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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 1.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



An unsere Leser!


Mit der vorliegenden Nummer erscheint die „Gartenlaube“, wie überhaupt eine deutsche Zeitschrift, zum ersten Male in einer Auflage von mehr als 100,000 Exemplaren. Wie dies jedenfalls ein Beweis von dem Beifall ist, den sie bisher gefunden hat, so wird es und ein Sporn sein die Anstrengungen zu steigern, um die Mannigfaltigkeit und den Werth ihrer Mittheilungen noch zu erhöhen, vor Allem aber in der Redaction an den bisher befolgten Grundsätzen fest zu halten. Denn unserer Meinung nach verdankt die „Gartenlaube“ ihre Verbreitung, außer der Popularisirung der Wissenschaften hauptsächlich dem, daß sie sich bestrebt hat durch und durch ein deutsches Blatt zu sein. Nur gute deutsche Autoren liefern deutsche Originalbeiträge, deutsche Künstler besorgen die artistische Ausstattung (keine Abklatsche aus englischen und französischen Zeitschriften), deutsches Leben und Streben bildet vorzugsweise den Gegenstand ihrer Schilderungen. Mit treuem Sinn werden wir an diesen Tendenzen fest halten und dürfen hoffen, daß auch für die Zukunft aus allen Blättern unserer Laube die Liebe zu dem deutschen Vaterlande hervorleuchten wird, selbst da, wo nicht gerade rühmend von ihm die Rede sein kann.

Die Redaction und Verlagshandlung.





Im hohen Hause.

Eine Geschichte von Edmund Hoefer.

„Vor dreißig Jahren,“ begann der pensionirte alte Oberst seine Mittheilung, „war ich eben Hauptmann geworden und noch obendrein im Regiment, welches in meiner Vaterstadt garnisonirte, so daß alle meine Wünsche erfüllt waren, da starb mein alter Papa, und meine Mutter, eine gar treue und liebe Seele, folgte ihm auch auf diesen Weg schon nach acht Tagen redlich nach. Meine Schwester und ich waren sehr betrübt; sie mußte ihres Gatten wegen wohl in der Stadt bleiben, mir aber war diese so gründlich verleidet, daß ich alsbald um Versetzung einkam. Und da meine Vorgesetzten wirkliche Theilnahme für mich zeigten, sah ich auch diesen Wunsch schon nach kurzer Zeit und zwar in einer Weise erfüllt, wie ich’s gar nicht zu hoffen gewagt. Ich erhielt eine der beiden Jägercompagnieen, welche damals in E. standen, und reiste an meinen Bestimmungsort mit allem Jubel ab, den ich nach den schweren Unglücksfällen überhaupt nur noch in mir hatte. Waffe und Dienst entsprachen meinen Neigungen viel mehr, als meine bisherige Stellung bei der Linie, und dazu kam endlich noch, daß E. von allen Jäger-Garnisonen bei weitem die angenehmste und behaglichste sein sollte. Ich fand auch gleich anfangs, daß man nicht zu viel gesagt.

„E. war damals nicht einmal eine Mittel-, sondern nur eine kleine Stadt, aber eine der hübschesten und reinlichsten, die ich je gesehen; die Bewohner waren ein ruhiges und freundliches, umgängliches Völkchen, das mit der Garnison im besten Einvernehmen lebte. Die Classe der „Gebildeten“ war ungewöhnlich zahlreich; die Mitglieder des Magistrats, der sich noch nach alter Weise ergänzte und von keiner Städteordnung wußte; die Beamten eines Ober- und eines Untergerichts; die Lehrer des Gymnasiums; die Aerzte, unter denen ein paar einen großen Ruf und ein noch größeres Vermögen besaßen; einige Engroshändler, Kaufleute, Rheder etc.; endlich die Gutsbesitzer der reichen Umgegend – diese alle bildeten einen sehr großen, angenehmen, heiteren und anständigen Kreis, in dem selbst der Anspruchvollste die ihm entsprechenden Elemente und Unterhaltung finden konnte, und in dem wir Officiere uns auf das Behaglichste zu Hause fühlten. Der Ton war der freiste und ungezwungenste von der Welt, die Häuser aller Genannten waren jedem Vorgestellten geöffnet, man kam und ging nach Gefallen, kleine Kreise und größere Gesellschaften machten alle immer bekannter und vertrauter mit einander; von Standesvorurtheilen, von Kastengeist und dergleichen zeigte sich wenig oder nichts, und ein junger Mann, der nicht gar zu grämlich war, konnte in E. ein Leben führen, wie Gott in Frankreich.

„Nun war ich weder alt noch grämlich, aber ich hatte Trauer und zwar ein ganzes Herz voll, und so wird es auch begreiflich sein, daß ich für’s Erste wenigstens dem Gesellschaftstreiben fern blieb, welches freilich damals – wir waren im September – überhaupt noch kaum begonnen hatte. Dafür aber war jetzt die Jagdsaison in vollster Blüthe, und die Umgegend von E. bietet zu Lande und Wasser einem eifrigen Jäger so viel Gelegenheit, seinen Neigungen zu folgen, wie in diesem Umfange vielleicht kein anderer Ort Deutschlands. Eine große Jagd hatten wir Officiere selbst gepachtet, andere wurden uns mit höchster Liberalität zur Disposition gestellt, und ihr mögt daher euch selbst sagen, wie ich leidenschaftlicher Nimrod hier in meinem Elemente war. Ich traf es überhaupt ganz gut. Das Quartier des Cameraden, an dessen Stelle ich kam, war für mich Junggesellen zu groß, ein anderes, das mir gefallen hätte, nicht frei, und so zog ich – was freilich eigentlich nicht sein sollte, jedoch vom Commandeur freundlicherweise gestattet wurde – vor’s Thor, in das sehr hübsche Haus eines pensionirten Majors.

„Dort hatte ich nicht nur Einsamkeit und Ruhe, wie sie meiner

[2] noch sehr gedrückten Stimmung zusagte, sondern konnte auch am freisten und unbelästigtsten meiner Neigung zu einsamen Streifereien folgen. In der Stadt würde sich oft genug jemand gefunden haben, der sich mir angeschlossen hätte; hier trat ich aus der Haus- oder Gartenthür und war beinah schon auf dem Jagdterrain. Die Gemeindeweide einerseits, ein großer See und sich anschließende Rohrbrüche auf der andern Seite, ausgedehnte Felder, kaum eine halbe Stunde entfernte Waldungen boten mir nah und fern Gelegenheit zu allem, was mir gerade wünschenswerth war. Ich wurde von niemand belästigt und belästigte niemand. Es waren vor diesem Thor nur drei oder vier Häuser und ein paar Scheuern; die kleine Stadt breitete sich, wie man das ja auch von größeren weiß, mehr gegen Westen und Süden aus, als gegen Osten, wo meine Wohnung lag.

„Das Haus des Majors stand ganz frei, dazu noch auf einer kleinen Bodenerhebung, und ich hatte daher aus meinen Parterrezimmern einen weiten Aus- und Umblick. Rückwärts sah ich einen großen Theil des exwähnten Sees, Rohrbruch, Felder und lang hinziehende Waldungen. Vorn hinaus lag rechts ein einzelnes Gehöft, dahinter Felder und die Gemeindeweide, links die Stadt. Viel von ihr sah ich freilich nicht, aber was ich sah, gefiel mir. Die grünberasten alten Wälle hoben sich hoch empor, gekrönt von wirklich prachtvollen Lindenalleen. Hinter denselben zeigten sich in den Zwischenräumen der Stämme Stücke der Stadtmauer und über dieselbe aufragende Giebel der dahinter befindlichen kleinen Häuser. Der wirklich zierliche und schöne Thurm der Marienkirche stieg hoch über die höchsten Wipfel empor und ließ mich in seiner wunderbar feinen Pyramide eine stets neue Freude haben, und endlich präsentirte sich in einer, ich weiß nicht, ob zufälligen, ob absichtlichen Lücke der Allee ein großes, hohes, fast thurmgleiches Haus. – Die von Ziegelsteinen ausgeführten Mauern waren ungewöhnlicher Weise niemals mit Mörtel und Farbe überzogen worden, zeigten vielmehr die natürliche satte, braunrothe Färbung des Materials, und wenn an einem dunstigen Morgen die durchbrechende Sonne die mir zugewendete Hinterseite des Gebäudes mit ihren Strahlen übergoß, sah es genau so aus, als sei dasselbe aus matt glänzendem Kupfer errichtet. In der Stadt aber nannte man es allgemein „das hohe Haus“.

„Das Haus war sichtbar nicht gerade alt, denn es hatte kein Giebel-, sondern ein modernes Querdach; dessen ungeachtet machte aber der ganze Bau einen so festen, soliden und gediegenen Eindruck, wie wir ihn sonst nur vor den Erbhäusern alter reicher Patriciergeschlechter zu empfangen pflegen. Dies Aeußere zog mich unwiderstehlich an, ich beschäftigte mich in einsamen Stunden, wenn ich einmal müßig am Fenster weilte und träumte, viel mit dem Gebäude, beobachtete – studirte, darf ich nicht sagen, da nichts Besonderes daran zu finden war – es von unten bis oben und interessirte mich unwillkürlich für diejenigen, welche es bewohnen, für das, was sie treiben mochten, bevor ich noch von diesen Bewohnern und ihrem Treiben irgend etwas erfahren hatte. Viel Leben herrschte in dem Hause nicht – ihr müßt bedenken, daß es in grader Linie höchstens fünfhundert Schritt von mir entfernt war und daß ich mit meinen ausgezeichneten Augen daher alles, was an seinen Fenstern geschah, gut genug erkennen konnte. Im obersten Stockwerke zeigte sich ein Mann, eine Treppe tiefer eine ältliche Dame und eine jüngere – jedoch auch nicht mehr junge; ein schmuckes Dienstmädchen erschien oben und unten beim Lüften und Reinigen. Das war alles.

„Die Leute wohnten im Hause hierher, nach hinten, hinaus, da die Straße, in der das Gebäude lag, für Gebildete keinen besonders angenehmen, geschweige denn lockenden Anblick gewähren konnte. Es war die äußerste der Stadt, nur auf der einen Seite von einer fortlaufenden Zeile meist kleiner und ärmlicher Häuser gebildet, während auf der andern Seite häufig große Zwischenräume erschienen, welche sich dann nur durch die Stadtmauer selber begrenzt zeigten. Die Straße hieß einfach genug „am Walle“ – jenseits der Mauer und des innern Grabens zog sich dieser hin – und wurde, wie gesagt, von armen Leuten bewohnt, zwischen deren Häuschen das große rothe stattliche Haus noch auffälliger erscheinen mußte.

„Was den Erbauer desselben grade diese Gegend hatte wählen lassen, weiß ich nicht zu sagen, wie ich denn auch von der Vorgeschichte des Gebäudes wenig Anderes erfahren und zu melden habe, als daß das Haus in der Stadt nicht sowohl berühmt als vielmehr berüchtigt war. Alle Familien, die dasselbe bewohnt hatten, sollten durch dies oder jenes Unglück verfolgt und dadurch bewogen worden sein, den Besitz bald wieder an einen nicht abergläubischen Liebhaber abzutreten. Sicher war, daß das Haus, bevor der jetzige Besitzer es erworben, an zwanzig Jahre lang leer gestanden und von den Erben seines letzten Bewohners stets vergeblich zum Kauf ausgeboten worden war. Jetzt bewohnte es ein Rath des Obergerichts, dem Haus und Grundstück so sehr gefallen, daß er es gleich nach seiner Anstellung in E. erkauft und mit Liebhaberei angemessen eingerichtet hatte. Verheirathet war er nicht; seine verwittwete Mutter lebte bei ihm und füllte die Stelle der Dame des Hauses auf das Liebenswürdigste aus. Er hieß Robert Schenk und war, um auch das zu erwähnen, damals etwa dreiunddreißig Jahre alt, also mit mir etwa in gleichem Alter.

„Schenk galt bei Allen, welche dergleichen beurtheilen konnten, für einen der befähigtsten Köpfe unter den Juristen des Staats und sollte zumal für sein specielles Fach, das Criminalwesen, die eminenteste Begabung besitzen und auch bewiesen haben. Bisher war er in der Residenz angestellt gewesen und nur auf sein besonderes Ansuchen in die Provinz versetzt worden. Man wußte nicht, was ihn zu diesem Schritt veranlaßt hatte, jedenfalls freuten sich desselben aber nicht nur seine neuen Collegen, sondern auch bald die ganze Gesellschaft von E., der er sich nach allen Seiten hin und in jeder Weise beliebt zu machen wußte und von jedermann auf’s Höchste geachtet, von allen ihm so oder so Untergebenen geradezu verehrt wurde. Man konnte in Wahrheit von ihm sagen: er hatte keinen Feind, und seit seine Mutter angelangt war und er sein Haus eröffnet hatte, fanden ihn selbst die jungen Damen mehr als erträglich, welche ihn trotz all’ seiner Vorzüge anfänglich etwas zum alten Register gezählt und mit einer gewissen Sorge daran gedacht hatten, er könne vielleicht um eine von ihnen anhalten. Sie wußten, daß er von den Eltern keinen Korb bekommen hätte. Nun aber, wo sie sahen, wie angenehm es eine Frau in diesem Hause, an der Seite dieses Mannes haben würde, waren sie selber entschieden, einen etwaigen Antrag nicht abzulehnen. Ein solcher blieb aber aus; Schenk war jetzt, nach anderthalb Jahren, nicht nur unverheiratet, sondern man wußte auch nicht einmal eine einzige Dame zu nennen, der er mehr Aufmerksamkeit erwiesen hätte, als allen andern bei Gelegenheit gleichfalls. Denn er war ein artiger, galanter Mann.

„Es mochte etwa vierzehn Tage nach meiner Ankunft sein, und ich wußte damals natürlich schon von den Bewohnern des großen Hauses, als ich Schenks Bekanntschaft machte. Ich war Abends zufällig ziemlich zeitig auf die „Harmonie“ gegangen, um ein paar Zeitungen zu lesen, und fand im Lesezimmer nur einen Mann am nächsten Tisch sitzen, der bei meinem Eintritte flüchtig auf– und mich anschaute. Ich kehrte mich nicht weiter daran, sondern sah die umherliegenden Blätter durch, um mir ein zusagendes zu wählen. Da stand er plötzlich neben mir und sagte: „In der kleinen Stadt müssen wir uns doch kennen lernen, zumal wir ja beinah Nachbarn sind. Ich bin der Gerichtsrath Schenk.“ Und während ich mich wie üblich verbeugte, setzte er lächelnd hinzu: „Sie kennen mich wohl nicht mehr, Herr Hauptmann?“

„Ich sah ihn an und – war sogleich orientirt. Man konnte auch diese markirten und doch angenehmen Züge, dies geistvolle und zugleich freundliche braune Auge, dies schwarze leicht gelockte Haar – es sind diesmal keine Roman-Locken, sondern wirkliche – mit einem Wort, man konnte diesen Mann nicht vergessen, wenn man mit ihm einmal in Verkehr gewesen; seine ganze Erscheinung war nichts weniger als eine gewöhnliche. Man mußte augenblicklich erkennen, daß man es in ihm mit einem bedeutenden so gut wie mit einem liebenswürdigen Menschen zu thun habe. Wir waren uns vor zwölf Jahren, er als Referendar und ich als zur Kriegsschule commandirter junger Lieutenant, in P. bei einer widerwärtigen Geschichte zwischen einem seiner Collegen und einem Cameraden von mir begegnet – als Secundanten – und sein Benehmen und Auftreten hatte schon damals uns jungen Burschen die höchste Achtung eingeflößt. Bald nachher waren wir uns freilich wieder aus den Augen gekommen, nun aber erinnerte ich mich, zumal auf seine Frage, an alles und bot ihm herzlich die Hand.

„So war die Bekanntschaft erneuert. Wir plauderten viel an dem Abend, einige Tage darauf ging ich zu ihm, kam er zu mir, wir gefielen einander je länger desto besser und waren bald so gute Freunde, daß wir fast alle Tage einmal, häufig genug ganze [3] Abende bei ihm oder bei mir zusammen saßen. Seine Mutter und ihre Gesellschafterin, ein Fräulein Beck, störten uns nicht, ließen mich vielmehr nur um so lieber einen Abend in diesem Kreise zubringen. Beide Damen waren anspruchslos und voll warmer Theilnahme, dazu gebildet, und die Alte besonders erinnerte mich häufig an meine selige Mutter und ihr stilles, herzliches, feines Walten.

„Schenk war sehr wohlhabend, während er und die Seinen doch im Grunde gar wenige Bedürfnisse hatten. Er verwendete daher einen bedeutenden Theil seiner Einkünfte auf die behagliche und stattliche Einrichtung seines Hauses, auf die Verbesserung und Ausschmückung des dazu gehörenden Grundstücks und hatte trotz der kurzen Zeit darin schon viel geleistet. Das Gärtchen hinter dem Hause war noch jetzt voll Grün und Blüthen; ein Altan auf der Stadtmauer, unter dem dichten Laubdach einer alten Kastanie, gewährte einen wirklich hübschen Ausblick über den Wall in’s Land, auf den See; und im großen Garten, der sich jenseits der Mauer im alten Graben hinzog, – der Besitzer des Grundstücks hatte die ungewöhnliche Vergünstigung einer Pforte durch die Stadtmauer – waren ein paar Treibhäuser angelegt, das meiste Land aber zu einer ausgebreiteten Rosencultur bestimmt. Er liebte diese schönen Blumen leidenschaftlich, und es vereinte uns noch mehr, daß auch ich von meines Vaters Gartenbeschäftigung her eine Vorliebe für dieselben hatte und, bei gelegentlicher Erwähnung verschiedener Sorten und ihrer Namen, ihm doch nicht immer unwissend und theilnahmlos gegenüberstand. Und so muß ich denn auch hier wiederholen, was ich vorhin gesagt – wir waren so freundschaftlich mit einander, wie es bei Menschen, die sich zuerst und wirklich in einem Alter, wie unser damaliges war, begegnen, nur irgend möglich sein dürfte.

