gehorchen, wohin sie Dich sendet.“

Er hat gehorcht. Er hat seine Gewalt dazu angewendet, Unmenschlichkeiten zu verhindern, Elend zu lindern und Schmerzen zu stillen. Der neue Commandant des Spielbergs wird gesegnet in manchem stillen Gebet, das nächtlich aus der Zelle eines kranken Gefangenen zum Himmel aufsteigt; die Besatzung, die Kerkerwärter hängen an ihm, und die schlimmsten und unbändigsten der Eingekerkerten, welche früher nur eine grausame Zucht zähmen konnte, beugen sich jetzt ohne harte Gewalt, weil ihnen der hochgewachsene, willensstarke und kluge Mann mit einem menschlich fühlenden Herzen in der Brust Scheu und Respect einflößt.

Und so hat Frohn seinen Posten nach und nach erträglich gefunden, und eine innere Befriedigung ist bei der Verwaltung desselben über ihn gekommen, und zuletzt ist das große traurige Schloß bei Brünn ihm ein Aufenthalt geworden, den er nicht vertauschen würde mit irgend einem andern in der Welt – das letztere freilich aus einem Grunde besonderer Art, den wir uns zu erklären anschicken.


2.


Der Spielberg bei Brünn ist eine mit Festungswerken gekrönte schroffe Felshöhe, zu der ein Weg von der Stadt her sich hinaufkrümmt, um durch starke Festungsthore in einen von Gebäuden rings umschlossenen inneren Hof zu führen. Die Gebäude sind von verschiedener Höhe, und für verschiedene Zwecke hergerichtet; ein mehrstöckiger Bau, welcher aus zwei rechtwinkelig zusammenstoßenden Flügeln besteht und sich rechts erhebt, enthält die Wohnungen für die Staatsgefangenen, zumeist helle, geräumige und sehr anständig hergerichtete Gemächer. Dem Eingang in den Hof gegenüber und links erheben sich andere für die Strafgefangenen oder für die Casernirung der Besatzung bestimmte Gebäude; auch in den Kasematten sind Räume für schwere Verbrecher angebracht.

In dem zuerst erwähnten Flügelbau, welcher die südöstliche Ecke des Hofes bildet, befand sich zu den Zeiten Maria Theresias auch die Wohnung des Commandanten der Citadelle von Brünn. Sie lag in dem nach dem Eingang in den Hof und nach der Hauptwache hin sich erstreckenden Flügel; wenn man sie vom Hofe aus betrat, gelangte man in eine Flur, aus welcher eine Treppe rechts in die Zimmer des Commandaten führte, während links ein schmaler Gang mit dem andern Flügel, in welchem die Staatsgefangenen untergebracht waren, eine Verbindung bildete, die auf einen breiten Corridor mündete, welcher durch den ersten Stock des Gefangenengebäudes lief.

Der Oberst von der Trenck bewohnte in diesem letzteren, in dem Staatsgefangenenflügel, drei große freundliche Zimmer, welche am Ende jenes Corridors lagen. Die Zimmer selbst waren ganz nach den Wünschen Trenck’s eingerichtet; man hatte ihm völlig freie Hand gelassen, sich mit allen Bequemlichkeiten zu umgeben, welche er verlangt hatte; es war ihm auch nicht verwehrt, Besuche zu empfangen, nachdem sie vorher dem Commandanten gemeldet worden – er hatte seinen Kammerdiener bei sich, und gewiß hätte man ihm auch Wagen und Pferde zur Disposition gestellt, wenn es ihm Vergnügen gemacht hätte, auf dem engen inneren Hof der Citatelle spazieren zu fahren, denn über diesen Hof hinaus durfte er sich nicht bewegen, und auch auf demselben sich zu ergehen, war ihm nur in bestimmten Stunden vergönnt.

Für einen Mann, wie den Obersten Trenck, einen kühnen und von rastlosem Thatendurst von Abenteuer zu Abenteuer geführten Soldaten, der gewiß zwei Drittheile seines Lebens im Felde unter freiem Himmel zugebracht, der die Hälfte der Länder Europa’s im Sattel, an der Spitze halbwilder Banden, durchschweift hatte – von den Steppen der Ukraine bis zu den Höhen des Wasgaus und tief in Lothringen hinein, von den Thälern Savoyens und Bosniens bis nach Sachsen und den Marken – für einen Mann solcher Art mußte die erzwungene Unthätigkeit, die Gefangenschaft etwas unerträglich Drückendes sein, trotz Allem, was geschehen konnte, sie zu mildern und ihren starren, eisernen, von der Hand der alten „dira neccessitas“ ausgemeißelten Zügen die Maske der Freiheit vorzuhängen. Auch hatten diejenigen, welche darauf angewiesen waren, täglich mit ihm zu verkehren, sich keinesweges einer Zunahme guter Laune und versöhnlicher Stimmung bei ihm zu berühmen, in dem Maße, wie Monat nach Monat seiner Gefangenschaft dahin schwand. Im Gegentheil, er wurde gereizter, zorniger und unnahbarer, und der Commandant sah mit geheimer Sorge die Zeit nahen, wo er in Conflicte mit ihm gerathen mußte, welche ihn zur Anwendung von Gewalt gegen den unbezähmbar stolzen, heroischen und gewaltthätigen Gefangenen zwingen mußten.

Diese Stimmung des Pandurenobersten erlitt jedoch unverhoffter Weise eine plötzliche Aenderung, einen auffallenden Wechsel, den nichts Anderes hervorbrachte, als etwas, was bisher im Leben Trenck’s am allerwenigsten Einfluß übend und mildernd eine Rolle gespielt hatte. –

Der Oberstwachtmeister von Frohn saß eines Tages in seinem Wohnzimmer am Fenster; während er aus seiner Meerschaumpfeife dichte, blaue Rauchwolken zum geöffneten Fenster hinausblies, überflog sein Auge wachsam den Hof der Citadelle, auf dem die Schildwachen auf und niederschritten, Strafgefangene arbeiteten und eine kleine Truppe von ungarischen Grenadieren um eine Trommel kauerte, auf welcher Würfel hin und herrollten. Frohn hatte eine Weile so gesessen, als er zu seiner nicht angenehmen Ueberraschung eine mit vier von der Bergfahrt erschöpften und schweißbedeckten Pferden bespannte Reisekalesche in den Hof rollen sah, die unten vor dem Eingang in die Commandantenwohnung hielt. Frohn mußte annehmen, daß ihm sein Wächteramt durch eine neue Sorge für einen vornehmen Staatsgefangenen – ein anderer wäre den steilen Bergweg in die Citadelle nicht so bequem hinausgeschafft worden – erschwert werden solle. Aber aus dem innern der Kalesche entwickelte sich keineswegs zunächst eine bewaffnete militärische Escorte, sondern ein Frauenschuh wurde sichtbar, als der Schlag geöffnet worden, ein weibliches Wesen, das wie eine Zofe aussah, schlüpfte aus dem Wagen, ließ sich ins Haus führen, und gleich darauf meldete eine Ordonnanz bei dem Oberstwachtmeister die Baronesse Mirzelska aus Agram an, welche den Herrn Commandanten zu sprechen wünsche.

Der Oberstwachmeister von Frobn sprach seine Bereitwilligkeit aus, die Baronesse zu empfangen; er sah aus seinem Fenster, wie diese Meldung durch die Zofe zum Wagen zurückgebracht wurde, und erblickte nun eine verschleierte, in schwarze Seide gekleidete Frauengestalt, die aus dem Wagen stieg und unten im Portal verschwand. Wenige Augenblicke nachher öffnete sich die Thür seines Wohnzimmers, und die Baronesse trat ein.

Frohn wurde in eigenthümlicher Weise frappirt von dem Anblicke der Dame, die sich mit freundlichem Ernst vor ihm verbeugte und ihm ein großes Schreiben übergab.

Es war nicht die auffallende Schönkeit dieser hohen dunklen Frauengestalt, die mit dem vornehmen Anstand eines ruhigen Selbstbewußtseins vor ihn trat, was ihn so bewegte. Es war eine erschütternde Erinnerung, die über sein Herz kam in diesem Augenblick.

Die Baronesse Mirzelska mahnte ihn mit ihren schönen, geistvollen Zügen auf’s lebendigste an Esther, an die arme Jüdin von Magdeburg. Es waren dieselben mandelförmigen, sammetweichen [35] braunen Augen, derselbe feingeschnittene Mund mit den frischen rosigen Lippen, die gebogene Nase – nur war die Baronesse mit dem polnischen Namen eine stattliche, glänzende, blendende Erscheinung, und Esther war eine schmächtige, schüchterne, ärmlich gekleidete Jüdin gewesen.

Frohn ließ eine Weile gedankenvoll sein Auge auf der Fremden haften, dann erst, wie sich besinnend, schob er einen Fauteuil herbei, bat die Baronin Platz zu nehmen, und erbrach das Schreiben. Es war unterzeichnet vom Hofkriegsrath-Präsidenten Graf Harrach, und enthielt die Erlaubniß für die Baronesse Agnes Mirzelska, sich zu ihrem Oheim, dem Obersten von der Trenck, auf den Spielberg zu begeben und, um denselben zu pflegen, dessen Gefangenschaft zu theilen; der Commandant wurde autorisirt, sie innerhalb der Citadelle aufzunehmen und sie in einer Weise, wie es mit einer rücksichtvollen Behandlung sowohl, wie mit den Vorschriften des Dienstreglements verträglich, in der Nähe ihres Oheims einzuquartieren und mit dem letzteren frei verkehren zu lasten.

„Sie haben sich da eine schwere Aufgabe gestellt, Baronesse,“ sagte Frohn, indem er das Schreiben auf den Tisch legte – „welcher Entschluß für eine so junge Dame, die das Leben in der Freiheit draußen mit allen Reizen und Freuden der Welt umgiebt!“

„Der Entschluß ist nicht so heroisch, wie Sie glauben,“ antwortete die junge Dame lächelnd. „Ich bin die Tochter einer Schwester des Obersten von der Trenck. Meine Mutter war an den Baron Mirzelski in Agram verheirathet, der dort in kaiserlichen Diensten stand, aber bereits vor zehn Jahren gestorben ist. Seitdem lebte ich einsam und eingezogen mit einer jüngeren Schwester bei der Mutter, ohne einen Lebenszweck, ohne eine Thätigkeit zu haben, welche meine Stunden und Gedanken ausfüllte. Ich war von jeher eine Bewundererin männlicher Tapferkeit und kriegerischen Ruhmes – was ich von meinem Oheim vernahm, erfüllte mich schon als Kind mit der wärmsten Verehrung.“

„Kennen Sie Ihren Herrn Oheim?“

„Nein – er hat, so weit meine Erinnerung reicht, meine Eltern niemals in Agram besucht – nur selten hat meine Mutter auf einen ihrer Briefe eine kurze und lakonische Erwiderung zu erhalten das Glück gehabt, aber…“

„Aber Sie haben ihn von den Ihrigen schildern gehört? Mögen die Farben, in denen es geschah, nicht allzusehr von denen verschieden sein …“

„O, ich weiß, was Sie sagen wollen, mein Herr,“ fiel lebhaft die Baronesse ein, „ich weiß, was Alles meinem armen Oheim, vielleicht mit Recht und vielleicht auch mit Unrecht, Schuld gegeben wird – ich weiß aber auch, daß ein Mann, der Thaten vollbringt, wie er sie vollbracht hat, der mit solcher Gleichgültigkeit dem Tode in’s Auge sehen kann, kein unedler Mensch ist – ein Held ist nie ein Mensch, dem wir berechtigt wären, unsere Theilnahme zu entziehen.“

„Es ist wahr,“ sagte Frohn, „im Rausche der Schlacht, im Sturm leidenschaftlicher Erregung hat er den Tod nie gefürchtet … aber –“

Er schwieg; er dachte an die Scenen von Engelhardszell, aber es konnte seine Aufgabe nicht sein, den schönen Enthusiasmus der jungen Dame zu bekämpfen.

„Und wenn nun gar die Bande des Bluts uns die Pflicht auferlegen,“ fuhr sie eifrig fort, „ihm unsere Sorge und Liebe zu widmen, sollen wir dann nicht dem Himmel danken, daß er uns eine Pflicht zuwies, in deren Erfüllung für uns so viel innere Befriedigung liegt, die so mit dem Drange unseres Herzens in Harmonie steht?“

„Und doch,“ versetzte Frohn, „kann die Erfüllung dieser Pflicht eine sehr schwere sein – deshalb dürfen Sie mir auch den Ausdruck meiner Bewunderung für Ihren Heroismus verstatten, da ich durchaus nicht die Absicht habe, Ihren Entschluß zu bekämpfen. Ist Ihr Herr Oheim von Ihrer Anknnft unterrichtet? Ich muß annehmen, nein,“ setzte Frohn mit einem leisen Lächeln hinzu, „da ich eine Correspondenz zwischen ihm und Verwandten zu Agram nicht bemerkt habe.“

„Er ist es in der That nicht; wir wußten nicht, welche Vorschriften zu erfüllen seien, um ihm Briefe zukommen zu lassen, aber ich sehne mich zu ihm zu eilen, und wenn Sie mir die Erlaubniß geben –“

„Ueber mich haben Sie von diesem Augenblicke an zu befehlen, mein gnädiges Fräulein; es kommt nur darauf an, daß wir die Erlaubniß des Obersten von der Trenck erhalten, Sie ihm vorzustellen.“

„Seine Erlaubniß? … mein Oheim wird doch, denke ich, freudig und gerührt die Tochter seiner Schwester aufnehmen.“

„Ein Anderer würde es doppelt,“ versetzte Frohn, „weil sie die Tochter seiner Schwester ist und weil sie kommt, ein schweres und trübes Dasein mit ihm zu führen, in einem Kerker! Der Oberst von der Trenck ist aber nicht der Mann, auf den die Schlüsse Anwendung finden, welche man bei andern, nach der gewöhnlichen Regel empfindenden Menschen zu machen berechtigt ist. Sie müssen mir deshalb verstatten, Sie ihm anzukündigen und Ihnen, so zu sagen, die Wege zu ihm zu bereiten.“

Mit diesen Worten nahm er Hut und Säbel, und nachdem er die Dame gebeten hatte, seine Rückkehr abzuwarten, verließ er raschen Schritts das Gemach. Es war allerdings nicht seines Amtes, bei dem Obersten von der Trenck einen Besuch anzukündigen, dem er die Ermächtigung gegeben hatte, den Gefangenen zu sehen. Aber eine plötzlich erwachte, mit einer eigenthümlichen Aufregung verbundene Sympathie für die junge Dame trieb ihn an, dieser die Wege zu ebnen. Er wollte nicht, daß sie den Schmerz erfahren sollte, ihr gutmüthiges, von einem schönen Eifer erglühendes Herz zurückgestoßen zu sehen, wenn Trenck vielleicht in einer seiner menschenfeindlichen Launen und unnahbaren Stimmungen sei – er wollte nicht, daß die Wirklichkeit, welcher die junge Dame entgegenging, in gar zu niederschlagendem und entsetzlichem Contrast stehe mit dem, was ihre schwärmerische junge Seele sich träumte, indem sie sich das Bild des berühmten Helden, ihres Oheims, ausmalte.

Draußen sandte er eine Ordonnanz in die Wohnung Trenck’s, um sein Kommen anzumelden, und trat gleich nach dieser in das Gemach des gefangenen Panduren-Obersten.

„Sie treten ein wie der Kaiser,“ rief ihm Trenck mürrisch entgegen, sich mit dem in einen weiten Schlafpelz gehüllten Oberkörper ein wenig aus seiner ruhenden Lage von einem breiten Wanddivan erhebend. – „Die Thüre wird aufgerissen und: Der Herr Commandant! schreit man mir herein. Nun, der Herr Oberstwachtmeister ist ja der Kaiser auf dem Spielberg!“

„Entschuldigen Sie, mein lieber Herr Oberst, wenn ich ein wenig sans façon bei Ihnen eintrete … es geschieht im Eifer, Ihnen einen angenehmen Besuch anzukündigen, ja mehr als das …“

„Möchte wissen, welcher Besuch mir angenehm sein könnte,“ fiel Trenck ein, „es möchte denn der des Teufels sein, den ich alle Tage herbeirufe, um ihm meine Seele zu verkaufen!“

„Und statt des Teufels, der es nicht für nöthig findet, sich zu Ihnen zu bemühen, kommt ein Engel, der zu Ihnen will.“

„Was soll das heißen?“ fragte Trenck aufschauend.

