Die Gartenlaube (1858)/Heft 46
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No. 46. | 1858. |
(Fortsetzung.)
Es kostete dem Rath Braunstein weit weniger Zeit und Mühe,
was er jetzt zu Papier brachte. Aus dem resignirenden Manne
von zweiundfunfzig Jahren war ein Vater mit Jünglingsmuthe
geworden, der sich bereitwillig in den Strom neuer Thätigkeit zu
werfen beschlossen hatte, um eine süße Pflicht gegen sein Kind zu
erfüllen. Er schrieb in einem Zuge bis er fertig war, dann siegelte
er und sendete den Brief fort. In demselben Momente öffnete
sich langsam seine Thür und Hermine erschien schüchtern auf
der Schwelle. Ihr Blick fragte, ob der Vater Zeit für sie habe.
Ein Lächeln voll Wohlwollen und Güte beantwortete diese stumme
Frage. Verflogen war der starre Ausdruck gedankenloser Gleichgültigkeit, womit er sonst den Eintritt Herminens begrüßt hatte,
verschwunden die zerstreute Hast, mit der er sie abzufertigen sich
stets beeilte.
Er streckte ihr die Hand entgegen mit jener überströmenden Freundlichkeit, die mehr als Worte eine Bewillkommnung ausdrücken.
Hermine ergriff die Hand und schmiegte sich an seine Brust. Es war ersichtlich, daß sie ohne Absicht das väterliche Asyl aufgesucht hatte, allein es lag nicht im Plane des Rathes, das vertrauliche Band sogleich ganz festzuknüpfen.
Mit einigen leichten Fragen wendete er das Gespräch auf Gegenstände, die fern von denen waren, welche ihre Herzenswärme auf einen Höhepunkt zu führen vermochten, und nur, als sie von einander schieden, glaubte er, ihr eine Bürgschaft auf seine verbesserte Gemüthsstimmung geben zu müssen.
Er sah dem Töchterchen fest und ernst in’s Auge.
„Möchte das, was heute zwischen uns erwacht ist, nie wieder einschlafen, mein liebes Kind!“ sagte er mit dem Ausdrucke tiefer Bewegung.
„Nie wieder – nie wieder, Vater!“ flüsterte sie innig und legte ihre Lippen mit herzlichem Drucke auf seinen Mund.
Vierzehn Tage waren verflossen. Sie hatten eine wesentliche Veränderung in dem Verhältnisse zwischen Mutter und Tochter entwickelt, die aber nur einem eingeweihten Beobachter bemerklich werden konnte. Es war ein stiller Kampf zwischen ihnen entbrannt, der sich von Seiten der Tochter in consequenter Ruhe hielt, während sich die Räthin Braunstein sehr häufig im Eifer, ihre mütterlichen Rechte aufrecht zu erhalten, vergaß und die Maske der Mutterliebe fallen lleß. Danach sollte man annehmen, daß keineswegs eine behagliche Stimmung im Hause herrschte und dennoch begegnete man Gesichtern, in denen der heilige Friede keimenden Glückes ruhte.
Mit unverwüstlicher Sanftmuth betrachtete Rath Braunstein die Revolutionsstürme seines Hauses, ohne sich im Geringsten daran zu betheiligen. Er genoß den Vortheil, der für ihn daraus entstand, und ließ seelenruhig den Charakter Herminens durch den Wellenschlag der Zeit sich historisch entwickeln.
Den Hauptgrund der kriegerischen Evolutionen bildete natürlich der Herr Lieutenant Bruno von Fahrenhorst, welcher – als erklärter Günstling der Räthin, von der Blauberger haute volée für den Verlobten Herminens gehalten – jetzt der Gegenstand täglicher Debatten sehr unerquicklichen Inhaltes wurde.
Er selbst hielt sich klüglich fern von den Flammen des Streites, der sich seinetwegen entsponnen hatte, nachdem ihn das erste Zusammentreffen mit seiner angebeteten Hermine über ihre Gefühle gegen ihn hinreichend belehrt hatte. Aber er unterließ es nicht, hinter den Coulissen als jammernder Liebhaber zu agiren und das Herz seiner quästionirten Schwiegermama in Bewegung zu erhalten.
Hermine benahm sich ausgezeichnet. Sie betrachtete diese Sache als abgemacht und ihre Anlage zur sarkastischen Kaltblütigkeit gab ihr Waffen in die Hand, denen die sprudelnde Lebhaftigkeit der Mutter nicht gewachsen war.
Aber es war nicht zu leugnen, daß das stille Bündniß mit ihrem Vater dennoch bisweilen sehr nöthig wurde, um die muthige Geduld des armen siebzehnjährigen Kindes aufrecht zu halten. Wenn sie, geängstigt und gequält von den Bitten, Drohungen und Befehlen ihrer Mutter, betäubt gemacht durch die Vorstellungen von Glück in einer Ehe nach deren idealen Ansichten, ihr Auge endlich hülfeflehend auf den Vater richtete, so war sie jetzt sicher, nicht den gedankenlosen, durch Studien zerstreuten Mann, sondern einen stillen Theilnehmer und Beobachter neben sich zu finden.
Der Rath Braunstein hatte sich gründlich gebessert. Mit der Zeitung in der Hand, in welcher er aber nicht las, postirte er sich im Nebenzimmer, wenn die Räthin ihre Ueberredungskünste spielen ließ, und erschien immer so prompt in den Augenblicken, wo Herminens Noth am höchsten war, daß diese bald den treuen Verbündeten in ihm erkannte. Mit seinem Erscheinen dämpfte sich die Gluth der Begeisterung für den Lieutenant von Fahrenhorst und die Räthin ließ den Faden des Gespräches fallen.
Obwohl Hermine sich ihm dadurch zu herzlichem Danke verpflichtet
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Die Scenen des Kampfes vermehrten sich aber nach und nach. Es schien gewaltsam eine Entscheidung zu Gunsten des Lieutenants herbeigeführt werden zu sollen und die sonderbaren Irrthümern hingegebene Mutter nahm selbst zu Thränen ihre Zuflucht.
Hermine wurde stiller. Sie schwankte vielleicht nicht, aber sie ermattete im Widerstande. Indem sie erwog, daß der „Jemand“, dem sie ganz willenlos die ersten leidenschaftlichen Regungen ihres jungen Herzens geweiht hatte, unerreichbar für sie war, hob sie die guten Eigenschaften des Mannes, der sich edelsinnig einer directen Bestürmung ihres Herzens enthielt, hervor und prüfte resignirt, ob es wohl nicht am gerathensten sein könne, eine Steigerung ihrer Herzenswärme, die von ihrer erfahrenen Mama in Aussicht gestellt worden war, zu versuchen. „Nur zu versuchen,“ dachte sie in der Sicherheit der Jugend, die sich Titanenkräfte in Herzenskämpfen zutraut und oft dem ersten Angriffe der Eitelkeit erliegt.
Der Einfluß des bürgerlichen und socialen Lebens in einer Stadt, wie Blauberg, ist weit eingreifender, als man anzunehmen gewohnt ist. Die allgemeine Beachtung der jungen Männerwelt ist nicht zu entbehren – das Flüstern guter Freundinnen und ihr unberufenes Lächeln ist nicht zu ertragen – die Sehnsucht nach dem weltlichen Throne befriedigter Eitelkeit ist nicht zu überwinden! Hermine vermochte sich nicht mit eigener Willensstärke über den Einwirkungen des Geselligkeitsstromes zu erhalten.
Der Enthusiasmus für den „Jemand“ begann zu verrauchen. Sie erlaubte es sich schon, den „Jemand“ zu tadeln, daß er seinen jungen Freunden, laut genug, um es in der Gesellschaft überall zu hören, Urtheile über ihre Mutter und über sie mitgetheilt hatte. Zwar wollte der bewundernde Blick seiner schönen dunkeln Augen, den er, auffallend bewegt, immer wieder auf sie heftete, als er, freilich zu spät, erfahren hatte, wer seine Nachbarin sei, seinen bezaubernden Einfluß wieder geltend machen, zwar wollte die sichtliche Huldigung, die in seinem ganzen Wesen sich ausprägte, wieder verführerisch ihre Seele umgarnen; aber – es stand ein Ball bevor, wo sie als Königin der Saison zu glänzen hoffen konnte, ein Ball, der schon im Vorgeschmack ihre Seele zu berauschen fähig war. Sie gab zuerst nur den Befehlen der Mama nach und erklärte sich bereit, diesent Ball unter der Bedingung besuchen zu wollen, wenn der Herr Lieutenant von Fahrenhorst seine heiße Liebe für sie dadurch bewiese, daß er sich ganz kalt gegen sie benähme.
„Albernes Verlangen!“ tadelte die Räthin, im Innern seelenvergnügt über die Modification der töchterlichen Härte und Consequenz. „Heißt das: er soll nicht mit Dir tanzen? Nun,“ fuhr sie fort, als Hermine, von ihren eigenen Stricken gefangen, mit der Antwort zögerte, „nun, so wirst Du unausbleiblich in der Polonaise sitzen bleiben, denn bei der überall anerkannten Bewerbung des Herrn von Fahrenhorst wird es Niemand wagen, ihm den Vorrang abzulaufen.“
Hermine hing das Köpfchen.
Wie? In der Polonaise sitzen bleiben, nachdem sie davon phantasirt hatte, den Ball zu eröffnen? Dieser Gedanke war doch nicht zu ertragen!
Was schadete es denn, wenn sie mit Herrn von Fahrenhorst den Ball eröffnete?
Keck hob sie das gesenkte Köpfchen wieder auf.
„Gut, Herr von Fahrenhorst mag die Erlaubniß haben, mich zur Polonaise zu engagiren,“ entschied sie kurz und ihre Wangen bedeckten sich mit tiefem Rothe.
Die Räthin hielt dies nicht für bedeutungsolos.