„So verging der Herbst und der größte Theil des Winters, und Schenk und ich freuten uns schon auf die jetzt bald erscheinenden schönen Tage, wo wir die Gartengeschäfte beginnen könnten. Seine Leidenschaft hatte auch mich ergriffen, und wir saßen oft und oft vor den saubern Plänen der neuen Anlagen, beriethen, zeichneten, verbesserten, zeichneten wieder, bis alles in bester Ordnung war.

„Im Anfang des December war zu einem großen Ball ein Camerad aus der nächsten Garnison zu uns herübergekommen, hatte sich beim Tanzen versehn und lag schon folgenden Tags so krank darnieder, daß man lange Zeit an seinem Wiederaufkommen zweifelte. Seine Genesung verzögerte sich auch von Woche zu Woche, und erst am zweiten März bestieg er den Postwagen, um zu seinem Regiment zurückzukehren. Wir hatten den armen Burschen alle lieb gewonnen, ihn gepflegt und später unterhalten, so gut wir’s vermochten, und da er nun abreisen wollte, ein Abschiedsessen arrangirt, von dem aus wir ihn dann in corpore zur Post begleiteten. Von eigentlichen größeren Gesellschaften hatte ich mich bisher ferngehalten, von dieser Vereinigung konnte und wollte ich mich nicht ausschließen, und hielt wacker und verhältnißmäßig fröhlich mit den Andern aus und rief mit ihnen dem Davonfahrenden mein Lebewohl nach.

„Das war um drei Uhr Nachts, und da wir auseinander gingen, zog mich der Commandeur noch im Gespräch mit sich fort und bis zu seiner Wohnung, welche in der Nähe des rothen Thors lag. Von dort aus konnte ich auch über den Wall nach Hause gelangen, und da ich mich begreiflicherweise doch etwas heiß und aufgeregt fühlte, zog ich den weiteren Weg durch die frische Luft dem durch die schmutzigen Straßen vor, passirte das Thor und spazierte leise pfeifend und in bester Laune auf dem Walle hin. Da ich am Pfaffenthor, dem nächsten vor dem meinen, vorüberkam und drüben eben die letzte Wallstrecke betrat, schlug es vom Marienthurm halb Vier, und ich beeilte meinen Schritt, um endlich ins Bett zu kommen, weil ich am nächsten Tage viel Dienst hatte. Es war eine dunkle, nicht kalte Nacht, und in der mir zunächst liegenden Straße „am Wall“ noch eben so still wie in der ganzen Stadt und Umgegend. Selbst die mir jetzt sichtbar werdenden Fenster von Schenk’s Schlaf- und Arbeitszimmer waren dunkel, und ich nahm mir vor, ihn damit etwas zu necken. Er behauptete nämlich, daß er fast ausnahmslos gegen vier Uhr schon am Schreibtisch sitze, und hatte meine bescheidenen Zweifel mit der Aufforderung zurückgewiesen, ich möge mich bei Gelegenheit durch den Augenschein davon überzeugen.

„Während ich so ging und schaute – ich muß hinzufügen, daß der Weg feucht und ziemlich erweicht war, sodaß meine Schritte fast unhörbar sein mochten – tauchte plötzlich neben mir, auf der Seite von Schenk’s großem Garten, hinter einem Baume eine Gestalt empor, wandte den Kopf gegen mich, von mir ab, und schoß so hastig vorüber und fort, daß ich, der ich doch auch nicht langsam war, sogleich weit zurückblieb und nach wenig Secunden schon nichts mehr von ihr erblicken konnte. Das alles ging so schnell, daß ich nichts weiter erkannt hatte, als einen anscheinend großen Mann im Mantel und hohen schwarzen Hut. Er mußte hinter einem der dicken Lindenstämme gestanden haben, und war durch mein rasches und leises Nahen vermuthlich ebenso überrascht worden, wie ich durch seine plötzliche Erscheinung. Doch dachte ich nicht weiter darüber nach, da man ähnlichen Nachtvögeln ja gar nicht so selten begegnet, und als ich erst daheim war, machte ich, daß ich ins Bett und in den Schlaf kam.

„Am nächsten Morgen hatte ich um acht Uhr Compagnie-, um neun Uhr Abtheilungs Exerciren; Wachparade, Appell und dergleichen währten bis zwölf Uhr; dann gingen wir zu Tisch. Nachmittags um zwei Uhr folgte eine Revision der Kammer, und so ging der Tag hin, ohne daß ich wußte wie, und es war schon nahe an Fünf, als ich endlich daran denken konnte, zu dem Kaffee zu gehen, zu dem die Gerichtsräthin Huber mich und ein paar Andere eingeladen hatte. Leybold, der in der Nacht abgereiste Camerad, war ein Freund ihres Mannes und hatte seine ganze Krankheit in ihrem Hause überstanden, sodaß wir alle dort sehr bekannt geworden waren.

„Bringen auch Sie Schenk nicht mit?“ rief mir die freundliche Wirthin beim Eintreten entgegen, und da ich mich verwundert darüber, daß der Genannte noch fehlen sollte, unter den Anwesenden umsah, fuhr sie fort: „Er kann die Einladung gestern doch nicht überhört oder falsch verstanden haben, und es ist heut auch kein Sessionstag. Ich dachte, er würde mit Ihnen kommen, lieber Hauptmann; jetzt wird’s mir aber unbegreiflich. Er ist sonst so pünktlich.“

„Ich will hingehen,“ sagte meine Mütze wieder aufnehmend, „und werde ihn tüchtig ausschelten.“ Und lachend setzte ich hinzu: „Es scheint überhaupt mit ihm bergab zu gehen, denn heut Morgen gegen vier Uhr muß er noch geschlafen haben wie ein Murmelthier, statt gebührender Weise bei der Arbeit zu sitzen, der Renommist!“

„Bleiben Sie nur,“ versetzte sie jetzt gleichfalls lachend. „Mein Mann wurde eben noch zum Präsidenten gerufen und versprach auf dem Heimwege bei Schenk vorzusprechen; denn wir warten ja schon anderthalb Stunden auf Sie und ihn. – Huber muß jeden Augenblick wieder kommen.“

„So nahm ich denn Platz bei den Uebrigen, trank einen vortrefflichen frisch bereiteten Kaffee, plauderte und scherzte und war guter Dinge, bis die Thür sich öffnete und der Hausherr eintrat – gleichfalls allein. „Aber Ernst,“ rief ihm die Gattin entgegen, „was heißt denn das? Kommt Schenk denn nicht? Aber mein Gott,“ brach sie ab und sprang auf, „wie siehst Du aus? Was gibt es?“

„Sie hatte wohl ein Recht zu der Frage so gut wie zum Schreck, denn Huber sah in der That so bleich und angegriffen aus, daß es uns alle bestürzte. Er fuhr mit der Hand über Stirn und Augen, allein es ward dadurch nicht anders, und als er nun sprach, wurde seine Erschütterung noch merkbarer, so schwer und dumpf, ja fast bebend klang die sonst klare fest Stimme. „Schenk ist verhindert, Kind,“ sagte er; „er kann heut nicht erscheinen.“

„Um Gotteswillen, Mann, was hast Du?“ forschte sie angsthaft: wir alle waren athemlos. Es mußte etwas sehr Ernstes, vielleicht etwas Schreckliches sein, was den ruhigen festen Mann da vor uns so bewegte, daß wir jetzt sogar eine Thräne in seinem Auge sahen. Und da legte er den Arm um seine Frau und faßte ihre beiden Hände in seine Rechte und sprach mit mühsam erhaltener Fassung: „Kinder, ich kann’s Euch nicht länger verbergen – Freund Schenk wird niemals wieder zu irgend Jemand von uns kommen, – er ist todt.“

„Todt?“ riefen wir entsetzt ihm nach und zuckten zusammen und auf und starrten ihn an wie betäubt. Todt? War denn das ein Scherz? Aber kann und darf ein Ehrenmann mit so etwas scherzen, und war das Scherz, was uns aus Hubers Auge, aus seiner Stimme, seinem ganzen Wesen entgegentrat? Und doch – Ernst? Aber wie war es denn möglich? Schenk war ja ein gesunder, rüstiger, noch junger Mann, so viel ich wußte, ohne die entfernteste [4] Anlage zu irgend einer rasch verlaufenden Krankheit. Ich erinnerte mich sogar von seiner Mutter und ihm selbst gehört zu haben, daß er seit den gewöhnlichen Kinderkrankheiten nie auch nur eine Stunde darnieder gelegen oder wirklich unwohl gewesen. Das schoß mir alles durch den Kopf, und dazu der Freund verloren, der mir in kurzer Zeit so nahe getreten – und dazu der Jammer der bejahrten Mutter, deren einziges Kind er war – ! – Ich wandte mich stumm ab und steckte den Degen an und langte nach der Mütze.

„Bleiben Sie da, Hauptmann,“ sagte Huber, der meine Absicht verstand, während er seine noch immer ganz betäubte Frau zu ihrem Stuhl führte und sie sanft darauf niedergleiten ließ. „Sie sind dort jetzt nichts nütz. Seine arme Mutter ist nicht gefaßt genug, um schon Jemand zu sehen, und dazu ist jetzt gerade das Gericht im Hause.“ Und da bei diesem seltsamen Wort seine Frau so gut wie wir alle von Neuem zusammenfuhren, ergriff er die Hand der Ersteren und setzte gepreßt hinzu: „Ja, das Gericht, denn Schenk ist keines natürlichen Todes gestorben, sondern – ermordet.“

„Seht, ihr Grasaffen,“ unterbrach sich der sichtbar erschütterte alte Erzähler, der wie mancher Seinesgleichen seiner Bewegung Meister zu werden suchte, indem er gegen seine Umgebung rauher und barscher auftrat, als er es sonst jemals in der Gewohnheit hatte, – „seht, Ihr Grasaffen, Ihr habt es jetzt leicht. Ihr wißt, daß ich Euch etwas Besonderes erzählen will, und die Menschen, von denen Ihr hört, gehen Euch so gut wie nichts an. So hört Ihr mir mit voller Gemüthsruhe zu oder amüsirt Euch gar an meinem Bericht, wundert Euch vielleicht über den Alten, der heut, nach dreißig Jahren, noch so ergriffen ist. Aber Ihr könnt mir glauben, wenn man so etwas hört und erlebt, von einem Freund, in der Wirklichkeit, in der Gegenwart, so plötzlich, – da ist es um solche Nachricht ein seltsam Ding; sie geht dem männlichsten Mann durch Mark und Bein, und ich schäme mich nicht zu sagen, daß wir bei des Raths Worten alle käsebleich wurden und unsere Kniee zittern fühlten, wir Männer so gut wie die Weiber.

„Ich will uns aber nicht länger mit solchen Redensarten aufhalten,“ sprach er weiter, auch nichts von unserm Einsehen sagen, sondern nur melden, daß eine gute Zeit verstrich, bis wir gefaßt genug waren, den Bericht Hubers zu hören. Es war begreiflicherweise wenig genug und nur, was man auf den ersten Anblick wahrgenommen hatte. Die genauere Untersuchung war, wie ihr wißt, jetzt jedoch schon im Gange. Nach des Raths Mittheilung war der Sachverhalt folgender: Schenk hatte gegenwärtig mehrere sehr verwickelte Fälle vorliegen und dadurch so viel Arbeit, daß er nicht nur früher aufstand als sonst, sondern auch an Tagen, wo keine Sitzungen und Verhöre stattfanden, jede Störung verboten und mehr als einmal erst zum Mittagsessen um ein Uhr oder noch später sein Zimmer verlassen und seiner Mutter guten Morgen gesagt hatte.

„Es war daher nicht weiter aufgefallen, als er auch heut über die Speisestunde hinaus auf sich warten ließ – er war, wie ich schon berichtet, ein sehr frugaler Mensch, der außer seinem Kaffee, den er sich selbst bereitete, Morgens nur ein Stück Brod genoß, das er gleichfalls im Zimmer vorräthig hielt, um eben von der Tagesordnung der Seinen in Geschäften nicht gestört zu werden. Heut war die Uhr aber Drei geworden, wo sich denn die Mutter endlich bewogen fand, nach ihrem Sohn zu sehen. Die Thür war auffälliger Weise verschlossen, was sonst niemals der Fall, und es blieb auf alles Pochen und Rufen drinnen todesstill, so daß die alte Dame wohl ein Unglück ahnen mußte und zugleich zum Schlosser und Arzt schickte. Als man eindrang, zeigte sich das Unglück viel schrecklicher, als sie irgendwie gefürchtet. Schenk lag todt auf dem zerwühlten Bett, mit mehreren Wunden am Kopf und in der Brust. – Die alte Frau wurde ohnmächtig. Der Arzt versicherte sich des Schweigens der übrigen Anwesenden, schloß die Thür und ging zum Präsidenten, Meldung zu machen. Das war alles, was Huber uns einstweilen mittheilen konnte.

„Wir gingen nach einiger Zeit still auseinander, und ich machte mich zu dem theuren Hause, um die arme Frau und den geschiedenen Freund zu sehen; mir war noch immer zu Muth, als sei alles Gehörte nur ein wüster unheimlicher Traum gewesen, der schier unmöglich zur Wahrheit werden konnte. Allein es war leider eine nur zu schreckliche Wahrheit. – Die alte Dame ließ sich nicht sprechen, jedoch um meinen Besuch am folgenden Morgen bitten. Die Leiche sah ich auch nicht, da man bereits die Section vornahm. Und so ging ich dumpf und stumpf nach Hause und starrte von meinem Fenster nach dem hinüber, hinter welchem ich so oft das Licht von Schenk’s Lampe erblickt und von demselben mich zu einem Besuch bei dem theuren Freunde hatte fortziehen lassen. Erst spät, nach neun Uhr, ging ich zum Abendessen auf die Harmonie, – Hunger hatte ich nicht, aber ich mußte Menschen sehn, ich mußte über das Unglück reden, womöglich Näheres erfahren. Es war am Mittwoch, dem gewöhnlichen Gesellschaftsabend, und die Gerichtsbeamten waren dann, so weit sie Mitglieder, gewöhnlich alle da. Ich hatte nur nicht daran gedacht, daß die meisten schon um neun Uhr nach Hause zu gehen pflegten.

„So traf ich denn nur noch ein paar Cameraden und wenig Andere, unter diesen jedoch zu meiner großen Freude den Rath Huber. Er wußte noch nichts Näheres, sagte aber zu mir im Auf- und Abgehen leise, ich möge mich zu ihm halten. Er wisse, daß der mit der Untersuchung beauftragte College – es war ein Assessor Sterning – nach Beendigung der dringendsten Geschäfte herkommen und zu Nacht essen werde; man halte ihm die Speisen bereit. Dann solle er uns mehr von dem traurigen Fall berichten. – Ich ergriff diesen Vorschlag natürlich mit beiden Händen, und als ich selber kaum gegessen, trat Huber, der inzwischen mit dem Wirth geredet, wieder zu mir und flüsterte mir zu, Sterning sei bereits da, in einem kleinen Hinterzimmer, weil er nicht in Gesellschaft sein möge, werde uns Beide jedoch gern bei sich sehen. Wir machten uns also hin.

„Der Assessor drückte uns ernst, fast finster die Hand. „Ich bin heut Abend, nach dem Unglück, nicht umgänglich,“ sagte er, „aber Sie Beide sind mir willkommen. Sie waren mit Schenk genau bekannt und haben vielleicht irgend etwas von ihm und seinem Leben erfahren, was uns in der Verfolgung dieser unseligen Geschichte förderlich sein kann. Mit einem Wort, meine Herren, alles, was man bisher erkundet, deutet auf nichts weniger als auf einen eigentlichen Raubmord oder dergleichen hin. Vielmehr ist das Verbrechen sichtbar auf das Vorsichtigste eingeleitet und mit einer Ueberlegung, mit einer Kenntniß und Benutzung der Localität, der Lebensweise, der Gewohnheiten des Opfers ausgeführt worden, wie man sie bei einem Menschen gewöhnlicher Extraction weder annehmen darf, noch jemals finden wird. Sie sind ja auch ein alter Criminalist, Herr Rath; urtheilen Sie selbst!“ Und damit erzählte er, was ich jetzt kurz zusammenfassen muß, auf das Eingehendste und Klarste, und zeichnete uns sogar den Grundriß des Locals auf, um Alles noch deutlicher zu machen.

(Fortsetzung folgt.)


Elf Blutzeugen deutscher Freiheit.
Erinnerung eines Siebenzigjährigen.