„Sie haben eine in Agram wohnende Schwester, die mit einem Baron Mirzelski vermählt war … sie besitzt zwei Töchter …?“

„Und diese Sippschaft,“ fiel Trenck mit einem Fluche ein, „will mir über den Hals kommen? … beim Teufel, ich will nichts davon wissen … bin ich der Mann für ein Rudel Weibsleute, die mich ausplündern, mich mit ihren jammervollen Familien-Angelegenheiten behelligen? … halten Sie mir das Volk vom Leibe, Herr, ich will nichts davon wissen!“

„Aber so hören Sie doch nur, Oberst, es handelt sich gar nicht um die ganze Familie Mirzelski, wie Sie voraussetzen, sondern nur um die älteste Tochter Ihrer Schwester, Agnes Mirzelska, die mit dem heldenmüthigen Entschlusse gekommen ist, Ihre Einsamkeit zu theilen und zu erheitern, Ihnen als Pflegerin, wenn Sie unwohl sind, zu dienen.“

„Nun wahrhaftig,“ lachte Trenck höhnisch auf, „ich bin der rechte Mann, wenn ich Leibschneiden habe, mich von einer Dame verpflegen zu lassen! Es ist Alles dummes Zeug – die Gans ist abgeschickt, um mich auszubeuten, mich zu bestehlen, Erbschleicherei zu treiben – kurz, sie soll gehen, woher sie gekommen ist!“

„Sie sind ein grenzenslos undankbarer Mann, Oberst,“ sagte Frohn sehr ernst. „Wenn diese groß und edel denkende junge Dame kommt, sich aus Theilnahme an Ihrem Schicksal hier mit Ihnen auf den Spielberg einzuschließen – glauben Sie dann, Ihr Geld, Ihr elender Mammon sei im Stande, ein solches Wesen für die Existenz zu bezahlen, welche es Ihnen opfert? Sie sind ein Thor! Damit Sie einsehen, wie sehr Sie es sind, werde ich Ihnen die junge Dame jetzt bringen, und Sie werden sie mit [36] der Zuvorkommenheit empfangen, welche ein Mann von guter Extraction einer Dame beweist!“

„Nun meinethalb,“ sagte Trenck lachend, „sehen will ich sie, aber dann mag sie heimreisen und ihr Agram von mir grüßen!“

Der Oberstwachtmeister und Commandant verließ seinen Gefangenen und begab sich in seine Wohnung zurück, wo die Baronesse in Spannung und Aufregung seiner harrte.

„Der Oberst von der Trenck erwartet Sie,“ sagte er und bot ihr den Arm, um sie in die Zimmer des Obersten zu führen.

Als er in die letzteren mit der jungen Dame eintrat, sah er zu seiner Genugthuung, daß während seiner kurzen Abwesenheit Trenck seine überaus nachlässige Haustoilette so weit geordnet hatte, um ohne gar zu schreiende Verletzung des Anstands eine Dame empfangen zu können. Dann, während Agnes Mirzelska ihrem Oheim entgegenflog, mit erhobenen Armen, die doch wieder im nächsten Augenblick sich leise senkten, als stehe das junge Mädchen gelähmt durch den Anblick der grotesken Soldatenfigur mit dem halbschwarzen, pulververbrannten Gesichte, während deß entfernte Frohn sich rasch, um diese erste Begegnung nicht durch seine Gegenwart zu stören.

Er rief jedoch einen der Haus-Inspectoren herbei und ließ zwei freundliche Zimmer, die denen Trenck’s gegenüber lagen, für die junge Dame herrichten. Die Zofe, welche auf dem Gange geblieben war, während Agnes Mirzelska bei ihrem Oheim eintrat, konnte beginnen, das Gepäck ihrer Gebieterin aus dem Reisewagen nach oben schaffen zu lassen.


3.

Nach einer halbstündigen Unterredung mit dem Obersten von der Trenck bezog Agnes Mirzelska die für sie hergerichteten Gemächer und nahm in einer Weise Besitz davon, daß man sah, der Oheim hatte am Ende seiner Unterredung auf seinem Willen, daß sie heimkehren solle, woher sie gekommen, keinenfalls mehr bestanden. Es verfloß auch keine lange Zeit, und die Nähe der schönen, lebhaften und beredten Nichte war dem Gefangenen gewissermaßen unentbehrlich geworden. Sie mußte seine Mahlzeiten theilen, seine Erzählungen anhören, mit seiner Entrüstung sympathisiren, wenn er seine Wiener Feinde verfluchte, und das Alles that sie mit einem so liebenswürdigen Eingehen auf die Anschauungsweise und die oft barocken Vorstellungen des berühmten Soldaten, daß der Einfluß ihrer Nähe auf seine früher so oft verbitterte und jähzornige Stimmung nicht ausblieb. Unheilvollen Entschlüssen die Spitze abzubrechen, zornigem und übereiltem Handeln durch eine Art nachgebenden Entgegenwirkens zuvorzukommen und ungerechte Urtheile leise und allmählich in gerechteres Denken umzuwandeln, ist ja eine der Gaben, die sich sehr bald in Frauen entwickelt, deren Schicksal sie an Männer geknüpft hat, welche mehr oder weniger vom Charakter unseres Obersten haben.

„Ich weiß nicht, wie sehr der Oberst von der Trenck das Glück Ihrer Nähe schätzt,“ sagte Frohn eines Tages zu Agnes, „aber desto mehr weiß ich das Glück Ihrer Anwesenheit zu schätzen. Seit Ihrer Ankunft ist mir mein schwerer Dienst als oberster Gefangenwärter auf dem Spielberg um vieles, vieles erleichtert. Sie glauben nicht, wie viel Kämpfe und unangenehme Scenen ich mit dem Obersten in der letzten Zeit vor Ihrer Ankunft durchzumachen hatte … und seitdem bis heute sind wir noch nicht ein einziges Mal an einander gerathen!“

„Ich bin sehr froh darüber,“ versetzte die junge Dame leicht erröthend, „ich darf daraus schließen, daß ich meinem Oheim nützlich bin, daß ich meinen Entschluß nicht umsonst ausgeführt habe…“

„Daran dürfen Sie gewiß nicht zweifeln,“ fiel Frohn ein.

„Und doch,“ fuhr sie fort, „habe ich Eines nicht erreicht, was meine Wünsche für den verlassenen armen Gefangenen krönen würde, was ich aber freilich bisher auch nicht auszusprechen wagte.“

„Und das wäre? Sprechen Sie ohne Scheu, mein gnädiges Fräulein; was sich irgend mit meinen strengen Dienstvorschriften vereinigen läßt, werde ich mit Freuden thun, um dem Obersten – um Ihnen gefällig zu sein!“

„Ich danke Ihnen auf’s Herzlichste für Ihre Güte, – und da es Ihren Dienstpflichten gewiß nicht widerstreitet, will ich mir den Muth nehmen, es auszusprechen: mein Oheim entbehrt des Zuspruchs, des Gesprächs mit einem Freunde, der den Erzählungen seiner kriegerischen Thaten die volle Theilnahme und das volle Verständniß eines Mannes schenkt: der Festungsgeistliche, welcher ihn von Zeit zu Zeit besucht, kann ihm keine Anregung bieten; einzelne ältere Offfciere unten in der Stadt, welche zu seinen Bekannten gehören, machen sich selten – sie nehmen vielleicht Rücksichten auf Wien, fürchten eine geheime Controlle …“

„Oder,“ fiel Frohn mit einem zweifelnden Lächeln ein, „sie sind durch des Obersten brüskes Wesen verscheucht, was wahrscheinlicher ist …“

„Dem sei, wie ihm wolle,“ fuhr Agnes Mirzelska fort – „der Oberst empfindet den Mangel des Umgangs mit Männern, den ich ihm nicht ersetzen kann, und …“ .

„Und? fahren Sie fort, Baronesse –!“

„Und wenn Sie deshalb die große Güte hätten, ihm von Zeit zu Zeit eine abendliche Stunde der Muße zu schenken …“

„Ich – mein gnädiges Fräulein, da täuschen Sie sich – ich darf durchaus nicht annehmen, daß meine Besuche dem Obersten von der Trenck angenehm seien!“

„Und weshalb zweifeln Sie daran – Sie, von dessen Verdiensten er mir so oft spricht, der beinahe der einzige Soldat ist, den er neben sich zu respectiren scheint?“

„Nun, das hat er mir in der That nicht zu erkennen gegeben!“ rief Frohn überrascht aus. „Unser Verkehr hat sich bis jetzt so ziemlich auf den Austausch derber Redensarten von seiner Seite und kühl beschwichtigender von meiner beschränkt.“

„Gerade deshalb vielleicht, weil er es schmerzlich empfindet, nicht im Besitze einer Achtung und einer Theilnahme zu sein, welche just die ist, auf die er das meiste Gewicht legt!“

Frohn zuckte die Achseln.

„Ich glaube, Baronesse,“ versetzte er mit einem kleinen Anfing von Ironie, „wenn Sie von schmerzlichem Empfinden und stillem Gekränktsein Ihres Oheims reden, so halten Sie das Herz des Herrn Obersten von der Trenck für weicher besaitet, als es in der That ist. Wenn ihm jedoch meine Gegenwart in Wirklichkeit nicht unangenehm sein sollte, so bin ich mit dem größten Vergnügen bereit, ihm aufzuwarten und ihm die Zeit vertreiben zu helfen. Hätte ich dabei die frohe Aussicht,“ setzte Frohn, jetzt selbst ein wenig erröthend hinzu, „daß ich alsdann auch Sie bei ihm finden würde …“

„O gewiß,“ fiel Agnes Mirzelska mit einem Lächeln ein, welches vielleicht nicht frei war von ein wenig harmloser Coquetterie, „o gewiß werde ich in der Nähe sein, um Frieden zu stiften, falls die beiden Herrn aus alter Angewohnheit mit tiraillirenden Redensarten in ein kleines Plänkeln gerathen sollten!“

„So bitte ich, gleich für heute Abend meinen Besuch, wenn er genehm ist, dem Herrn Obersten ankündigen zu wollen.“

Agnes streckte lebhaft bewegt wie zum Danke dem Commandanten die Rechte entgegen. Frohn küßte diese weiße Hand mit einer Innigkeit, welche auf Beider Wangen eine dunkle Röthe hervorrief. – –

Am Abend saßen drei dem Anschein nach ganz heiter und sorglos plaudernde Menschen um den mit Wein und Früchten besetzten Tisch in Trenck’s Wohngemach. Agnes Mirzelska hatte eine weibliche Arbeit im Schooße liegen, und Frohn’s Augen waren auf die zarten, schmalen Finger geheftet, welche an dieser Arbeit häkelten; Trenck führte das Wort und erzählte – der Mittheilungsdrang ist in Charakteren so leidenschaftlichen Gepräges, wie der seine, selten ruhig; es war ihm ganz willkommen, daß sein Gast so gut zuhören konnte und so wenig sprach – außer etwa in Momenten, wo Agnes Mirzelska ihr Auge von ihrer Arbeit erhob, den Blicken Frohn’s begegnete und dann leise erröthend wieder niederbückte, als ob ihr stummes Gegenüber in diesem Momente in der That etwas – wenn auch nur mit den Augen gesprochen!

(Fortsetzung folgt.)
[37]

Ein Gang über Dresdens Kirchhöfe.

Von L. E.
Nr. 1. Der katholische Kirchhof.

Grabstätte des Chevalier de Saxe.

Aus dem beweglichen Treiben des Lebens zieht es uns oft mit ungestümer Sehnsucht in das stille Reich des Todes. Es ist, als ob das laut und stürmisch klopfende Menschenherz von Zeit zu Zeit dringend des beschwichtigenden Anblicks jener Stätten bedürfe, wo Tausende ruhen, die aufgehört zu schlagen; als müsse die in der Welt oft so heiß und glühend nach Ruhe und Frieden sich sehnende, nach Freude und Glück suchende Seele sich mitunter den Trost verschaffen, an dem Orte auf Erden zu weilen, wo ihr immer und immer wieder vom einfach schwarzen Kreuz die goldene Nachricht entgegenleuchtet, daß hier endlich eine dauernde Ruhe, ein ewiger Frieden, unvergängliche Freuden und nie endendes Glück zu finden ist.

Aber nicht allein beruhigend und erhebend wirkt es, über Kirchhöfe zu wandeln; es liegt auch ein seltsamer eigenthümlicher Reiz darin, die Namen Derer zu entziffern, welche uns auf dem Pfade vorangegangen sind, den auch wir betreten müssen.

Wie vielen unbekannten und vergessenen Namen wir auch begegnen, hier und da taucht unter der Menge doch einer auf, der uns lieb und werth war, dessen Träger uns zwar im Leben unbekannt geblieben, welcher aber durch Werke und Thaten zu uns gesprochen hat; Namen, die schon tausendfach durch den lauten Posaunenklang des Ruhmes an unser Ohr getragen worden, fort und fort mit mächtigem Schall durch die Welt tönen, während die, welche sie geführt, längst aus ihr geschieden, längst in Staub und Asche zerfallen sind. –

Von solchen Namen, die mit unauslöschlichen Zügen in die Herzen von Millionen von Menschen fester und tiefer eingegraben sind, als auf den steinernen Monumenten, welche die Stätten ihrer ewigen Ruhe bezeichnen, zeigt uns Dresdens einer Kirchhof nur einen einzigen; doch an diesen einen leuchtenden Namen, der gleich einem Meteore ewig im Tempel des Ruhms hell strahlt, reihen sich einzelne andere Namen, die, wenn sie auch nicht mit einem so glänzenden Lichtscheine, wie jener Eine, umwoben sind, dennoch hell und klar aus den Schatten des Todes hervortreten und zu den bedeutenden im Gebiete der Kunst und Literatur gehören.

Jener eine berühmtere Name, als alle andern, die auf Dresdens Kirchhöfen verzeichnet sind, ist der von Carl Maria von Weber. Er ruht auf dem katholischen Kirchhofe in Friedrichstadt, der einer der ältesten, aber wenigst hübschen von Sachsens Residenz ist.

Grabstätte von Carl Maria von Weber.

Carl Maria von Weber kann man wohl vorzugsweise einen deutschen Componisten nennen. Er trat mit seinen schönen einfachen Liedern, seinen von Begeisterung durchflutheten und hinreißenden Kriegsgesängen, mit dem ganzen Zauber seiner tiefen wundersamen Melodie gegen die nur auf Effect hinzielende italienische [38] Musik auf, welche sich im Anfang dieses Jahrhunderts in Deutschland schon glänzende Bahn gebrochen und immer mehr Anhänger fand.

Nicht allein durch Kraft und Klarheit, Tiefe und Hoheit, Innigkeit und Weichheit, seltenen Melodienreichthum und überraschende Gedankenfülle zeichnen sich Weber’s geniale Tondichtungen aus; seine Schöpfungen sind auch von einem so frischen und reinen Hauche von Poesie umwoben, von so warmer, lebhafter und glühender Phantasie durchströmt, wie die weniger andrer deutscher Componisten. Alles vereinigt sich in ihnen, um sie zu einem vollendeten Ganzen zu machen – jede einzelne seiner Tondichtungen ist ein Meisterwerk! –

Beethoven’s Riesengedanken und großartige Dichtungen vermögen es, das ganze Innere eines Menschen zu erregen, ihn in seinen tiefsten Tiefen durch die gewaltige Welt seiner Töne zu erschüttern und die Seele emporzuziehen zu jenen erhabenen Regionen, in denen so viele seiner Compositionen sich hauptsächlich bewegen; – Mozarts Zauberklänge können Geist und Sinn entzücken und verwirren; Haydn’s Zartheit und Anmuth uns immer wieder von Neuem überraschen, wohlthun und befriedigen; doch – Carl Maria von Weber ist es verliehen, indem er einfach zum Herzen spricht, Empfindungen zu erwecken, wie sie eben nur in einer Menschenbrust erregt werden können, deren Hauptleben das Gefühlsleben, und – in diesem Leben ist nun einmal die deutsche Nation stärker als jede andere.

Aus diesem Grunde machte sich Weber zum Liebling des deutschen Volkes, und seine Melodien sind es hauptsächlich, die eingedrungen sind bis in die untersten Schichten unserer Nation. Sie ertönen nicht allein auf Bühnen, in Concerten, in Salons und einfachern Cirkeln, im Familienkreise; nein, an seinen reizenden Melodien erquickt sich der mit mühevoller Arbeit beschäftigte Tagelöhner; – seine entzückenden Lieder tönen durch Feld und Wald, und oft hören wir sie schon von kleinen Kindern, die sie vor sich hin summen! – Wer denkt bei diesen Wahrnehmungen nicht an den bescheidenen Anspruch des großen Meisters –, wem fällt nicht ein, wenn er überall, wo deutsches Leben sich regt und deutsche Musik ertönt, sogar in fernen fremden Landen vorzugsweise Weber’s Melodien erklingen hört, daß dieser berühmte Künstler es gewesen, der jenes kleine einfache, ihn aber so vollständig charakterisirende Lied componirt hat:

„Tönen meine kleinen Lieder,
Die ein fühlend Herz erschuf,
Nur in einem Herzen wieder,
Dann erfüllt ist ihr Beruf.“

In der vollsten Thätigkeit seines rastlos schaffenden Geistes wurde Weber dem deutschen Volke entrissen. Er starb, wie bekannt, im Alter von 39 Jahren am 4. Juni 1826 in London.

Man hatte Weber in der Westminster-Abtei, der Ruhestätte von Englands bedeutendsten Männern, beisetzen wollen, wo auch Händel sein Grab gefunden; doch waren diese Pläne daran gescheitert, daß er katholisch war, wie auch an dem Gedanken, daß seine Familie und seine Freunde und Bewunderer vielleicht später die Uebersiedluug seiner irdischen Ueberreste in die Heimath wünschen würden.

Am 22. October 1844 fand die Einschiffung von Weber’s Leiche aus England Statt. Tausende mit Trauerflaggen bewimpelte Schiffe empfingen sie im Hafen von Hamburg, und Tausende von Menschen standen trauernd am Ufer und lauschten den ernsten, tiefergreifenden Klängen des Beethovenschen Trauermarsches, unter denen der Sarg nach Dresden eingeschifft wurde. Am 14. December landete das Schiff dort, dessen mächtige Trauerflagge die Inschrift trug: „Weber in Dresden“. Mit den größten Feierlichkeiten empfing man den geliebten Todten, und ein unabsehbarer Zug Leidtragender geleitete seine Leiche nach der für ihn bestimmten Gruft. Diese hatte wenige Wochen zuvor den jüngsten Sohn des großen Meisters, einen der talentvollsten Schüler der Dresdener Malerakademie, in sich aufgenommen.