„Und den Cotillon?“ fragte sie neckend.
„Den tanze ich gar nicht,“ fiel Hermine hastig ein.
„Unsinn, Kind, Unsinn!“ rief die Räthin. „Du tanzest den Cotillon mit Bruno, und so wahr ich lebe, Du wirst ihn gern mit Bruno tanzen, denn ihr werdet unbestritten das schönste Paar abgeben!“
Hermine sah nachdenklich vor sich nieder. Diese Bemerkung enthielt das Zauberwort, das die kleinen und großen Geister der Eitelkeit aus den Schlupftwinkeln ihres Innern wieder hervortrieb, wohin sie dieselben verbannt hatte. Wie schmeichelnd tönten die Worte „das schönste Paar“!
Aber das junge Mädchen raffte sich heroisch auf. Ihre Erinnerung traf auf einige anders lautende Worte, die ein „Jemand“ ohne Scheu seinen Freunden mitgetheilt hatte. Mit der Kraft des Donners rollten sie an ihrem innern Ohre vorüber: „Der Rath Braunstein zählt zu unsern tüchtigsten Juristen,“ hörte sie deutlich, wie damals, „allein er soll das Unglück haben, eine Gattin und eine Tochter zu besitzen, die seinen Werth keineswegs begreifen, sondern ihren Triumph darein setzen, die größten Mode- und Putznärrinnen zu sein.“
Hatte sie sich nicht insgeheim den Schwur abgelegt, dies harte Urtheil durch ihr ferneres Verhalten zu entkräften? War sie nicht von der wahrhaft edeln Persönlichkeit des ungenirten Kritikers dergestalt bezaubert, daß sie ihm nicht allein nicht zu zürnen vermochte, sondern ihn im Stillen zum Richter ihres Handelns erhob? Gut, was würde er sagen, wenn er im Stande wäre, die Inconsequenz ihrer Handlungen zu beurtheilen? Das junge Mädchen athmete tief auf und sprach beklommen:
„Ich möchte nicht zum Ball gehen, Mutter, ich möchte meinen Entschlüssen treu bleiben – laß mich, störe meinen Frieden nicht, ich will nicht zum Ball! – Ich bitte Dich, mir zu erlauben, daß ich mein voreilig gegebenes Versprechen zurücknehme!“
„Kleine Thörin, wie kannst Du mich und Dich so quälen!“ rief die Räthin, gleich wleder in Hitze gerathend. „Dein Glück ruht in meiner Hand und, glaube mir, dort ruht es sicher. Erfahrung macht klug! Ich werde mein Leben daran setzen, um Dich vor dem Elend zu bewahren, das ich zu tragen hab, und Du wirst es mir danken, wenn Du, gewiegt und berauscht von dem Beifalle der Menge, in den Armen eines Gatten ausruhst, während ich – o, ich Unglückliche – einsam auf der Weltbühne figuriren muß –“
Ein leichtes Geräusch lenkte ihre Aufmerksamkeit nach der Thür und sie sah ihren Gatten auf der Schwelle derselben, mit mitleidigem Lächeln ihre Tiraden bewundernd. Verwirrt erhob sich die Dame. Ihre Exaltation fiel zusammen, wie der hohle Schaum eines abgestandenen Bieres, und sie erwartete beschämt eine Zurechtweisung von dem, welchen sie so eben verurtheilt hatte.
Der Rath Braunstein schritt langsam vorwärts. In seiner Hand schwankte ein offener Brief. Seine philosophische Ruhe trug diesmal einen kleinen Beigeschmack von stolzer Erhebung, als er kaltblütig begann:
„Ich habe so eben meine Ernennung als Vicepräsident des Appellationsgerichtes zu P. erhalten, verbunden mit der Anweisung, mich bis zum 31. October dort einzufinden. Sonach habt Ihr Euch einzurichten, daß wir heute über acht Tage in P. sind.“
Unter dem Aufflammen zornigen Schreckens hatte die Räthin und unter dem nervösen Zittern einer großen und sehr freudigen Ueberraschung das Fräulein diese Ankündigung vernommen.
„In acht Tagen – das ist unmöglich!“ schrie Erstere, ganz beherrscht von der Furcht, ihre lang gehegten Wünsche an diesem unerwarteten Ereignisse scheitern zu sehen.
„Nach P.?“ flüsterte das Mädchen, „nach P.? Vicepräsident in P.?“
In P. stand nämlich der „Jemand“, der sich so unverantwortlich dreist in ihre Phantasie eingenistet hatte, als Assessor beim Appellationsgerichte.
„Es muß möglich sein,“ entgegnete der Rath seiner Gemahlin, während er liebkosend über Herminens heißes Gesicht strich.
„Es ist durchaus nicht möglich,“ replicirte eigenwillig die Räthin. „Ich habe noch viel hier zu ordnen – auch ist heute über acht Tage der erste Ball – es wird am besten sein, Du reisest allein und wir kommen später nach.“
Der Rath warf einen Blick auf seine Gemahlin, der niederschmetternd in ihre Seele drang.
„Wir reisen zusammen,“ erwiderte er dann. „Unsere Möbel und Hausgeräthe vertrauen wir sichern Händen zur Verpackung und Versendung, Kleidung und Wäsche hingegen nehmen wir gleich mit. Wir werden dort so lange Quartier im Gasthofe nehmen, bis wir ein Logis gefunden haben.“
Sprachlos starrte die Räthin auf ihren Mann. So besonnen hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht entworfen, was nicht in sein Fach schlug. Was war für ein Wunder geschehen, das [655] solche Umwandlung bewirkt hatte? Einige Momente sah sie in sein offenes und verschlossenes Auge, dann aber brach sie eben so entschlossen und dabei hartnäckig in die entschiedenste Widerrede aus. Sie erklärte schließlich, daß sie überhaupt nicht gesonnen sei, Blauberg ohne Weiteres zu verlassen, da es für sie den Inbegriff aller Lebensfreuden beherberge. Sie sähe nicht ein, weshalb sie eine Stellung verändern solle, die sie genügend beglücke – wolle ihr Herr Gemahl seinen misanthropischen Sinn in andere Welten tragen, so habe sie nichts dagegen, aber sie würde sich mit allen Kräften dagegen auflehnen, Blauberg mit seinen Annehmlichkeiten, wozu sie auch ihr brillant ausgestattetes Haus zähle, aufzugeben.
Nach dieser Relation erwartete die Dame nichts gewisser, als eine Nachgibigkeit, seiner früheren Indolenz entsprechend, von ihrem Gatten. Allein sie irrte. Der Herr Gemahl gab ihr eine Probe, daß er aller Indifferenz in Bezug auf seine Tochter Hermine entsagt hatte und nur Willens schien, sie selbst ihrem Schicksale zu überlassen, im Falle sie sich geneigt zeigen sollte, ihren Kopf aufzusetzen. Die traurig einsame Lebensweise seiner vergangenen Tage war zu vortheilhaft von den Bildern einer heitern Zukunft verdrängt, als daß er nicht Alles daran setzen wollte, um diese Bilder zu realisiren.
Der Rath Braunstein schloß seine Discussion mit der ernst wiederholten Aufforderung an beide Damen, „sich zur Abreise am neunundzwanzigsten October bereit zu halten,“ und machte Miene, nach dieser lakonischen Rede das Zimmer zu verlassen.
Hermine war taktvoll genug, den Abglanz innerer Fröhlichkeit über ein Ereigniß, das wie ein Stern in eine umnachtete Zukunft hineinleuchtete, hinreichend zu verbergen, allein sie empfand plötzlich den Muth, für diese Zukunft tapfer in die Schranken zu treten, als ihre Mutter, über alle Begriffe heftig aufbrausend, ganz entschieden mit dem Vorsatze hervortrat, Blauberg niemals zu verlassen, und sich lieber in eine ewige Trennung von ihrem Gatten zu fügen, als Verhältnisse, in denen sie allein ihre Seligkeit fände, zu zerreißen.
Der Rath sah sie mit ruhiger Hoheit unverwandt an, indeß Hermine sie mit Thränen in den Augen beschwor, ihre Heftigkeit zu mäßigen.
„Ich habe bis dahin des traurigsten Geschickes Last getragen!“ rief die verblendete Frau mit Emphase. „Ich habe mich begnügt – “
„Womit begnügt, Laurette?“ – fiel der Rath rasch ein und störte damit den erhabenen Gedankenflug der armen Räthin gänzlich. Ganz verdutzt gemacht, sah sie zu dem Gatten auf, welcher lächelnd fortfuhr:
„Mit demselben und vielleicht größern Rechte könnte auch ich sagen: ich habe mich begnügt, allein ich will gerechter sein, und die Hälfte der Schuld auf meine Achseln nehmen. Laß uns nicht mit einander rechten, sondern laß uns vergessen, was geschehen ist, und ohne gegenseitige Vorwürfe eine neue Bahn voll friedlichen Glückes suchen. Sieh den Weg dazu im Dasein unserer Hermine –“
„Ganz recht,“ unterbrach ihn die Räthin, etwas gesänftigt. „Eben Hermine ist die Ursache meiner Weigerung, Blauberg zu verlassen. Herminens Glück keimt hier – ich muß diesen Keim pflegen, um ihn zur Blüthe und Reife kommen zu sehen. – Ich bitte Dich deshalb, mir nachzugeben – ja, ich will mein Glück und Wohlsein gern opfern und Dir späterhin folgen – aber für jetzt fordere ich, daß Du allein reisest, daß Du ohne mich und Hermine nach P. übersiedelst. Ich fordere dies von Dir und werde von Deiner Einwilligung meinen Entschluß abhängig machen, fernerhin mit Dir zu leben.“
Eine so bittere Demüthigung mochte der Rath Braunstein, trotz aller Befürchtungen, doch nicht erwartet haben. Das war also das Ende aller romantischen Liebe der Jugendjahre! Dazu hatte er elf Jahre mit Entsagungen aller der Jugendfreuden, die ein junger Mann liebt, verbracht, um nun, nach einer beinahe zwanzigjährigen Ehe, wie eine abgenutzte Waare weggeworfen zu werden? Vielleicht hätte er gütiger und liebevoller verfahren können, um die Erbfeinde seines Eheglückes, Putzsucht und Eitelkeit, zu bekämpfen, aber bei alledem verdiente er es nicht, so schmachvoll aufgegeben zu werden, um einem Schwiegersohne Platz zu machen, der „Zeit und Lust“ dazu hatte, sich in die Regionen einzubürgern, die ein Paradies für die geistige Oberflächlichkeit der Dame bargen.