Es war eine wilde stürmische Septembernacht des Jahres 1809, als ich, von Düsseldorf heimkehrend, vor Wesel, meiner Vaterstadt, anlangte. Vergebens forderte ich am Thore Einlaß; statt des brummenden Invaliden mit dem verwetterten und doch gutmüthigen Gesichte, der mich sonst gegen Verabreichung eines kleinen Trinkgeldes nach kurzem Parlamentiren einließ, stießen mich dieses Mal bärtige finstere Männer zurück, die in französischer Sprache in das Sturmwetter hinausfluchten. Meiner Versicherung, daß ich Weseler Kind sei und im Vaterhause erwartet werde, setzte man kurze Antworten und Drohungen entgegen, und so blieb mir schließlich, um dem strömenden Regen zu entgehen, nichts übrig, als vor der Stadt Schutz zu suchen. Nach vieler Mühe gelang es mir, etwa eine Viertelstunde von der Stadt in der Richtung der Porte de Secours in einer elenden, nur von armen Fuhrleuten und Sandkärrnern besuchten Schenke ein Unterkommen zu finden. Zorn und Trauer über das schmachvolle Elend des Vaterlandes hielten mich wach. Aber auch die Neugierde regte mich auf. Weit und breit zitterte Alles vor der napoleonischen Macht, nirgends war ein Feind in der Nähe und doch war die Stadt verschlossen, als wenn ein Ueberfall bevorstände. Welch Unheil brütete in ihren

[5]

Vor den Thoren von Wesel!

Mauern? was konnte die Unterdrücker veranlassen, in so auffallender Weise mitten im Frieden Maßregeln zu ergreifen, die auf Unsicherheit und Furcht hindeuteten?

Lange Stunden saß ich so in Gedanken versunken an einem kleinen Fenster der Schenke und bemerkte nicht, daß die Wucht des Sturmes sich gebrochen und der Regen nicht mehr an’s Fenster prasselte. Plötzlich traf ein matter Schein meine Augen. Aus der geöffneten Porte de Secours drang eine kleine Schaar Männer, von dem Glanze flackernder Lichter gespenstig beleuchtet. An dem gleichmäßigen Takte ihrer Schritte erkannte ich, daß die Näherkommenden Soldaten waren. Voll Neugierde, was der geheimnißvolle Auszug in so früher Stunde wohl bedeuten möge, verließ ich die Schenke und ging den ziemlich rasch Marschirenden entgegen. Ich konnte bald Alles erkennen. Ein invalider Sergeant-Major commandirte sechs Mann, die aber nicht mit kriegerischen Waffen, sondern mit friedlichen Spaten und Schaufeln versehen waren. Meine neugierige Frage würdigte der alte Führer der kleinen Schaar keiner Antwort; schweigend setzten sie ihren Weg weiter. Ich folgte scheu in einiger Entfernung. Bald bogen sie von der Landstraße ab. Durch den anhaltenden Regen waren die Wasser [6] des Rheines und der Lippe so geschwollen, daß sie, die gewohnten Ufer verlassend, sich über die Wiesensfläche ergossen und nur eine höher gelegene Stelle und einen schmalen Streifen Landes, der zu ihr hinführte, frei ließen. Dorthin marschirte die Truppe. Auf der Höhe angekommen gebot der Führer Halt, mit dumpfer Stimme, als fürchte er sein Geheimniß zu verrathen. Die Soldaten ergriffen schweigend ihre Hacken und Schaufeln und wühlten in der weichen Erde. – Das Räthsel der verschlossenen Thore, das mich einige Stunden zuvor mit ahnendem Grauen erfüllt, war gelöst; die Antwort, die mir der alte Sergant verweigert, gab mir die Arbeit der Soldaten. Sie gruben drei Gräber – Gräber jedenfalls für Opfer des napoleonischen Despotismus. Ein banger Schauder machte mich beben. Unwillkürlich mußten mir die Heldenmüthigen elf jungen Officiere von Schill’s Corps einfallen, die, zu Stralsund nach verzweifeltem Kampfe gefangen, in Wesel des Urtheils harrten. Noch zweifelte ich, noch wagte ich nicht zu glauben, daß die Ueberhebung des fremden Tyrannen so weit ginge, deutsche Jünglinge, die, auf deutschem Boden für des Vaterlandes Befreiung die Massen führend, in ehrlichem Kampfe unterlegen waren, mit kaltem Blute zu morden. Bald sollte auch dieser Zweifel mir benommen werden.

Der Tag begann zu grauen, sodaß man wohl von weitem die düstere Arbeit aus der erhöhten Stelle sehen konnte. Landleute aus der Umgegend, Städter, die sich verspätet und gleich nur die Nacht vor den Thoren hatten zubringen müssen, kamen herbei und mehrten die traurige Gruppe. Durch ihre mitleidsvollen Ausrufungen, durch ihre leisen, zwischen den Zähnen verhallenden Flüche, erhielt ich Gewißheit.

Die Arbeit war vollbracht, der Tag brach an. Die kleine Truppe verließ den Platz und zog sich schweigend, wie sie gekommen, durch die nun geöffneten Thore in die Stadt. Wie lange hatte ich mich gefreut, die heimischen Mauern wieder zu sehen!

Wie schön hatte ich mir die Ueberraschung meiner Lieben ausgemalt! Und nun zog ich ein in meine Vaterstadt in düsterer unheilvoller Gesellschaft, mit Thränen in den Augen, nicht Thränen der Freude, sondern des Kummers und der Wehmuth! Die erste Frage, als ich mich den zärtlichen Umarmungen meiner Lieben entwunden, galt dem Schicksale der gefangenen Officiere. Wie viel Trauriges sollte ich erfahren!

Schill’s Ende ist bekannt. Er hatte sich eben getäuscht. Noch war der Haß nicht zum Zorne, nicht zur That gereift, noch loderte nicht die Flamme der Begeisterung, die vier Jahre später die ganze deutsche Jugend freudig zu den Waffen greifen ließ. Nach kurzem, von vielen Heldenthaten geschmücktem Zuge fiel er und mit ihm Hunderte seiner Genossen im Kampfe der Verzweiflung in den Straßen der Ostseestadt Stralsund. Wohl ihnen! sie hatten nicht die Qual schimpflicher Gefangenschaft, nicht den Hohn französischer Kriegsgerichte zu erdulden. Anders und härter erging es jenen, die auf Schill’s Zuge oder bei dem Falle Stralsunds in die Hände des Feindes gefallen waren. Der feindliche General Gratien ließ die Gefangenen – 11 Officiere, 557 Unterofficiere und Gemeine und 12 Frauen – in eine Kirche einsperren, versicherte dabei aber, daß ihnen kein Leid geschehen solle. Am 10. Juni zog Gratien ab, und sämmtliche Gefangene wurden nun nach Braunschweig gebracht. Hier zeigte sich das Mitgefühl der Einwohner zu den tapferen Landsleuten in hohem Grade; manchem der Unglücklichen wurde zur Flucht verholfen, bis der Gouverneur drohte, bei weiteren Befreiungsversuchen die Stadt plündern zu lassen. Anfangs Juli wurden auf Befehl Napoleons die Frauen und Krüppel entlassen und über 500 Mann ohne Verhör, noch Urtheil nach Brest und Cherbourg geschleppt, um dort, an die Galeerenkette geschmiedet, Sclavenarbeit zu verrichten. Ueber vierzehn Unterofficiere und gemeine Soldaten wurde aber schon zu Braunschweig Kriegsgericht gehalten. Auf Napoleons ausdrücklichen Befehl mußten Deutsche über die deutschen Tapferen, meist Preußen aus dem Magdeburgischen und Halleschen, zu Gerichte sitzen und sie zum Tode verurtheilen, „weil sie als westphälische Unterthanen die Waffen gegen ihr Vaterland (!) getragen hatten.“ Auf drei Tage, 18., 20. und 22. Juli, vertheilte der Befehl Napoleons die Hinrichtung, damit die blutige Sache um so mehr Eindruck mache auf das unter das französische Joch nur mit Zähneknirschen sich beugende Volk. Auf einem wüsten sandigen Platze vor dem östlichen Thore der Stadt fielen sie unter den meuchlerischen Kugeln der französischen Schergen.

Die elf zu Stralsund gefangenen Officiere aber wurden von Braunschweig zuerst nach Cassel, von da nach Frankreich geschleppt und dort kurze Zeit in mehreren Gefängnissen der Mosel und Somme festgehalten; von hier aus sollten sie nach Wesel gebracht, um, wie man ihnen vorspiegelte, den preußischen Behörden überliefert zu werden. Die französischen Soldaten, welche sie auf ihrer traurigen Reise von Festung zu Festung begleiteten, von deren edler muthiger Haltung gerührt und wohl sich schämend, Schergen an Kämpfern der Freiheit machen zu müssen, bewachten sie nur schlecht und boten ihnen häufig Gelegenheit zur Flucht. Die Unglücklichen verschmähten dies, denn nie, glaubten sie, werde der Feind so ehrlos sein, Männer als Verbrecher zu behandeln, die für ihr Vaterland gestritten. In Montmedy theilten sie eine Weile mit zwei andern Officieren des Schill’schen Corps, die schon vor der Katastrophe zu Stralsund, bei dem Treffen zu Dodenkorf in Feindes Hände gefallen waren, das Gefängniß. Einer von diesen erfuhr von einem Knaben, daß man die eilf anderen Officiere nicht an die Behörden ihres Vaterlandes abliefern, sondern von einem französischen Kriegsgerichte aburtheilen und erschießen lassen werde; er theilte ihnen dies mit und beschwor sie, jede Gelegenheit zur Flucht zu benutzen. Vergebens; die Verblendeten achteten nicht auf seine Warnung, sie hielten das ihnen drohende Geschick für unglaublich, ja einer derselben, Leopold Jahn, Gemahl einer Reichsgräfin von Papenheim, ließ sich in der festen Zuversicht, daß seine hohen Verwandten, die großen Einfluß am bairischen Hofe besaßen, für ihn und seine Cameraden sich verwenden würden, und sie so auf gesetzliche Weise ihre Kerker verlassen konnten, von seinen Cameraden das Ehrenwort geben, nicht zu entweichen. Kurz nach ihrem Wiedereintritt in deutsches Gebiet wurden sie in Geldern in ein schlechtes baufälliges Gefängniß gebracht, der Aufseher desselben, von den patriotisch gesinnten Einwohnern gewonnen, verlor in ihrem Kerker absichtlich die Gefängnißschlüssel, doch als er des Morgens später als gewöhnlich wiederkam, empfing er verwundert und erschrocken zugleich aus den Händen seiner Gefangenen die verlorenen Schlüssel.

„In der Citadelle von Wesel wird man keine Schlüssel mehr verlieren,“ bemerkte er und erhielt hierauf die männliche Antwort: .. „Das festeste Schloß ist unser gegebenes Wort.“

Mitte August kamen die Gefangenen nach Wesel, wo sie sofort auf der Citadelle in engste Haft genommen wurden. Der Gouverneur von Wesel, Divisionsgeneral Dallemagne, setzte sofort die militärische Specialcommission zusammen, welche die Untersuchung führen und das Urtheil fällen sollte. Mit Mühe gelang es ihm, einen Präsidenten für das Blutgericht zu finden. Zuerst bestimmte er hierzu den Befehlshaber der Portugiesen, die sich in Wesel befanden, dann den Bataillonschef Jarin, Beide aber meldeten sich krank. Die Specialcommission versammelte sich zum ersten Male Anfangs September im Saale der Citadelle, die Gefangenen wurden diesmal nur um Namen, Geburtsort und Dienstzeit gefragt. Ein Herr von Brinken, der dabei als Dolmetscher fungirte, sah bei dieser Gelegenheit das Decret Napoleons wegen Verurtheilung der elf Officire, welches der Greffier der Commission wohl absichtlich in der Stube des Gefangenwärters hatte liegen lassen, es lautete: „Die elf Officiere des Schill’schen Corps, welche mit den Waffen in der Hand gefangen wurden, sollen zu Wesel vor ein Kriegsgericht gestellt, als Räuber behandelt und gerichtet werden.“ So war also deren Tod schon beschlossen, bevor noch die trügerische Form, in der sich die Gewalt mit dem Scheine der Gerechtigkeit umhüllen wollte, ausgespielt war. Der Capitain-Rapporteur Carin vom 21. Regiment leichter Infanterie führte die weitere Untersuchung. Von dem Muthe und der Jugend der Gefangenen gerührt, legte er ihnen im ersten Verhöre nur Fragen vor, die ihre militärische Stellung betrafen, und machte einen für sie günstigen Bericht, auf den hin kein Todesurtheil gefällt werden konnte. Der Präsident des Gerichtshofes aber, getreu dem Befehl, daß die Gefangenen für schuldig befunden werden müßten, wies diesen Bericht zurück und trug dem Capitain-Rapporteur auf, die Untersuchung wieder zu beginnen und den Officieren die Frage vorzulegen, „wo Schill das Geld hergenommen habe, um während des Zuges seine Truppen zu bezahlen.“

Die Officiere konnten nicht leugnen, daß sie beim Durchzuge durch fremde Gebiete im Königreiche Westphalen und im Mecklenburgischen auf Schill’s Befehl öffentliche Cassen weggenommen hatten. Das war genügend, um sie zu verurtheilen, darum wurde auch auf dieses Geständniß hin sogleich die Voruntersuchung geschlossen.

Sobald die Gefangenen erfuhren, daß man sie als Räuber [7] anklage, suchten sie sich einen Rechtsbeistand. Herr Noul Perwez aus Lüttich, der sich in Wesel als Defenseur-Officier befand, übernahm auf die edelmüthigste Weise dieses gefährliche Amt; noch ehe er es aber üben konnte, kam schon aus Paris der Befehl des Polizeiministers, daß er Wesel zu verlassen habe, um in Lüttich unter Polizeiaufsicht gestellt zu werden. Mit vieler Mühe wurde es ihm gestattet, so lange in Wesel zu bleiben, bis das Kriegsgericht sein Urtheil gefällt habe.

Am 16. September, dem Tage meiner so traurigen Heimkehr in’s Vaterhaus, sollte das Kriegsgericht zusammentreten, um die noch blühenden Jünglinge bald als verstümmelte Leichen dem Grabe zu übergeben. Die Kunde von jener nächtlichen Arbeit und von dem abzuhaltenden Kriegsgerichte war in die Stadt und die Umgegend gedrungen. Landleute von dem linken Ufer der Lippe hatten sich über den ausgetretenen Fluß in einem Nachen übersetzen lassen und waren an der wasserfreien Anhöhe, wo die Gräber sich befanden, gelandet. Aus Fürstenberg und der Stadt strömten die Leute zur Mordstelle, so daß zuletzt der General Lamoine aus Furcht, die Theilnahme und Entrüstung über das ungerechte Verfahren möchte die Volksmenge zu einem Angriffe auf die Mörder bewegen, um 9 Uhr Morgens, als das Kriegsgericht begann, alle Stadtthore auf’s Neue schließen, die Wachen verstärken und Versammlungen der Einwohner auf den Straßen verbieten ließ. Die grausige nächtliche Scene hatte mir schon das Urtheil verkündet, bevor es noch gefällt war, dennoch wollte ich dem Kriegsgerichte beiwohnen, um in dem muthigen Betragen der Jünglinge mir ein erhebendes Beispiel zu nehmen. Trotz Empfehlung erhielt ich aber keine Erlaubniß. – Um 9 Uhr des Morgens trat das Kriegsgericht auf der Citadelle zusammen, von Grenadieren begleitet wurden die elf Gefangenen ungefesselt vorgeführt, es waren:

Leopold Jahn, 31 Jahre alt, aus Massow in Preußisch-Pommern, früher Lieutenant in einem Husaren-Bataillone; er hatte seine Gattin mit einem Säugling an der Brust verlassen, um für das Vaterland zu kämpfen und zu sterben.

Daniel Schmidt aus Berlin, 29 Jahre alt, Volontair-Officier im Schill’schen Corps.

Ferdinand Galle aus Berlin, 29 Jahre alt, Lieutenant.

Adolph Keller aus Straßburg in Ostpreußen, Lieutenant.

Friedrich von Trachenberg, 25 Jahre alt, aus Rathenow in der Mark Brandenburg.

Constantin von Gabain, 25 Jahre alt, aus Geldern, Junker.

Carl Wedell aus Braunsfort in Pommern, 23 Jahre alt, Lieutenant.

Friedrich Felgentreu aus Berlin, 22 Jahre alt, von Schill zum Officier seines Artillerie-Frei-Corps ernannt.

Albert Wedell aus Braunsfort in Pommern, 20 Jahr alt, früher Lieutenant bei den Truppen des Herzogs von Köthen.

Ernst Friedrich von Flemming, 19 Jahre alt, aus Rheinsberg in der Mark Brandenburg, war außer Dienst, als er in Stralsund dem Schill’schen Corps sich anschloß.

Carl von Keffenbrink aus Krien in Pommern, 18 Jahre alt.