Die beigefügte Abbildung zeigt Weber’s Ruhestätte in Dresden. Wie sein Grab gepflegt wird, giebt sich immer von Neuem durch den frischen schönen Blumenflor zu erkennen, der die mit einer Lyra geschmückte Steinplatte umgiebt.

Einen seltsam traurigen Contrast zu diesem so sorgsam behüteten Grabe bildet auf demselben Kirchhofe ein zwischen wild überwucherten Rasenhügeln und theilweise eingesunkenen Gräbern sich erhebender Stein. Man entziffert von dessen bemooster Fläche nur mühsam einen Namen, der einst hell am Horizonte der Kunst gestrahlt, dort noch immer leuchtet und den eines Mannes bezeichnet, der die allgemeine Liebe und Achtung seiner Zeitgenossen besessen und dessen furchtbares Schicksal von Jedem auf das Tiefste beklagt worden, der die Kunde seines entsetzlichen Todes vernommen.

„Franz Gerhard von Kügelgen,
geb. 1772, gest. 1820.“

so lautet die einfache Inschrift eines einfachen Steines, dessen Flächen nur ein von einer Sonne umgebenes Kreuz zieren.

Bacharach am Rhein war der Geburtsort jenes liebenswürdigen Künstlers, und am Ufer der Elbe zwischen dem Dorfe Loschwitz und Dresden wurde er in der Osterwoche am 27. März in der Abendstunde auf dem Heimwege nach seiner Wohnung ermordet.

Es heißt von Kügelgen, daß er einer der edelsten, frömmsten, besten und liebenswürdigsten Menschen gewesen und nie einen Feind gehabt habe, weshalb denn auch die Art und Weise seines schrecklichen Todes, neben dem furchtbarsten Schreck, dem größten Entsetzen und der allgemeinsten Entrüstung über eine so ruchlose That, eine Ueberraschung und ein Erstaunen erregt haben soll, wie es sich Beides richtig vorzustellen kaum möglich sei.

Als Maler zeigt Kügelgen auf erhebende und zugleich rührende Weise, wie die echte Kunst auf ein reines frommes Gemüth zu wirken vermag. Es sind nicht allein seine Schöpfungen von dem Geiste der Reinheit und Frömmigkeit durchstrahlt und beseelt, der den Grundzug seines Charakters gebildet; sondern sein ganzes Leben beweist uns, auf welcher Stufe der Vollkommenheit dieser Künstler als Mensch gestanden.

Hört man, wie geachtet, wie beliebt Kügelgen gewesen, so staunt man doppelt, wenn man an jenem Denksteine sitzt, der seine irdische Ruhestätte bezeichnet. – Von seinem Grabe ist nämlich nichts mehr vorhanden, – der Platz, der ihn zur ewigen Ruhe aufgenommen, nach jener vom Gesetz bestimmten Reihe von Jahren umgegraben und jetzt bereits zum zweiten Male zur Beerdigung Anderer benutzt worden.

Unwillkürlich regen sich bei dem Anblick im Herzen die Fragen: Wie konnte das möglich sein, da Gerhard von Kügelgen eine Gattin und Kinder hinterließ? – wie konnten das seine Freunde zugeben? – wie konnte das in einer Stadt wie Dresden geschehen, wo die Kunst eine so lebhafte Anerkennung findet und dieser berühmte Maler Professor der Kunstakademie gewesen?

Zu den berühmten Gräbern des katholischen Kirchhofs gehören noch die Friedrich von Schlegell’s und Johann Baptist Casanova’s, Ersterer als Schriftsteller ausgezeichnet, – während Letzterer sich als Director und Professor der Dresdener Kunstakademie Dank und Anerkennung durch Heranbildung tüchtiger Schüler erworben.

Unter den schönen und alten Denkmalen, an denen dieser Kirchhof überhaupt reich ist, nimmt das des Chevalier de Saxe den ersten Rang ein. Es macht einen äußerst imposanten, alterthümlichen Eindruck, erhebt sich auf einem kolossalen, von Emblemen des Ritterthums umgebenen Piedestal, das die Tafel mit der Inschrift trägt, von der aber außer einzelnen Sylben des Namens nur hie und da ein Buchstabe erkenntlich und welche ebenso von grünlicher Farbe umzogen ist, wie der mächtige, schön gearbeitete Sarkopbag, der auf dem Piedestal ruht. Auf dem Sarkophage, den das Wappen des Chevalier de Saxe mit Königskrone und Maltheserritterkreuz ziert, liegt oben der Mantel der Maltheserritter, den das Ritterschwert hält, dessen Falten aber tief über den Sarkophag herabwallen und ihn auf das Reichste drapiren. Der Chevalier de Saxe, Sohn König August des Starken und der Fürstin Lubomirska-Teschen, 1700 geboren, war Maltheserritter und starb als Generalfeldmarschall und Gouverneur von Dresden im Alter von 74 Jahren.




[39]

Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher.

(Schluß.


Den bedeutenden „Reden“ Schleiermacher’s, welche schnell hintereinander mehrere Auflagen erlebten und die größte Wirkung ausübten, folgten die nicht minder ausgezeichneten „Monologe“, eine Reihe von Betrachtungen und Ansichten über den inneren Menschen voll tiefer Anschauungen und geistreicher Gedanken, die dieses Buch bald zu einem Evangelium der Gebildeten und besonders der Frauen machten. Durch beide Werke wuchs Schleiermacher’s Ruf in den Berliner Kreisen, zu denen er in eine geistige Wechselwirkung trat. Die vorzüglichsten Männer aus der Nähe und Ferne, wie Brinkmann, Schlegel, Hülsen, Willich u. s. w. schlossen sich ihm an, besonders groß aber war die Zahl seiner weiblichen Verehrer, die sich von seinen Schriften angeregt und begeistert fanden. Erst jetzt kam sein geselliges Talent zur vollsten Geltung; er war nichts weniger als ein finsterer Ascetiker, sondern wie Luther hatte auch er seine Freude am Leben und an einer unschuldigen Heiterkeit. Manches dauernde Bündniß wurde eingegangen, manche Freundschaft für die Ewigkeit geschlossen.

In jene Zeit fällt auch Schleiermacher’s Verhältniß zu einer Frau, die in unglücklicher, kinderloser Ehe lebte. Er glaubte, daß ihr inneres Leben in jener Verbindung zu Grunde gehen müsse, und hielt deshalb die Scheidung, gegen die unsere heutigen Zeloten eisern, die Auflösung eines solch innerlich unwahren Verhältnisses für eine sittliche Pflicht. Sie hatte nicht die Kraft, einen solchen Entschluß zu fassen, weshalb er nach schweren Kämpfen seiner Liebe entsagte. Diese Umstände und noch manche andere Verdrießlichkeiten, die er sich durch seine schriftstellerische Thätigkeit, zumal durch die mißverstandenen Briefe zu der berüchtigten „Lucinde“ seines Freundes Schlegel zugezogen hatte, verleideten ihm seinen Berliner Aufenthalt, so daß er es vorzog, eine Stelle als Prediger in Stolpe anzunehmen. Vorher schon hatte er sich mit Schlegel zu einer gemeinschaftlichen Uebersetzung des „Plato“ verabredet, die er später ganz allein beendete. Auch ließ er eine Sammlung seiner Predigten erscheinen, Muster eines gediegenen, klaren Vortrags, reich an Gedanken und allerdings weit mehr auf das Denkvermögen und den Verstand seiner Zuhörer, als auf ein frömmelndes Gefühl oder religiöse Phantasie berechnet. – Auch in seinem Exil blieb er der Wissenschaft und der von ihm einmal eingeschlagenen Richtung treu; hier veröffentlichte er die „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre“ und „Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen der protestantischen Kirche“, das letztere Werk ohne seinen Namen, beide aber ausgezeichnet durch ihre scharfsinnige Dialektik. –

Im Jahre 1804 erhielt Schleiermacher, dessen Verdienste in der gelehrten Welt volle Anerkennung fanden, nachdem er den Ruf an die Universität zu Würzburg abgelehnt, eine Anstellung als außerordentlicher Professor der Theologie und Philosophie in Halle. Hier schloß er mit Steffens den herzlichsten Freundschaftsbund; auch nahm er seine Halbschwester Nanni zu sich, die später die treue Lebensgefährtin unseres Vater Arndt wurde. Nur zwei Jahre dauerte seine akademische Wirksamkeit in Halle, da in Folge der Schlacht bei Jena und der französischen Invasion durch einen Machtspruch Napoleons die Universität aufgelöst wurde. Schleiermacher kehrte nach Berlin zurück, wo er als Prediger eine Anstellung fand; zugleich hielt er, wie Fichte, öffentliche Vorlesungen. Von der Kanzel herab wirkte er in jener für Preußen so traurigen Zeit im herrlichsten Sinne für Belebung des Patriotismus, für Hebung und Weckung der Vaterlandsliebe, indem er unerschrocken den Drohungen der fränkischen Machthaber trotzte und unerschütterlich inmitten der Bajonette Davoust’s blieb. Im gleichen Sinne schrieb er auch damals seine „Weihnachtsfeier“, voll erhabener Gedanken, die Zeugniß für seine Hochherzigkeit ablegten. Erst im Jahre 1809 wurde er als Pastor der Dreifaltigkeits-Kirche fest angestellt, worauf er sich mit der Wittwe seines verstorbenen Freundes von Willich verheirathete, die ihm aus erster Ehe einen Sohn und eine Tochter zubrachte, bei denen er Vaterstelle vertrat. Sie gebar ihm einen einzigen Knaben, Namens Nathanael, der ihm zum größten Schmerze im neunten Jahre wieder entrissen wurde. – Unterdeß war durch Stein, Hardenberg und Scharnhorst die Regeneration des preußischen Staates eingeleitet und zum Theil beendet worden. Mitten im Drangsal und unter dem Joche des fremden Eroberers begann jene herrliche Zeit der staatlichen Wiedergeburt, an der auch Schleiermacher seinen redlichen Antheil als Lehrer an der neu begründeten Universität zu Berlin hatte. Als solcher wirkte er auf die studirende Jugend durch die Kunst und Anmuth seines Vortrages, durch die Tiefe und den Scharfsinn seiner Gedanken, vor Allen aber durch die freisinnigen Anschauungen, die er in die nur zu sehr verknöcherten Begriffe der damaligen Theologie brachte. Er war gleichsam der Gründer einer neuen theologischen Schule, welche die Harmonie des Wissens und des Glaubens anstrebte und den echt protestantischen Fortschritt gegenüber einer beschränkten Orthodoxie und einem überschwänglichen Pietismus vertrat. Für diese Gesinnung legt seine „kurze Darstellung des theologischen Studiums“ ein sprechendes Zeugniß ab.

Seine wissenschaftlichen Arbeiten wurden von der Berliner Akademie durch die Ernennung zu ihrem Mitgliede belohnt. In ihren „Denkschriften“ veröffentlichte er eine Reihe höchst bedeutender Abhandlungen zur Geschichte der alten Philosophie. Aber Schleiermacher war keiner jener Stockgelehrten, die über ihre Studirstube die Welt vergessen. Stets nahm er den lebendigsten Antheil an den großen Ereignissen seiner Zeit, vorzugsweise an dem Schicksale seines Vaterlandes. Als Jung und Alt zu den Waffen griff und sich zum Befreiungskriege rüstete, war auch er bereit, sein Blut und Leben zu opfern. Er trat mit den Vaterlandsfreunden in Verbindung und manche gefährliche politische Sendung übernahm er trotz der damit verbundenen Gefahr. Zugleich wurde er ein thätiges Mitglied des Landsturmes und der zur Vertheidigung der bedrohten Hauptstadt niedergesetzten Schutzcommission. Wenn er seine Vorträge an der Universität beendet, seine Predigt für den nächsten Sonntag entworfen, dann vertauschte er den Hörsal mir dem Exercirplatz, die Feder mit der Lanze, bereit mit Wort und That dem Vaterlande zu dienen. – Aber auch nach dem erkämpften Siege gegen den fränkischen Unterdrücker blieb Schleiermacher jener Freiheit treu, die, nachdem sie ihren Dienst gethan, von vielen Fürsten und Staatsmännern verleugnet und verfolgt wurde. Auch in Preußen begann eine Zeit der Reaction auf religiösem und politischem Gebiete. Das Wartburgfest und die Ermordung Kotzebue’s boten einem Schmalz und Consorten die willkommene Gelegenheit, gegen den freien Geist der deutschen Jugend und der Universitäten zu eifern, die Freunde des Fortschrittes und wahren Patrioten zu verleumden. Unbekümmert um seine weltliche Stellung, ohne Scheu vor den Machthabern trat Schleiermacher der Gemeinheit entgegen, indem er die von oben begünstigten Anklagen des Geheimrath Schmalz mit Entrüstung und platonischer Dialektik bekämpfte, obgleich er wohl wußte, daß er dadurch sich viele einflußreiche Feinde weckte. Aber ihm stand die Wahrheit höher als jeder irdische Vortheil. Auch in kirchlichen Angelegenheiten behauptete er seine Unabhängigkeit und den Ruf der Freisinnigkeit, wie sein Angriff gegen den Oberhofprediger von Ammon und sein ironisches, geistvolles Glückwünschungsschreiben an die zur Verbesserung der preußischen Liturgie niedergesetzte Commission bewies. Ihm standen, wenn er wollte, die Waffen eines vernichtenden Witzes wie Wenigen zu Gebote; um so höher ist darum seine Mäßigung den Gegnern gegenüber zu bewundern. Nichts desto weniger scheute er nicht den Kampf für die Freiheit und das Licht der Vernunft, welches die protestantischen Jesuiten zu verdunkeln suchten.

Dafür zollten ihm die bedeutendsten Männer seiner Zeit ihre Achtung und Anerkennung. Seine Mitbürger ehrten ihn mit vielfachen Beweisen ihres Vertrauens, seine Predigten wurden von dem gebildetsten Theile der Hauptstadt mit Bewunderung gehört, und die Dreifaltigkeitskirche faßte kaum die Zahl der Zuhörer, die sich an seinem lebendigen Worte erlabten. Er lehrte auf der Kanzel das wahre Christenthum, die Religion der Duldung, der Demuth und Liebe; auf dem Katheder der Universität bildete er eine Reihe von Theologen, wie Jonas, Sydow etc., die das protestantische Princip in seiner Reinheit wahrten. Weit über die Grenzen Deutschlands drang sein Ruf, wofür er bei seiner Anwesenheit in Kopenhagen den glänzendsten Beweis erhielt. Mit Begeisterung wurde er daselbst empfangen, von dem Dichter Oehlenschläger bei einem ihm zu Ehren veranstalteten Festmahle mit [40] dem Toast begrüßt: „Dem Denker, dem Prediger, insonderheit dem Menschen“; woran sich ein von einem dänischen Theologen gedichtetes Lied schloß, dessen Schlußvers lautete:

Gegrüßt uns am dänischen Sunde,
Der Ritter aus edlem Geschlecht!
Willkommen im nordischen Bunde
Für Glauben, Wahrheit und Recht!
Hoch lebe der herrliche Meister
Der freundlich zu uns sich gesellt;
Es blüh’ die Gemeinschaft der Geister
Von hier bis ans Ende der Welt. –

So genoß Schleiermacher die Früchte eines reichen Lebens, freilich getrübt durch den Verlust seines einzigen Sohnes, durch den Verdruß über die immermehr um sich greifende Reaction, der seine besten Freunde, wie der ihm nah’ verwandte Arndt, zum Opfer fielen, gestört durch vielfache körperliche Leiden, denen er endlich am 12. Februar 1834 erlag. Sein Tod war der eines Weisen, eines Christen und legte das herrlichste Zeugniß für sein tiefes religiöses Gefühl, für die Treue seines oft angegriffenen Glaubens ab, weshalb seine Sterbestunde besonders hervorgehoben zu werden verdient. – Ueber die letzten Augenblicke hat seine Wittwe, die ihn um sechs Jahre überlebte, für die näheren Freunde des verewigten folgende denkwürdige Aufzeichnung hinterlassen:

„Schon seit zwölf Tagen litt der geliebte Schleiermacher an großer Heiserkeit und Husten, sah freilich heiter und klar, aber sehr blaß aus. So sehr wir uns beunruhigten und ihn baten, mehr Rücksicht auf seine Gesundheit zu nehmen, so wies er doch Alles mit der Versicherung zurück, daß er sich vollkommen wohl fühle, daß dies nur äußere Leiden seien, die auf sein inneres Befinden gar keinen Einfluß hätten.

Am Donnerstag den sechsten war der letzte Abend, der flott und heiter im Familienkreise verlebt wurde. In der Nacht zum Freitag begann die Krankheit durch einen fürchterlichen Anfall von Schmerzen im ganzen Körper. Sein Aussehen war wie eines Sterbenden, und er sprach sehr bestimmt seine Todesahnung aus.

Ich hatte sogleich nach dem Arzt geschickt, der den Zustand sehr gefährlich fand, durch dessen Hülfe jedoch dieser Zustand in wenig Stunden beseitigt war und er ruhig und schmerzlos in seinem Bette lag.