„Ist dies Dein letztes Wort in diesem traurigen Zerwürfniß, Laurette?“ fragte der Rath gelassen.
„Ja, mein letzter Vorschlag zu einer Einigung!“ rief sie laut und pathetisch.
Der Rath wendete sich zu seiner Tochter, die in fieberhafter Aufregung dicht bei ihrer Mutter stand.
„In eine Scheidung der Ehe in aller Form willige ich für jetzt nicht, bis Deine Mutter zur vollständigen Besinnung kommt und im Stande ist, zurechnungsfähig zu handeln; aber, meine liebe Hermine, eine Entscheidung muß ich auf Dein junges Herz legen, da es sich, nach dem Ausspruche Deiner Mutter, um Dein Glück handelt. Ich frage Dich und warne Dich dabei vor jeder Uebereilung: willst Du bei Deiner Mutter in Blauberg bleiben oder willst Du mit Deinem Vater nach P… gehen!“
„Mit Dir, mein Vater – mit Dir nach P…!“ rief das Mädchen mit dem Accente der zärtlichsten Hingebung, flog auf den Vater zu, und schlug beide Arme um seinen Nacken. Der Rath zog sie fest an sein Herz und trug sie so in seinen Armen hinaus bis in sein Zimmer hinüber, das er sogleich hinter sich verschloß.
Machtlos, einer maßlosen Bestürzung hingegeben, stand die Räthin mitten im Zimmer und sahe ihnen nach. Ihre Blicke irrten dann, wie suchend umher, – sie fand sich allein.
Haß und Groll erwachten in ihrer Brust! Haß gegen den Mann, den sie so lange geliebt – Groll gegen das Kind, welches sie glücklich zu machen gedacht hatte! Auch sie verschloß nun ihr Zimmer und setzte sich rachebrütend, so lange sie heftig war, in eine Ecke des Divans nieder, dann aber, als ihre Aufregung nachließ, weinte sie lange und schmerzlich.
Der Abend dämmerte unterdessen herein. Die letzten Sonnenstrahlen glühten nur noch auf den äußersten Bergspitzen und die Sichel des Mondes schwebte am Himmelszelte gerade den Fenstern gegenüber, aus denen die verlassene Gattin und Mutter zum Himmel emporschauete und Lust hatte, eine blutige Vergeltung auf die Häupter ihrer Lieben herabzubeschwören.
Es klopfte leise an die Thür und eine vorsichtige Hand drehte den Griff derselben versuchend hin und her. Gleich steifte sich Dame Braunstein wieder in Trotz und Widerspenstigkeit auf.
„Aha – jetzt kommt mein Töchterchen, um ihr Unrecht einzugestehen,“ dachte sie und rührte kein Glied, um aufzumachen.
„Mama,“ flüsterte die Stimme ihrer Tochter weich und bittend durch das Schlüsselloch, „Mama – nur einen Kuß, nur einen einen einzigen Kuß – der Vater hat es verboten – aber ich kann nicht anders, ich muß ihm ungehorsam sein! Nur einen einzigen Kuß!“
Die Räthin nickte majestätisch mit dem Kopfe und ihr Blick verrieth, daß sie nicht gesonnen war, diesen erbetenen Kuß alsobald zu verabreichen.
„Mama,“ bat die Stimme weiter durch’s Schlüsselloch. „Nur einmal will ich Dich küssen, nur ein einziges Mal Dir sagen, wie lieb ich Dich dennoch habe, wenn ich auch mitreise –“ die Stimme brach in leisem Schluchzen.
Dame Braunstein hob stolz ihr Haupt, und sah von oben herab, als wollte sie die liebenswürdige Liebeserklärung des kindlichen Mädchens verachten. Die Stimme begann abermals:
„Der Vater kommt – o Mama – behalte Dein Kind lieb – lebe wohl! Auf Wiedersehen –!“
Wie Geisterhauch durchflog das letzte Wort den Raum des Gemaches und durchlschauerte die Dame mit seltsamen Gefühlen. Trotzdem blleb sie noch eine ganze Weile ruhig sitzen und horchte, mit Spottlächeln auf den Lippen, nach der Thür hin.
Es blieb Alles still!
Dann stand sie auf und trat vor den Spiegel, um ihren verschobenen Kopfputz wieder zu ordnen und die Verwüstung zu verwischen, die ihre „albernen Thränen um solche Lappalien“ in dem noch ganz hübschen Gesichte angerichtet hatten.
Ein Poltern auf der Straße, dicht vor ihrem Hause veranlaßte sie, dabei an’s Fenster zu gehen und hinauszublicken. Da stand ihr Diener, und hob mit Hülfe eines Eisenbahnkofferträgers einen Koffer auf den Rollwagen.
Ahnungsvoll riß sie das Fenster auf – dort unten am Ende der Straße verschwanden eben zwei Gestalten – hastig setzte sich der Kofferträger in Galopp, der Bediente sah ihm nach – dann ertönte das Signal der Locomotive – lachend schauete der Diener zu ihr auf und sagte:
„Der Herr und das Fräulein werden gerade noch zu rechter Zeit gekommen sein!“
[656] Behutsam drückte die Räthin ihr Fenster wieder zu und schlug beide Hände vor die Augen.
„Allmächtiger Gott! Mein Mann – mein Kind! Sie sind fort! Sie sind fort!“ flüsterte sie, sinnlos vor Schmerz, und sank zusammen. „Auf Wiedersehen!“ tönte es wie ein Geisterhauch um sie, als sie wieder zur Besinnung kam. Aber die bösen Geister begannen wieder in ihr zu toben und unter dem Trotze eines tief beleidigten Herzens machte sie sich bereit, ihre Zukunft zu bestimmen.
Die Maßregeln des Rath Braunstein waren längst vorbereitet gewesen. Er bezweckte, seine Stellung als Gatte und Vater gründlich zu verbessern, oder dies Verhältniß ganz zu lösen, wenn seine Tochter den Erwartungen nicht entspräche, die er hegte.
Hermine hatte sich bewährt – seine Gemahlin aber mit unverantwortlichem Leichtsinne die heiligen Bande der Ehe geringschätzend behandelt. Er gab sie deshalb noch nicht auf, überließ sie jedoch strafend einer Einsamkeit, die sie entweder läutern oder, was er mit schmerzlichem Bedauern ertragen haben würde – gänzlich verhärten konnte. Ihm blieben noch acht volle Tage bis zum Antritte seines neuen Amtes und er verwendete sie dazu, seine Tochter für großartige Weltanschauungen zu begeistern, um den Keim der Kleinbürgerlichkeit, welche der Selbstüberschätzung Thor und Thür öffnet, in ihr völlig zu ersticken. Er überantwortete sie stillschweigend der Einsicht ihres Verstandes, um diese Angelegenheit seines Herzens zu einer Quelle dauernder Glückseligkeit für sie selbst zu machen. Mit Absicht wählte er einige volkreiche Städte, die sie auf ihrer Reise nach P… berühren mußten, zum Ruhepunkte, führte das junge Mädchen in den großartigen Volksverkehr ein und ließ sie ohne Belehrung selbst erkennen, daß die jämmerliche Effecthascherei des einzelnen Individuums entweder spurlos im Wogen der allgemeinen Interessen untergeht oder vom vernünftigen Theile des Publicums verlacht und verhöhnt wird. Der Begriff von wahrer Menschenwürde brach sich bei diesen kurzen Weltanschauungen Bahn, und nachdem das junge Mädchen erst eine Ahnung von dem außerordentlichen Werthe dieser selbstständigen Würde erhalten hatte, war es ihrem Vater nicht mehr schwer, für die Vollendung ihrer geistigen Cultur mit Wort und Blick zu sorgen.
Am bestimmten Tage langten sie in P… an und nahmen Wohnung in dem ersten Hotel des etwas düstern, fast ehrwürdig ernsten Ortes.
Während der Rath Braunstein sich den Feierlichkeiten seiner Einführung als Vicepräsident unterwarf, schrieb Hermine mit der ganzen Lebhaftigkeit ihrer kindlichen Liebe an ihre Mutter, schilderte die Reise mit ihren belehrenden Erfahrungen, den Vater in seiner Liebenswürdigkeit als Reisegefährte und erklärte ihr, daß nur der Gedanke an den Zorn der Mutter ihre Freuden beeinträchtigt habe. Sie beschwor sie, ihr nicht ferner zu zürnen, berührte aber nichts von der nächsten Zukunft, die Bezug auf eine nachfolgende Uebersiedlung der Mutter haben könne, weil der Vater mit wenigen Worten angedeutet hatte, „daß dies seine Sache sein würde.“ Den Lieutenant von Fahrenhorst erwähnte sie mit keiner Sylbe, weil sie in Wahrheit nicht an ihn gedacht hatte, bat aber schließlich mit der Gluth der Kindeszärtlichkeit um schleunige Beantwortung ihres Briefes.