Noch denselben Tag erfuhr man, daß diese elf Jünglinge, auserkoren als Blutzeugen für die Wahrheit und Gerechtigkeit der vaterländischen Sache zu sterben, sich vor dem Kriegsgericht würdig dieser hohen Ehre gezeigt hatten. Keine Entschuldigung, keine Bitte, keine Klage war über ihre Lippen gekommen; statt sich zu vertheidigen, hatten sie auf das geknechtete Vaterland hingewiesen, dessen Schmach zu rächen ihre Pflicht gewesen sei. „Wir sind schuldig für des theuern Vaterlandes Freiheit und Recht gekämpft zu haben und bereit dafür zu sterben,“ hatten sie wie aus einem Munde am Ende ihres Verhöres gerufen. Einer von ihnen, hingerissen von aufwallendem Edelmuthe, hatte sich als Opfer für seine Freunde angeboten, aber die Uebrigen hatten dies Opfer zurückgewiesen, denn sie alle geizten nach dieser Ehre. – Auch der Vertheidiger Perwez hatte mit vielem Feuer gesprochen und mit logischer Schärfe nachgewiesen, daß Schill nicht ohne Vorwissen der preußischen Regierung gehandelt habe und von dieser erst später seinem Schicksale überlassen und desavouirt worden sei; habe aber Schill auf höheren Befehl gehandelt, so sei weder er ein Räuber, noch seine Cameraden strafbar, aber selbst wenn er ohne höhere Befehle gehandelt, so seien die Angeklagten nicht strafbar, weil sie, dies nicht wissend, durch den militärischen Gehorsam gezwungen gewesen seien, Schill zu folgen. Geschickt hatte der Vertheidiger mehrere Artikel des Gesetzes zum Vortheile seiner Clienten angewendet und sich so freimüthig geäußert, daß der Präsident ihm mehrmals zu schweigen gebot.

Mit stolz erhobenem Haupte und hellleuchtenden Augen sah man bald nach 10 Uhr die Gefangenen wieder den Gerichtssaal verlassen. Ohne Murren boten sie ihre Hände den Fesseln und ließen sich in’s Gefängniß zurückführen. Das Kriegsgericht blieb noch eine kleine Weile beisammen, bald aber verließen auch seine Mitglieder den Ort, wo sie ihre Ehre mit einem so ungerechten Urtheile befleckt hatten. Fast in demselben Augenblicke wurde das Urtheil in deutscher und französischer Sprache an allen Straßenecken angeschlagen.

Die elf Jünglinge wurden zum Tode durch Erschießen verurtheilt, zufolge dem 1. Artikel des Gesetzes vom 29. Nivose des Jahres VI, welcher lautet: „Diebstahl mit offener Gewalt oder durch Gewaltthätigkeit auf öffentlichen Wegen und Straßen begangen, Diebstahl in bewohnten Häusern mit Einbruch von außen oder Einsteigen mit Leitern, soll mit dem Tode bestraft werden.“ – Das Urtheil sollte binnen vierundzwanzig Stunden vollzogen werden.

Gegen ½12 Uhr kam ich zur Wache und hörte, wie man den elf Officieren das Todesurtheil verkündete. Anfangs schienen sie betroffen, die Lust zum Leben hatte ihnen bis jetzt die Hoffnung auf ein günstigeres Urtheil vorgespiegelt, bald aber ermannten sie sich wieder und zeigten sich bis zum letzten Momente ihres Lebens als heldenmüthige Männer. Sie erhielten nur noch die Erlaubniß, den Ihrigen das letzte Lebewohl zu schreiben, aber sie mußten sich beeilen, denn nur noch kurze Zeit gönnte man ihnen zu leben.

Lauter Trommelwirbel erschallte um 1 Uhr Mittags durch die Straßen der tiefbetrübten Stadt; aus der Citadelle ritt eine Abtheilung mit gespannten Carabinern, dann folgte eine Compagnie Grenadiere, diesen zunächst die zur Execution befehligten Kanoniere. Alle beobachteten tiefes, banges Schweigen. Ueber die Wange manches bärtigen Kriegers rollten Thränen der Entrüstung über den schmachvollen Dienst, zu dem man sie zwang, denn selbst die fremden Krieger, die schon vieles Leid gesehen und bei manchem Unrecht mitgeholfen, fühlten die Schwere dieses Unrechts und die tückische kleinliche Sache, die hier begangen wurde. Mit aufrechtem Haupte und einem Blicke, den Freude verklärte, als könnten sie in der fernen Zukunft schon den Tag erspähen, wo ihr Tod gerächt und das Vaterland befreit würde, gingen die elf Schlachtopfer, zu zweien und dreien mit dünnen Stricken an den Armen aneinander gebunden, in der Mitte der Kanoniere. Als man die beiden Brüder Wedell, die mit rührender Zärtlichkeit die letzten Schmerzenstage ihres jungen Lebens sich zu erheitern gesucht hatten, im Hofe der Citadelle aneinander binden wollte, sagte der eine „Ach! sind wir nicht schon durch die Bande des Blutes eng genug verknüpft, daß man uns noch auf eine so schändliche Art zusammenbinden muß?“ Aber auch sie mußten gefesselt den Weg zu ihrem Grabe gehen. – Eine Compagnie Voltigeurs schloß den grausigen Zug, der langsam aus dem Hauptthore der Citadelle über die Esplanade nach dem Berliner Thore sich bewegte. Kein Bewohner der Stadt durfte ihm vor das Thor folgen, so daß auch ich trotz einer Empfehlung zurück bleiben mußte. Auf den Tod betrübt ging ich nach Hause – eine bange Viertelstunde verstrich – da hörte ich das ferne Donnerrollen der Gewehre; das Drama hatte sein blutiges Ende gefunden. – Eine andere Feder mag es schildern.

Ein Theil der Bewohner der Stadt war vor Schließung der Thore hinausgegangen, von ferne schon vernahmen sie den todverkündenden Trommelschlag mit banger Erwartung und tiefbetrübter Seele, da so viele hochherzige Söhne des Vaterlandes auf einmal von französischen Kugeln dahin gestreckt werden sollten. Unter diesen trauernden Bürgern befand sich auch Herr J., ein Freund Gabain’s, auf den er an der Stelle, wo jetzt der Wegweiser vor dem Berliner Thore steht, mit dem schmerzlichen Gefühle eines solchen Wiedersehens auf dem heimathlichen Boden wartete! Der Führer des Zuges bemerkte den Wartenden und fragte ihn, ob der Weg zum Richtplatze rechts führe; jener erwiderte aber, daß die Wiese und die Straße nach der Lippe zu überschwemmt seien, der Zug müsse daher links den Weg nach dem Fürstenberg einschlagen; dies geschah auch. Bald kamen die elf Gefangenen auf den Wartenden zu. In edler Haltung, erhaben über ihr unverdientes Unglück und voll der Ahnung, daß einst das Vaterland wieder frei und ihr Herzblut nicht umsonst verspritzt sein werde, schritten sie ohne Todesfurcht einher inmitten der Kanoniere, und nöthigten dem Feinde selbst Achtung und Bedauern ab. Das Anerbieten, nach dem Richtplatze zu fahren, hatten sie abgewiesen, da sie zum letzten Gange [8] noch Kraft genug hätten. Dessenungeachtet ließen die Franzosen einige auf der Straße aufgegriffene Bauernkarren dem Zuge nachfahren. Herr J. eilte nun sogleich auf seinen Schulfreund Gabain zu, ohne daß die Franzosen es hinderten, und sprach mit ihm weitergehend von der vergangnen schönen Jugendzeit und der todesschwangeren Gegenwart. Flemming oder Felgentreu, der im Zuge vor ihnen herging, fragte Gabain, wer der Begleiter sei. Da er hörte, es sei ein Weseler Bürger und ehemaliger Schulcamerad, so sagte er zu Herrn J: „Kommen Sie mit uns und sehen Sie, wie preußische Officiere sterben!“ So ging Herr J. mit dem Zuge, bis dieser auf den Richtplatz gelangte, wo sich um die drei großen Gräber die Truppen in einem Halbkreise aufgestellt und viele Zuschauer versammelt hatten. Die Gefangenen stellten sich in eine Reihe nebeneinander, ohne in den letzten Minuten des Lebens im Geringsten ihre bisher gezeigte würdevolle Haltung zu verlieren, selbst die Jüngsten unter ihnen zeigten eine Todesverachtung, wie sie selbst bei alten ergrauten Kriegern selten ist.

Eine tiefe Stille herrschte rings im harrenden Kreise; alle standen in gespannter Erwartung, denn nur wenige Minuten noch, und elf in ihrer Jugendkraft blühende Jünglinge lagen zerschmettert auf der kühlen Erde, die den Lebenden zu ihrem Empfang drei dunkle Grabesbetten schon zeigte. Die zur Execution bestimmten 66 Kanoniere traten den Elf gegenüber. Sechs Kugeln waren für jeden bestimmt. Eine Abtheilung stand in Reserve. Die Trommeln schwiegen. Als der Adjutant vom Platze den Verurtheilten noch einmal das Urtheil vorlesen wollte, verweigerten sie diese unnütze Entschuldigung des gewaltsamen Mordes anzuhören. Doch baten sie mit offenen Augen die Todeswunde empfangen und selbst das Zeichen dazu geben zu dürfen. Diese letzte Bitte wurde ihnen gewährt. Noch einmal umarmten sie sich mit den freien Armen und vor allen das Brüderpaar Wedell, allen Zuschauern ein schmerzlicher Anblick. Noch einmal schauten sie voll Wehmuth nach Osten, nach dem theuern Heimathlande und sandten den Geliebten den letzten Gruß, entblößten dann Hals und Brust und riefen den gegenüberstehenden Kanonieren zu, das deutsche Herz nicht zu fehlen. „N’ayez pas peur, les canoniers français tirent bien!“ erwiderte einer der Schützen; darauf riefen die Heldenjünglinge, in deren hochwallender Brust die Liebe für König und Vaterland zum letzten Male aufloderte, alle zugleich: „Es lebe unser König, Preußen hoch!“ In diesem Augenblicke warf Ernst von Flemming, der am Ende des linken Flügels stand, zum Todeszeichen seine Mütze in die Luft, da krachten die 66 Musketen, und Pulverdampf umhüllte wie ein graues Leichentuch die Gefallenen. Zehn lagen todt auf dem kalten Rasen; einer aber, Albert von Wedell, stand noch aufrecht, ihm war nur der Arm zerschmettert; mit fester Stimme rief er dem Commando zu, besser auf das preußische Herz zu zielen. Da trat eine neue Section schnell vor, und ihre Kugeln streckten auch ihn darnieder. So empfingen sie die letzte Wunde der Erde in ihre männliche Brust; kein Schmerz drängte sich zwischen ihr Sterben und die Unsterblichkeit. Ihr letzter Gedanke war das Vaterland. –

Fast vier Jahre noch nach dem Blutgerichte zu Wesel lag der Druck der napoleonischen Herrschaft auf Deutschland. Gott aber sprach im Jahre 1812 im hohen Norden das Urtheil über den Sohn des Südens, der, Wahrheit, Recht und Freiheit verachtend, durch Lüge, Hinterlist und Gewalt seinen blutigen Thron auf den Trümmern Europa’s errichtet; wenige Monden noch, und die Begeisterung, welche die elf Jünglinge in den Tod geführt, wehte wie ein belebender Odem durch Deutschland, ergriff die erstorbenen Glieder unseres Nationalkörpers und fügte sie aneinander. Eine Gluth durchzuckte alle Herzen und rettete das Vaterland. Am 3. Februar 1813 erschien der Aufruf des Königs von Preußen, der die Jünglinge zu den Waffen rief. Am 18. October 1813 schon ward die Schlacht bei Leipzig geschlagen, und Napoleon verließ in wilder Flucht Deutschland, um nie wieder seine Fluren zu betreten. Am 30. März 1814 zogen die Verbündeten in Paris ein, aber erst am 10. Mai 1814 öffnete Wesel seine Thore den Preußen. Ueber das Märtyrer-Grab war seither das Gras gewachsen, und nur der wiederkehrende Frühling schmückte es alljährlich mit seinen duftenden Kindern – den Blumen. Nun aber, in der Freiheit Morgenroth, erinnerte man sich der Gemordeten, die schon in dunkler Nacht den kommenden Tag der Freude und der Freiheit verkündet; die Einwohner Wesels bepflanzten jetzt die Gräber mit Pappeln und Akazien und umgaben sie mit einer grünen Umzäunung. Im Jahre 1815 wollte die Freimaurerloge zum goldenen Schwerte mit einem einfachen Denkmal den Platz zieren, allein es wurde nicht erlaubt. Es folgten die rauschenden Feste der Höfe und des Wiener Congresses, es constituirte sich der Bundestag, die Carlsbader Beschlüsse wurden gefaßt, Specialcommissionen und Blutsenate ernannt, – Alles, um den Geist wieder zu bannen, den man einst zur Rettung der Throne heraufbeschworen.

Die Bäume auf dem Grabe der Ermordeten aber wuchsen und gediehen von ihrem Marke, in ihren Blättern rauschte es, wie leise Klagen über die Undankbarkeit, die das Opfer jener elf Helden, deren Gebeine hier moderten, und die Hingebung des ganzen deutschen Volkes vergessen. Endlich nach sechsundzwanzig langen Jahren, fünf Jahre nachdem die Julirevolution Frankreich’s die Regierungen an ihre Sünden gemahnt, am 31. März 1835 wurde den Vergessenen ein Denkmal gesetzt, nicht aber von der Regierung des Fürsten, mit dessen Namen auf den Lippen sie gestorben waren, sondern aus Beiträgen des preußischen Heeres. – Das alte Lied – das alte Leid!

Bei der Erinnerung an das leuchtende Beispiel dieser Blutzeugen aber wollen wir uns geloben, ihnen nachzuahmen und dem Vaterlande, wenn es wieder Noth thun sollte, Alles zu opfern, selbst auf die Gefahr hin, wiederum von Undankbaren vergessen und – verleugnet zu werden. Alles für deutsche Ehre und deutsches Vaterland – aber auch nur für diese!



In der Wildniß.
Aus den Wäldern von Ecuador.
Von Fr. Gerstäcker.

Es ist ein gar wunderbares eigenthümliches Ding für Jemanden, der an europäische Zustände, an europäische Gesittung, an europäische Bequemlichkeiten gewöhnt ist, hier auf einmal mitten in die Wildniß zu fallen, und sich da so häuslich niederzulassen, als ob er im ganzen Leben nicht daran dächte wieder fort zu gehen. – Es hat seinen Reiz, das läßt sich nicht leugnen, und schon daß ich jetzt seit fast vier Monaten den Namen Louis Napoleon nicht einmal habe nennen hören, ist eine Art von europäischer Erholung. Außerdem bietet die Natur auch wieder manches wunderbar Schöne – die ewig schaffende, die ewig sich verjüngende Natur, die hier unter keiner Scheere gehalten wird, sondern sich frei – manchmal auch ein wenig zu frei – regen und bewegen kann.

Außerdem müßte ich aber schändlich lügen, wenn ich sagen wollte, daß mir solch’ ein Leben – mit den Banden, die mich daheim fesseln – auf die Länge der Zeit behagen könnte, und ich finde denn doch, daß ich, trotz Allem was uns daheim drückt und ärgert, keineswegs schon zu den Europamüden gehöre. Ich bin aber einmal hier, bin mitten in die Wildniß hineingesprungen, und Alles, was ich zu thun habe, ist zu sehen, daß ich wieder heraus komme. Bis dahin will ich mich aber, soweit es meine Mittel erlauben, ihrer freuen, will sie genießen nach besten Kräften, und die Erinnerung mag mir dann später vergüten, was ich jetzt gerade an der Erinnerung leiden muß.

Den Leuten hier darf man es übrigens nicht verdenken, daß sie sich keinen Begriff von unseren europäischen Zuständen machen können – kommt es mir selber doch wahrhaftig manchmal wie ein Traum vor, daß zwei so verschiedene Länder existiren und in wenigen Wochen erreicht werden können, ohne daß eines vom anderen viel mehr als den bloßen Namen kennt. – Dort daheim Alles Leben und Bewegung, ein ewiges Drängen und Treiben und Streben – ein rastloser Fleiß und Ehrgeiz, ein ewiger Kampf um des Lebens Güter – oft um das tägliche Brod, und o wie oft! – hier dagegen Nichts als Ruhe, ewige Ruhe, im [9] Wald drinnen mit seinen düsteren Schatten, in den Herzen der Menschen, die sich ihre Wohnungen an ihn hinan gebaut haben. Sie wissen Nichts von der Welt, wie sie draußen um sie liegt, sie verlangen Nichts davon zu wissen – weshalb auch? von dort her können sie keine Pisang oder Fische bekommen, und das ist eben Alles was sie brauchen. Abgeschiedener liegt in der That keine Insel der Südsee, als diese kleinen Dörfer an der Westküste Amerika’s, die der Verkehr bis jetzt noch nicht berührt, noch nicht gesucht hat – und doch scheint solch’ ein stilles, abgeschiedenes Dorf eine Weltstadt, wenn man aus dem bis dicht daran reichenden Walde tritt, aus dem Urwald, wie er nicht dichter und wilder die Niederungen des Amazonenstromes oder Indiens deckt.

Dort ist Wildniß, und wer einen solchen Wald noch nicht betreten hat, wird auch nie im Stande sein sich einen richtigen Begriff davon zu machen. – Wir haben auch Urwald in Europa, aber, guter Gott, wie zahm und friedlich erscheint der gegen die hiesige Waldung, in die der Mensch sich erst mit dem Messer seine Bahn hauen muß, sie nur einmal auch von innen betrachten zu können! – Dort herrscht Ruhe, aber es ist nicht die stille Ruhe eines europäischen, ja selbst eines nordamerikanischen Waldes, es ist wie die Ruhe des Grabes, groß und fürchterlich.