Am Sonntag war eine Consultation von vier Aerzten. Ich kam nicht von seinem Bette. Die im anstoßenden Zimmer auf meinen Wink wartenden Kinder und Freunde besorgten Alles, zur persönlichen Pflege war ich hinreichend und die höchste Stille mir geboten. Ich habe sie so gewissenhaft gehalten, daß ich ihn zu keinem einzigen theuern Wort veranlaßt habe.

Er versicherte oft, er leide nicht so viel, als es wohl scheine. Seine Stimmung war während der ganzen Krankheit klare, milde Ruhe, pünktlicher Gehorsam gegen jede Anordnung, nie ein Laut der Klage oder Unzufriedenheit, immer gleich freundlich und geduldig, wenn auch ernst und nach innen gezogen.

Einmal rief er mich an sein Bett und sagte: „Ich bin doch eigentlich in einem Zustande, der zwischen Bewußtsein und Bewußtlosigkeit schwankt (er hatte nämlich Opium bekommen, das ihn viel schlummern machte), aber in meinem Innern verlebe ich die göttlichsten Momente – ich muß die tiefsten spekulativen Gedanken denken, und die sind mir völlig eins mit den innigsten religiösen Empfindungen.“ – Einmal hob er die Hand auf und sagte sehr feierlich: „Hier zünde eine Opferflamme an.“ Ein anderes Mal: „Den Kindern hinlerlasse ich den Johannischen Spruch: Liebet Euch untereinander.“ Wieder ein anderes Mal: „Die guten Kinder, welch’ ein Segen Gottes sind sie uns!“ Ferner: „Ich trage Dir auf, alle meine Freunde zu grüßen und ihnen zu sagen, wie innig lieb ich sie gehabt habe.“ – „Wie freue ich mich auf die schönen Tage der silbernen Hochzeit, Hildchens (seiner Tochter) Hochzeit – ich durchlebe sie jetzt schon ganz.“ – „Ich wäre so gern noch bei Dir und den Kindern geblieben.“ – Und als ich meine Hoffnung aussprach: „Täusche Dich nicht, liebes Herz (mit der höchsten Innigkeit), es ist noch viel Schweres zu überstehen.“ – Auch verlangte er die Kinder zu sehen, doch als ich ihn bat, ja alles Bewegende zu vermeiden, stand er gleich davon ab und war damit zufrieden, daß jedes nur einmal in das Zimmer kommen sollte, etwas zu bringen. Er fragte einige Male, wer im Nebenzimmer sei, und als ich ihm die lieben Freunde nannte und sagte: „Sie sind mit den Kindern im stillen Gebet vereinigt,“ schien er sich daran zu freuen.

Am letzten Morgen stieg sein Leiden sichtbar. Er klagte über heftigen inneren Brand, und der erste und letzte Klagelaut drang aus seiner Brust: „Ach, Herr, ich leide viel.“ Die vollen Todeszüge stellten sich ein, das Auge war gebrochen, sein Todeskampf gekämpft. Da legte er die beiden Vorderfinger an das linke Auge, wie er that, wenn er tief nachdachte, und fing an zu sprechen: „Ich habe nie am todten Buchstaben gehangen, und wir haben den Versöhnungstod Jesu Christi, seinen Leib und sein Blut. Ich habe aber immer geglaubt und glaube auch jetzt noch, daß der Herr Jesus das Abendmahl in Wasser und Wein gegeben hat.“

Diese Aeußerung bezog sich darauf, daß ihm Wein ausdrücklich verboten war und bei den Juden wurde bekanntlich, wie im ganzen Alterthum, der Wein nur vermischt mit Wasser genossen. Während dessen hatte er sich aufgerichtet, seine Züge fingen sich an zu beleben, seine Stimme war rein und stark. Er fragte mit priesterlicher Feierlichkeit: „Seid Ihr auch eins mit mir in diesem Glauben, daß der Herr Jesus auch das Wasser in dem Wein gesegnet hat?“ worauf wir ein lautes Ja antworteten. „So lasset uns das Abendmahl nehmen, Euch den Wein und mir das Wasser,“ sagte er feierlich, „es stoße sich keiner an der Form.“ Nachdem das Nöthige herbeigeholt war, während wir in feierlicher Stille mit ihm gewartet hatten, fing er an, mit verklärten Zügen und Augen, in denen ein wunderbarer Glanz, ja eine höhere Liebesgluth, mit der er uns anblickte, zurückgekehrt war, einige betende, einleitende Worte zu der feierlichen Handlung zu sprechen. Darauf gab er zuerst mir, dann jedem Anwesenden und zuletzt sich selbst das Brod, indem er bei jedem die Einsetzungsworte laut sprach: „Nehmet hin und esset,“ ja so laut sprach er, daß alle Kinder, die horchend an der Thür des Nebenzimmers knieten, es deutlich hörten.

Ebenso reichte er den Wein mit den vollständig ausgesprochenen Einsetzungsworten, und zuletzt, nachdem er auch sich selbst wieder die Einsetzungsworte geredet hatte, das Wasser; dann: „auf diesen Worten der Schrift beharre ich, sie sind das Fundament meines Glaubens.“ Nachdem er den Segen gesprochen, wandten sich seine Augen noch einmal voll Liebe zu mir – dann: „in dieser Liebe und Gemeinschaft bleiben wir eins.“ Er legte sich auf das Kissen zurück. Noch ruhte die Verklärung auf ihm. Nach einigen Minuten sagte er: „Nun kann ich auch nicht mehr hier aushalten,“ und dann: „gebt mir eine andere Lage!“ Wir legten ihn auf die andere Seite. Er athmete einige Mal auf; das Leben stand still. Unterdeß waren alle Kinder hereingetreten und umgaben knieend das Bett. Sein Auge schloß sich allmählich. – – Wle schwach reicht jetzt selbst die Erinnerung an die Wirklichkeit dieser ungeheueren Augenblicke!“ –

So lebte, wirkte und starb Schleiermacher; er ruht in Berlin auf dem Kirchhofe der Dreifaltigkeitsgemeinde vor dem Hallischen Thore. Ein sinniger Grabstein mit seinem überaus ähnlichen Brustbilde bezeichnet die letzte Stätte des Mannes, der den Geist des Christenthums, Liebe und Duldung, Freiheit und Fortschritt, wie Wenige, erkannt und durch Wort und That gefördert hatte.




Der Newgate-Fleischmarkt in London.

Die Märkte in London! Lebensquellen für 3 Millionen Menschen, die alle mehr „nach der Nahrung“ sind, als die mit Hunger und Appetit gesegneten Sterblichen anderer Nationen – das will etwas sagen. Nachtmärkte mit den Blumen-, Frucht- und Gemüsemarkt haben wir schon früher geschildert, und auch der neue Viehmarkt ist den Lesern mit Wort und Bild in einem frühern Jahrgange gezeigt worden.

Gehen wir weiter auf diesem Gebiete, in den Mittelpunkt des alten Londons, auf classischen Boden, den höchsten Hügel der Hunderthügelstadt, bis wir dicht vor der Paulskirche auf der Nordseite stehen, wo’s immer „zieht“ und der Wind immer um den ungeheuern Koloß herum läuft. Der Kirche gegenüber im Norden, dicht dabei, läuft die Reihe classischer Putzläden, wo man Hüte und Hauben, 150 Arten von Mänteln und Mantillen, Bänder [41] und Spitzen, Kleiderstoffe fuder- und schiffsladungsweise, aber auch im Einzelnen kaufen kann. Die großen Schaufenster sind immer von drei-, vierfachen Reihen kauflustiger Damen belagert. Wer Schönheiten und Eitelkeiten und Tand studiren will, mag hier verweilen, sich aber warm halten, damit er sich nicht bei warmer Bewunderung der schönen Welt erkälte. Wir unsrerseits gehen durch eine ganz enge und ganz kurze Seitenstraße in eine lange und noch engere, den Mittelpunkt des ganzen englischen Buchhandels, genannt Pater Noster Row. Von diesem Brennpunkte geistiger Nahrung führen noch viel engere Schlüpfen von Gäßchen in den Mittelpunkt alles Fleisches dicht dahinter.

Ja, der Großfleischmarkt Londons drängt sich in furchtbarster Enge dicht an das Leipzig des englischen Buchhandels, die enge Pater Noster Row.

Die Ochsen-, Schweine- und Schöpsenkeulen für 3 Millionen Menschen reichen bis in die ungeheueren Lager von Büchern und Broschüren und Magazinen für 28 oder doppelt so viel Millionen Menschen, da wir hier auch an die Colonien und den auswärtigen Verbrauch englischer Literatur denken müssen.

„Hier ist ein Wunder, glaub’ es nur!“ Wie man in diese paar scheußlichen, engen Schlupfwinkel zwischen dem Newgate-Gefängniß, vor welchem die armen Sünder mitten auf der Straße noch heute gehangen werden, der Paulskirche und dem Denkmal Robert Peels (classische Zusammenstellung in echt englischem Geschmack!) alles Fleisch für London und die Literatur für England zusammendrängen und von hier aus täglich fix und fertig in jeden Mund werfen kann, das ist ein Wunder. Auf dem Newgate-Markte wird Alles sogar in wenigen Stunden abgemacht. Von 3–4 Uhr an Morgens füllt es sich, und um 9–10 Uhr ist das Fleisch für 3 Millionen Menschen in Tausende von Fleischläden verschwunden.

Es ist wie mit den Fischen, Blumen, Früchten und Gemüsen, deren Zufuhr und Absatz im Großen an die Kleinhändler auch immer in Nacht und Nebel abgemacht wird. Ohne daß ein Polizei-Präsident oder irgend ein Staatsbeamter oder irgend etwas von Behörde und Menschenbeglückungs-Büreau oder irgend ein Gesetz im Geringsten dabei ordnet und eingreift, bekommt jeder der 3 Millionen Bewohner Londons täglich früh, wenn oder eh’ er aufsteht, sein Fleisch, seine Fische, seine Gemüse und Früchte und tausenderlei andere Dinge, die er vielleicht brauchen oder wünschen könnte, frisch aus der Schlächterei, aus Meeren und Flüssen, aus Feldern und von Bäumen Hunderte von Meilen weit her vor die Thür geliefert, ins Haus getragen. Die destillirteste, reinste, verdichtetste und göttlichste Macht und Weisheit der weisesten hundert Polizei-Präsidenten Europa’s brachte nicht eine so vollkommene Maschinerie von Ordnung, Fülle, Sicherheit und Schnelligkeit zu Stande, als sich hier stets von selber macht, erhält und vervollkommnet. Wenn erst Staaten, die oft nicht so viel Menschen haben, als London (und was von 3, gilt auch von 30, von 300, von allen Millionen Menschen), so klug geworden sind, sich um den Verkehr nicht zu bekümmern, können’s deren Unterthanen noch bequemer, billiger und besser haben, als die 3 Millionen London’s, die sich so furchtbar dicht auf einen Fleck zusammendrängen.

Wie ist’s möglich, daß sie aus diesen miserablen Winkeln und Schlüpfen des Newgate-Marktes mit gutem und frischem Fleisch sicher versorgt werden?

Die Arbeit fängt immer Nachts um die zwölfte Stunde an, wenn die letzten Omnibus und Lastwagen verschwunden sind und Raum gemacht haben, und dauert, bis die Omnibus und Lastwagen und Equipagen die Straßen wieder in Beschlag nehmen, d. h. von 8–9 Uhr Morgens. Während dieser Nachtzeit gehören die Straßen den Fleischerkarren, den Lastwagen voller Früchte, Gemüse und Blumen, den Fischlieferanten, den Milchhändlern, so daß die Leute, während sie ihr Nachtessen verdauen, immer schon wieder mit Frühstück und Mittagbrod und allen Delicatessen des Nach- und Nachttisches für den folgenden Tag versorgt werden. Das Fleisch kommt theils lebendig in zahllosen Heerden zu Wasser und zu Lande, zu Fuß und mit der Eisenbahn, theils geschlachtet und gut verpackt, sogar eingenäht, in London an und ist bis 5 Uhr Morgens dicht beisammen auf dem Newgate-Markte. Unzählige Wagenburgen von Fleischerkarren rollen während der Nacht durch die Straßen, leer nach, beladen vom Newgate-Markte.

Ich hatte mich mit meinem Fleischlieferanten verabredet, ihn um 5 Uhr Morgens zu treffen, damit er mir einmal den Newgate-Markt in seiner Geschäftsblüthe zeige. Unser Stelldichein war der Winkel des berühmten, alten City-Gefängnisses. Hier trafen wir uns pünktlich einer unendlichen Doppelreihe von einspännigen Karren gegenüber, deren weiche Kissen, Sitze und Mäntel und sonstige Kostbarkeiten den lauernden Dieben („lurchers“ und „snatchers“) gute Ernte zu bieten schienen. Ich äußerte mein Befremden über diese Sorglosigkeit, aber mein Führer ließ mir ein Licht aufgehen, indem er blos auf eine im Schatten der geräumigen Gefangnißmauer wachende und scharf umherspähende Figur zeigte. Ein einziger von den Fleischern privatim angestellter Mann machte hier die ganze Polizei und alle Einmischung von „Behörden“ überflüssig. Auch kommen die Polizeimänner blos zum Vorschein, wenn sie ganz besonders gerufen werden und wirklich nöthig sind.

Wir schoben uns in die kleine Hauptstraße des Marktes, wo ein unabsehbares Gewirr von Eisenbahn-Karren ihre Ladungen noch los zu werden suchten, während die Fleischer ihre Einkäufe und Ladungen schon durch wahre Nadelöhre von Raum hindurch zu quetschen und auf ihre Karren zu bringen sich abmühten.

Wie sie es anfingen, große Schöpsen und Ochsenhinterviertel über Köpfe und Schultern und Wagen hinweg wirklich davon und an Ort und Stelle zu bringen, ist mir heute noch ein Räthsel. Der Markt besteht aus wohl zwanzig kleinen, engen Gäßchen und Schlüpfen mit unzähligen Winkeln und unheimlichen Höhlen. Blos durch zwei Straßen können Wagen fahren. Letztere sind sieben Fuß breit, die beiden Straßen blos je zehn Fuß. Jeder Wagen enthält durchschnittlich 40 Centner Ochsen-, Schöpsen und Schweinehinterviertel („warum keine Vordertheile?“ Räthsel, das wohl niemand rathet, so daß wir’s hernach selber lösen wollen), die oft auf beiden Seiten über den Wagen hervorragen. Was bleibt da für Raum? Es bleibt nichts als dichter Qualm und Nebel, nebelumhüllter Lampenschein, sichtbarer Athem von Menschen und Thieren, Feuerwerk unter den Pferdehufen, die auf den nassen Steinen ausglitschen und kochen und dampfen vor Angst und Mangel an Luft und vor den Flüchen des Markt-Pedells, der sich mit den Pferdebändigern zankt. Aber sie behalten alle merkwürdig kaltes Blut und arbeiten sich wie Zauberer und Titanen mit Riesenkraft und Geschicklichkeit rasch gegenseitig in die Hände. Am meisten fielen mir ungeheuere Packete, in Sackleinewand genäht, auf, die vor einem noch geschlossenen Laden aufgehäuft wurden, sodann sonderbar ungeschickte Weidengeflechte, die so schwer hinplumpten, als wären sie mit Blei gefüllt. In letzteren stecken die Meisterstücke von Schöpsenhinterkeulen für die alten berühmten Hammel-Rippen-Restaurationen, in denen schon Shakespeare, Dichter und Notabilitäten der verschiedensten Jahrhunderte, ihre Hammelrippe eben so gut aßen, wie die Menschen von heute. Die classische Hammelrippe (eigentlich Hammelschnitt), wie sie in der City in Hunderten von Restaurationen täglich vielcentnerweise verzehrt wird, kann blos vom Hinterviertel geschnitten werden. Vordertheile kommen daher gar nicht nach London. Eben so ist’s mit den Schweinen und Ochsen von Aberdeen und sonstigen schottischen und fernen Gegenden, die immer blos Hinterviertel, dicht in luftdichte Sackleinewand genäht, auf den Londoner Großfleischmarkt schicken. Die Vorder- und sonstigen werthlosen Theile sind die Fracht nicht werth und nicht im Stande, das Ideal alles Fleisches, das die Londoner Geld- und Standes-Aristokratie alle Tage verwirklicht auf dem Tische sehen will, die „fein marmorirte“ Durchwachsenheit von Fett und Muskeln, leuchten zu lassen.