Früh um drei, spätestens um vier Uhr wandert der Gärtner mit dem Spaten der Stelle zu, auf der den Tag über sein Fleiß sich bewähren soll. Gegen sechs Uhr sind die Marktfrüchte schon in den Händen der Frau, die nun ihrerseits die Kunden bedient. Bis um zehn Uhr werden auf dem Felde die anstrengendsten Arbeiten verrichtet. Da bringt eine daheimgebliebene Tochter das sehr einfache Frühstück. Sie hat ihrerseits auch Eile nöthig. Zu Hause muß sie erst die Wirthschaft besorgen, dann Vater und Geschwister im Felde, endlich die Mutter auf dem Markte mit Stärkung bedenken. Von Mittagessen ist nicht viel die Rede; die frugale Speisung wird gewöhnlich mit kurzer Rast auf dem Felde eingenommen. Hier und beim Dreiuhrbrod spielt ein großer Krug mit, der gewöhnlich von den Kindern gefüllt herbeigetragen wird und dem fleißigen Arbeiter das ersehnte Labsal spendet. Aber er enthält nicht etwa gutes Bamberger Bier, ach nein! Nur zum achten Theil ist Bier die Mischung, sieben Achtel sind „Heinslein“, Kovent, die Maß zu zwei Pfennigen. Erst der Abend setzt dieser Thätigkeit ein Ziel; im Sommer zieht die Familie zwischen fünf und sechs Uhr auf den schmalen Feldpfaden ihrer bescheidenen Wohnung zu. Nun beginnt nicht Ruhe und Genuß, sondern – die Arbeit des Hauses. Das Vieh wird besorgt, der Marktgang für den folgenden Morgen vorbereitet und die kleinen Geschäfte der Haushaltung verrichtet. Erst um acht Uhr wird die Abendmahlzeit eingenommen, oft nur die dampfende Kartoffel in der Schale auf den Tisch ausgeschüttet, oft Klöße von so kräftiger Substanz, daß ihre Verdauung den verzärtelten Culturmenschen zur Verzweiflung bringen, daß ein Wurf damit an seine Schläfe ihn tödten würde. Aber diese Kinder der Arbeit würden Steine verdauen. Und nun sinken sie sogleich dem stärkenden Schlafe in die Arme. Da ist von keinem Vergnügen die Rede. Dieses tritt bei den Burschen Dienstags und Donnerstags Nachmittags in seine Rechte; der Sonntag ist natürlich der Dritte im Bunde. Der Hausvater muß sich in der Regel mit dem letzteren Tage als dem Tage des Herrn im doppelten Sinne begnügen. Da wird dann freilich dem Gerstennektar Oberfrankens die gebührende Ehre erwiesen. Daß er dann dem Geiste Flügel ansetzt, indem er den Beinen schadet, mag wohl vorkommen. Wie sehr ist den braven Leuten solch’ erhebendes Gefühl zu gönnen!
So leben sie Tag für Tag, Jahr aus, Jahr ein, das Leben durch in Arbeit und Mühe, in Mangel und Entbehrung, schlichte, biedre Menschen, die uns die höchste Achtung vor der deutschen Arbeit abnöthigen. Sie haben sich diese Achtung auch in Amerika verschafft, wohin die Stürme der neuesten Zeit viele verschlagen; denn die Jahre 1848 und 1849 regten diese kernigen, markigen Naturen sehr auf und es fehlte damals nicht viel, daß sie der bestehenden Ordnung gefährlich geworden wären.
Ihre Tracht hat keine Erinnerung mehr an ihren slavischen Ursprung bewahrt, wie bei den Hummelbauern; sie sind eben städtische Land- und Gartenbauern. Die Frauen sind durchgehends bunt gekleidet und mit dem rothen Kopftuche versehen, dessen Zipfel in den Nacken herabhängen. Die abscheuliche fränkische Flügelhaube, „Bamberger Barthaube“ genannt, die man noch vor zwanzig Jahren zu sehen Gelegenheit hatte, ist jetzt gänzlich verschwunden. Die Männer gehen Sonntags und bei kirchlichen Feierlichkeiten in langem blauen Ueberrocke mit kurzer Taille und rundem schwarzen Filzhute; die Burschen in kurzen Jacken und Kappen. – Die Tracht verallgemeinert sich hier wie überall.
Die Häuser der Gärtner sind meist einstöckig und sehr einfach; nur die Reichen haben zweistöckige Häuser, in welche auch der moderne Luxus eingewandert ist. Der Aermere begnügt sich mit dem bescheidensten Mobiliar. Die Viehställe liegen stets in der Nähe und sind meist in musterhafter Beschaffenheit. An das Haus stößt der große Garten mit dem Ziehbrunnen, gewöhnlich von sehr alter Construction. Die Straßen der Gärtnerei sind begreiflicher Weise tagsüber zum Erschrecken leer und einsam. Selbst die Kinder wandern aus der Schule auf das Feld. Der Säugling schläft dort in einem Marktkorbe unter dem schnell improvisirten Dache eines umgestürzten Wägleins. So werden sie von Kindheit an an Wind und Wetter gewöhnt und abgehärtet. In die Arbeit werden sie gleichsam spielend eingeführt.
Die früheren urkräftigen Sitten und scharfeckigen Umgangsformen der Gärtner haben Zeit und fortschreitende Cultur gesänftigt und abgeschliffen, namentlich sind die Frauen auf dem Markte durch den steten Umgang mit allerlei Menschen sehr gewandt, freundlich und höflich. „Höflich?“ hör’ ich manchen Leser verwundert fragen; „die Bamberger Gärtnersfrauen haben ja weit und breit den [657] etwas zweifelhaften Ruhm des Gegentheils!“ Gewiß, es ist etwas an der Sache, es liegt diesem Ruhme, den wir besser Ruf nennen wollen, etwas Positives zu Grunde. Wenn sie untereinander oder mit Leuten ihres Standes verkehren, so ist ihre Wortstellung allerdings keine gewählte. Es hat sich bei ihnen noch jene specifisch deutsche Art unserer Vorfahren, sich schlicht und recht mit ungeschminkter Geradheit auszudrücken, erhalten, jene primitive, barocke, handliche Redeweise, die ihre aus der nächsten Umgebung genommenen Bilder und Vergleiche mit originell kräftigen Pinselstrichen hinstellt. Wie z. B. Martin Luther in seinen polemischen Schriften seine Gegner – und wenn sie Könige und Fürsten waren – in einer gar köstlich derben, mit kräftigen Brocken gewürzten, mit pikanten Speckstücken gespickten Sprache bediente, daß uns beim Lesen die Augen übergehen, so hat sich auch noch etwas von der ursprünglichen naiven Ungebundenheit der Altvordern in der Ausdrucksweise
der Bamber Gärtner erhalten. Sie wissen noch nichts von der Lüge der Civilisation, diejenigen am höflichsten zu behandeln, die man am wenigsten leiden mag. Sie sagen’s noch mit altdeutscher Biederkeit und angemessenen Worten, zuweilen sehr originell und drastisch, gerade heraus, wie’s ihnen um’s Herz ist. Gedanke und Wort ist bei ihnen eins; sie wägen nicht ab, sie wählen nicht, sie überlegen nicht, so daß es freilich in Franken zum Sprüchwort geworden ist: „ein Mundwerk haben, wie eine Bamberger Gärtnersfrau.“
Diese Originalität, die oft einen Kreis unparteiischer Hörer herbeilockt und mit Heiterkeit erfüllt, entspringt aus dem gerechten stolzen Selbstbewußtsein ihres Werthes, aus der übersprudelnden Fülle ihrer geistigen und körperlichen Kraft. Sie fühlen sich berechtigt, jede Ungebührlichkeit mit derben Worten zurückzuweisen. Wer so fleißig ist, wie sie, darf auch so – gerade heraus sein, wie sie. Das Letztere sind sie nie ohne Veranlassung. Im Gegentheil! Darum halt’ ich die Behauptung fest: sie sind höflich, freundlich, mittheilsam; nur reizen darf man sie nicht. Die Männer sind dagegen um so schweigsamer. Der Gärtner läßt sich selten in eine Unterhaltung ein. „Guten Tag, guten Weg!“ das ist Alles. Die Wahrheit „Zeit ist Geld!“ sitzt ihm in Fleisch und Blut.
Im Hause des Gärtners herrscht noch ein gut Stück patriarchalisches Regiment. Der Vater ist Herr im Hause. Frau und Kinder, selbst die erwachsenen, folgen ohne Widerrede seinem Befehle. Er ordnet die Arbeit an, er weist die Familienglieder nach dem Maße ihrer Kräfte ein. Die Strenge waltet vor und in ihr thut sich die Liebe kund, und die Familie hängt mit schmuckloser Innigkeit aneinander. Zu der Arbeit suchen Alle die größte Ehre. Knaben wetteifern, schwere Lasten auf dem Schiebekarren zu fahren; mit dem zwölften Jahre dreschen sie schon.
Im „Bamberger Hofe“ hatten wir die schönste Gelegenheit, uns vom unvergleichlichen Wohlgeschmack der Bamberger Gemüse und des fränkischen Fleisches zu überzeugen. Wir speisten mit einer Dame aus Coburg, welche mit vieler Erfahrung und Geschmack uns auf die Vorzüge der hiesigen Producte im Detail aufmerksam machte. Sie versprach uns, am folgenden Morgen unsere Begleiterin und Cicerona auf den Markt, in die Gärtnerei und auf die Felder zu sein. Einstweilen erzählte sie uns auf sehr anziehende und unterhaltende Weise von einem köstlichen, alljährlich im September abgehaltenen Volksfeste ihrer Vaterstadt, die Coburger Zwiebelkirmeß oder der Zwiebelmarkt genannt, welches vorzüglich von den Bamberger Gärtnersfrauen illustrirt wird.