Hier und da tönt der eigenthümlich schrille Ton eines Vogels durch den Wald, aber kein fröhliches Vogelgezwitscher erfüllt ihn, der Lärm einer tobenden Affenschaar zieht vorüber und läßt die Wildniß öder als zuvor. – Jetzt plötzlich rauscht und prasselt es in dumpfem, langgezogenem Ton, und ein Schlag schmettert durch die Waldung, der den Boden erbeben macht. Es war einer der alten Baumriesen, dessen morsch gefaulter Stamm die Last der Jahre und Zweige nicht mehr tragen konnte, und mit seinem ganzen Anhang von Schmarotzerpflanzen, mit Allem was sich um ihn hergedrängt hatte, nieder zu Boden bricht. – Einen Moment wohl schweigt Alles – selbst der Affen wilde Schaar verstummt und das monotone Zirpen der Grille, während die Luft noch von dem Falle zittert und schwüler, drückender scheint als je – aber es ist auch wirklich nur ein Moment, denn noch haben sich die zerrissenen Glieder des Gefallenen nicht in ihre neue Lage finden können, noch schnellt hier und da ein lebenskräftiger junger Schößling, der nur gebeugt, nicht gebrochen ist, zurück, so ist er auch begraben und vergessen, die Affen kommen wieder herbei, ein Schwarm plappernder Papageien sucht spottend den Ton des Sturzes nachzuahmen, und das Sonnenlicht fällt zum ersten Male auf den Boden nieder, über den jener Mächtige bis dahin die Laubarme gebreitet hatte.

Durch diese Wildniß führt kein Steg, als solche die sich der Jäger selber ausgehauen hat, – Meile nach Meile dehnt sich diese furchtbare, waldbewachsene Strecke nach allen Seiten aus – Meile nach Meile, und für das Auge hat der Wanderer keinen Ruhepunkt, der ihm auf irgend einer Stelle Anderes böte, als was ihn hier in großartiger aber furchtbarer Majestät umgiebt – den Wald. Kein frischer Luftzug dringt hier herein, kein lichter Sonnenblick; von den feuchten Zweigen tröpfelt das ewige Naß, das von dem letzten Nachtregen sich gehalten, kein blauer Rauch zieht wirbelnd durch die Wipfel empor, höchstens zu seltenen Zeiten ein schwarzer Qualm von dem einsamen Lagerfeuer eines Jägers, der aber auch dem Auge jedes Anderen in diesen Wipfeln unsichtbar bleibt.

Und doch liegt wieder ein wunderbarer Reiz darin, gerade in eine solche Wildniß einzutauchen, und einsam unter dem schützenden Regendach und mit der rasch einbrechenden Nacht das wirkende Leben um uns her zu belauschen. Sehen läßt sich freilich Nichts, denn so dunkel als es überhaupt werden kann, wird es hier; und die Feuerkäfer, große prächtige Burschen mit zwei grünen Lichtern vorn, wie eine Locomotive, und einer gelbrothen Laterne auf dem Rücken, zucken und schießen durch die Nacht, und von allen Seiten leuchtet in oft phantastischen Formen das faule Holz. Ich weiß, ich hatte die eine Nacht ein altes faules Palmenblatt gerade vor meinem Lager hängen, das mit den auszweigenden Blattstreifen und halb eingeknickt gerade so aussah wie ein leuchtendes Gerippe. – Fremdartige Laute aber ziehen nach allen Seiten durch die Nacht – fremdartig und geheimnißvoll, da man die Wesen noch nicht kennt, die sie ausstoßen. Das Zirpen der Grillen dauert fort – die kleinen Thiere schienen erst gegen Morgen einzuschlafen, und hier und da hämmert noch ein einsamer Zimmermann – carpintero, wie die Ecuadorianer gar nicht unpassend einen großen Specht nennen – und revidirt irgend ein altes über Tag vergessenes Wurmloch. Jetzt schweigt auch der, und ein wilder ängstlicher Schrei tönt plötzlich von der einen Seite – rasch ausgestoßen wie der Nothschrei eines Menschen, und doch ist es nur ein kleiner schwarzer Vogel, der sich den Spaß macht umsonst die Nachbarschaft zu alarmiren. Vielleicht hat ihn aber auch die Eule erschreckt, die mit einem ganz besonders hohlen Ruf bald von da, bald von dort her ihre Gefährten lockt, und sie hat vielleicht Hülfe nöthig, denn in diesem Wald ist es keine Kleinigkeit Eule zu sein und in der Dunkelheit und den Wipfeln Beute zu finden.

Das da drüben klang wie das Bellen eines Hundes – aber kein Hund hält sich in diesem Dickicht auf; es ist eine Schlange, culebra wie sie die Eingeborenen nennen, die hier zu irgend welchem Zweck ihren Nachtgesang hält und manchmal ganz ungebührlich nahe zum Lager kömmt. Aber sie, wie alle wilden Thiere, scheut die Nähe des Menschen und flieht ihn, wenn sie ihn wittert oder hört. – Neben mir murmelt der kleine, raschfließende Strom, durch die Wipfel der mächtigen Stämme zieht der Wind, und in das Rauschen und Rasseln der großen und feuchten Blätter mischt sich der klagende Ruf der „verlorenen Seele“.

Es ist das ein ziemlich großer Vogel, der einen ähnlichen Ruf hat wie das erste klagende Ansetzen unserer Nachtigall, nur natürlich verhältnismäßig stärker. Die Südamerikaner haben ihm, gar nicht unpoetisch, jenen Namen gegeben.

Gegen Morgen wird Alles still, selbst die nimmermüden Grillen schweigen, und nur der monotone Schrei eines anderen Vogels – wahrscheinlich eine Nachtschwalbe, den kommenden Tag kündend – läßt sich in kurzen Zwischenpausen hören. Das Grau des Himmels tritt wieder lichter durch die Wipfel vor – ein röthlicher Punkt dazwischen – eine vom Morgenroth übergossene Wolke, die hierher nur den Schein hernieder sendet, und der Tag bricht an, der Tag ist da, ohne daß man ihn weiter kommen sieht. – Der Regen, der die ganze Nacht gefallen, hat ebenfalls aufgehört, denn es regnet hier selten am Tage, und der Wald liegt wieder in seiner ganzen Pracht und Schönheit um uns her.

Und es ist wahr, schön ist dieser Wald mit seinen prachtvollen Stämmen und schlanken herrlichen Palmen – überall zittert dieses Laub im leichten Wind, das Auge des Jägers nur zu oft hinüberlenkend, überall ragen diese fächergekrönten Schäfte empor, und von der Negrito-Palme an, die ihre Blätter aus dem Boden sendet, bis zu der Palma real empor, die ihre Wipfel über die höchsten Stämme hinausträgt, füllen unzählige Arten den ganzen Wald. Aber selbst diese Schönheit wirkt erdrückend, wenn sie uns eben, wohin sich der Fuß auch wendet, in immer gleicher Pracht entgegen tritt. Hier ist keine Abwechselung, keine Veränderung zwischen Laub- und Nadelholz, zwischen Dickicht, und Lichtung oder freier Wiese; es ist das ewige Dickicht das uns umgiebt, jeder Baum ein Meisterstück in sich selbst, aber jeder dem Nachbar ähnlich, und der Mensch sehnt sich zuletzt zurück nach Luft – nach Licht.

In dieser Wildniß leben auch nicht einmal Indianer, und haben, wie ich glaube, nie gelebt, und wenn es ein ganz angenehmes, eigenthümliches Gefühl ist, dort einmal das Haupt hinzulegen, wo noch nie ein Mensch geschlafen hat, stumpft sich das auch gar bald ab. – Heimwärts zieht es mich, wenn es nicht herber Spott ist, das eine Heimath zu nennen, was jetzt meinen Wohnsitz bildet, und hoch auf athmet die Brust, als sie zum ersten Mal wieder den frischen Seewind sich entgegenwehen fühlt, als sie den hellen lichten Sonnenschein auf den grünen Plan des kleinen Städtchens, auf die funkelnde blitzende Fläche der stillen Bai niederfallen sieht. – Aber hab’ ich deshalb die Wildniß verlassen? Wahrlich nicht. Das Leben dieser Menschen ist nicht anders, als das jener stillen Bäume, die daneben in dem Nachbar-Walde stehen; wie diese vegetiren sie, und ziehen ihren Lebenssaft aus dem Boden, auf dem sie stehen. Ob draußen noch andere Menschen wohnen und was die treiben, was kümmert’s sie? ob sich die Welt in Frieden verträgt, in Zwietracht schlägt, geht sie Nichts an, so lange es nicht ihre eigene Bai berührt, und den Fischen und Platanen schadet. Eisenbahnen, Orden, Telegraphen, Titel, Pensionen existiren nicht für sie und haben für sie etwa den nämlichen Sinn wie irgend ein griechisches oder hebräisches Wort. Sie arbeiten einen Tag und ruhen sechs aus, und wenn sie sterben – so ist eben ein Blatt von dem großen Baum gefallen [10] und schlummert neben den anderen einer versprochenen Seligkeit entgegen.

Aber lassen wir das. Nehmen wir lieber einmal mein Canoe und fahren wir, ehe wir aus der Wildniß scheiden, in diese stille Bai mit ihren Mangrove-Dickichten und Buchten hinaus, denn die gehören unfehlbar mit dazu.

Der Mangrove ist ein eigenthümlicher Baum, der nur in tropischen Ländern am Meeresufer oder so weit hinauf in das innere Land wächst, wie die Ebbe und Fluth hinaufreichen. Seine Besonderheit besteht aber in der Ueppigkeit, mit der er eine Unzahl von Wurzeln und Wurzelschößlingen – von oben gerade nieder, unten bogenförmig – in das Wasser hineinsenkt, so daß solch’ ein einzelner Baum oft mit diesen ein doppelt und dreifach so großes Terrain wie mit einem Netz überzogen hält, als er um Mittag zu seinem Schatten braucht. Viele dieser Bäume haben auch in der That gar keinen Stamm, sondern stehen auf sechs, acht einzelnen Beinen, dicht über denen die Aeste beginnen, in der Luft. Einzelne habe ich gefunden, die wirklich so aussahen, als ob sie auf dem Kopf ständen, und mit Blättern bedeckte Wurzeln in die Höhe streckten. So weit nun eben Ebbe und Fluth reichen, kommt kein anderer Baum in dem Salzwasser fort, und diese Mangrove mit ihrem hellgrünen Laub und gegitterten Boden bedecken vollständig das Terrain, das in der Ebbe trocken gelegt wird, und bilden dort Buchten, Inseln, Einfahrten und Canäle – nur kein Ufer.

Es ist unmöglich zwischen ihnen zu landen, denn auf den bogenförmig gespannten, dünnen, aber doch zähen Wurzeln kann der Fuß nicht haften, kann sie aber auch nicht überschreiten, und der Schlamm, mit dem sie außerdem fortwährend überzogen sind, verbietet schon jedes feste Auftreten. In der höchsten Fluth sieht man auch wenig Außergewöhnliches an ihnen, denn ihre Blätter reichen meist bis zum Wasser nieder, in der Ebbe aber, mit dem Schlamm um sie her bloßgelegt, bilden sie die tollsten phantastischen Gestalten, und wehe dann dem Canoe, das sich bei hohem Wasser verleiten ließ, in eine ihrer Einfahrten einzulaufen – es muß es mit acht, neun Stunden Warten büßen, denn plötzlich tauchen ringsum jene bogenartig gespannten Wurzeln auf, nach jeder Richtung hin die Ausfahrt rettungslos versperrend, und es bleibt dann Nichts weiter übrig als ruhig mitten dazwischen in Schlamm, Wurzelnetz und Sandfliegen liegen zu bleiben, bis die nächste Fluth die Ausfahrt wieder gestattet – aber was für ein sonderbares Leben beginnt jetzt um uns her? – Das ist Wildniß, denn diese Waldung hat noch keines Menschen Fuß, ja nicht einmal das scheue Wild betreten, und nur der tückische Alligator oder die breitschwänzige Wasserschlange haben ihre Leibspur diesem Schlamm eingedrückt. – Und überall regt es sich und wird lebendig. Rund umher fängt es an zu rascheln, und überall an den Wurzelfasern laufen spinnenartig häßliche Krabben mit rothen und gelben Scheeren nieder, die bei der Fluth hochauf geflüchtet waren, den Fischen zu entgehen, und jetzt zurückkehren, unbehindert in dem Schlamm ihre Mahlzeit zu halten und ihr frisches Bad zu nehmen. – Bescheidene Genüsse, und doch auch wieder nicht ohne Lebensgefahr für sie zu erlangen, denn nicht allein daß einige Vögel ihnen nachstellen, nein, eine Art von kleinem Kranich hier gebraucht sie sogar als Lockspeise, Fische für sich zu fangen. Er mag die Krabben nicht selber fressen, aber er fängt sie, trägt sie auf einen bestimmten Platz und wirft sie in’s Wasser, wo auf sein Krächzen die Fische herbeikommen, sich der Mahlzeit zu erfreuen. Was er von kleiner Brut dann dabei erwischen kann, ist seine Beute. Die Krabben wissen das aber auch schon, und selbst in der Ebbe halten sie sich, als ob sie ein böses Gewissen hätten, fast immer unter Aesten und alten Holzstücken oder Steinen versteckt.

Die im Schlamm geben dabei, auf eine ihnen am besten bekannte Art, mit den Scheeren einen schnalzenden Laut, der oft sechs- bis achthundert Schritt weit gehört werden kann. Dicht daneben vielleicht, wo die Fluth noch unter die Wurzeln reicht, schlägt ein großer Fisch, der sich anfängt in dem Holzwerk unbehaglich zu fühlen, das Wasser, und der heisere Schrei der Kraniche und Königsfischer tönt dazu hinein. Sonderbarer Weise giebt es auf der ganzen Bai keine einzige wilde Ente, und nur in sehr seltenen Fällen läßt sich einmal eine Möve sehen.

Und niedriger, immer niedriger wird das Wasser, höher und höher umspannen uns die bogenartigen, mit Schlamm und Krabben überzogenen Wurzeln, ärger wird das Geschnalz der kleinen Bestien, und dann und wann nur lenkt der schwere Flügelschlag eines der braunen Pelikane das Auge auf sich, der eben auch hier seine Beute erhofft und sucht. Immer toller werden die Schwärme von kleinen, einzeln fast unsichtbaren Sandfliegen, die auf das Empfindlichste stechen und die Haut entzünden. Der ganze Körper dieser kleinen Thiere kann nur eine Scheide zu dem Stachel sein, und viele, viele Stunden lang kann man den Kampf gegen diese Lästigen kämpfen. – Endlich hat die Ebbe ihren tiefsten Stand erreicht – die frische Seebrise weht auch die Bai herauf, und höher und höher steigt das Wasser wieder. Mit ihm aber steigen auch auf’s Neue die Krabben, die sich vorsichtig in ihre laubigen Schlupfwinkel zurückziehen. Bei jeder Bewegung des Menschen aber bringen sie, wie das Eichhörnchen im Wald, rasch die schützende Wurzel zwischen sich und die Gefahr und laufen, so rasch sie können, an dem Stamm hinauf.

Das ist ein wonniges Gefühl, mit dem man diese Wildniß hinter sich läßt und das Canoe wieder schaukelnd und frei auf dem Wasser fühlt. In die Hügel zieht sich aber auch manche tiefe, nicht von Mangrove beengte Schlucht hinein – Plätze, die nur der Pava und Papagei und hier und da ein munterer Affentrupp besucht, sich die reifen Nüsse von den Palmen zu pflücken. Reizende kleine Plätze findet man da, und hier, wo man in dem leichten Boot jedem überhängenden Zweige ausweichen kann, erdrückt uns auch die Vegetation nicht, die in voller üppiger Pracht von allen Seiten nach dem Wasser und Licht hinüberneigt. Wundervolle Draperien sieht man da von Schlingpflanzen und überneigenden Palmenkronen und starr und fest ragen dazwischen die majestätischen Stämme der alten Waldriesen hoch und kühn empor.

Ein anderer Genuß der Wildniß ist eine Wasserfahrt auf der Bai in dunkler, stiller Nacht, wenn sich der Wind gelegt hat und einmal ausnahmsweise kein Regen niedergießt. – Man kann allmonatlich auf eine solche rechnen. Still und schweigend wie ein niedriger dunkler Streifen liegt der Wald an beiden Seiten. Nur hier und da tönt der melancholische Ruf eines Vogels oder das Geschwirr der Grillen dumpf herüber, und das Springen der Fische unterbricht allein die friedliche Ruhe. Das ist die Zeit, wo jenes nur diesem Theil der Erde eigenthümliche Geschöpf, der singende Fisch, seinen Zauber übt. Wie ferner Orgelklang tönt es jetzt tief aus der Fluth herauf, jetzt dicht um uns her von allen Seiten, nun höher anschwellend, nun wie in weiter Ferne verschwimmend, und stundenlang hab’ ich diesem Ton gelauscht.