Es war früh, es war noch Nacht, aber die Tavernen, sonderbar enge hineingequetscht zwischen unendlichen Reihen von Fleischmassen und bald ganz verhangen und versteckt, glänzten in brillanter Gasbeleuchtung, die kometenschwanzartig durch die Schweine- und Ochsenviertel hindurch in die rauhe, nebelige Novemberluft hervorbrach. Im „Alten Kaffeetopf“, in der „Glocke“, in „Salutation and Cat“ überall Glanz und Leben und große Zinnkrüge Bier und saftquellende Stücke „Beef“ und aristokratischer Luxus ausgebreitet vor schmierigen, schmutzigen, riesigen Kerls in dicken Lederschürzen und blauer Leinwand. So massiv und massenhaft mögen die Freier der Penelope im Homer, die alten Nibelungenrecken geschmaußt haben. Hier ist Alles dicker Reichthum bis zum Pferdeknecht und Lastträger herab, die mit kaltblütiger Verächtlichkeit ihre Goldstücke hinwerfen, wenn sie bezahlen, und die Masse Silber, die sie herauskriegen, nur aus Gnade und Barmherzigkeit mit zu nehmen scheinen. Hier ist selbst das schmutzige Bret mit seinen großen Haken so gut wie Gold. Für die Erlaubniß, ein solches Bret, zwei Fuß breit und sieben lang, an eine Wand zu [42] nageln und Fleisch daran zu hängen, bezahlt ein Fleischer auf dem Newgate-Markte 40 Pfund Sterling– über dritthalbhundert Thaler – jährlich, und für den Laden gegenüber, eine Höhle von 12 Fuß Breite und 7 Fuß Tiefe, 170 Pfund Miethe. Und dies ist an einer wohlfeilen, versteckten Stelle. In der Nähe von Bonser, dem ersten Verkaufsmann in Newgate (so heißen sie, nicht „Fleischer“, da sie eben blos im Großen ein-und verkaufen), kostet dieselbe Räumlichkeit schon an 1500 bis 2000 Thaler.

Wir frühstückten im „Alten Kaffeetopf.“ Wieder heraustretend fanden wir den Markt in vollem Schwunge. Läden, Wände, Thüren, Breter, Häuser, – Alles war verschwunden, wenigstens unsichtbar geworden hinter Hammeln, Schweinen, Kälbern, Ochsen, zwanzig Arten von wilden Enten, Wasserhühnern, Hasen, Kaninchen und was weiß ich sonst noch für Gethier. Die beiden Schwingthüren der Tavernen waren zu bloßen Ritzen zwischen herabhängenden Schweinen geworden. Menschliche Ungeheuer in schmierigen Nachtmützen und mit Fudern von Fleisch auf Schultern und Rücken trabten und balancirten blindlings durcheinander, nach ihren Herren schreiend, damit diese ihnen Weg und Richtung zeigen sollten. Wandelnde Fleischmassen! Ihr Haar nichts als Fett, ihre Gesichtsrunzeln verklebt mit Talg, ihre Hände lebendige, rohe Beefsteaks, ihre Kleider selbst gemästet wie 7 Zoll hoch mit Fett bekleidete Schweineviertel. Die Fleischer, deren Karren draußen in unabsehbarem Gewirre harren, prüfen hier und da mit einem Finger eine Fleischmasse und schließen in demselben Augenblicke einen Kauf von 100 bis 200 Pfund Sterling ab. Die schon harrenden Träger fallen über die gekaufte Waare her, werfen Centnerlasten von Keulen auf ihre furchtbaren Rücken und taumeln damit blindlings und rücksichtslos gegen lebendiges Fleisch ab, während der Käufer seine knisternden, spröden Banknoten oder Hände voll Gold hinten in der Verkaufshöhle nachlässig hinwirft. Die meisten Fleischer schlachten nicht selbst, sondern kaufen ihren Bedarf immer auf diesem Großmarkte. Dieses Geschäft dauert höchstens drei Stunden. Was später und Abends folgt, ist Kinderei und Kleinhandel, der freilich zuweilen, namentlich Sonnabends, zum Größten und Ungeheuersten wird, was im Detail auf einem so kleinen Raume und in so kurzer Zeit geleistet werben kann.

Nachdem ich in dem Gewirr des Großgeschäfts bald von der schweren Hinterviertelkante eines Aberdeen-Ochsen geohrfeigt, bald von der scharfen eiskalten Pfote eines Schweines am Halstuche oder im Nacken gepackt, bald von den Hörnern eines Widders in’s Kreuz gestoßen und sonst auf tausenderlei Weise fettig gewischt und braun und blau, selbst blutig geschlagen worden war (einmal mitten in dieser wahnsinnigen Wildniß wüthender Leichname von Thieren, war schlechterdings nicht wieder herauszukommen), konnte man endlich wieder Athem schöpfen und seiner Wunden und Püffe bewußt werden. Einmal eingef– oder eingeweiht, beschloß ich, diese sonderbare Welt genauer und tiefer zu untersuchen. Auf Fürsprache meines Führers bekam ich Zutritt in die Werkstatt der Herren Benables und Dixon, die wöchentlich im Durchschnitt 500 (im Sommer) bis 1000 (im Winter) Hammel schlachten. Die Werkstatt bestand nach der Straße zu blos in einem großen Kasten, in welchem ein kaufmännisch aussehender Herr über dicken Büchern saß.

„Und wo ist das Schlachthaus?“ fragte ich verwundert. – „Hier,“ antwortete er, indem er auf eine Thür hinter seinem Kasten zeigte und sie hernach öffnete. Indem er aus seinem Kasten trat, um mich hinein zu lassen, stieg mir Qualm und Schlachtgeruch in dicken Wolken entgegen. Ich sehe endlich durch die geöffnete Thür in einer dunklen Höhle, nicht größer als eine gute Stube, acht menschliche Gestalten, alle mit bloßen Armen, alle thatsächlich vom Haar bis zu den Stiefelsohlen von Blute rauchend und triefend.

Diese acht Ungeheuer bilden zwei „Gänge“, wie mich der Buchführer zu dem Kasten herein belehrte. Jedes Schaf geht durch vier Paar Hände, um fix und fertig zum Verkauf zu werden.

Die beiden „Gänge“ arbeiten in der Regel 12 Stunden des Tages und schlachten oder „bringen aus“ während dieser Zeit 160 Stück, sodaß auf jedes noch nicht Minuten kommen. Mein Auge war bald an die Dunkelheit gewöhnt, sodaß ich die kleine Mordhöhle deutlich übersah und mich zwang, ein paar Minuten auszuhalten, um mir ein Bild von dieser „Nachtseite“ menschlicher Industrie zu verschaffen. Die acht menschlichen Ungeheuer waren in voller Arbeit zwischen lebendigen, ganzen, Halden, sterbenden, todten, halb und ganz geschundenen Hammeln. An der einen Wand entlang standen mindestens 15, lebendige Thiere festgebannt hinter einen Verschlag, aus welchem ein schwitzender, von Blut getränkter Riese, ein Bild des Grauens in dem dunkeln Dampfe dieses Raumes, eins nach dem andern hervorzog, es auf einen großen, aber übergitterten Kasten warf und durchstach, während die andern sofort ihre Arbeit des Schinkens und Ausweidens begannen. Die lebendigen Schafe standen und starrten auf diese furchtbare Scene und gaben zuweilen Töne von sich, wie ich sie nie aus solchen Thierkehlen vernommen, zitternd-quiekend grunzende Töne, für mich das Grauenvollste und Erschütterndste des ganzen scheußlichen Bildes, das nur von den Ochsenschlächtern in ihren dunkeln Schuppen und unterirdischen Höhlen, den fabrikmäßigen Schlächtern der 250,000 Stück, die London neben zwei Millionen Schafen, 30,000 Kälbern und 40,000 Schweinen jährlich verzehrt, noch übertreffen wird.

Ich sah mit künstlicher Abhärtung auf diese Mord-Industrie und nahm an, daß sie nothwendig sei, also ohne alle Sentimentalität, aber nie war mir das Herz schwerer, als nach diesem Anblick, den ich unter den verhältnißmäßig heitern Scenen des draußen begonnenen Einzelverkaufs vergebens los zu werden suchte.

Die eigentlichen aristokratischen Großhändler hatten bereits geschlossen, so daß sie den zum Einzelverkauf herabsteigenden Freunden der Armen und „gebildeten Proletarier“ mehr Raum ließen.

Die ordentlichen und wohlhabenderen Armen kaufen sich hier (für die Hälfte der eigentlichen Fleischer-Preise) ihre Fünf- bis Zehnpfundstücke Fleisch für die Woche. Es wird Sonntags frei vor dem Kohlenfeuer gedreht. Während der Woche hauen sie sich jeden Tag ein Stückchen ab. Ein Papierchen voll „Erbsen-Pudding“ dazu aus dem Laden, einige Kartoffeln und ein großer Humpen Bier mit Gischtmütze (nie ohne dieses), vielleicht auch ein klatsch von grünen Blättern in Salzwasser gekocht – das ist das Mittagsmahl der Arbeiter und wohlhabenderen Armen.

Das Gedränge, Geschiebe und Geschrei dieses Detail-Geschäfts läßt sich leicht denken, da der Newgate Markt – in der Mitte von 3 Millionen Menschen, die alle zu den Carnivoren erster Classe gehören, sich auf dem theuersten Pflaster in einander und über einander schiebt und die Straßen und Gäßchenwinkel Tausende von Hausvätern, Müttern, Kindern, Körben und Kiepen aufnehmen und befriedigen müssen. Merkwürdig ist die Schnelligkeit, Grobheit und witzige Kürze, womit hier gehandelt wird. Kaum sieht ein sorgsamer Hausvater oder die wegen knapper Börse bedenkliche Mutter und Gattin ein Stück Vieh an, so ist’s auch schon vom Haken herunter und in ihren Korb. Will oder kann sie nicht so viel zahlen, als der feste Preis ist, fliegt es mit einer kurzen, schnöden Bemerkung schon einem andern Kunden zu.

So etwa kommen und verschwinden im Durchschnitt täglich 100 Kälber, 150 Schweine, 6000 Hammel und über 700 Ochsen, außer Geflügel, Kaninchen, Hasen etc., von diesem einzigen Fleischmarkte Londons.




Die Juden im Ghetto zu Rom und die heilige Inquisition.

Wenn man in Rom über den Ponte Sisto nach dem jenseits der Tiber gelegenen Stadttheil geht, so kommt man durch mehrere lange, schmale Straßen auf einen kleinen, unschönen Platz. Auf dem kleinen Platz steht ein palastartiges Gebäude im Baustyl des fünfzehnten Jahrhunderts. Die Zeit hat seine Mauern mit ihrem eigenthümlichen, dunkeln Colorit gefärbt, der ornamentale Schmuck ist hie und da heruntergefallen, und die Fensterbogen und die mit Wappen geschmückten, hohen Portale bieten den Anblick des Verfallens und der Verkommenheit. Das große Gebäude ist der Palast Cenci, einst der Schauplatz einer furchtbaren Tragödie, welche durch Shelley’s geniale Feder und in den drei berühmten Bildern des Palastes Barberini ewig leben wird. In diesen Mauern wohnte Beatrice Cenci, die schöne und tugendhafte Römerin, welche ihr eigener Vater, ein reicher und wegen seiner moralischen Verworfenheit in Rom allgemein verabscheuter Patrizier, mit seinen blutschänderischen Nachstellungen verfolgte. Der alte Francesco Cenci ging in seiner Verworfenheit so weit, sich seiner beiden ältesten Söhne durch gedungene Banditen zu entledigen, und nun [43] konnte sich Beatrice seinen Nachstellungen nicht anders entziehen, als dadurch, daß sie selbst zu dem schrecklichen römischen Dolchmesser ihre Zuflucht nahm. Ihre Stiefmutter und ihr Bruder Giacomo boten dem unglücklichen Mädchen ihre Hülfe an, und so fiel der Vater unter der Hand seiner eigenen Tochter. Beatrice, ihre Mutter und ihr Bruder büßten ihre That mit dem Leben. Im September 1599 fielen ihre Köpfe unter dem Schwerte des Henkers. Wenn ich im Palaste Barberini vor dem Bilde Beatrice’s stand und diese reinen, engelhaften Züge anschaute, wenn mich dies durch dunkle Wimpern halbverschleierte Auge so traurig anblickte, so konnte ich es mir nicht möglich denken, daß in diesem so mädchenhaften Kopfe mit den sanften, frommen Zügen ein Mordgedanke aufkommen konnte, und immer verließ ich mit Trauer im Herzen über ein so furchtbares Schicksal den Saal.

Jahrhunderte sind seit jener That an dem alten Palast vorübergehuscht. Das Drama, das in seinen geschwärzten Mauern spielte, wäre längst verklungen, wenn nicht der Dichter und der Maler es im Gedächtnisse der Menschen festgehalten hätten. Aber ein anderes Drama, nur ein einzelner, geringer Theil in der großen Schicksalstragödie, welche die Regierung der Päpste in der Entwickelungsgeschichte des unglücklichen italienischen Volkes spielt, wird seit Jahrhunderten täglich vor ihm und in seiner nächsten Umgebung ausgeführt, ein Drama voller Schmerzen und Thränen, voll barbarischer und roher Handlungen. Der Palast Cenci steht am Eingange des Ghetto, des Judenviertels von Rom, und von allen unglücklichen Bewohnern der römischen Staaten sind die Juden die unglücklichsten, die rechtlosesten, die Paria’s unter den Tausenden von andern Rechtlosen. Ein Paria unter den Unterthanen des Papstes! Das Schreckliche in diesem Worte versteht nur der, der die römische Regierung kennt! Die Tausende von Flüchtlingen, welche kürzlich mit Hinterlassung ihrer Habe aus den Provinzen, in denen französische Soldaten die Autorität des Papstes wieder herstellten, in die Marken und nach Umbrien über die Grenze eilten, bilden zu meiner Behauptung einen entsetzlichen Commentar. – Die Juden haben in Italien eigentlich immer eine schlechte Zeit gehabt. Mit dem Auftreten des Christenthums begannen ihre Verfolgungen; aber diese Verfolgungen steigerten sich bis zum Raffinement der ausgesuchtesten Mißhandlungen, als aus den Trümmern des untergegangenen Römerreiches das Banner der päpstlichen Tiara mit der Devise: „Extra ecclesia nulla salus“ wehte. Papst Paul der Vierte ließ in allen römischen Städten, in denen Juden wohnten, den winkeligsten, schmutzigsten und ungesundesten Theil derselben durch Mauern absperren, befahl den Juden, nur da und nicht anderswo zu wohnen, und schloß die Thore dieser Ghetto’s vom anbrechenden Abend bis zum andern Morgen. Jeder Jude mußte als Abzeichen einen gelben Hut tragen, und dieser gelbe Hut gab die Unglücklichen allen erdenklichen Verfolgungen und Beschimpfungen Preis. Bei den Carnevalsspielen auf der Piazza Navona und auf dem Corso wurden die Juden gezwungen, bei dem Wettrennen der Büffel, Pferde und Esel mitzulaufen. Die Faschingsluft reizte das Volk zu den zügellosesten Ausschweifungen gegen die Unglücklichen, und die Cardinäle saßen auf ihren Tribünen und ergötzten sich an diesen die menschliche Vernunft und die Christusreligion, die Religion der Humanität und der Liebe, schändenden Scenen. Sonntags wurden die Juden zum Anhören der Messe und von Bekehrungspredigten in die christlichen Kirchen getrieben. Juden prügeln, peinigen, sie tödten, sie mißhandeln, war kein Verbrechen. Juden hatten kein Eigenthum; denn sie wurden von Zeit zu Zeit gezwungen, ihr Hab und Gut zu bestimmten Preisen zu verkaufen, widrigenfalls dieser Verkauf von Seiten der Regierung selbst vorgenommen wurde, und alljährlich mußten sie durch einen enormen Tribut von der päpstlichen Regierung die Gnade erkaufen, diese schreckliche Existenz in den römischen Staaten weiter fortsetzen zu dürfen. Doch, wird man mir sagen, ich erzähle märchenhafte Zustände vergangener Jahrhunderte; das Alles ist vorüber! Unter der Regierung Pio Nono’s, des jetzigen, schwergeprüften Papstes, sind die Mauern des Ghetto, welche dessen unglückliche Bewohner von der christlichen Bevölkerung trennen, gefallen. Ich erwidere darauf: Es ist nichts wahr; außer den grausamen Carnevalsscherzen ist die Lage der Juden in den römischen Staaten noch heute dieselbe, wie sie vor hundert Jahren gewesen ist. Unter den unglücklichen Unterthanen des Oberhauptes der christlichen Kirche sind die Juden noch heute die unglücklichsten, die Paria’s der Gesellschaft, und die heilige Inquisition in Rom hat es sich in den letzten Jahren zur besondern Aufgabe gemacht, die Juden zu verfolgen und sie auf eine ausgesuchte Weise zu martern, wenn sie dieselben auch nicht mehr auf den Scheiterhaufen bringen kann. Die Mauern und Thore des Ghetto sind freilich gebrochen; aber die heilige Inquisition hat eine Mauer geistigen und bürgerlichen Druckes um diese schmutzigen und winkligen Straßen aufgebaut, daß man bei der Entscheidung in Verlegenheit kommen möchte, welche Mauer höher und schrecklicher war, die alte steinerne, oder die neue, durch ihre Edicte und Gesetze aufgebaute Mauer. Die Juden Roms wohnen alle noch in den Winkeln des Ghetto zusammen, weil mit Christen zusammenzuwohnen und mit Christen in irgend einer Verbindung zu leben, ihnen bei den strengsten Strafen untersagt ist.