Das muntere Coburger Stadtkind berichtete mit rührender Innigkeit und köstlichem Humor:
„Vom Spittelsthore bis zum Ketschenthore, den ganzen Steinweg und die Ketschenstraße entlang, sind da Berge von Zwiebeln, [658] Krautköpfen von fabelhafter Größe, Gurken, Sellerie. Lauch, gelben Rüben, Cichorien etc., mit einem Worte, der ganze Bamberger Gemüsereichthum in augenfälliger Anordnung aufgehäuft. Dazwischen die ehrenwerthen Bamberger Gärtnerfrauen in ihrer stolzen Würde, in ihrem anerkennungswerthen Selbstgefühl mit Wannen voll Obst und Weintrauben. Sie kamen mir in ihrer malerischen Tracht, in ihrer großen Beweglichkeit und Zungenfertigkeit in der Mitte dieser künstlichen, köstlichen poetischen Berge, die Auge und Nase zugleich ergötzten und Zunge, Gaumen und Magen noch größeres Ergötzen, angenehme Befriedigung, behagliche Sättigung versprachen, wie ländliche Musen in theatralisch aufgebauten Musenbergen vor, geschickt einen heutigen Virgil zu einer modernen Georgica zu begeistern. Und in der That hat es mich oft Wunder genommen, daß kein Bamberger oder Coburger Dichter uns mit einem großen Gedicht über den Gartenbau, nach Art des Virgil’schen über den Feldbau, beschenkt und darin all’ die classischen Erzeugnisse der Bamberger Flur, vorzüglich das Süßholz, verherrlicht hat.
„Die Maler sind da mehr dem Zuge ihres Herzens gefolgt. In der benachbarten berühmten Pommersfeldner Gemäldegallerie hängen unvergleichlich gute Stillleben, auf welchen die Bamberger Gemüse ihre künstliche Verherrlichung erfahren haben. Leider fehlen aber die ruhmreichen Gärtnersfrauen auch auf diesen Bildern, die doch durchaus zu Kohl und Kraut gehören, wie Daphne zum Lorbeerbaume. Dadurch kommt die Nachwelt um die richtige Vorstellung von der majestätischen Flügelhaube, die diesen interessanten Frauen ein so imposantes Ansehen gab, und die in meiner Erinnerung ganz mit ihnen verwachsen ist.
„Welch ein buntes Leben und Weben in den Straßen und in den Häusern, in Höfen und Ställen! Welch ein malerisches, stets wechselndes Treiben der Landleute und Städter! Alle Welt kauft ein für den Winter. Zwiebeln und Kraut werden in ungeheuern Säcken verladen. Der ganze große Markt ist in Bratwurstdampf und Duft gehüllt. Die wurmartig gefüllten Därme schmoren und broddeln aus den Rosten. Alle Welt schmaußt Bratwurst und Gurkensalat. Mit dem Dufte der Bratwürste mischt sich der der Gemüse, welcher alle Straßen erfüllt. Ganz Coburg riecht wie Bamberg, und der strengste Stoiker würde dadurch verführt werden, selbst auf die Gefahr einer Indigestion, über den Appetit zu essen. Alle Welt in den Häusern der genannten Straßen ladet ein, bäckt Kuchen; die Kaffeemühle schnarrt in jeder Küche, der Kaffeekessel wallt dazu, Tassen klappern; hie und da versteigt man sich zur Chocolade. Das Mundwerk bleibt nicht hinter Mühle und Kessel zurück. Das schwatzt, schnattert, lärmt, feilscht, schreit, lacht, schimpft, jubelt in den Häusern, auf der Straße, und das starke Bier verstärkt das Brausen des allgemeinen Chorus. Aber die Stimme der Bamberger Gärtnerin übertönt alles Geräusch. Die Flügel ihres Hauptes sind Symbole der Flügel ihres Stimmorgans.
„Das ganze Coburger Ländchen freut sich auf die Zwiebelkirmeß; sie ist das schönste Volksfest im Jahre, und den Kindern ist sie das Vorspiel des Weihnachtsfestes. Wir kleine Welt hatten kein Interesse an Zwiebeln und Kraut, unsere Kindsköpfe dachten nur an das Bamberger Süßholz. O, Du, gleich der Zauber- und Springwurzel des Märchens, Sehnsucht der Kinderseele, helle, köstliche Freude der Unschuld! Süßholz, unvergeßliches Wort, das mir noch heute den schönsten Traum der Kindheit vor das innere Auge zaubert! Süßholz und Johannisbrod, Du Dioskurenpaar am Jugendhimmel!
„Die oft mannslange Wurzel des Süßholzes ist entweder in Kränze oder Peitschen geflochten, jene für die weibliche, diese für die männliche Jugend. Die Kränze haben die Form der Dornenkronen auf dem Eccehomo oder dem Bilde des Gekreuzigten, aber so wie sie ohne Dornen, so sind die Peitschen ohne Strick. Köstliche Mädchenlust mit der Süßholzkrone im flatternden Haare durch die Straßen zu laufen. Köstliche Knabenlust, sich mit der Süßholzpeitsche gegenseitig einige Hiebe zu versetzen, und dann aus Krone und Peitsche gemeinschaftlich den bittersüßen Saft zu saugen! Dorn und Strick fügt das spätere Leben hinzu, und läßt allein die Bitterkeit zurück. O könnten doch alle Dornenkronen und Peitschen, mit welchen wir großen Kinder beglückt werden, auf so genußreiche Weise beseitigt werden!
„Schön ist der Zwiebelmarkt bei schönem Wetter, aber noch interessanter ist er bei schlechtem. Regnet es, was vom Himmel will, und dies ist oft der Fall, so heißt der Markt „die Zwiebelsuppe.“ Der flüssige Koth, worin alle möglichen Gemüseblätter, Wurzeln und Süßholzstückchen als Brocken schwimmen, reicht bis an’s Schienbein; Regenschirm steht an Regenschirm; die Ketschengasse ist nicht breit; hüben und drüben die Bamberger mit ihren Miniaturchimborasso’s von Gemüsen, in der Mitte der Weg so vollgestopft, daß sich Niemand bewegen kann. Lachen, Lärm, Fluchen und Jauchzen in der breiten fränkischen Mundart. Plötzlich ein improvisirtes Drama! Originelle saftige Ausdrücke, eine Fluth von Schimpfwörtern, Gelächter, Beifallsruf; darauf lauteres Rufen, kühneres Schelten, homerische Wendungen und homerisches Gelächter. Beifallssturm. Alles laut und lauter, drastisch farbenfrisch, poetisch prächtig. Und der Kern des Volksschauspiels? Eine Bambergerin weist auf ihre nationalkräftige Weise das Mindergebot eines Bauers aus dem Itz- oder Lautergrunde zurück.
„Die Coburger Damen an den Fenstern sind ungemein geputzt; die kleinen Jungen haben die Sonntagshosen und Jacken an; die Mädchen weiße Kleider mit grünen Schärpen. So werden sie massenweis in Reih und Glied zur wohlthätigen Fee geführt, die Kronen und Peitschen an sie vertheilt und Aepfel, Birnen, Pflaumen und Weintrauben hinzugefügt. Alles schwimmt in Lust und Freude. Der Herbst schüttet durch die Hand seiner Gesandtin, der Bamberger Gärtnersfrau, sein ganzes Füllhorn über Coburg aus. Und ich sollte euch nicht lieben, ihr wohlthätigen Feen, die ihr mir die schönsten Stunden meiner Jugend geschenkt habt? Wahrlich, heute möchte ich mit Thränen der Rührung im Auge ausrufen: „Schöner Traum der Kinderjahre, kehr’ noch einmal mir zurück!“
Am andern Morgen gingen wir früh auf den Markt. Noch ein Begleiter hatte sich zu uns gefunden, mein trefflicher Landsmann, Meister Eduard Schade, der rühmlich bekannte Maler aus der Schmit’schen Kunstanstalt. Da saßen sie schon, so weit uns das Auge trug, bis über die untere Brücke in die jenseitige Stadt hinein, eine bunte lachende Reihe, die trefflichen Gärtnerinnen. Waare und Verkäuferinnen waren um die Wette preiswürdig. Aber auch uns lachte die helle Freude aus den Augen, und der Mund lief uns voll Wasser über die herrlichen Erzeugnisse der Gartenkunst. Wir plauderten mit den stattlichen Frauen; wie köstlich standen sie uns Rede! Wie verständig waren ihre Worte! Wie dienstwillig zeigten sie sich uns! Sie sprachen von ihren Kindern, von ihrem Vieh. Die Eine hatte einen blonden Knaben im Korbe neben sich schlafend liegen. Sie sagte, es gäbe kein größeres Glück, als ein paar hübsche Kinder und ein paar hübsche Milchkühe. Sie hatte Beides; sie war glücklich. Endlich hatte ich einen glücklichen Menschen gefunden; ich strich den Tag in meinem Kalender roth an.
Vom Markt gingen wir in die Gärtnerei. Wir traten mit seltner Befriedigung in die einfachen Wohnungen dieser durch nützliche Arbeiten glücklichen Menschen. Sie führten uns in die Gärten und zeigten uns die Cultur der Gemüse. Wir wurden äußerst freundlich über Natur und Wesen, über Wartung und Pflege dieser Küchengewächse belehrt. Unsere Coburgerin verstand es, die Leute, die sonst etwas mißtrauisch gegen Fremde sein sollen, zutraulich und gesprächig zu machen. Was sie begonnen, vollendete Dr. L. So hatten wir einige sehr genußreiche Stunden. Meister Schade zeichnete die Gärtnersleute für mich, wie sie das Gemüse putzen und für den Markt verladen. – Scheidend drückten wir ihnen die Hände, sie waren so hart von Schwielen wie eiserne Zangen.
Nachmittags ließen wir uns in die Felder hinausführen, die von den Eisenbahnen durchschnitten sind. Sie dehnen sich weit aus bis an den Hauptsmoorwald und den Breitenauer See, eine Ebene, deren hohe Cultur durch tausendjährigen Fleiß erstrebt war, und die ich mit ähnlichen erfurchtsvollen Gefühlen durchschritt, wie früher das Leipziger Schlachtfeld.