Es soll ein kleiner sehr scheuer und schneller gefleckter Fisch sein, der diesen Laut von sich giebt, und er wird äußerst selten gefangen. Vor einiger Zeit bekam einmal einer der hiesigen Fischer einen solchen zufällig in sein Netz, und noch im Netz gab er den Laut von sich. Wahrscheinlich in abergläubischer Furcht ließ er ihn aber augenblicklich wieder frei, denn die Leute erzählen sich hier natürlich die wunderbarsten Sachen von dem Fisch – oder vielmehr von den Tönen. – Doch daheim würden sie es nicht besser machen, und hätten wir diesen Fisch in der Ostsee nahe bei Usedom, wo die „versunkene Stadt“ gestanden haben soll, so würde sich rasch zu der Sage von dem Glockengetön auch der Orgelgesang der versunkenen Kirche gesellen.

Ja, diese Wildniß hat einen stillen und hohen Reiz, aber – man muß eben kein anderes Leben kennen, oder nur einmal auf kurze Zeit von der Civilisation, die den Menschen angreift, ausruhen wollen. Für immer hielten wir es hier nicht aus oder – schafften eben um uns her eine von dieser verschiedene Welt, die der verlassenen soviel als möglich gliche.

So träume denn fort, du stiller feuchter Wald mit deinem ewigen Schattendunkel, mit deinen Leuchtkäfern und rauschenden Palmen – träume fort, du Mangrovesumpf mit deinen schnalzenden Krabben, du stille Bai, du friedlicher kleiner Ort mit deinen schreienden Kindern und bellenden Hunden – träumet fort – möge dir Gott deinen – blauen Himmel kann man nicht gut sagen, denn der existirt hier nicht – deinen Regen – Deine Platanen und deine Fische lassen, und du selber dich wie immer deines Lebens freuen. Ich selber bin aber nicht für dieses Leben gemacht – oder wenn ich es war, dessen entwöhnt. Mich zieht es zurück zu einem regeren, geistigeren Treiben. Wo ich aber auch immer sei, die Erinnerung an dich wird mir bleiben, und die Erinnerung an diese Wildniß ist einer der besten Schätze, die ich mit mir nach Hause nehme.



[11]

Die literarischen Häuser Berlins.

Wenn man sich dem Kirchhofe zu Ottensen naht und fragt einen Vorübergehenden: wo ist Klopstock’s Grab? er wird es wissen, und wäre er einer der Niedrigsten aus dem Volk, jung oder alt; er wird mit einem gewissen Stolze unsere Schritte nach dem Grabe lenken. Und der Hamburger selbst, sonst immer thätig, jede Minute nutzend, denn Zeit ist Geld, gedenkt doch des Sängers der Messiade und vergißt nicht, dem Fremden Klopstock’s Haus in der Königsstraße als bemerkenswerth zu bezeichnen.

Im alten Schloß zu Wandsbeck, wo im Saale die Bildnisse der dänischen Könige hängen – und das gegenwärtig zu einem Gasthause eingerichtet ist, wird des alten Claudius, des Rheinweinliedsängers „Bekränzt mit Laub den lieben vollen Becher“, des Wandsbecker Boten, noch in Ehren gedacht. – –

Wie so anders ist es im großen Berlin! Wie viele Tausende wird man dort vergebens nach dem Grabe Fichte’s, Schleiermacher’s, Chamisso’s, Hoffmann’s oder Gaudy’s fragen können, ehe Einer derselben Bescheid zu sagen weiß! – Und was die Wohnungen betrifft, die der oder jener berühmte oder bekannte Mann während seines Aufenthaltes im intelligenten Berlin inne hatte: so wird man finden, daß selbst die näheren Freunde der Betreffenden sich des Hauses oder der Straße nicht mehr zu entsinnen wissen. Vergessen! heißt es, vergessen! Daß Orion Julius, dieser mattblinkende Irrstern am Berliner Literatenhimmel, einst wochen- und monatelang seine nächtliche Herberge im Leichenwagen der französischen Gemeinde auf dem Gensdarmenmarkt gehalten haben soll, während er bei Tage sein Leben fristete durch die Tassen Kaffee, die er in einzelnen berühmten Conditoreien gratis erhielt, ist, wenn auch zum Theil nur Sage, nicht gänzlich vergessen. Es klebte der ganzen Erscheinung des Genannten bei seinem Leben, wie er im abgeschabten braunen Ueberrocke einherzuschreiten pflegte, etwas Lächerliches an, trotz der Misere seines ganzen Lebens. Und so etwas vergißt der Berliner weniger. Wer beachtet dagegen noch das Haus in der neuen Friedrichsstraße, nahe der Königsstraße, in der einst Henriette Herz lebte, wo die geistreichsten Männer ihrer Zeit aus- und eingingen? Schleiermacher war der intimste Freund der Frau des Hauses, Wilhelm von Humboldt hegte in der Jugend eine innige Neigung für dieselbe, während sein Bruder Alexander der schönen Jüdin Briefe von Tegel sendete, die er in hebräischer Schrift zu schreiben nicht unterließ, damit die Dame seines Herzens sie leichter lesen könne. – Alle diese Männer blieben der schönen geistreichen Frau bis an ihr Lebensende in wahrer Freundschaft zugethan, nachdem der brausende Schaum der Jugend sich gesetzt und geklärt hatte. Sie nahmen aus diesem Umgange Anregung zu neuen Arbeiten, Gedanken und Lebenskenntnisse mit hinweg, während Ludwig Börne in diesem Hause den schönsten Traum seines Lebens, seine erste Jugendliebe, vielleicht seine einzige, zu Grabe trug. Ludwig Börne, oder wie er damals noch als ungetaufter Jude hieß, Louis Baruch, kam als siebenzehnjähriger Jüngling in das Haus des Dr. Marcus Herz. Hier war es, wo ihn die glühendste Liebe zu der Gattin seines Erziehers, zu der noch immer schönen Henriette, erfaßte. Sein Tagebuch, das er damals geführt, soll von einer Fülle der schönsten, glühendsten Gedanken durchfluthet gewesen sein. Henriette Herz verbrannte es, zugleich bestrebt, die Liebe des jungen Mannes, dem sie den Jahren nach eine Mutter hätte sein können, aus seiner Brust zu reißen. Sie tödtete gewissermaßen den Gefühlsmenschen, den Poeten in ihm, um der Welt einen Satiriker, einen Kritiker zu geben, der in ewigem Heimweh nach einem freien Vaterlande sich verzehrte. Börne schied aus dem Hause der Henriette Herz, zugleich von seinem schönsten Glücke Abschied nehmend. Er ist seines Lebens eigentlich nie froh geworden. Und wie er sich zu Paris nach Blumen und einer Hand voll freier deutscher Erde sehnte, so hat er sich Zeit seines Lebens nach Liebe gesehnt. Als er später einmal nach Berlin zurückkehrte, hat er kurze Zeit in Stadt Rom gewohnt. –

Es ist unwillkürlich, daß man, sobald man Börne’s gedenkt, auch Heinrich Heine’s gedenken muß. Und wunderbar! wie dieselben später fast immer zusammen genannt wurden, obgleich sie wie Tag und Nacht verschieden waren: so mußten auch Beide in Berlin in mannigfacher Hinsicht etwas Gemeinsames haben. Während in die neue Friedrichsstraße ein Schleiermacher fast täglich wanderte, die kleine Blechlaterne, ein Geschenk der Freundin, des Abends vorn im Knopfloche befestigt, um hier sein innerstes Sein, sein Hoffen, Denken und Träumen, seine kühnsten Ideen einer Henriette Herz mitzutheilen, aus ihrem Umgange Anregung zu neuem Schaffen schöpfend: war der weltberühmte Salon der Rahel, der Gattin Varnhagen von Ense’s in der Mauerstraße, wie vordem in der Jägerstraße, ein Sammelplatz der vornehmsten Welt des geistreichen Berlin, das Stelldichein der hervorragendsten Männer von fern und nah. – Und während dort Börne zu den Füßen der Frau des Hauses saß, drängte hier Heinrich Heine sich schüchtern durch die Räume einer Rahel (es war im Jahre 1821–22). Rahel, der, wie Wilhelm von Humboldt in den Briefen an eine Freundin sagt, ein Talent angeboren war, auch dem unbedeutend Scheinenden eine bessere und anziehende Seite abzugewinnen, und von der Niemand ging, ohne etwas gehört und mit hinweggenommen zu haben, das Stoff zu weiterem, ernsterem Nachdenken gegeben, oder das Gefühl lebendig angeregt hätte, ist auch auf Heinrich Heine nicht ohne Einfluß geblieben. Der damals unbekannte Verfasser der nun vergessenen Trauerspiele Almansor und Radcliff soll sich meist schüchtern, schweigsam verhalten haben; und der geistreiche Professor Eduard Gans, dieser Napoleonskopf, soll ihn oftmals zur Zielscheibe seines Witzes erkoren haben. Es läßt sich glauben! Gans hatte eine geistreiche, muthige Beredsamkeit, die mit ihrer freimüthigen Kühnheit erquickende Wärme verband. Seine Vorlesung „Ueber die französische Revolution“, die überaus besucht war, that dies später den weitesten Kreisen kund – und machte seinen Tod allgemein fühlbar. Selbst ein Alexander von Humboldt verschmähte nicht, auf der Bank seiner Schüler und Zuhörer zu sitzen. Gans starb am Todestage Napoleons, mit dem überhaupt seine Todtenmaske eine auffallende Ähnlichkeit zeigte, den 5. Mai 1839. Seine Wohnung war in der Behrenstraße. Gans hat in Heine, der damals ziemlich linkisch und unbeholfen gewesen sein soll, wenig den nachmaligen Verfasser der Reisebilder, den Dichter der Wallfahrt nach Kevlaar geahnt; mit Rahel ist es anders gewesen. Leugnen läßt es sich wohl nicht, daß Heine hier den Grund zu seinem nachmaligen Verhalten im Keim gefunden hat. Ob er daheim in seiner bescheidenen Wohnung, die er dazumal Kanonier- und Behrenstraßen Ecke Nr. 13 inne hatte, redseliger gewesen, als in der Nähe der geistreichen Rahel, ist nicht bekannt. Fama will behaupten, daß er auch hier oft von dem kleinen A. v. Maltitz überschrieen worden sei, der, um besser verstanden zu werden, es nicht verschmäht habe, auf den Tisch zu steigen, von dort ab seine „Pfefferkörner“ auf den sich zusammenziehenden Heine herabsprudelnd, während Grabbe sich kannibalisch freuend einen Käse verzehrt, den er leidenschaftlich gern als Zeichen höchster, innerer Freude zu essen pflegte.

Heine’s Leben, Dichten und Denken ist bekannt. Er liegt zu Paris auf dem Montmartre begraben. Seiner Leiche folgten kaum fünfzig Personen. Er war und blieb das verzogene Kind der Poesie, ohne festen ausgeprägten Charakter, vielleicht weil er keinen haben wollte, weil er, ein echtes Kind seiner Zeit, sich des Gefühls schämte – und jede Thräne im Auge durch eine Grimasse zu zerdrücken strebte. Rahel’s Devise des Lebens war: „Wahrheit heraus! solch’ Jagdgeschrei möchte ich hören,“ während Heine die Unnatur als Richtschnur seinen Lebens genommen hatte. Es ist bekannt, das Ungleichartige zieht sich an – und Heine war einst gern in Rahel’s Nähe. –

Vorüber doch! vorüber! –

Jetzt aber horch! welch hübsches Lied erschallt! alle Lust fröhlich durchmessener Stunden tauchet auf. Wer kennt es nicht, wer hat es nicht gesungen:

„An der Saale hellem Strande
Stehen Burgen stolz und kühn.“

Franz Kugler hat es gedichtet. Dort in der großen Friedrichsstraße Nr. 242 wohnte er und ist er gestorben, im Hause seines Schwiegervaters, des Criminal-Director Dr. Hitzig, des Vaters Ede, wie Chamisso ihn nannte, der ja auch aus demselben Hause die Lebensgefährtin sich geholt hatte. Kugler bat das genannte Lied in seinem achtzehnten Jahre gedichtet; es ist unter der Fülle seiner [12] schönen Poesien die bekannteste und beliebteste geblieben. 1830 erschien zuerst sein Skizzenbuch, wofür er damals in seiner Vaterstadt Stettin gern einen Verleger gefunden hätte. Er trat in dem Buch zugleich als Dichter und Maler auf, frisch, anmuthig, frei, wie auch sein späteres Leben geblieben ist. Mit dem vorhin genannten Liede ist’s wie mit jenem schönen von Eichendorff:

In einem kühlen Grunde,
Da geht ein Mühlenrad.

Tausende singen es, wie jenes von Kugler, ohne den Dichter zu kennen, oder sich seiner zu erinnern. Es sind Volkslieder im echten Sinne des Worts geworden. Es ist lange her, daß Eichendorff das Lied gedichtet. In des Verfassers Roman „Ahnung und Gegenwart“, dieser Irrfahrt romantischer Vaterlandsliebe, der 1815 erschienen ist, steht es bereits, während es einige Jahre früher, 1812, gedichtet worden sein soll. Der Roman ist vergessen, aber das Lied ertönt immer auf’s Neue wieder; ist’s nicht nach der Volksweise von Friedrich Glück, der als Pfarrer zu Schombach in Schwaben 1841 gestorben ist, so doch nach der Composition von Conradin Kreuzer. Erz und Marmorstein vergeht, doch das Lied des Dichters bleibet immerdar.

Joseph Freiherr v. Eichendorff wohnte in Berlin nahe vor dem Potsdamer Thor, rechter Hand. Er mußte das Stückchen Wald, das Berlin in seinem Thiergarten bietet, nicht fern haben, er konnte ohne Waldrauschen und Vogelsang nicht leben – und die Posten, die dazumal noch fast stündlich vor seinem Fenster vorüberfuhren, hielten die Sehnsucht in seinem Herzen wach.

Wie also übrigens Chamisso, der im Jahre 1819 Behrenstraße 31 wohnte, und ebenso Franz Kugler sich aus dem Hause Hitzig’s die Gattin holten, so hatte dies bereits früher Neumann, der ja mit Chamisso, Varnhagen und Theremin zu einem Bunde vereinigt erscheint, Gleiches gethan, indem er die Pflegetochter Hitzig’s zur Gattin erwählte. Der von ihnen gemeinsam herausgegebene Musenalmanach vom Jahre 1804 ist vergessen. Wilhelm Neumann wohnte Taubenstraße 34. Daß aber nicht blos Musenalmanach und dergl. leicht vergessen werden, sondern auch selbst bessere Roman, und Novellen von den Wogen der Zeit rasch hinweggeschwemmt werden, zeigt sich an den Werken Heinrich Steffens’, der im Stobwasser’schen Hause, Wilhelmsstraße Nr. 98, wohnte. Wie reich an köstlichen Schilderungen, an tiefer, innerer Wahrheit sind seine „Vier Norweger“, wie herrlich seine „Familie Walseth und Leith“! Es sind einige dreißig Jahre her, daß diese Sachen zuerst erschienen; und nun? – Vorüber! Vorüber!

Wir hatten gebauet ein stattliches Haus!
Das Haus mag zerfallen – was hat’s denn für Noth?
Der Geist lebt in uns Allen – und unsre Burg ist Gott!

heißt es im Jenaer Burschenliede. Und das Wort möge uns trösten. Jeder Schriftsteller streut nur Samen aus, er weiß nicht wohin derselbe fällt und wo er aufgeht. Unzähliges wird zertreten – aber Einzelnes geht auf – und trägt hundertfältige Frucht. In Steffens ließ der Philosoph den Romandichter nicht zu voller Geltung gelangen, wie es ähnlich bei Friedrich von Sallet der Fall war. Der Philosoph überwucherte auch hier zuletzt den Dichter mehr und mehr. Als Sallet in Berlin war, wohnte er kleine Hamburgerstraße No. 7. Damals war sein Inneres noch nicht zum Durchbruch gekommen, wenn auch schon jetzt seine Gedichte sich mehr durch Schärfe des Verstandes, als durch Schmelz der Sprache und lyrische Weichheit vor denen seiner Mitstrebenden, mit denen er zu Dichterischem Bunde vereinigt dastand, auszeichneten. Sein ganzes Wesen hatte etwas Abgeschlossenes, Kurzes, obgleich auch ihm der brausende Schaum der Jugend, die tolle Lust des werdenden Dichters nicht fehlte; er blieb nicht zurück, als die Freunde in „mondbeglänzter Zaubernacht“ sich aufmachten, vor das Thor zogen, um sich von dem damals ewig heiteren B…, dem jetzigen Redacteur einer unserer gelesensten Zeitungen, eine Rede am Rabenstein, unterm Galgen halten zu lassen. Daß auch er dem frohen Sang, dem lauten Becherklang nicht abhold war, beweist sein Epos „die wahnsinnige Flasche“, das er vom Rhein aus seinem Freunde Ferrand widmete und sendete, zum Zeichen, daß die Erinnerung an froh zusammen durchlebte Stunden in ihm wach geblieben sei. In den Jahren 1837–38 wohnte Sallet bei seiner Mutter unter den Linden, im Blücher’schen Hause. Damals zeigte sein Gesicht noch nicht den Ausdruck, den sein Bild, welches von ihm existirt, wiedergiebt. Das Bild zeigt nicht den Dichter der wahnsinnigen Flasche, des Märchens „Schön Irla“, oder des in alte Lesebücher und Anthologien übergegangenen launigen Gedichts „Ziethen“; – es ist das Abbild des Verfassers des „Laienevangeliums“. Es scheint, als habe der Dichter, wenn anders das Bild ähnlich ist, auch im Aeußeren gleichsam seine innere Gesinnung darthun wollen. Wer die Unterschrift des Bildes nicht beachtet, meint einen Christuskopf vor sich zu haben der Art, wie man den Herrn, namentlich aus neueren Gemälden, zu erblicken pflegt. Es fehlt nur die Unterschrift: Mein Haus ist ein Bethaus, ihr aber habt es zur Mördergrube gemacht; – um so mehr, wenn man nicht vergißt, daß der Genannte der Verfasser der „Atheisten und Gottlosen unserer Zeit“ ist, der unter Anderm auch in Bezug auf die Ehe mit einer Schärfe, Bitterkeit, und doch inneren christlichen Keuschheit geschrieben hat, wie man es sonst selten findet. Trotz dem Allen hat das Bild etwas Prätentiöses, was in jüngeren Jahren dem Dichter fern zu liegen schien.