Häufig führte mich mein Weg durch jenen Stadttheil, welchen die Tiber zwischen den Brücken Ponte Sisto und Quatro Copi begrenzt. Es ist ein sumpfiger, ungesunder Moorgrund, der fast im Niveau des Tiberspiegels liegt, das ungesundeste Viertel in dem im Sommer so heißen und ungesunden Rom. Im Norden und im Süden ragen die Architrave und gebrochenen Säulen der Tempel des Marcellus und Pompejus über so enge, schmutzige und elende Gassen empor, daß selbst die Gassen des St. Gilesviertels in London und die jetzt verschwundenen Straßen in Paris, in denen Eugen Sue’s einst so berühmter Roman spielte, dagegen licht und freundlich zu nennen sind. Mehrere Gassen sind so eng, daß kaum zwei Menschen nebeneinander gehen können. Ich blickte in sie hinein: ein entsetzlicher Dunst, ein höllischer Qualm, will ich lieber sagen, schlug mir entgegen, und in diesem schmutziggelben Qualm lagen halbnackte Kinder in zerrissenen Lumpen auf dem Pflaster, und verkümmerte Gestalten krochen an den Häusern umher. Ich kroch nun auch in die Gasse, und schaute rechts und links in Höhlen hinein, in denen ich nicht eine Stunde hätte leben mögen. Alle die verkrümmten Gestalten in ihren Lumpen streckten mir die magern Hände entgegen, und baten um einen halben Bajocch. Es waren nicht die privilegirten römischen Bettler, welche die Regierung des Papstes täglich zu vielen Hunderten mit ihren aussätzigen Gliedern, mit ihren ekelhaften Beulen und Wunden auf dem Corso und auf der Via Condotti auf die Straße setzt, um das Mitleid aller Vorübergehenden in der widerlichsten Weise anzuflehen – eine in einem civilisirten Lande unerhörte Sitte –; es waren nicht die braunen Bettelmönche, welche mit ihren klappernden Büchsen in Rom sogar in alle Häuser dringen; nein, es waren die Paria’s unter den Paria’s des Judenviertels. Keine Straße in St. Giles hat ähnliche Gestalten aufzuweisen; die Bettler Roms sind gegen diese Bettler vornehme, reichgekleidete Herren.

Lange konnte ich es in diesem Dunst, in dieser Enge, mitten unter diesen Elenden nicht aushalten; ich warf ihnen alle Kupfermünzen zu, welche ich in der Tasche hatte, und ging in eine andere Straße, welche die enge Gasse rechtwinklig durchschnitt. Sie war die Handels- und Verkehrsstraße des Viertels. Alle unteren Räume der Häuser bestanden aus Läden, Magazinen und Arbeitsstuben; aber die Straße war nicht so breit, daß ein Wagen durchfahren konnte. Alle Läden und Magazine waren enge, halbdunkle Räume, in welche das Licht der Sonne nur von einer Seite, durch die Thüre und durch die Verkaufsfenster hineinfiel. Die Wände derselben bestanden aus den nackten Steinen, denen der Rauch, der Dunst und der Schmutz dasselbe dunkle Colorit gegeben hatte. Drinnen saßen sie, Männer und Frauen, lauter jüdische Physiognomien, und stopften und flickten die alten Kleider und die zerrissenen Lumpen, welche an den Schaufenstern – wenn man viereckige, große Löcher ohne irgend eine Fensterbekleidung so nennen kann – zum Verkauf ausgehängt wurden, und schwatzten und redeten, und aus jedem dieser Löcher rief es mir ein „Signor, commanda, Signor!“ entgegen. Zum ersten Mal hörte ich den wohltönenden römischen Dialekt mit jüdischem Accent sprechen. Vor den engen, schmalen Thüren hockten Judenknaben und Judenmädchen auf den Steinen, und alle möglichen Lumpen und Kleiderfetzen Roms waren an den Mauern ausgehängt und wurden den Vorübergehenden mit der widerwärtigsten Zudringlichkeit von der Welt zum Verkauf angeboten. Hie und da stand ein französischer Soldat in seinen rothen Hosen vor einem Laden und feilschte um ein baumwollenes Hemde, oder ein vornehmer, privilegirter Bettler handelte um ein paar mit Nägeln beschlagener, grober Schuhe, und die ganze Familie, welcher der Laden gehörte, stand um ihn zusammen und bemühte [44] sich, ihm mit orientalischer Lebendigkeit die Preiswürdigkeit der Waare auseinanderzusetzen. Außer Lumpen und alten Kleidern gab es in der langen, engen Straße aber nichts zu verkaufen. Der Rinnstein ging mitten durch die Straße, und das Pflaster war mit Schmutz und Resten von Vegetabilien bedeckt. Dann kam ich auf den Gemüsemarkt, auf dem kleinen Platze, welchen die Trümmerreste des Theaters des Marcellus überragen. Hier war das Centrum des Verkehrs im Ghetto. Gemüse, Hühner und Stücken Rindfleisch wurden zum Verkauf ausgeboten. Der ganze Platz war ein großes Convolut von Schmutz, zerlumpten Weibern und unappetitlichen Vorräthen – doch ich will hiermit meine Schilderei des Ghetto’s in Rom beendigen, ich weiß, wie bald der Anblick dieser widerlichen Zustände mich immer aus den engen und winkeligen Straßen hinaustrieb, und ich kann dem Leser nicht mehr zumuthen, wie meinen eigenen Augen.

In diese ungesunden und schmutzigen Winkel sind die in Rom lebenden Juden gebannt. Das Edict der heiligen Inquisition, welches dieselbe im Jahre 1843 gegen die Juden in den päpstlichen Staaten erließ, und welches noch heute in seinem ganzen Umfange mit Ausnahme eines einzigen Paragraphen, nämlich, daß kein Jude die Nacht außerhalb des Ghetto’s zubringen darf, gültig ist, hält sie dort fest, indem es ihnen die Möglichkeit entzieht, anderswo zu wohnen. Das Edict lautet folgendermaßen – ich habe es wörtlich aus dem Italienischen übersetzt:

„Kein Jude darf Christen in seiner Behausung wohnen haben, Christen ernähren oder Christen in seinen Dienst nehmen, bei Strafe, nach den päpstlichen Gesetzen bestraft zu werden.
Kein Israelit darf in irgend einer in den römischen Staaten belegenen Stadt wohnen, ohne eine ausdrückliche Genehmigung und Erlaubniß der päpstlichen Regierung.
Kein Jude darf freundschaftliche Verbindungen mit Christen unterhalten.
Kein Jude darf mit Büchern und mit dem Dienst der Kirche geweihten Gegenständen Handel treiben, und zwar bei einer Strafe von hundert Thalern und sieben Jahr Gefängniß.
Bei einem Begräbniß eines Juden darf keine Feierlichkeit oder Ceremonie irgend einer Art stattfinden.
Diejenigen, welche diese Gesetze übertreten, sind der Gerichtsbarkeit der heiligen Inquisition verfallen.
Gegenwärtiges Edict wird in allen Ghetti und in allen Synagogen zur öffentlichen Kenntniß gebracht.
Der Großinquisilor Salua.“ 

Das Verbot, daß kein Jude außerhalb des Ghetto’s wohnen oder den Ghetto nach Belieben verlassen kann, ist durch die Bestimmung ersetzt, daß kein Jude ohne einen Paß seines Local Inquisitors weder sich vom Orte entfernen, noch eine Reise unternehmen darf. Ich will einen solchen Judenpaß, wie er mir in Rom vorgelegt worden ist, in wörtlicher Übersetzung hier mittheilen. Sein Inhalt wird mich alles weitern Commentars überheben.

„Dem Juden N… gebürtig aus … wird hiermit die Erlaubniß ertheilt, sich während eines Zeitraumes von … von dem Ghetto, dem er angehört, zu entfernen, aber nur unter der ausdrücklichen Bedingung, daß während seiner Abwesenheit seine Aufführung frei von jedem Fehltritt gegen unsere heilige Religion und gegen die guten Sitten ist, und daß er bei seiner Rückkehr diesen Paß sofort bei unserm Tribunal zurückreicht, und daß er sich nicht weiter entfernt, ohne eine neue ausdrückliche Erlaubniß erhalten zu haben. Ferner erlischt gegenwärtige Erlaubniß augenblicklich, wenn der Inhaber derselben sie nicht sofort an dem Orte, wo er sich aufhalten will, dem Bischof, dem Inquisitor oder deren Stellvertreter vorzeigt und sich deren Visum geben läßt. Ferner erlischt sie augenblicklich, wenn die genannten Personen der Meinung sind, sie nicht berücksichtigen zu wollen oder ihre Zeitdauer abzukürzen. Im Gegentheil sind dieselben aber auch berechtigt, die Zeitdauer derselben zu verlängern.
Ort und Datum. F. L. D., Vicar der heiligen Inquisition.“

„Sie finden diese Bestimmungen hart?“ sagte einer meiner Freunde in Rom, der mir diesen Zwangspaß zur Abschrift übergab und gegen den ich meine Entrüstung aussprach, „hart für einen römischen Juden? O, gehen Sie in’s Ghetto und sehen Sie selbst, in welch ungesunden, schmutzigen Winkel die hohe Inquisition diese Juden bannt. Wissen Sie denn, daß die heilige Inquisition den Aerzten gebietet, sobald sie zu einem kranken Juden gerufen werden, sofort dessen Bekehrung vorzunehmen und, wenn der Jude sich nicht bekehren will, ihn sofort ohne ärztlichen Beistand zu lassen?“

Ich blieb ihm vor Erstaunen die Antwort schuldig.

„Ja wohl, mein Freund,“ fuhr er fort, „das ist wirklich so! Und was wollen Sie? das ist nur consequent. In den römischen Staaten ist ein Jude ein rechtloses und schutzloses Subject. Für ihn giebt es weder Gerichte, noch Polizei. In Rom können Sie einen Juden schlagen, Sie können ihm in’s Gesicht spucken, Sie können ihn mit Steinen werfen, o, Sie können ihn schlimmstenfalls auch tödten. Noch heute wird alle Sonntage im Ghetto eine Anzahl Juden ausgesucht und in eine christliche Kirche getrieben. Es geht nach der Reihe.“

Ich staunte. „Das sind ja die Dragonerbekehrungen Ludwig des Vierzehnten!“ rief ich aus.

„Nun ja, im heiligen italienisch-römischen Reiche. Jetzt wird Ihnen die Geschichte des kleinen Mortara, welche in Europa so viel Lärm gemacht hat, wohl weniger auffallend erscheinen. Sie ist die directe Consequenz des vollkommen rechtlosen Zustandes unserer Juden. Wissen Sie denn, daß noch heute jährlich vor dem Beginn des Carneval drei Abgeordnete des Ghetto im Palast der Conservatoren zu erscheinen haben, um in demüthiger Unterwerfung das Recht eines verlängerten Aufenthalts in Rom einzuholen und durch einen Tribut die Pflicht abzukaufen, mit den Pferden auf dem Corso Wettrennen zu müssen? Erkundigen Sie sich, fragen Sie Andere, wenn Sie glauben, ich übertreibe.“

Ich fragte und erkundigte mich. Es war Alles wahr; er hatte nichts übertrieben. „Ich selbst habe es im vorigen Carneval gesehen, wie die Abgeordneten der Juden im Palast der Conservatoren erschienen, wie sie niederknieten und mit Stößen verabschiedet wurden,“ sagte zu mir ein deutscher Kaufmann aus Triest, Herr J. P. K…, den ich im Café greco kennen lernte.

Auch nach dem kleinen Mortara erkundigte ich mich. Niemand wußte, wo er geblieben war. Ein römischer Arzt versicherte mir, daß er noch in einem Kloster in Rom sei. Niemand wunderte sich übrigens in Rom über diesen Fall. In Bologna wurde mir beispielsweise eine ähnliche Geschichte erzäblt, welche die vollständige Rechtlosigkeit der Juden in ein noch helleres Licht stellt. Ein dortiger jüdischer Kaufmann hatte eine sehr schöne Frau. Ein junger christlicher Handelsmann verliebt sich in die Frau, entführt sie und flieht mit ihr nach Rom. Dort führt er sie zu einem Vicar der heiligen Inquisition; sie schwört ihren Glauben ab und verheirathet sich mit ihrem Liebhaber. Darin liegt nichts Außerordentliches; aber nun nimmt sich der Großinquisitor des neuen Paares an. Der unglückliche frühere jüdische Ehemann wird vor das Tribunal der Inquisition gefordert und wird verurtheilt, seiner frühern Frau ein jährliches Alimentationsquantum zu bezahlen. Und durch welche Gründe wurde dies originelle Erkenntniß motivirt? Die Frau des Christen, jetzt selbst eine Christin, muß dafür eine Entschädigung haben, weil sie mehrere Jahre mit einem Juden zusammen gelebt hat(!).

Man weiß im übrigen Europa gar nicht, daß das mittelalterliche Institut der heiligen Inquisition noch in Rom existirt. Mancher mag es für ein Märchen halten. Und doch ist es so. Unter die unglaublichen Dinge römischer Gerechtigkeitspflege gehört auch die Gerichtsform der heiligen Inquisition, und diese Inquisition ist mit ihren unbekannten Spionen, mit ihren heimlichen Sbirren, mit ihren düstern Gefängnissen, mit ihren Martern und Stockprügeln täglich in Thätigkeit. Eine specielle Thätigkeit entwickelt sie, wie ich schon erwähnte, seit den letzten Jahren in den Judenverfolgungen. Die weltlichen Gerichte leihen ihr ihre Gensd’armen und Polizeisoldaten, wogegen sie denselben ihre Spione borgt. In Rom und in den Provinzen besitzt sie eine Menge von heimlichen Vertrauten, welche keine Geistliche sind. Diese Vertrauten sind für die übrigen Unterthanen des Papstes äußerst gefährlich; denn sie besitzen alle Privilegien der Priester, kein bürgerlicher Gerichtshof hat ein Recht über ihre Personen. Selbst, wenn sie in flagranti bei der Ausübung eines schweren, todeswürdigen Verbrechens ergriffen werden, hat der Großinquisitor das Recht, sie abzufordern und wieder in Freiheit zu setzen, wenn er ihrer bedarf. Ihre Namen und ihre Person sind unbekannt. Wie einst die Abgeordneten der heiligen Vehme, sind sie in den Mantel düstern Geheimnisses eingehüllt. Ich habe in Rom bei meiner jetzigen Anwesenheit ein Edict dieser heiligen Inquisition gesehen, welches [45] im Jahre 1856 durch die Abgeordneten sämmtlicher Bischöfe des römischen Staates auf einem Concil in Loretto als Gesetz angenommen, publicirt und allen Inquisitionsbehörden zur Nachachtung mitgetheilt worden ist. Es waren darin die Verbrechen aufgezählt, welche die Inquisition zu richten hat, und die Strafen aufgeführt, welche dieselbe auszusprechen berechtigt ist. Die Verbrechen waren: Gotteslästerung, unmoralische Lebensweise – welch ein weiter Begriff und welch unendlicher Raum zu Verfolgungen! – ungebührliches Benehmen gegen die Kirche, Nichtheilighaltung der Feste, Vergehen gegen die Fasten. Als Strafen waren angegeben: die Excommunication, die Geldstrafe, das Gefängniß, die Verbannung, Peitschenhiebe und der Tod.

Den Schluß dieses entsetzlichen Edictes bildet die Bestimmung, daß Jeder, der zufällig Zeuge eines der angegebenen Verbrechen ist, und dies Verbrechen nicht sofort der heiligen Inquisition anzeigt, bestraft wird, als wenn er selbst das Verbrechen begangen hätte.

G. R.


Eine physiognomische Aufgabe für unsere Leser!

Die Copie des Portraits ist auf’s Treueste nach der Original-Zeichnung wiedergegeben, die im Anfange der dreißiger Jahre nach der Natur entworfen wurde. Die bekannte Frisur à la Giraffe, die weiße Cravatte und die sehr kurze Rocktaille sprechen allein schon dafür. Prüfen wir aber den Kopf näher, in dem, allerdings schon durch die damalige Mode hervorgerufen, durchaus etwas Geschniegeltes liegt, so fällt uns zunächst der halb scheue, halb lauernde Blick des Mannes auf, der sich höchstens in der Mitte von zwanzig Jahren befinden mag. Die Augendeckel scheinen die Iris beinahe zur Hälfte zu durchschneiden und werfen einen breiten Schatten über das Auge.

Die Brauen sind stark und südlichen Ausdrucks, die Nase scharf markirt, der Mund unbedeutend, vielleicht etwas süßlich, gewiß aber nicht schön, denn der junge Herr scheint die Haare des spärlichen Schnurrbarts absichtlich darüber gezogen zu haben. Das Kinn wie der ganze untere Theil des Gesichts, mehr zurückfliegend, läßt beinahe auf Sanftmuth schließen. Wir haben einen guten Volksausdruck für derartige Persönlichkeiten, man nennt sie gewöhnlich „Duckmäuser“, und glauben, dieses Wort dürfte das bezeichnendste für unsern Mann sein. Er lebt noch! Er steht auf einer der höchsten Stufen und – es bleibt nur noch unsern Lesern zu errathen, wer dieser Mann ist.

Zur Zeit der Auflösung unsers physiognomischen Räthsels wollen wir Rechenschaft über unser heutiges Bild geben – wen es vorstellt – von wannen es kommt – wo es entstand. Vorläufig nur so viel: die Originalzeichnung befindet sich im Besitz des pens. Hofschauspielers Herrn Kriete.

H. K. 


[46]

Im hohen Hause.