Ueberall fleißige Menschen und überall die Früchte, die die gütige Allmutter ihrem Fleiße grünend und blühend, üppig geschwellt und fleischig nahrhaft darbot. Wie viele Tausende werden davon gesättigt, gelabt, vergnügt! Die Sonne sank hinter die Altenburg und verklärte scheidend die schöne Stadt und das grüne Gartenfeld. Die Vesperglocke ertönte. Der Spaten entsank den Händen, damit sie sich falteten. Auch ich betete: „Aller Augen warten auf Dich, Herr, und Du gibst ihnen ihre Speise zu seiner Zeit.“ – Meister Schade zeichnete die Scene.
[659]Es dürfte nichts schaden, dann und wann wieder an jene Zeit zu erinnern, in der Deutschland durch Selbstvergessenheit schwach und in die tiefste Schmach fremder Unterjochung gesunken war. Innere Feinde bedrohen jetzt jenes stolze Selbstbewußtsein, durch welches wir uns erhoben und gerettet haben. Aus politischer Uneinigkeit, die der deutschen Verfassung und leider auch dem deutschen Charakter so nahe liegt, waren wir einer fremden Macht verfallen; doch unter diesem Drucke, ja durch ihn befördert, nahmen die geistigen Kräfte unserer Nation ihren schönsten und mächtigsten Aufschwung. Wir verstanden und erkannten uns von innen heraus durch Sprache, Poesie, Wissenschaft, freie Forschung und höhere Ueberzeugungen, und mit dieser einigenden Macht warfen wir den fremden Druck ab, und entzogen uns dem fremden Einflusse. Und bei dieser Macht müssen wir uns aufrecht halten gegen Alles, was die Seele der Nation verwirren, unsere geistige Einheit entzweien könnte oder möchte. Aus politischer Entzweiung konnten wir zu geistiger Einheit, — aus geistiger Entzweiung aber würden wir nie zu politischer Einheit gelangen.
Diese Betrachtung, die sich hier nicht weiter ausführen läßt, brachte in ihrem Ausgangspunkte den Verfasser auf jene Erinnerungen an die westphälische Zeit zurück, auf jene Mitteilungen, die er während eines Sommeraufenthaltes in Kassel gesammelt hatte. Manches davon ist durch poetische Umwandlung in Fleisch und Blut seines Romans: „König Jerome’s Carneval“ übergegangen, Vieles ist nicht verwendet worden, und so dürfte das Ganze für viele Leser der Gartenlaube, die mit Liebe an der Geschichte unseres schönen Vaterlandes hängen, nicht ganz uninteressant sein.
Ehe wir auf die Schilderung einzelner Zustände und Persönlichkeiten eingehen, müssen wir, um dieselben richtig würdigen zu können, vor Allem einen Blick auf das Land werfen, und die Leistungen ermessen, die demselben zugemuthet wurden.
Jerome bekam einen Staat zugemessen von noch nicht zwei Millionen Einwohnern, vom Kriege heimgesucht und von fortwährenden Truppendurchzügen gedrückt, mit einer Staatsschuld von mehr als 100 Millionen Franken belastet; die Gewerbthätigkeit gehemmt, die Fabriken nur mittelst Opfern von Seiten der Regierung aufrecht erhalten; — ein Land, dessen Geldquellen auf Getreide- und Wollenausfuhr neben einigem Durchgangshandel beruhten, — Erwerbszweige, die durch den Seekrieg so gut wie vernichtet waren.
Der junge Staat brachte schon von seiner Geburt eine große Schwäche mit, — neben der großen, durch Contributionen aus der Kriegszeit erwachsenen Landesschuld auch noch verminderte Domänen, da die Hälfte dieser Staatsgüter vom Kaiser Napoleon zu Belohnungen für seine Generale zurückbehalten war. Dennoch mußte aus dem neuen Königreiche alsbald eine bewaffnete Macht von zehntausend Mann Infanterie, zweitausend Mann Cavallerie und fünfhundert Mann Artillerie errichtet werden, und ein Armeecorps von 12,500 Mann Franzosen, als Garnison von Magdeburg, gekleidet und besoldet werden, wobei die Kriegscommissaire den Zuschnitt auf Kosten des deutschen Landes machten. Dies Land aber bildete zur Zeit noch die Verbindungslinie zwischen Frankreich und den von den Franzosen besetzten preußischen Festungen, dem Militairdepôt zu Danzig und dem Großherzogthume Warschau, so daß Durchmärsche, Einquartierung, Vorspann u. dgl. fast nie aufhörten.
Dies war das Glück eines Landes, das doch der Fremdherrschaft befreundet, dessen Regent mit dem großen Despoten verbrüdert war. Und während die Abgaben, die zur Bestreitung solcher Lasten oft mit aller Härte beigetrieben wurden, das Land physisch erschöpften, konnte der Gebrauch, den Jerome von seinem Antheil des Aufkommens machte, nicht anders als verderblich auf die Sittlichkeit und auf die Zufriedenheit des Volkes zurückwirken.
Der König bezog zur Unterhaltung seiner Familie und seines Hofes eine jährliche Civilrente von fünf Millionen Franken, die später, beim Zuwachs einiger hannoverscher Länder, auf sechs Millionen erhöht wurde. Mehrmals zog aber auch dieser Kronschatz noch Capitale und Grundstücke an sich, die dem Staate gehörten, und Jerome verwies wohl auch Forderungen an seine Person auf die Staatscasse. So hatte er, um in Frankreich sich von seinen Schulden zu lösen und als König in seinem Westphalen zu erscheinen, zwei Millionen geborgt, die er nun aus der Staatscasse zurückzahlen ließ.
Ein unangemessener Prunk und Aufwand des Hofes, so angenehm er den Residenzbewohnern in die Augen und in die Taschen fiel, gab doch im Lande vielfaches Aergerniß. Er beleuchtete die Noth des Volkes, steigerte den heimischen Adel in seinen Ausgaben, und enthüllte die fremde Sittenlosigkeit im Lichtglanze des Thrones.
Jerome, unter der gebieterischen Gewalt des kaiserlichen Bruders in seiner Macht beschränkt, suchte sich durch den Glanz und Genuß einer ihm über Nacht zugefallenen Krone zu entschädigen, wie es eigentlich auch seiner sinnlichen Jugend und leichtfertigen Bildung mehr zusagte. Lustige Gesellen seiner ausgelassenen Jahre und reizende Damen des Hofes standen zunächst in dem vergoldeten Glanze, — Männer von untergeordneter Herkunft, die er durch Hof- und Staatsämter erhöhte, und Frauen des besten deutschen Adels, die er durch seine Zumuthungen erniedrigte. Jene, vielleicht, wie er selbst, mit erborgtem Reisegelde gekommen, ließen sich große Gehalte gefallen; diese gefielen sich in seiner verschwenderischen Galanterie.
Jerome war im December 1807 auf Wilhelmshöhe bei Kassel eingetroffen, und beging sein erstes königliches Christfest mit Schenkungen und Rangverleihungen aus der reichen, der Krone heimgefallenen Hinterlassenschaft einer kürzlich ausgestorbenen Adelsfamilie.
Alexander Le Camüs, angeblich Pflanzer von der Insel Martinique, wo ihn Jerome auf einer Expedition kennen gelernt hatte, erhielt die Dotation des Gutes Fürstenstein mit dem Grafentitel. Ein stattlicher Mann, mehr gravitätisch, als leicht und vornehm in seinen Manieren, etwas gesucht in seinen Redensarten, aber beschränkten Geistes, wurde Oberkammerherr und Minister des Auswärtigen.
Ein von derselben Expedition zur See mitgebrachter Schiffslieutenant, Namens Salha, wurde zum Grafen von Höne befördert, Pagengouverneur, Großhofmeister der Königin und Kriegsminister, blieb aber etwas unbehülflich in diesen wechselnden Stellungen und zuweilen etwas matrosenhaft im Benehmen.
Gegen diese und andere Lieblinge Jerome’s wurden die Deutschen keineswegs zurückgesetzt. Im Gegentheil, sie waren um ihrer Kenntnisse willen im höheren Staatsdienste gar nicht zu entbehren, und für die Hofämter blieben Männer und Frauen von altem Adel höchst erwünscht. Sie verliehen dem neuen Hof ein altes Ansehen, und waren gut genug, den Emporkömmling hervorzuheben. Edelsteine geben auch einer Krone von unechtem Golde, bis sie etwa verkauft wird, einen scheinbaren Werth. Nur zu den recht lustigen Gelagen, wenn der König wieder einmal der alte ausgelassene Jerome sein wollte, wurden die französischen Günstlinge vertraulicher gefunden. Doch nennt man auch einen deutschen Grafen von fürstlichem Namen, den er als die Krone der Zechgesellschaften bezeichnet. Der Spaßmacher dabei war aber ein Franzose — Duchambon, Schatzmeister der Civilliste, ein Mann bei Jahren, früher emigrirter Ludwigsritter, eine groteske Figur mit rother Nase, die er sich angetrunken hatte, und die ihm Abends als Leuchtkäfer diente, wenn er in den unsaubern Gäßchen der Altstadt sich eine Geliebte suchte. Die Flasche verschaffte ihm den Karfunkel, mit dem sich ein „Schatz" heben ließ.