Einer der Mitstrebenden und Genossen Sallet’s in Berlin war Julius Minding, Verfasser eines größeren Lehrgedichts „das Leben der Pflanze“. Das Buch ist vergessen, wogegen sein patriotisches Preußenlied „Fehrbellin“ seit seinem Bekanntwerden unausgesetzt sich in allen preußischen Lehrbüchern für Schulen findet, wie dies auch mit einzelnen seiner Lieder vom alten Fritz der Fall ist.

Der kleine, von Ansehn unscheinbare Mann hat des Lebens Schicksale auf eigenthümliche Weise erfahren. Mit seinem Freunde, dem Dr. V…, wenige Häuser von Alexander von Humboldt, Oranienburgerstraße 65 wohnend, wo auch sein schöner Sonettenkranz „Daß ich Dich liebe, ist’s warum ich leide“ erlebt und gedichtet wurde, soll er durch mannigfache Speculationen ein enormes Vermögen (die Welt fabelte von einer halben Million erworben haben – um wenige Jahre darauf, dasselbe ebenso leicht verlierend, arm nach Amerika zu flüchten. Nachdem er dort in New York mit seinem gleichfalls geflüchteten Freunde ein ärztliches Bureau etablirt hatte, fand man ihn, wenige Monate darauf, am 7. Sept. 1850 auf dem Sopha liegend todt. Er hatte sich selbst durch Blausäure vergiftet! Und solcher verkommenen, untergegangenen Geister vermöchten wir mehrere zu bezeichnen. Wozu?

Die Woge der Zeit wird immer Einzelne aus der Bahn treiben und zerschellt an das Ufer spülen; das Leben der Schriftsteller ist nun einmal ein Gemisch von Hoffnungen und Täuschungen, und die egoistische Redensart: „Das Talent bricht sich immer Bahn!“ ist für sie am wenigsten anwendbar. Träumer sind sie Alle – und das Unpraktische klebt den Einzelnen mehr oder weniger an. Trotz der Schillerstiftung werden deutsche Dichter verkommen; und wenn es geschehen, werden „Kluge“ kommen und sagen, wie es hätte anders sein können und müssen, – wie dies noch jüngst bei dem Tode des Verfassers des Trauerspieles „Johanna Gray“, Bonn 1854 erschienen, geschah, nachdem derselbe am 5. Sept. 1860 im katholischen Krankenhause gestorben war. Er hieß Burghardt – und soll verhungert sein!
F. Brunold. 




Aus dem Norden.
Von Brehm.
II. Die Vogelberge.

Der hauptsächlichste Zweck meiner Reise in Norwegen war, einmal mit eigenen Augen das Leben der Seevögel und zwar während der Brutzeit zu beobachten. Mit Ausnahme der Alken waren die übrigen Schwimmwögel, welche ich zu finden hoffen durfte, sämmtlich alte Bekannte von mir. Schon in Afrika und später in Spanien hatte ich sie in ihrer Winterherberge beobachtet und mich ziemlich vertraut mit ihnen gemacht; allein von ihrem Zusammenleben während der Brutzeit wußte ich noch so viel als gar Nichts, trotz aller der trefflichen Schilderungen, welche ich davon gelesen hatte. Denn Derjenige, welcher sich mit einer Sache ausschließlich beschäftigt, verlangt natürlich sie gründlich kennen zu lernen: er verlangt, wenn es irgend angeht, mit eigenen Augen

[13]

Der Vogelberg, mittlere Ryke, in Vesteraalen (Norwegen).
Teisten.       Scharbe.       Lummen.       Lunde.       Möve.       Alk.

[14] zu sehen, mit eigenen Sinnen sich zu überzeugen. Das, was ich sehen wollte, konnte das geschriebene Wort nur unmöglich so treu vor die geistigen Augen bringen, als ich es wünschte, und ebenso wenig werde ich im Stande sein, das, was ich gesehen habe, Anderen deutlich zu beschreiben.

Alle Naturforscher sind Weltbürger und befreunden sich augenblicklich mit anderen Gesinnungsgenossen. So bedurfte auch ich keiner besondern Empfehlung, um bei meiner Ankunft in Norwegen die geeigneten Leute zu finden, welche mir die nöthigen Weisungen geben konnten. Ich erfuhr, daß ich zahlreiche Brutansiedelungen der Alken in Vesteraalen, einem Theile der Lofoten, und zwar unweit der großen Insel Langenö finden werde. Man beschrieb mir Weg und Steg genau, gab mir sogar die nöthigen Dampfschiffhaltestellen, Höfe und Leute mit Namen an, schrieb mir die ausführlichsten Angaben nieder und setzte mich somit in den Stand, ohne vorher lange suchen zu müssen, gleich zur rechten Stelle zu gelangen. So reiste ich denn von Christiania in Begleitung eines jungen, frischen, muntern und sprachkundigen Mannes, des Sohnes meines Freundes Berghaus, ab, steuerte mit kleinen Unterbrechungen gerade auf mein Ziel los und gelangte, da ich mich zeitig genug ausgemacht hatte, auch noch rechtzeitig dort an. Ich muß mir die Beschreibung meiner Reise noch aufsparen und meinen Leser bitten, sich mit mir sogleich auf die Insel Langenö zu versetzen.

Am 22. Juni Morgens verließen wir in einem von drei Männern geruderten Boote den freundlichen Hof Stene und steuerten durch das Gewirr der Schären hindurch in nordöstlicher Richtung längs der Küste unseres Eilandes dahin. Das Wetter war gut, aber wir hatten Gegenwind und dabei Gelegenheit, die Ausdauer von Nordlands Ruderern kennen zu lernen. Sechs Stunden lang arbeiteten unsere Leute ohne jede Unterbrechung stetig fort und bewegten unser Boot mit gleicher Schnelligkeit weiter. Das Meer war heute besonders belebt, da auf einer der Inseln großer Markt gehalten worden war und von dort aus nun die Meilen weit entfernt wohnenden Besucher desselben zurückkehrten. Diese Leute konnten uns jedoch nicht lange beschäftigen, weil wir ganz anders zu thun hatten. Auf allen den tausend Schären, durch welche wir uns hindurchwanden, machte sich ein reges Leben der Seevögel bemerklich, ein Leben, von welchem man sich, so lange man es noch nicht selbst gesehen hat, in der That keinen Begriff machen kann. Einzelne Schären waren weiß übertüncht von dem Kothe der Scharben, welche dort regelmäßig einige Stunden des Tages zubrachten und ließen uns die auf ihnen ruhenden dunklen Vögel schon aus großer Ferne wahrnehmen. Reihenweise geordnet, wie aufgestellte Soldaten, saßen die merkwürdigen Burschen in den allerseltsamsten Stellungen auf ihren Ruhesitzen; die langen Hälse dehnten und reckten sich und die Flügel waren ausgebreitet und wurden bewegt, als ob sich die Thiere gegenseitig Kühlung zufächelten: in Wirklichkeit aber geschah dies blos, um die wohlthuende Wärme der Sonne so recht ausdrücklich genießen zu können. Auf anderen großen Inseln lagen Tausende von Möven und bildeten nun ihrerseits die schimmernde Bedeckung der dunklen Massen; um wieder andere Eilande herum trieben sich Hunderte und andere Hunderte von Eidergänsen, lauter Männchen, denn die Weibchen lagen auf den Inseln über ihren Eiern und die freundlichen Männchen hielten sich so nahe als möglich bei ihren Gattinnen auf. Ab und zu flatterte oder schwamm wohl auch ein Alk vor uns herum; doch waren deren noch immer wenig zu sehen. Einzelne Seeadler zogen über diesem Gewimmel und spähten, ob nicht das Meer hier und dort etwas Genießbares ausgeworfen habe, ohne durch ihr Erscheinen zum Schreckbild für die Brutvögel zu werden, während die herrlichen Jagdedelfalken jedesmal die ganze Vögelwelt in Aufruhr und in die Tiefen des Meeres herabbrachten, sobald sie sich zeigten. Jeder Augenblick brachte eine neue Abwechselung in dasselbe Schauspiel, und immer hatten wir etwas Neues zu beobachten und zu schauen. Ab und zu wurde auch auf die vorüberfliegenden Vögel geschossen, und bald füllte sich unser Boot mit unserer Beute. So entschwand uns die Zeit nur allzu rasch, und wenn uns nicht die Uhr und der Magen daran erinnert hätten, daß wir schon viele Stunden unterwegs waren, würden wir geglaubt haben, nur Minuten auf dem Wasser zugebracht zu haben. Ein vorspringendes Felsenriff von Langenö hatte uns die Nyken – dies ist der Name unserer Vogelberge – bisher verdeckt; wir umfuhren dasselbe und sahen nun drei glockenförmig gestaltete Felseneilande vor uns, welche schroff und steil dem Meere entsteigen und sich bis zu etwa drei- oder vierhundert Fuß über dessen Spiegel erheben. Vom Lande sind sie etwa vier bis fünfhundert Schritte entfernt, ihrerseits aber von einer Menge kleiner Klippen umgeben.

Man kann sich denken, mit welchem Eifer wir auf diese berühmten Berge lossteuerten. Das Fernrohr kam kaum von unsern Augen und doch wollte es uns nicht das Geringste zeigen. Man hatte nicht von Tausenden oder Hunderttausenden von Vögeln gesprochen, welche dort vereinigt sein sollten, sondern mir erzählt, daß die Anzahl der auf zwei jener Berge während einiger Monate hausenden Alken nur nach Millionen zu berechnen sein dürfte, und gleichwohl konnten wir von einer solchen Menge auch in ziemlicher Nähe noch keine Spur entdecken. Ich fing schon an, zweifelhaft zu werden und wurde es immer mehr, je näher ich an den größten der Berge heran kam. Dicht bei jenem sah es allerdings aus, als ob das Meer mit lauter kleinen Pünktchen besät wäre, allein eine ungefähre Schätzung wollte uns gleichwohl nicht von Millionen überzeugen. Schon wollte ich mißmuthig werden, als mir zum Glück noch die Worte meines Rathgebers in Christiania einfielen: „Lassen Sie Sich nicht irre machen, wenn die hinkommen und gar Nichts sehen, denn oft kommt es vor, daß die eine Hälfte der Vögel in ihren Löchern steckt und beinahe die andere im Meere sich auf dem Fischfange befindet.“ Ich vermuthete, daß gerade jetzt eine solche Zeit sein möge, und trieb deshalb zur Eile an. Unser Boot glitt mitten durch die Schaaren der schwimmenden Vögel hindurch, ohne daß wir auch nur einen Versuch gemacht hätten eines einzigen von ihnen habhaft zu wirken. Denn bevor wir jagen durften, mußten wir zunächst Erlaubniß der Besitzer dieser Vogelberge haben. Die betreffenden Leute wohnten in zwei kleinen Gehöften, welche am hintersten Ende einer schmalen und tiefen Bucht gelegen waren, und ertheilten uns, nachdem wir unsere Empfehlungsbriefe abgegeben, diese Erlaubniß sofort.

Das steile Felsengestell der Schären wurde rasch erklettert, obgleich dies eben kein gefahrloses Unternehmen war. Wir befanden uns nun auf dem Brüteplatze. Jetzt lernten wir einsehen, daß man uns nicht getäuscht hatte, daß die Millionen in Wirklichkeit vorhanden waren. Der Felsen war zu zwei Drittel von oben herab mit Torf bedeckt, welcher hier und da dürftig mit Löffelkraut und Gräsern bewachsen war, an den meisten Stellen war die dünne Erdrinde von dem Gestein durchbrochen und dieses bildete wild übereinanderliegende unzählige Höhlen und Löcher, an andern Stellen waren die Felsenwände selbst sehr zerklüftet und zeigten uns Tausende von Ritzen, Spalten und Vertiefungen. Hier wohnten die Vögel und zwar hauptsächlich Lunde oder Meer-Papageien, Alken und Lummen, zu denen sich Scharben und Möven gesellt hatten. Die Torfrinde selbst war überall durchwühlt; es fand sich nicht ein einziges tischgroßes Plätzchen in ihr, welches nicht untergraben gewesen wäre. Unmöglich erscheint es mir, das Schauspiel zu beschreiben, welches sich uns darbot, als das Boot sich nahete und als wir auf dem Berge selbst angekommen waren. Wir hatten es blos mit wenigen Möven zu thun und hörten deshalb kein durchdringendes Geschrei, aber Hundertausende von Augen sahen auf uns nieder. Der ganze Berg wurde lebendig. Aus allen Enden und Ecken, oben, unten, neben, vor, hinter uns, überall wo man die Augen nur hinrichtetete, rutschten und krochen Vögel aus dem Innern der Erde hervor, und einen Augenblick später war der ganze Berg nicht blos mit unzähligen kleinen, weißen Pünktchen betüpfelt sondern auch von einer dunkeln Wolke umgeben, welche, wie die weißen Punkte, aus lauter Vögeln bestand. Jetzt konnte der Berg mit nichts Anderem verglichen werden, als mit einem riesenhaften Bienenstöcke, dem eben ein neuer junger Schwarm entstiegt. Jeder Ritz zeigte einen Bewohner, auf den Seiten, um uns herum, ganz nahe, aus zehn, sechs, vier Schritte saßen sie vor uns paarweise, zu Zehn, zu Hunderten, zu Tausenden. Der Berg war bedeckt mit Vögeln. Man konnte sie sehen in allen Stellungen in nächster Nähe, in der Ferne, im Sitzen, im Liegen, im Laufen; man konnte sie beobachten, studiren, gleichsam sich mit ihnen unterhalten; Tausende kamen, Tausende gingen.

Man begriff nicht, woher sie kamen und wohin sie gingen, obwohl man sah, daß ihre Richtung von oben herab nach dem Meere, oder von dem Meere zu dem Berge ging. Je mehr wir weiter vorwärts kamen, um so mehr wuchs die Anzahl. Das Meer, auf welchem die Menge lag, bedeckte sich, und als wir eben auf [15] dem Gipfel des Berges standen, konnten wir rings um uns herum, von unserer über dreihundert Fuß erhabenen Warte unmöglich entdecken, wo der Schwarm endete, noch wahrnehmen, wo das Meer frei von Vögeln gewesen wäre. Ich versuchte zu spähen und nahm mir ein kleines Quadrat im Meere in das Auge; dasselbe theilte ich wieder in vier andere und begann nun zu zählen. Ich konnte mehr als zweihundert unterscheiden. Das eine Quadrat enthielt also beinahe tausend Vögel; ich hätte aber Tausende solcher Quadrate aneinander setzen können und noch lange nicht mit ihnen den Raum angefüllt, welchen ich von Vögeln bedeckt sah. Es flimmerte, schwirrte, rauschte, schrie, tanzte um uns herum, daß uns fast die Sinne vergingen. Ich schwelgte und verbot zu schießen, aber ich hätte es auch nicht gekonnt, wenn ich nämlich nicht auf die ruhig sitzenden Vögel hätte feuern wollen. Es war ganz unmöglich einen Vogel auf das Korn zu nehmen. Meine lange Lehrzeit als Jäger schien mir heute vergeblich gewesen zu sein. Ich glaubte erst lernen zu müssen. Die ganze Masse war im höchsten Grade aufgeregt, aber nicht scheu; viele ließen uns so nahe an sich heran kommen, daß ich meinte sie mit meinem Stocke erschlagen zu können; – scheu waren nur die Möven und Scharben. So konnte ich denn studiren und sehen, wie steif und kalt auch unsere besten Abbildungen sind. Hier zeigte sich mir die Schönheit, der Reiz des Gebens in jeder Bewegung. Die so steif erscheinenden Alken saßen nicht einen einzigen Augenblick lang ruhig, sondern bewegten wenigstens den Kopf und Hals nach allen Seiten hin ohne Unterlaß und gewannen hierdurch unglaublich, weil ihre Umrisse nun wahrhaft künstlerische Linien bildeten. Namentlich vor- und rückwärts beugten sie sich häufig, gerade als wollten sie wittern oder sichern. Die Lunde saßen ruhig, doch war auch bei ihnen der eigenthümliche Kopf in steter Bewegung. Manchmal trippelten sie auf ihren Wartesitzen lebhaft hin und her. Am spaßhaftesten aber nahmen sie sich dann aus, wenn sie so eben aus ihren Höhlen hervorlugten und neugierig fragend auf uns schauten.