Eine Geschichte von Edmund Hoefer.
(Fortsetzung)


„Fräulein Beck ging in häuslichen Angelegenheiten mit mir zugleich aus dem Zimmer, und als wir auf dem Flur allein waren, konnte ich nicht umhin, leise zu sagen: „Diese regelmäßigen Ausgänge Schenk’s sind mir doch neu gewesen, und auf der Harmonie habe ich ihn selten genug gesehn.“

„Das schien der Herr Assessor auch zu meinen,“ erwiderte sie, trübe den Kopf schüttelnd, „wenn er es auch nicht geradezu aussprach, weil er ebenso wenig wie Sie die arme Mutter betrüben wollte. Und sehn Sie, Herr Hauptmann, ich habe über diese Ausgänge stets meine eigenen Gedanken gehabt. Es hätte doch dem Herrn Rath wahrhaftig gleichgültig sein können, ob er hin und wieder etwas später in die Harmonie und zu seiner Lectüre kam, allein er war bei jeder kleinen, gelegentlichen Verzögerung so ungeduldig, ja so gereizt, wie ich ihn früher nie gekannt, und kam endlich dann fast nie mehr zu uns hinein, wie er es doch sonst vor jedem Ausgange that. Und endlich –,“ setzte sie wiederum kopfschüttelnd hinzu, – „die Frau Medicinalrath meint, er sei Abends dann so heiter und liebenswürdig gewesen, doch darin muß ich ihr geradezu widersprechen. Sie hätten das auch wohl beobachten können, Herr Hauptmann, obschon er sich natürlich Ihnen gegenüber mehr zusammennahm – ich fand ihn dann wohl milde und freundlich, aber auch häufig sehr zerstreut und träumerisch. Ich hatte vor Weihnacht schon im Sinn, mich bei Ihnen oder Huber zu erkundigen, ob unser Robert vielleicht hoch spiele und stark verliere, so erschien mir sein Wesen. Nachher aber ließ ich’s lieber. Es war dergleichen doch so gar nicht in seiner Art, und er war am Ende doch auch zu generös und willensstark, um sich durch einen Verlust derartig verstimmen zu lassen, oder, wenn derselbe über eine vernünftige Grenze hinausging, das Spiel nicht ganz aufzugeben. Wirklich, ich weiß nicht, was ich davon denken soll.“

„Ich ging nach diesem kurzen Gespräch noch bei weitem nachdenklicher aus dem Hause. Es blieb aber für’s Erste dabei, denn einerseits hatte ich grade jetzt viel mit der Compagnie zu thun, andrerseits traf ich in meinen Freistunden entweder nicht mit den betreffenden Beamten zusammen oder fand mich mit ihnen nicht allein, und endlich passirte nichts Neues. Die gerichtliche Bekanntmachung des Falles war geschehn – man mußte jetzt die Folgen abwarten. Einstweilen blieb Alles still, und wie ich von Sinefsky erfuhr, hatte sich selbst in der großen Menge noch kein sonst so leicht entstehender Verdacht, keine Ahnung des Thäters, möchte ich es nennen, herausgebildet. Man glaubte im Allgemeinen fest daran, daß der Mörder kein Einheimischer gewesen, und der lebhafte Verkehr in der an einer großen Straße gelegenen Stadt ließ eine solche Annahme allerdings als die nächstliegende erscheinen. An eine genaue Controle aller Ein-, Aus- und Durchpassirenden war gar nicht zu denken, wäre dergleichen damals auch schon üblich gewesen.

„Am Sonntag Nachmittag begruben wir den unglücklichen Freund unter der größten Theilnahme der ganzen Bevölkerung, und als wir vom Kirchhof zurückkehrten, nahm Huber meinen Arm und sprach mich fortziehend: „Wenn Sie nichts Besonderes vorhaben, Hauptmann – in’s „hohe Haus“ gehn Sie doch wohl nicht? – so lassen Sie uns zurück gehen und trinken Sie mit uns Ihren Thee; meine Frau wird jetzt auch wieder daheim sein und Sie gern sehn. Sie haben sich rar gemacht, Hauptmann.“

„Das scheint Ihnen nur so,“ versetzte ich lächelnd. „Täglich wie bisher, so lange Leybold bei Ihnen wohnte, kann ich allerdings nicht mehr einsprechen. Aber sei es heut, wie Sie wünschen; ich bin frei und acceptire mit Dank.“

„Und so gingen wir bei dem prachtvollen Frühlingswetter langsam über die Wälle, bis wir durch’s Pfaffenthor in die Stadt und zu Huber’s naher Wohnung gelangten. Seine Frau war noch nicht von der Mutter des Ermordeten zurück, und das Mädchen berichtete, daß inzwischen „die Frau Professor“ einmal selber dagewesen und nachher noch einmal habe fragen lassen, ob Frau Huber noch nicht daheim, sie müsse sie sprechen.

„Huber sah das Mädchen betroffen an. „So so,“ meinte er dann aber anscheinend gleichgültig, „ist sie schon wieder zurück?“ Abbrechend gab er darauf im gleichen Ton die Weisung, man solle uns von der Rückkehr seiner Frau benachrichtigen, und führte mich die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer. Er war und blieb zerstreut, und erst als ich nach einer Weile von dem zu reden anfing, was ich über Schenk’s Ausgänge an jenem Morgen erfahren, und ihn endlich offen fragte, ob er bei seinen damaligen Andeutungen und Fragen nicht am Ende doch etwas Bestimmtes im Auge gehabt, wurde er aufmerksam, ja finster.

„Sehn Sie, Hauptmann,“ sprach er, „was Sie mir sagten, weiß auch ich durch Sterning’s Mittheilungen; ich selbst mochte die alte Frau nicht quälen mit solchem Forschen und Fragen, obschon ich ebenso wie Sterning glaube, daß hier der einzige Anknüpfungspunkt für eine weitere Verfolgung und etwaige Aufklärung des Falles liegt. Daß Sie grade so zu denken scheinen, bestärkt mich in meiner Ansicht. Ich habe aber diesen Glauben schon früher gehabt, und – unter uns – meine Fragen an jenem Abend waren wirklich nicht ohne Grund. Ich gebe zu, daß es sogar wahrscheinlich nichts, vielleicht die baare Thorheit ist; ich selbst wenigstens sehe bisher nicht das Geringste, was für die Vermuthung spräche, es könnten hier Fäden versteckt liegen, aus denen sich so oder so allmählich ein Verbrechen entwickelt. Gleichviel aber – es steht fest, daß es in Freund Schenk’s Leben etwas gab, was uns Allen und sogar seiner Mutter verborgen bleiben sollte. Und grade heraus – wir sind ja beide Männer von Ehre und können so etwas schon unter uns bereden – mir war nicht lange vor seinem Tode ein Gerücht zu Ohren gekommen, nach welchem er neuerdings seine Abende ziemlich häufig bei – nun bei eben der Frau zubringen sollte, von der uns drunten das Mädchen gesagt.“

„Die Frau Professor?“ fragte ich gespannt. „Wer ist das aber?“

„Ei,“ sagte er, „kennen Sie sie nicht? Sie ist doch unter dem Titel fast besser bekannt als unter ihrem Namen. Es ist die Wittwe des vor ein paar Jahren verstorbenen Professors und Gymnasiallehrers Gering – Anna Gering – Sie müssen von ihr gehört haben, Hauptmann. Sie treibt es leider so, daß man nur zu viel von ihr spricht, obgleich ich glaube, daß sie besser ist – nicht nur als ihr Ruf, sondern auch als man zuweilen aus ihrem seltsamen und unvorsichtigen Benehmen schließen möchte. Wittwenhaft lebt sie freilich keinenfalls, aber das läßt sich entschuldigen. Sie ist einmal lebenslustig und hat leichtes Blut, und daß sie ihrem Manne nachtrauert, ist nicht wohl zu verlangen; er war weder als Mensch noch als Gatte besonders rühmenswerth und hat ihr sicher wenig genug Glück gegeben. Dessenungeachtet war ihr Leben seither so eigenthümlich, daß ein häufiger Verkehr mit ihr – so lockend er auch ihrer Schönheit und Liebenswürdigkeit wegen Manchem erscheinen mag – keinem anständigen Menschen zur besondern Ehre gereichen konnte. Ich kann nicht leugnen,“ setzte er hinzu, „daß das Aufhören des Umgangs zwischen meiner Frau und ihr – sie sind Jugendfreundinnen – mir sehr willkommen war.“

„Also die!“ sprach ich, da er schwieg. Als er die Dame genannt hatte, war ich freilich auch sogleich orientirt gewesen, denn man redete allerdings genug von ihr. Ich habe aber zu seinen Worten nichts hinzuzufügen, sie malen das schöne, wilde und lustige Geschöpf für euch hinreichend. „Es wäre in der That merkwürdig, wenn Schenk’s Härte dort geschmolzen,“ fuhr ich fort. „Er hat also auch selber gefühlt, daß davon am besten zu schweigen, aber im Uebrigen –“

„Richtig, richtig,“ unterbrach er mich; „ich sagte ja schon: auch ich finde hierbei nicht das Geringste, was bei der Mordgeschichte von Wichtigkeit sein könnte. Ich bin jetzt nur einmal wirklich neugierig, was sie so Dringendes mit meiner Frau zu reden haben mag. Sie war seit vierzehn Tagen verreist, um ihre Tochter in einer Pension der Residenz unterzubringen, und wollte, wie ich von ihr gehört zu haben glaube, bis zum Mai dort bleiben.“

„Ich gestehe, daß ich Huber nicht recht verstand. Es ging noch etwas Anderes in ihm vor als das, von dem er mir gesagt. Und wenn diese – Liaison zwischen der schönen Frau und dem Freunde wirklich existirt hatte, so begriff ich dennoch nicht, was man eigentlich darüber so furchtbar zu erstaunen brauchte, und noch weniger, wie man von hier aus – und sei es auch auf den weitesten Umwegen – zu einer auch nur annähernden Erklärung der letzten Katastrophe gelangen konnte. Ich sprach mich auch noch [47] ziemlich ernst in diesem Sinne gegen Huber aus, als das Mädchen heftig mit der Bitte der eben zurückgekehrten Hausfrau hereintrat – der Gatte möge doch sogleich herunterkommen, die Professorin sei da und begehre auch ihn zu sprechen.

„Hast Du denn nicht gesagt, daß der Herr Hauptmann bei mir sei?“ fragte Huber verdrießlich, und da man aus ihrer Verlegenheit das Gegentheil annehmen durfte, setzte er hinzu: „so geh’ und sag’s. Ich habe den Herrn Hauptmann zum Thee mitgebracht, und wir hätten jetzt noch zu reden.“

„Weßhalb lassen Sie mich nicht geh’n?“ sagte ich, als das Mädchen hinaus war. „Wir sind zu gut bekannt, meine ich, um in solchem Fall Umstände zu machen oder gar empfindlich zu werden.“

„Bleiben Sie, bleiben Sie!“ versetzte er lebhaft. „Sie erweisen meiner Frau und mir noch einen ganz besonderen Gefallen, denn wir lieben Beide die Dame keineswegs und haben mehr als einmal zu erfahren gehabt, was es mit diesen sogenannten dringenden und geheimen Mittheilungen auf sich hat, die Einen zuerst alarmiren und sich nachher oft als ganz unnöthig erweisen. Und wär’ es heut auch mehr, so soll sie’s meiner Frau allein sagen oder –“

„Da trat das Mädchen schon wieder ebenso eilfertig mit der Botschaft ein, die Damen ließen mich ersuchen ja mitzukommen, man habe auch mit mir zu reden. Huber legte lächelnd die Hand auf meine Schulter und bemerkte: „Hauptmann, Hauptmann, was ist mir das? Sie sind am Ende auch ein heimlicher Kenner und Verehrer der zaubernden Hexe? – Aber Scherz bei Seite,“ fügte er hinzu, „da Sie sie noch nicht persönlich kennen, werden Sie – wenn Anna will – immerhin ein paar interessante Stunden verleben. Sie ist, wenn sie in ihrer rechten, vollen Laune, unvergleichlich, – und im Ernst, nehmen Sie sich in Acht!“ – Wir waren drunten und traten in das Wohnzimmer.

„Frau Huber kam uns entgegen und begrüßte uns in einer halb scheuen, halb verlegenen Weise, die ich noch gar nicht an ihr kannte. Ihre Blicke schweiften unruhig in’s Zimmer zurück, wo sich vorn ein Stuhl zeigte, auf dem ein prachtvoller Shawl und ein sehr zierlicher weißer Hut sichtbar hastig hingeworfen lagen, und im Hintergrunde, in der Sophaecke eine Dame mehr lag als saß. Das Theegeschirr stand bereits auf dem Tisch, die Lampe brannte schon und beleuchtete die Ruhende, die aber jetzt, nachdem wir eingetreten, aufsprang, uns entgegenkam, mir kurz zunickte, Huber die Hand bot, – alles das schnell, fieberhaft bewegt. Und fieberhaft zeigte sich auch ihr Gesicht, es war geröthet und die Augen brannten, sage ich euch. Es sah fast so aus, als habe sie auch geweint. Und Alles in Allem – das Weib war in diesem Moment so wunderbar – laßt mich sagen: dämonisch schön, daß ich in meinem Herzen Schenk, wenn er sie wirklich geliebt, auf das Vollständigste absolviren mußte. Der widersteht niemand! sagte ich mir, und all die Geschichten, die ich gehört, wie dieser oder jener sie mehr als menschlich geliebt haben sollte und schier thöricht geworden sei vor Liebe zu ihr – ich verstand sie in diesem Augenblick und zweifelte an nichts.

„Grüß Gott, Anna,“ sagte Huber – er betrachtete sie aufmerksam, aber ihr glänzend blaues Auge wich ihm unstät aus – „Sie sind schnell wieder zurück und – nicht wohl, wie es scheint?“

„Ah bah – ich!“ versetzte sie ungeduldig; sie zog ihre Hand zurück, sie wandte sich ab. „Ich bitte Dich, Julie, mache den Thee, und dann lasse uns Ruhe haben – nicht gestört werden, von niemand! Ich muß aber zuerst etwas Thee haben – ich konnte seit gestern Morgen nichts mehr genießen und bin ganz elend. – Ich kannte Sie bisher nicht, Hauptmann,“ fuhr sie wieder zu mir herum, „aber ich hörte oft von Ihnen; Sie sind ein Mann von Ehre und daher und auch sonst mir als Zuhörer willkommen. Ich habe Ihnen viel zu sagen, Huber.“ Und als das alles vorüber geschossen war, viel schneller, als ich es nachreden kann, saß sie schon wieder in der Sophaecke, zusammengeschmiegt wie ein Kätzchen, das Haupt auf die Tasse in ihrer Hand gebeugt. Ich vergesse diesen Anblick im Leben nicht, wie das Lampenlicht von den blonden Locken zurückglänzte, die sie nach damaliger Mode zu beiden Seiten der Stirn in großer Zahl neben einander aufgewickelt trug und die ihr – ausnahmsweise – wundervoll standen.

„Wir setzten uns, Huber kopfschüttelnd, gleichfalls und nahmen unsere Tassen. Frau Huber fragte etwas, und ich antwortete, aber beides war ganz kurz, und dann blieben wir still. Es war, als hätten wir gewußt, daß wir etwas gar Bedeutendes und Wichtiges hören würden. Und es ließ auch nicht lange auf sich warten, denn jetzt setzte Anna ihre Tasse hin, zog sich ganz in die Ecke zurück, wo ihr Gesicht vollkommen beschattet war, und schob mit der Hand auf beiden Seiten die Locken leicht von der Stirn.

„Ich habe gestern Morgen in der Zeitung die Nachricht gefunden, daß Schenk ermordet sei,“ fing sie plötzlich an. „Da ließ es mich nicht, ich bin gleich in die Post gestiegen und hergeeilt – ich mußte, denn ich weiß was davon, viel sogar, vielleicht Alles. Ich hätte ihn so gern noch einmal gesehn, aber als ich eben in meiner Stube stand, führte ihn der Leichenwagen schon an mir vorüber, und es war nun Alles vorbei.“ Die Thränen stürzten ihr aus den Augen.

„Anna!“ stammelte Frau Huber entsetzt. Der Rath warf mir einen raschen Blick zu – er war sehr blaß. Von mir weiß ich nichts Anderes zu sagen als: ich war wie betäubt und athemlos.