Die Hofdamen waren von anerkanntem Adel, wie es die Rücksicht für die Königin aus altfürstlichem Hause erforderte. Wir nennen nur die Gräfin Bocholz, eine Thusnelde aus den westphälischen Wäldern, nicht mehr die jüngste, aber noch immer von kraftvoller und majestätischer Anmuth; die Gräfin Pappenheim, mit einem Kalmückennäschen in reizendem Gesicht, Sylphide von Geist und Anmuth; die Gräfin Obenegg, die mit edelm Ausdruck von Leidenschaft und Treue an Heloise erinnerte, die ihren Abälard sucht; die Gräfin Truchseß-Waldburg, auch nicht mehr ganz jung und etwas stolz, liebenswürdig und geistreich, mehr hübsch als schön, mehr ehrgeizig als hingebend, machte sich durch Einmischung in die Staatsgeschäfte dem König unbequem, und ward bei Gelegenheit eines Neigungswechsels desselben auf Betrieb der französischen Partei, wie ihr Freund Bülow, verbannt.
Nur eine Bürgerliche von Herkunft unter diesen Damen that sich dafür durch ihre Schönheit hervor.
[660] Als nämlich Jerome nach seiner erwähnten Expedition zur See aus Baltimore, wohin er vor den Engländern geflüchtet war, zurückgekehrt, seine dort genommene Frau, Elisabeth, Tochter des Großhändlers Patterson, auf des Kaisers Befehl aufgegeben hatte, erhielt er den Auftrag, die in Algier gefangenen Genuesen vom Dey zurückzufordern. Es gelang, und er brachte 250 solcher Unglücklichen nach Genua. Hier, von dem Schimmer eines vorübergehenden Heldenthums umstrahlt, lernte er die schöne Frau seines Gastwirthes La Flêche kennen, eines Kaufmannssohnes aus Marseille, — Bianca, eine geborne Carrega, groß und stark von Gestalt, Kopf und Gesichtsbildung einer griechischen Antike, mir dem blendenden Teint einer Creolin. Nach zwei Jahren, als Jerome König von Westphalen geworden war, zog La Flêche mit der Frau nach Kassel über. Er mochte als Kaufmann schlechte Geschäfte gemacht haben und versuchen wollen, mit seiner schönen Frau bessere zu machen. Wenigstens wird erzählt, daß er zum Staatsrath und Intendanten der Civilliste mit dem Rang eines Barons von Keudelstein ernannt, so unbesonnen ausgezahlt, als früher ausgegeben habe. Es fehlten ihm endlich 100,000 Franken in der Casse, und seine liebenswürdige Bianca mußte in den Riß treten, und den König dahin bringen, daß er die Kleinigkeit übersah. So hatte die herrliche Frau in manche harte Nuß zu beißen. Wie schwer muß es ihr schon geworden sein, mit ihrer bezaubernden Stimme, mit der sie einst sich Bianca Carrega genannt hatte, jetzt ihren Namen und Rang als — Baronin von Keudelstein auszusprechen!
Wenn es nun auch wahr wäre, daß Jerome schöne Blumen nicht nur gern gesehen, sondern auch gern berochen habe: so dürfen wir darum doch nicht Alles glauben, was die Lästerchronik von der schmählichen Hingebung deutscher Frauen, selbst des ersten Adels, erzählt. Sie sahen freilich auch ihre Männer sich bücken und vergessen, und es war so verlockend, seiner persönlichen Würde nicht zu achten, um liebe Angehörige und theure Freunde zu befördern; es war so ’was Apartes, einen magern, blassen, etwas olivenfarbigen König zu lieben, der so reiche Geschenke machte, und so gern zu Gevatter stand. Wir wollen daher auch nichts von den oft so pikanten Liebes-Intriguen, von so manchem köstlichen Quidproquo berichten. Nein, wir wollen lieber zu den 50 echten Shawls greifen, die Jerome auf einmal von Paris zu Geschenken, im Werth von 12 bis 1500 Franken den Shawl, kommen ließ, und wollen, so viele dazu nöthig sind, über die entblößten Schultern dieser Comtessen, Baronessen und Demoisellen werfen, die eben manchmal so schwach waren, sich lieber zu putzen, als zu schämen.
Doch es gab noch stärkere Unterschiede der Auszeichnung. Jerome liebte es nämlich, sein Bild, mit Diamanten besetzt, einzelnen Frauen zu verschenken, die es dann auf der linken Brust trugen, wahrscheinlich als ein Aushängeschild, als ein Bekenntniß des Herzens. Noch höher aber stand ein ausdrücklich für Frauen gestifteter Orden mit dem Sinnbilde zweier überkreuzliegender Schwerter, ebenfalls mit Diamanten besetzt, — eine Auszeichnung, wie es scheint, der Tapferkeit im Kampfe der Liebe. Zwei Schwerter überkreuz deuten auf „pariren“, was bekanntlich nicht blos „einen Angriff abwenden“, sondern auch „gehorchen“ „sich fügen“ ausdrückt. Nebenher wurden auch bloße Schmucksachen von verschiedenem Werthe verschenkt. So weiß man von dem Diamantenschmuck, den eine Gräfin erhielt, und der auf 16,000 Francs geschätzt wurde.
Der Shawls und Diamanten wird denn auch ausdrücklich in einem französischen Spottgedichte gedacht, das nach der Schlacht von Leipzig, bei Jerome’s Flucht, auskam und nach der Melodie: Bon voyage, Monsieur Dumolé gesungen werden konnte. Darin sangen die französischen Palastdamen:
Partons, partons en dilligence,
Sauvons nos châles, nos diamants!
Jerôme se retire en France.
zu deutsch:
Fort, fort mit Post und guten Rappen!
Packt ein die Shawls und Diamanten,
Denn Jerome macht sich aus den Lappen!
Bei so vieler Aufmerksamkeit für liebenswürdige Damen versäumte jedoch Jerome durchaus nichts von liebender Aufmerksamkeit für die Königin. Nur eine wunderliche Artigkeit könnte befremden. Es war nämlich eine Liebhaberei von ihm, seiner geliebten Trinette, wie er Katharina gern nannte, die Nägel der Finger zu beschneiden. Die Königin, zu vornehm von Herkunft, zu unbefangen von Gemüth, lächelte dazu, ohne einen Argwohn gegen diese seltsame Zärtlichkeit zu fassen. Ohne Zweifel war es aber eine Angewöhnung Jerome’s aus früheren Liebschaften, wo er es aus Vorsicht räthlich gefunden hatte, einer Geliebten in günstiger Stunde — voraus für Augenblicke der Eifersucht — die Nägel zu stutzen.
Jerome’s lustige Verschwendung beschränkte sich aber keineswegs auf persönliche Genußsucht; sondern sie erwies sich prunkhaft und mittheilsam. Wir übergehen das Theater der Residenz, auf welchem freilich einige frühere Theaterbekanntschaften, wie Clara Lacome, Adele Louis und andere ihm selbst näher, als dem Publicum standen; so daß sie von der Bühne in seine Loge steigen konnten, um im leichten Costüme ihrer Rollen seinen hohen Beifall persönlich zu empfangen. Aber einen rechten Spielraum für seine prunkende, mittheilende Lustigkeit fand er an den Hofmaskenbällen.
Wohl tausend Billets für Damen und Herrn wurden vom Großmarschall des Palastes, Meyronet, Grafen von Wellingerode, in des Königs Namen zwar ohne Unterschied des Ranges ausgegeben, jedoch bei der Auffahrt um 7 Uhr Abends wiederholt controlirt, — hier am Eingang in das Schloß und beim Betreten der drei großen Säle. Der König und die Königin eröffneten jedesmal den Ball mit einer Française. Dann stahl sich Jerome in seine Gemächer, und kehrte in wechselnden Maskenanzügen zurück. Von seinen Cavalieren ließ er sich diejenigen jungen Damen zeigen, die etwas französisch sprachen, und sobald er Einiges von ihren Familienverhältnissen wußte, ging er darauf aus, sie zu necken und sich zu unterhalten.
Um zwei Uhr nach Mitternacht wurde im großen Speisesaal an doppelten Hufeisentafeln zu Nacht gespeist. Frugal konnte man nicht sagen; denn es herrschte der größte Aufwand, und die Gäste benahmen sich mit aller Maskenfreiheit im Zugreifen. Es kam vor, daß französische und deutsche Herren den Champagner in Dutzend Flaschen verlangten, und sie wurden auf’s Artigste bedient. Aber über alle Gebühr hinaus ging doch einmal eine große Maske in elegantestem Domino. Sie trat an das Büffet, besah sich die aufzutragenden Speisen, ergriff dann rasch eine Serviette, deckte sie über eine kostbare Auerhahnspastete, und eilte mit dem Raub unterm Domino der Thüre zu. Hier von einem Lakaien angehalten, gab sich ein Herr zu erkennen, der an seinem eignen Tische wie oft eine solche Pastete hätte haben können. Auch hatte der Diener soviel Respect vor ihm, daß er ihn mit den Worten ziehen ließ: „Dürfte ich mir nur die Serviette zurück erbitten?"
Einmal an einem kleineren solchen Abende stand in einem der Säle eine Bude aufgeschlagen, und erregte verwunderte Neugier. Sobald die Gäste beisammen waren, erschienen, als Handelsleute maskirt, der König und die Königin. Die Bude wurde geöffnet, und ein Reichthum von Schmucksachen, Uhren, Dosen, Ringen und Ketten war ausgelegt. Während man staunte, was damit werden sollte, trat ein Minister hinzu, handelte um eine goldene Repetiruhr, aber mit der Entschuldigung, daß er eben kein Geld bei sich habe. Die Königin übergab ihm sehr freundlich die Uhr, und der König trug den Preis in ein großes Contobuch. Jetzt begriff man das Geschäft, und es läßt sich denken, daß die Sachen reißend Abgang fanden.
Die Hofdame Frau von Schele aus Hannover, die bei jedem Anlasse sich gern mit Stellen aus deutschen Dichtern hören ließ, brachte sehr glücklich aus Schiller Lied „An die Freude“ den pathetischen Vers an:
- „Unser Schuldbuch sei vernichtet!“
Mancher, der nicht das Kostbarste erwischt hatte, mag dagegen vertraulich gespottet haben, — wie gut sich doch Jerome in einer Bude ausnehme.