Mir machte es ein unnennbares Bergungen, unter den Millionen herumzuwandern. Bald wurde ich mit großer Ueberraschung, bald mir Furcht betrachtet. Ich hätte Hunderte erlegen können, schoß aber am ersten Tage gar nicht, am zweiten nur einige Mal unter die größten Haufen. Der Erfolg war stets verhältnißmäßig unbedeutend; denn blos die tödtlich Verwundeten fielen mir zur Beute, die übrigen erreichten, selbst wenn sie stark angeschossen waren, regelmäßig das Meer und waren uns dort verloren.

Unsere Wirthe und Besitzer der Berge hatten keinen abgerichteten Hund zum Herausholen der erbeuteten Thiere und deren Eier, wie dies auf anderen Inseln der Fall ist. Deshalb mußten wir uns schon selbst bequemen, das Geschäft jener Hunde zu übernehmen. Und wir fanden genug Eier und auch Brutvögel in den Höhlen. Wie bemerkt, waren die Löcher überall angelegt, wo sich nur ein passendes Plätzchen fand, d. h. mit anderen Worten auf dem ganzen Berge. Die meisten hatten mehrere Ausgänge, andere waren so tief, daß wir ihr Ende trotz alles Grabens und Wühlens nicht erreichen konnten. Bei einigen war der Gang von vorn bis hinten mit trocknen Pflanzen ausgepolstert, bei andern fand sich nur eine Reihe zusammengeschichteter Nester im hintersten Kessel. Wir fanden in den Nestern der Lunde überall nur ein Ei von rein weißer Farbe, wenn es frisch war, von braunrother Farbe aber, wenn es der Torf beschmutzt hatte; die Eier der Lummen und Alken waren grau oder lebendig grün und sehr bunt mit braunen, rothen und schwarzen Punkten gezeichnet. Ganz frisch gelegte Eier waren selten, weil die Bewohner der Höhe schon seit mehreren Wochen hier geerntet hatten. Wie man uns erzählte, schätzt man die Zahl der Eier, welche man von diesem einen Berge nimmt, auf fünf- bis sechstausend jährlich, und das ist schon eine Sache von Bedeutung, denn fünf- bis sechstausend Eier sind fünf bis sechshundert Thaler unseres Geldes werth. Außer den Eiern werden aber noch alle Vögel, welche man in der Höhle ergreift, abgewürgt und verspeist, und die Leute thun daran ganz recht, denn selbst die Alken schmecken keineswegs so schlecht, als gewöhnlich geglaubt wird: sie müssen nur richtig zubereitet werden. Die Zahl der Eier und Vögel übrigens, welche von den Bewohnern dem Berge entnommen werden, hat auf das Gesammtergebniß der Brut kaum einen Einfluß. Man macht es sich bequem, weil man ohnehin keine gute Absatzquelle für seine erbeuteten Schätze hat, und nimmt nur diejenigen Nester aus, zu denen man ohne große Mühe gelangen kann. Das ist aber unstreitig die allergeringste Zahl; eine Zahl, welche mit den übrigen unerreichbaren in keinem Verhältniß steht. Im Hintergrunde jeder Felsspalte sieht man zwei, drei, vier Eier liegen, so bald sich für eben so viel Vögel Platz zum Brüten findet. Diese sind vor den Angriffen des Menschen gesichert, denn der Arm reicht nicht so weit hinein, und was der Vogel in die Tiefe gelegt hat, wird eben nicht weggenommen. Ohne sich der geringsten Uebertreibung schuldig zu machen, darf man dreist behaupten, daß die Zahl der erbeuteten Eier vielleicht noch weniger als ein Hundertstel von allen denen ist, welche gelegt werden und glücklich auskommen.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Zur Geschichte des Aberglaubens. Es wird den meisten Lesern noch erinnerlich sein, wie der Königin von Preußen vor zwei Jahren auf einer Reise ihr Portefeuille verloren ging, und daß es selbst Stieber sammt der ganzen thätigen Polizei, die doch einen so langen Arm hatte, nicht gelang, den Verbleib desselben auszukundschaften; es wurde deshalb dem Finder eine Belohnung von 300 Thalern zugesichert.

Da plötzlich schien es, als wenn die Aufklärung von einem Lehrer eines märkischen Dorfes, das ich jedoch hier nicht nennen mag, ausgehen sollte. Der Nachbar dieses Lehrers hatte eine alte ererbte Bibel, welche, auf einem Schlüssel tanzend, schon manches Geheimniß enträthselt und manchen Sünder entlarvt hatte. Konnte diese Bibel hier nicht auch den Dieb nennen und dadurch alle schlauen Polizisten beschämen? Der Lehrer bringt Bibel und Schlüssel in gehörige Stellung und fängt dann sein Examen mit derselben an. Es waren besonders drei Fragen zu beantworten:

1. Wo ist der Diebstahl geschehen?
2. Was war der Dieb?
3. Wie hieß derselbe?

Damit die Bibel die erste Frage beantworten könne, wurden ihr verschiedene Ortsnamen genannt; sie rührte sich nicht! Endlich wird der Name Leipzig genannt, und siehe da, die Bibel bewegte sich! Natürlich nicht durch Zufall, sondern vermöge der durch das Vererben in ihr wohnenden Zauberkraft.

Die erste Frage war somit gelöst! Nun die zweite: Was war der Dieb? War er ein Schuhmacher, Schneider, Tischler, Diener etc.? Die Bibel rührt sich nicht! Endlich bei der Frage: War der Dieb ein Droschkenkutscher? zittert sie leise und bekundet damit ganz sicher, daß ein Leipziger Droschkenkutscher die Kühnheit hatte, sich an königlich Preußischem Eigenthum zu vergreifen. Nun aber die dritte und unbedingt schwierigste Frage: Wie hieß der Dieb?

Die Zahl der Eigennamen ist groß, noch dazu, wenn wir Gemeinnamen, wie Schulze (mit z und tz) und Müller mit dazu rechnen wollen; auch konnte ja der Zauberer in der Bibel mit dem Leipziger Droschkenpersonal nicht genau bekannt sein, oder doch mit dem Namen so verschwiegen sein, wie Frithjof gegen König Ring:

Gar viel fragst Du, o König, doch Antwort geb’ ich Dir,
Jedoch nicht meinen Namen, denn der gehört nur mir!

Aber mochten die Fragen so künstlich gestellt sein, oder mochte die Bibel das viele Fragen satt haben, genug, sie ertheilte auch noch die letzte Antwort. Bei dem Namen „Vogel“ bewegt sie sich ganz deutlich und hat nun unzweifelhaft ausgesprochen: „Der Dieb ist der Leipziger Droschkenkutscher Vogel.“

Ich bin nun mit dem Leipziger Droschkenwesen nicht so bekannt, daß ich sagen könnte, ob dort ein Fuhrmann solches Namens ist; aber der Entdecker des Diebstahls mußte doch wohl die Kraft und Wissenschaft seines Zauberers kennen und seiner Sache gewiß sein, denn er hatte nichts Eiligeres zu thun, als der Berliner Polizei das Resultat seiner mühsamen Forschung mitzutheilen. Wahrscheinlich verlangt der Zauberer für geleistete Dienste ein dankbares Herz, denn der Lehrer begehrte für seine Enthüllung nur 100 Thaler, die übrigen 200 Thaler sollten den Berliner Armen zugewiesen werden.

[16] Es sollen nun wirklich auf Grund der erhaltenen Mittheilung von der Berliner Polizei Nachforschungen angestellt sein, doch mögen dieselben nicht befriedigend ausgefallen sein. Der Lehrer erhielt statt der gehofften Belohnung einen derben Verweis, der zwar auch als Belohnung angesehen werden kann, aber doch eigentlich im Vergleich zu der gehabten Mühe zu gering war.




Die Puste-Post. Es bildet sich noch ein neues Ader- und Verkehrssystem durch das „unterirdische London“ hin. Eben werden Röhren vom General-Postamte Londons in der Mitte der City nach einem Punkte des Westendes gelegt, um Packete hindurch zu pusten, Röhren für „pneumatische Beförderung“, wie man gelehrt sagen muß, denn es ist Unternehmen einer „Pneumatic Despatch Company", d. h. einer Gesellschaft, die nicht mit Pferden, Schiffen oder Dampf, sondern mit Luft fährt und fördert. Die Packete sollen einfach durch Röhren von einem Orte zum andern geblasen werden. Das geht sehr gut, billig, sicher und schnell - 40 englische oder etwa 9 deutsche Meilen in der Stunde. Ich hab’s an einem Modell im Kleinen gesehen, einer Glasröhre, mit einem hohlen Cylinder an irgend einer Stelle derselben. Setzt man die Röhre senkrecht auf einen hineinpassenden Körper (man operirte mit Bleikugeln) und bläst in dieselbe durch die von der Seite eingefügte Röhre, so wird die Kugel von unten durch die Röhre in die Höhe getrieben und kann durch Anhalten des Athems an jeder Stelle beliebig sofort aufgehalten werden. Das ist der Mechanismus für pneumatische Beförderung von Sachen und – Personen.

Das aerodynamische Gesetz dieser sonderbar aussehenden Erscheinung – daß die Kugel durch Einblasen über ihr in die Höhe gezogen oder getrieben wird – versteh’ ich noch nicht, die Engländer, die mir die Sache zeigten, verstanden’s auch nicht, aber sie sind praktisch und gehen darauf los mit massenhaftem compagniertem Capital und werden auch noch pneumatische Eisenbahnen unter der Erde hin legen, um Personen tausendweise sicher, billig und schnell in wenigen Stunden Hunderte von Meilen weit hin und her zu pusten. Der ursprüngliche Erfinder oder Entdecker des Modells für solche pneumatische Beförderung unter der Erde hin (weil man die Bodenoberfläche dazu nicht benutzt und viel besser mit Korn und Kartoffeln und Viehfutter bewirthschaften kann) ist ein Deutsch-Däne, der mir sein Modell zeigte, als er sonst weiter nichts mehr hatte und halb verhungert war. Welcher Erfinder und Schöpfer von neuen Cultur-Capitalien hat nicht Aehnliches erlebt oder – erstorben?

Ein andermal mehr über diesen neuen Luftgeist des beflügelten Fortschritts. Jetzt noch ein kräftiger Schluß aus Ruge’s Schillerbuche über die Faulheit, Bosheit und Bornirtheit der Menschen gegen Wohlthaten, die ihnen durch neue Ideen und Erfindungen geboten werden:

„Gegen nichts sträubt sich die Menschheit hartnäckiger, als gegen Ersteigung einer neuen Stufe in ihrer eigenen Selbstschätzung. Ihre (wir wollen’s auf die Philister und „Bestehens“-Wütheriche beschränken) Bescheidenheit wird zur Wuth, ihre Niederträchtigkeit wird ihr zum Dogma, wenn es gilt, ihr neue Ehren und Vorzüge zu schenken. Der Weltverbesserer, und sollte er auch nur Kartoffeln einführen oder den Dampfwagen bauen wollen, erhält immer die Antwort: Wir glauben nicht an Deine Wohlthat und nicht an unsere Fähigkeit, sie zu genießen. Darum braucht die Entwickelung Jahrhunderte zur Durchsetzung einer Idee, wie die der Reformation und vollends die der Freiheit aller Staatsbürger, der Herrschaft des Gedankens, des Gesetzes und der unbehinderten Erörterung.“

Dies scheint nicht in eine Notiz über die neue Puste-Post zu passen, aber sie fordert gerade am meisten das Hohngelächter der Philister und Gewohnheitsmenschen heraus. Und doch giebt es nichts Gescheidteres, Schöneres, Praktischeres für Verkehr, als statt donnernder Wagen, schwitzender Pferde, platzender Dampfkessel und übereinanderstürzender Wagen die stille, weiche, überall umsonst zu habende, sichere, schneller beflügelte Luft anzuwenden.

B.




Ein Redactionsbureau in der Wildniß. Ein Amerikaner, der mit einer nach den Goldminen des Frazer-River bestimmten Expedition die Reise durch die ungeheuern Prairien machte, welche sich pfadlos jenseit St. Paul im Staate Minnesota ausdehnen, schreibt in seinem Reiseberichte: „Als den letzten Posten der Civilisation in nordwestlicher Richtung des nordamerikanischen Festlandes muß ich St. Cloud, eine etwa 1000 Einwohner zählende Stadt bezeichnen, denn hier, mitten in der Wildniß, fanden wir das letzte Gasthaus und die letzte Zeitung, die um so mehr Interesse erregt, da der Herausgeber, Redacteur und Drucker derselben eine Dame ist. Wir machten Mrs. Swißhelm, als Collegen, unsern Besuch und fanden eine hübsche, junge, kleine Frau mit großen klugen Augen und einer ungewöhnlich hohen und breiten Stirn. Sie trug die braune Kleidung der Quäkerin, saß am Fußboden und nähete ruhig an einem Teppich für ein neuangebautes Zimmer, eine Beschäftigung, in der sie sich auch durch unser Kommen nicht stören ließ. Für alle Neuigkeiten, die wir ihr mitzutheilen vermochten, war sie uns vielleicht eben so sehr als Zeitungsschreiber, wie als liebenswürdige Frau dankbar. Sie fragte viel und lebhaft, aber sie that nicht eine einzige müßige Frage, sondern berührte immer den Kern und das wirkliche Wesen der Dinge, die sie zu wissen wünschte. Alle ihre Gegenbemerkungen waren treffend und nicht selten witzig. Nach längerem Gespräch führte sie uns endlich in ihr Allerheiligstes, in das Redactionsbureau. Es war ein kleiner, gangähnlicher Raum, der zugleich als Arbeits-, Speise- und Kochzimmer diente. In der einen Ecke stand ein Schreibpult mit der unerläßlichen Scheere und dem Kleistertopfe, in der andern ein gedeckter Tisch und nicht weit davon der eiserne Kochofen, auf welchem ein Kessel, eine Theekanne und eine Schmorpfanne sichtbar waren. In einem anstoßenden größern Raume befand sich die Druckerei. Sie enthielt zwei Handpressen, einige Setzkasten etc. Die wackere Frau erzählte uns, daß sie, ehe sie ihr Unternehmen begann, erst selbst Setzen und Drucken lernen und in der ersten Zeit Tag und Nacht arbeiten mußte, weil sie Niemanden zur Hülfe hatte. Später gelang es ihr, sich einige Knaben zur Stütze heranzubilden, und gegenwärtig, nach fünfjähriger geistiger und körperlicher Anstrengung, hat sie endlich eine sorgenfreie Stellung, wenn auch in sehr bescheidenen Verhältnissen, errungen. An einen Setzkasten gelehnt, erzählte sie uns, wie ihr Leben unter den halsstarrigen, rohen, ja gewaltthätigen Pionieren, unter die ein feindliches Schicksal sie verschlug, für sie, die feingebildete Frau, ein wahres Martyrthum gewesen war, und welche Schwierigkeiten, Anfeindungen und Vorurtheile sie überwinden mußte, ehe es ihr gelang, festen Fuß zu fassen. „Es hat mir fast das Leben gekostet, meinen Lebensunterhalt zu gewinnen,“ schloss sie ihre einfache Erzählung und wir schieden mit wahrer Hochachtung von der eben so muthigen wie liebenswürdigen Frau.“




Unsere schönen deutschen Damen mögen sich gratuliren, daß sie nicht in London wohnen: dort wird auf junge hübsche Fräulein in einer Weise Jagd gemacht, die wirklich etwas Unangenehmes hat. Aus den Londoner Polizeiberichten der letzten Woche geht hervor, daß in Zeit von einigen Tagen nicht weniger als fünf junge Ladies verschwunden sind, ohne daß man bis jetzt ihren Aufenthalt kennt.

Miß Theresa Brown, heißt es in diesem Bericht, und drei andere in Clapham Road (sehr respectables, vom bessern Mittelstande bewohntes Viertel) residirende Damen sind von ihrem elterlichen Hause entführt worden, oder haben dasselbe nach gemeinschaftlicher Verabredung verlassen. Man hat ihre Spur bis Bristol verfolgt, wo die Polizei alle Anhaltspunkte zur weitern Verfolgung verloren hat. – Die Polizei ist weiter benachrichtigt worden (information has been received, wie die officielle Formel lautet), daß eine junge Dame, Namens Eugenie King. 17 Jahre alt, welche von Hawkhurst in der Hauptstadt ankam, um Verwandte zu besuchen, in der Eisenbahnstation von London Bridge von einem modisch gekleideten Manne mit Livrebedienten getroffen wurde, der, unter dem Vorgeben sie und ihre Effecten nach Mecklenburgh Square zu ihren Verwandten zu geleiten, sie in einen Brougham setzte – und nichts Weiteres ist von ihr gesehen und gehört worden. Gestern, heißt es weiter, wurde die Polizei benachrichtigt, daß Miß Maria Bumpus von 120 London-Road ihr elterliches Haus spät am Abend verlassen, um dem Abendgottesdienst in der St. Judes-Kirche, Southwark, beizuwohnen, und auf ihrem Wege von einer respectablen Frau angeredet wurde, welche sie in ein Cab zu steigen vermochte und mit ihr davon fuhr. Da die junge Dame nicht nach Hause zurückkehrte, so wurden Nachsuchungen angestellt, aber obgleich eine bedeutende Belohnung ausgesetzt worden ist, so hat sich bis jetzt noch keine Spur von der Verschwundenen auffinden lassen. Miß Bumpus ist 15 Jahre alt und besitzt große persönliche Reize.