„Sie fuhr mit dem Tuch über die Augen. – „Ueber Nacht, bei der schrecklichen, langen, einsamen Fahrt“, redete sie von neuem, „dachte ich mir: schweige lieber. Man spricht schon genug von Dir, was willst Du Dich nun in diese fürchterliche Geschichte mischen! Und überdies – was weißt Du? Du irrst Dich vielleicht und richtest nur neues Unglück an. Aber als ich vorhin den Wagen sah und den Sarg, und es wußte: Du siehst ihn nie wieder, man hat ihn dir aus der Welt so feig, so schändlich gestohlen! – da ging’s mir wie ein Krampf durch’s Herz. Ich kann und will nicht schonen, nicht schweigen. Vor das Gericht geh’ ich nicht, lieber in den Tod. Aber zu euch red’ ich. Ihr kanntet Schenk, ihr kennt mich und – Andere. Und Sie, Huber, Sie, Hauptmann, können am besten entscheiden, ob mein Wissen Wahrheit oder Thorheit, ob Sie’s benützen dürfen, und wie Sie’s benützen wollen. Grade der Hauptmann ist mir lieb als Zeuge, er war ja Roberts bester Freund und wird mit seinem ruhigen Menschenverstande den Juristen in Ihnen, Huber, zurückzuhalten wissen.“

„Sie schmiegte sich noch fester in die Ecke und redete erst nach einer Weile weiter. „Ich kann und muß mich kurz fassen,“ sagte sie. „Seit dem vergangenen Sommer bin ich mit Schenk bekannt geworden, im September hat er mich zuerst besucht und ist dann bald häufiger gekommen, endlich täglich. Ich schäme mich nicht zu sagen, daß ich ihn mehr geliebt, höher geachtet als je einen andern Menschen, daß ich mich niemals einem andern Wesen so Unterthan gefühlt habe, daß ich glücklich und stolz war, stolz bin, weil er mich geliebt – ja, er hat mich geliebt mit seinem ganzen reichen Herzen, und es hat mir das gezeigt, daß ich doch nicht das schlechte, leichtsinnige Geschöpf bin, für das ihr mich verschreiet. Was daraus geworden wäre, weiß ich nicht. Wir haben nicht viel an die Zukunft gedacht. Aber ich weiß, daß ich ihm in nichts widerstanden, daß ich, wenn er’s gewollt, auch seine Frau geworden wäre, obgleich ich – ihr wißt das wohl – wahrhaftig keinen Grund habe, die Ehe zu rühmen und mich wieder hinein zu wünschen. Genug, wir haben noch nicht an die Zukunft gedacht, wiederhole ich. Wir haben die Gegenwart gehabt und sind zufrieden gewesen, und mir war oft, als könne ich ohne ihn nicht mehr leben. Nun soll es doch gehn, aber – ich glaub’s nicht.“ Und wieder brachen ihre Augen und ihre Stimme in Thränen, und für eine ganze Weile wurde nichts von ihr laut, als nur einmal die vor Schluchzen kaum verständlichen Worte: „Ihr wißt eben nicht, was er mir war, und ihr wißt auch nicht, was es heißt, da entsagen zu müssen und Alles zu verlieren, wo man wirklich heiß und voll, wirklich vorwurfsfrei geliebt und gelebt.“

(Schluß folgt.)


Blätter und Blüthen.

Pariser Bilder und Geschichten. I. Es war im Monat September des Jahres 1848, als ein gewöhnlicher Miethwagen vor dem Hôtel du Rhin, place Vendome hielt. Aus demselben stieg ein Mann von blassem Angesicht, der die Vierzig überschritten haben mochte und der sich von dem Havre-Bahnhofe nach dem gedachten Hôtel hatte bringen lassen. Sein Anzug war in gutem Stand, wenn auch nicht elegant, und sein Gepäck bestand aus zwei Nachtsäcken von nicht allzu großem Umfang. Er verlangte von dem dienstthuenden Kellner „eine“ Stube. Dieser, ein Deutscher, Namens Georg, wies dem Gaste ein Gemach im fünften Stockwerk an, weil entweder die anderen Zimmer alle besetzt waren oder weil er den Preis der Wohnung mit den Mitteln des Ankömmlings in Einklang zu bringen suchte, wie sie sich aus dem ganzen Auftreten desselben ungefähr ergaben.

Wenn die römische Bestimmung, daß schweigen soviel wie einwilligen bedeutet, als eine gültige anzunehmen ist, dann war der Fremde mit der

[48] Art und Weise, wie er in dem Hotel untergebracht wurde, vollkommen einverstanden, denn ohne ein Wort zu sagen, nahm er von der hochgelegenen, ohne allen Prunk eingerichteten Stube Besitz. –

Um jene Zeit war Frankreich, wie bekannt, eine Republik, und freie Staaten verschmähen es, sich mit polizeilichem Mißtrauen an jeden Einzelnen auf ihren Gebieten heranzudrängen und ihn von innen und außen wie eine Waare zu untersuchen, ihn zu numeriren und einzuregistriren. Niemand frug den Fremden nach seinem Passe, auch wurde er von dem Wirth nicht veranlaßt, von seinem Thun und Treiben, von seiner Vergangenheit und Zukunft schriftlich Rechenschaft zu geben. Doch nannte er seinen Namen: Jackson, damit ihm Briefe oder Besuche, die er etwa erhalten möchte, richtig zugewiesen würden.

Mehrere Tage hindurch hatte es jedoch den Anschein, als ob die Vorsicht des Gastes, sich zu nennen, ganz überflüssig gewesen wäre, als bestände gar kein Zusammenhang zwischen ihm und der Welt. Herr Jackson erhielt weder Briefe noch Besuche und rührte sich gar nicht aus dem Hause. Der Kellner Georg, der ihn bediente, war seine einzige Gesellschaft, mit diesem unterhielt er sich in sanfter, freundlicher Weise über die Vorkommnisse des Tages, über die alltäglichen Lebensangelegenheiten, über die Verhältnisse des Berufes u. s. w., und als er an der Aussprache des Aufwärters erkannte, daß derselbe ein Deutscher sei, sprach er mit ihm deutsch, erzählte ihm, daß er sich längere Zeit in deutschen Städten aufgehalten und die deutsche Nation achten und lieben gelernt habe. Ich zweifle sehr, daß der Kellner Georg großes Gewicht auf die für seine Nation schmeichelhafte Versicherung des Fremden im fünften Stock gelegt habe; aber wohl muß sie ihm doch gethan haben; denn nach meinen eigenen Empfindungen zu schließen, thut es einem immer wohl, im Auslande von der Nation, welcher man angehört, mit Liebe und Achtung sprechen zu hören, besonders wenn dies einem so selten wie uns Deutschen zukommt, die wir überall sechsunddreißigfach verspottet werden.

Der Fremde brachte die Tage mit Rauchen, Lesen und Schreiben hin, er hatte Bücher mitgebracht und ließ sich die politischen Tagesblätter aller Farben kaufen. Er aß allein auf seiner Stube. Bezüglich der Speisen äußerte er kaum einen Wunsch, er begnügte sich mit wenigen und einfachen Schüsseln, doch verlangte er vom besten Bordeaux, dessen Wahl er dem Kellner ohne Rücksicht auf den hohen Preis wiederholt und mit dem größten Nachdruck empfahl. Oefters fand Georg den Fremden am Fenster in tiefes Sinnen versunken, wo derselbe, nachdem er den Vorhang bei Seite geschoben, die Vendomesäule mit dem Kaiser Napoleon auf dem Gipfel und mit Basreliefs geschmückt, welche dessen Kriegsthaten darstellen, unablässig anstarrte. „Der kann sich an dem Denkmal ja gar nicht satt sehen,“ sagte Georg zu sich selbst. „Ich finde es wohl schön, es fällt mir aber doch nicht ein, es stundenlang und Tag für Tag zu betrachten.“

„Was giebt es heute Neues?“ frug der Fremde eines Morgens den Kellner, der ihm das Frühstück brachte.

„Nichts von Bedeutung,“ erwiderte dieser. „Man sagt, daß der Prinz Ludwig Napoleon nach Frankreich gekommen und verhaftet worden sei.“

„So!“ versetzte Herr Jackson gelassen, als er diese Neuigkeit vernahm, und als der Kellner sich aus dem Gemach zurückzog, fiel sein Blick im Vorbeigehen auf einen Spiegel, und er konnte bemerken, daß der Fremde lächelte. Georg verstand aber den Sinn dieses Lächelns nicht und gab sich auch keine Muhe, sich denselben zu erklären. Seinem Berufe mit Ernst und Eifer obliegend, hatte Georg dieses räthselhafte Lächeln schon vergessen, als ihm dasselbe durch Vorgänge in’s Gedächtniß zurückgerufen wurde.

Und als ein ander Mal der Gast den Kellner nach den Tagesneuigkeiten frug, erzählte dieser, daß im Théatre Français eine außerordentliche Vorstellung zum Vortheil der Armen stattfinde und daß die Rachel bei dieser Gelegenheit wieder einmal die Marseillaise vortragen werde, mit der die Künstlerin alle Welt, Reich und Arm, Vornehm und Gering, Fremde und Einheimische kurz nach der Februarrevolution in’s Theater gezogen, zum Staunen und zur Bewunderung hingerissen hatte. „Trotz der schweren Zeiten“, fügte der Kellner hinzu, „werden die Billets um unglaublich hohe Preise verkauft. Ein Engländer, der bei uns eine Treppe hoch wohnt, hat sich einen Lehnstuhl im Orchester für 60 Franken erkauft. Ja, wenn man reich ist, kann man sich dergleichen Verschwendungen erlauben. Möchten Sie wohl, Herr Jackson, wenn es Ihre Mittel erlaubten, ein Vergnügen so theuer bezahlen?“

„Vielleicht!“ sagte der Fremde lächelnd und brach das Gespräch ab, indem er das Buch aufnahm, das er bei Seite gelegt hatte, als der Kellner eingetreten war.

Kaum vierzehn Tage waren seit der Ankunft des Fremden verflossen, als man im Hôtel du Rhin, als besonders Georg gewahr wurde, daß der Gast im fünften Stock doch nicht so abgesondert von der Welt lebe, als man anfangs glauben mochte, als es in der That den Anschein hatte. – Jeden Tag erhielt er Besuche, meist von Männern mit grauem Haare, von denen mehrere mit Orden geschmückt waren und einige durch eine militairische Haltung sich auszeichneten. Dem Kellner, welcher immer Einlaß in die Stube des Fremden und öfters, wenn Besuche da waren, Cigarren oder Erfrischungen zu bringen hatte, entging es nicht, daß die Herren alle, die mit Orden und in militairischer Haltung, wie die anderen, sich gegen Herrn Jackson ausnehmend rücksichtsvoll, ja ehrerbietig benahmen, daß sie oft lange blieben, ernst drein sahen und leise sprachen. –

„Ich habe für heute neun oder zehn Personen zu Tische geladen,“ sagte eines Morgens der Fremde zum Kellner, „haben Sie die Güte, mir einen geräumigen, wohleingerichteten Salon in einem minder hohen Geschosse zur Verfügung zu stellen, wo ich meine Gäste würdig empfangen und bewirthen kann. Ich empfehle Ihnen besonders die Auswahl der Weine, mit welchen Sie uns aufwarten werden.“ Georg war bedacht, den Wünschen des Fremden auf’s Beste nachzukommen. Um die festgesetzte Stunde wurde in einem weiten Saale von elegantem Aussehen der Gesellschaft, welche aus zehn Personen bestand, ein köstliches Mahl aufgetischt, dessen sich das Vaterland des großen Vatel nicht zu schämen brauchte; doch waren sie nicht heiter, die Tischgenossen, die Georg mit der Sorgfalt und dem Eifer eines Kellners von wahrem Beruf bediente. Schüchtern, fast zaghaft schlichen die Worte von den Lippen, als hätten sie gefürchtet, einen Schlafenden zu wecken oder ein empfindliches Ohr zu belästigen. Selbst den lustigen Geistern des Weins, die den Trübsinn hassen und verfolgen, widerstand die ernste Stimmung der Zecher; kein Ausruf der Freude, kein Lachen, kein Klirren der Gläser erscholl. Hie und da neigte sich Einer zum Ohr des Ändern und flüsterte ihm heimlich einen Trinkspruch zu, indem er kaum vernehmbar mit ihm anstieß. Der Wirth war wo möglich düsterer und schweigsamer als die Gäste.

Nachdem die Tafel aufgehoben war und die Geladenen sich entfernt hatten, sprach der Gast zum Kellner: „Georg, ich wünsche nun eine große Wohnung aus mehreren Zimmern bestehend. Morgen werden meine Diener und mein Gepäck anlangen, die untergebracht werden müssen. Noch zeige ich Ihnen an, daß es mir gilt, wenn nach dem Prinzen Ludwig Napoleon gefragt wird.“ Georg war sprachlos vor Ueberraschung, er starrte mit offenem Mund den Fremden an, welcher wiederum lächelte.

„Gehen Sie,“ ermahnte der Prinz, „um meine Wohnung zurecht zu machen, denn ich schlafe heute nicht mehr in der Stube des fünften Stockes.“ Georg ging nicht, sondern lief so schnell er konnte, um die ihm gemachte Enthüllung und den erhaltenen Auftrag dem Hotel-Inhaber mitzutheilen, dessen Erstaunen sich in in allerlei Ausrufen Luft machte und sich durch diese geräuschvolle Kundgebung von der starren Ueberraschung des Kellners unterschied.

Nachdem Herr und Diener darüber Rath gepflogen hatten, welcher Theil des Hotels zur Aufnahme des Prinzen am geeignetsten wäre, wurden die nöthigen Vorkehrungen getroffen, wurde dem vornehmen Gast die erwünschte Wohnung, aus kleineren und größeren Gemächern bestehend, zugewiesen, und das leichte Gepäck aus dem fünften in den zweiten Stock geschafft. Den nächsten Tag langten zwei Diener, ein Franzose und ein Schweizer, mit großen und vielen Koffern an, die allerdings besser zu dem Stand des Eigentümers paßten als die zwei magern Reisetaschen.

Von da ab wurde es lebendig um den Prinzen her, der zum dritten Male und nun unter günstigeren Verhältnissen nach Frankreich gekommen war, um eine Kaiserkrone zu gewinnen. Die ergrauten Diener, Feldhauptleute und Anbeter des Eroberers, der auf St. Helena endete, kamen herbei, um dem ruhmvollen Namen, an welchen sie ihr Glück und ihr Leben gekettet hatten, einen Vertreter, der Legende vom französischen Kaiserreich und vom 18. Brumaire eine Fortsetzung verschaffen zu helfen. Es war dies ein kleines Häuflein von Ueberzeugten und Getreuen, unbekümmert um den Ausgang des gewagten Unternehmens, bereit zu jeder That, zu jedem Opfer im Interesse ihres Gedankens und ihres heißen Wunsches, rührig, entschlossen, unerschütterlich. Unter diesen voran standen die Herren Vieillard, Persigny, Vaudrey, letzterer der Kühnste, der Eifrigste von Allen. Dann kamen die politischen Speculanten und Apostaten, welche erlauscht hatten, daß die Bauern und öfters sogar die Arbeiter sich irrten und statt: „es lebe die Republik“, „es lebe Napoleon“ riefen, wie es ihnen Beranger und die andern Liberalen unter der Restauration vorgesungen und vordeklamirt hatten. Einige von denen, welche sich die Republik als einen Räuberhauptmann vorstellten und für ihre Geldsäcke zitterten, drängten sich in das Hôtel du Rhin, um sich da ihr Vermögen versichern zu lassen. Am meisten waren unter dem Schwarm, der den Bewerber um eine Kaiserkrone umflatterte, die politischen Abenteuerer und Glückssucher vertreten, welche auf jede Karte setzen, weil sie keine Ueberzeugung und keinen Sou zu verlieren haben. Endlich sah man einige Männer von Bedeutung und Einfluß, die der Prinz zu sich beschieden hatte, um sie zu gewinnen, und die aus Höflichkeit der Einladung nachkamen. Zu diesen sind die Herren Thiers, Proudhon und Emil Girardin zu zählen.

In den Gemächern des Prinzen herrschte eine Regsamkeit und eine Thätigkeit, wie sie in keinem Ministerium anzutreffen sind. Tag und Nacht wurde da geschrieben und gesprochen, verkehrt und unterhandelt. Tag und Nacht wimmelte es da von Agenten, von Boten, von Vertrauten, welche kamen und gingen, Nachrichten brachten und Aufträge davon trugen. Nach allen Richtungen von Frankreich wurden Briefe gesendet, Einflüsse in den Städten und auf dem Lande wurden gewonnen und angezogen, Journale und die December-Gesellschaft mit ihren Verzweigungen wurden gegründet. Alles was den Bonapartismus fördern und verherrlichen konnte, sei es nun Bild oder Schrift, Gedanke oder Klang, wurde in Umlauf gesetzt, und so baute man die Brücke, welche den Kronenwerber zunächst vom Place Vendôme in die Rue du Faubourg St. Honoré, d. h. aus dem Hôtel du Rhin in das Elysée, aus dem Privatleben zu der Präsidentschaft der französischen Republik führte.

Als der Präsident Ludwig Napoleon im December das Hôtel du Rhin verließ, trug er dem deutschen Kellner Georg eine Anstellung in seinem Hause an. Georg hielt es jedoch für gerathen, das Anerbieten zurückzuweisen, vielleicht weil er kein Vertrauen zu dem napoleonischen Stern hegte. Georg ist übrigens seither Eigenthümer eines einträglichen Gasthofes in Paris geworden und kann sich leicht über seinen astrologischen Irrthum trösten.
S. K. 

An unsere Leser!

Eine Kette von Ungeschicklichkeiten und Unglücksfällen, darunter dreimaliges Springen des Stockes und zweimaliges Mißlingen des galvanischen Kupferniederschlages, deren Verhinderung außer unserer Macht lag, hat die Ausgabe der Nr. 2 um acht Tage verzögert und die Illustration: Spielhölle, von Prof. Rustige gründlich verdorben. Wir können unsere Freunde nur um Entschuldigung dieses ärgerlichen Zwischenfalles bitten und gleichzeitig die Versicherung geben, daß wir uns bestreben werden, durch doppelt schön ausgeführte Illustrationen den fatalen Unglücksfall baldigst vergessen zu machen.

Leipzig, den 7. Januar 1861.
Redaktion und Verlagshandlung. 

  1. Obige in sich abgeschlossene Erzählung wird durch die in Nr. 45-48 des vorigen Jahrgangs abgedruckte: „Husar und Pandur“ in einigen Punkten ergänzt. Neuen Abonnenten unserer Zeitschrift werden wir diese Nummern gern apart ablassen.
         D. Red.