Es war nämlich die Meinung verbreitet, Jerome habe während seines Aufenthaltes in Baltimore bei seinem Schwiegervater als Commis gestanden. Ohne Zweifel eine schalkhafte Erfindung! Denn Jerome war als französischer Flottencapitain nach Martinique gesegelt und als solcher, auf seiner Flucht vor den Engländern, nach Baltimore gekommen. Ob er sich hier bei seiner Bewerbung um Miß Elisabeth Patterson auch ein wenig in Handelsangelegenheiten gemischt habe, steht dahin.
Es konnte nicht fehlen, daß solch ein üppiges, verschwenderisches Hofleben, ob günstig oder mit Mißbilligung angesehen, gerade in Kassel besonders stark in die Augen fiel, weil es auf dunklem Hintergrunde des früheren Hofhaltes doppelt glänzend erschien, und von [661] der trüben, gedrückten Atmosphäre der kriegerischen Zeit umgeben war. Man hatte sich unter dem entflohenen Kurfürsten entwöhnt, den geringsten fürstlichen Aufwand zu erleben, und nicht der eingefleischteste Hesse hätte sich einmal träumen lassen, fürstlich beschenkt zu werden. Nur die ältere Generation erinnerte sich noch des prunkhaften Hoflebens unter dem Landgrafen Friedrich, dem katholisch gewordenen Vater des jetzt vertriebenen Herrn. Aber auch gleich nach Friedrichs Begräbniß hatte der sparsame Sohn allen heitern Aufwand entfernt, ja, man konnte sagen, verschworen. Von den ehemals strahlenden Kronleuchtern wurden die Wachskerzen jetzt einzeln, in zwei getrennten Wohnungen, der Kurfürstin und des Kurfürsten, verbrannt. Im Bellevue-Palais des Regierenden wurde ein einfaches, zurückgezogenes Privatleben geführt. Selbst der Kurhut, der vor etlichen Jahren sehr vergnügt mit so viel Pomp in Empfang genommen worden, zeigte der Residenz und dem Lande jetzt nur seinen dunklen Filz. Unter ihm war die Dienerschsft gering und oft knauserig bezahlt gewesen, die Handwerker und Händler mithin an ärmliche Beamte gewiesen. Es läßt sich denken, auf welche Sparsamkeit das Residenzleben eingerichtet war, und wie genügsam der Staatsdiener, dessen arbeitsamer Tag regelmäßig hinter einem Teller saurer Milch unterging, seine häuslichen Feste ordnete.
In solche Häuslichkeit und Genügsamkeit hinein blendete nun der üppige französische Hof. Glanz und Genuß wirkten aufregend und verlockend; die alte anspruchlose Gemüthlichkeit zog sich allmählich zurück, und ließ ein Pariser Restaurationsleben mehr und mehr um sich greifen. Zunächst nöthigte der prachtliebende Hof die ihn umgebenden höheren Kreise der Gesellschaft zu einem entsprechenden Aufwande. Die einreißende Genußsucht steigerte den lebhaftesten Ehrgeiz; nicht jenen Ehrgeiz, der in einem schwungvollen, freien Staatsleben seine Befriedigung sucht: solche Bahnen gab es hier nicht; sondern es war jener gemeine Wetteifer, bei spärlichen Hülfsquellen eignen Besitzthums in der königlichen Huld, durch ergiebige Aemter, die Mittel des Aufwandes zu gewinnen, den der Mitgenuß eines prunksüchtigen Hoflebens erforderte. Die Einen ängstigten sich um ihre Existenz, die Andern strebten nach Beförderung. Es war jener Ehrgeiz, der den Charakter erniedrigt, indem er den Menschen dahin bringt, durch Sitten- und Gesinnungslosigkeit zu Gunst und Einfluß zu kommen.
Die prunkende Genußsucht des Hofes breitete ihre Verlockung immer weiter aus, bis in die untern Classen der Residenz. Dem Volke nämlich wurden Abfälle des Freudenlebens gegönnt. Familienfeste des Königs setzten, durch Jerome’s Freigebigkeit, an öffentlichen Orten lustige Volksfeste ab. Und daß außerdem Gaukler aller Art, Menageriebesitzer, Kunstreiter, Raritätenführer, Possenreißer einer so fröhlichen Residenz unaufhörlich zuströmten, läßt sich denken.
Zu den einheimischen Vergnügungen gehörten, neben dem glänzenden Theater, das mit Schauspiel, Oper und Ballet das ganze Jahr hindurch bestand, zur Zeit des Carneval die stark besuchten Maskenbälle im Theaterraum. Aber die Maskenlust hielt sich nicht immer innerhalb dieser Wände. Und so sah man eines Fastnachtdienstags eine wunderliche Maskerade von dort aus durch alle Straßen der Stadt ziehen.
Ein großer Korbwagen, von Frauenspersonen gefahren, eröffnete den Zug von Verkleidungen aller Stände, die einen Hanswurst mit sich führten. Die Schauspieler, einen Riesen in ihrer Mitte, hatten den großen Decorationswagen eingenommen, und zogen in ihren tollen Vermummungen noch ein buntes Gefolge der lächerlichsten Figuren hinter sich her, — Schäferinnen in Reiterstiefeln, Soldaten in Unterröcken u. dergl. Hinter denselben her trieben maskirte Metzgergesellen einen aufgeputzten Fastnachtochsen. Diesem folgte die Leiche des selig entschlafenen Carneval, im Schlafrock auf offener Bahre, und dahinter ein Zug von maskirten Leidtragenden. Zwei Gensd’armen zu Pferde geleiteten den ganzen Aufzug.
Dieser machte Halt am Palaste des Königs und Jerome schenkte 40 Louisd’or und einen Freiball zum Vergnügen des Tages. Dann setzte die Maskerade ihre Besuche vor den Wohnungen der Minister und Großbeamten des Hofes fort, um auch hier — Trinkgelder einzutreiben.
Nach allem dem wagen wir es nicht, unsere Leser noch zu den Nachtpartien, den sogenannten parties fines, bei Hofe und eben so wenig zu den Orgien reicher Wüstlinge zu führen, wohin wir eben — wenn wir nicht irren, zum Banquier J. B. — mehrere leichtfertige Theatertänzerinnen in Mänteln gehen sehen. Auch eilen wir an der Wohnung der sogenannten schwedischen Gräfin in der obersten Gasse vorüber, — einer jungen Dame, deren Leichtfertigkeit sprüchwörtlich geworden. Eben so wenig wollen wir uns mit dem Räthsel befassen, wozu wohl die elegante Frau von Steinbach nach Kassel gekommen sei und welches Anliegen sie bei Hofe durchzusetzen beabsichtige.
Wir sehen ohnedies schon, der Zustand bereitet sich vor, den ein Zeitgenosse mit den energischen Worten schildert:
„Die Steuerpflichtigen zahlen nicht mehr, die Beamten erschlaffen, die Soldaten verlieren den Muth, die Minister schlafen ein, der König amüsirt sich, — die ganze Bescheerung geht zum Teufel!“
Und doch hatte diese glänzende Vorderseite noch etwas Bestechendes für Viele; es gab aber noch eine Rückseite, noch eine Nachtseite jener glänzenden Wirtschaft, die einen allgemeinen Unwillen erregte. Wir meinen die geheime Polizei.
Ich war sechs Jahre in der Schweiz und hatte noch keine Landesgemeinde gesehen. So oft war ich gefragt: Sind Sie noch auf keiner Landesgemeinde gewesen? Ich hatte verneinen müssen. So oft ich mich auch danach gesehnt hatte, eine zu besuchen, es war mir nicht gelungen. Wie viele Hindernisse treten Einem meist gerade bei Kleinigkeiten entgegen! Und eine Reise zu der nächsten Landesgemeinde war eine so große Sache nicht.
Da besuchten Sie, mein lieber Keil, mich in diesem Sommer. Und wie wir von Allerlei in der schönen, freien Schweiz sprachen, so sprachen wir auch von den Landesgemeinden, und auch Sie fragten mich, ob ich noch auf keiner gewesen sei, und wunderten sich, daß ich Ihnen nein antworten mußte. Aber erzählen mußte ich Ihnen, was ich davon wußte, und wie wenig ich auch aus eigener Anschauung davon erzählen konnte, es kam doch heraus, in Deutschland wußte man von der Sache fast gar nichts. Sie forderten mich daher dringend auf, die nächste Landesgemeinde in der Schweiz zu besuchen und Ihnen davon für die Leser Ihrer Gartenlaube eine Beschreibung zu geben. Ich versprach es Ihnen.
In Ihrem ersten Briefe nach Ihrer Rückkehr in die Heimath erinnerten Sie mich an mein Versprechen. „Vergessen Sie „„die Hündli““ nicht,“ schrieben Sie mir.
„Die Hündli!“ Ich hatte Ihnen die Geschichte erzählt. Aber die Leser Ihrer Gartenlaube kennen sie nicht, und da Sie denn doch diesen Brief mittheilen wollen, so muß ich sie hier wohl noch einmal erzählen.
Vor einigen Jahren wollten die regierenden Herren des Landes Glarus eine Hundesteuer einführen. Gott weiß, wie sie auf den modernen staatsmännischen Gedanken kamen. Noch verwunderlicher war es, daß die Mehrheit der bedeutenderen Fabrikanten des Cantons — der Canton Glarus gehört zu den verhältnißmäßig gewerbreichsten Cantonen der östlichen Schweiz — für die Sache war. Die Regierung machte daher für die nächste Landesgemeinde die Vorlage, und man war um so gewisser, daß kein Widerspruch erfolgen werde, als außerhalb jener gewerbreichen Orte nur wenige Hunde gehalten wurden, die Steuer auch eine geringe war. Die nächste Landesgemeinde kam. Der regierende Landammann brachte den Antrag vor. Er machte ihn in einem populären Vortrage seinen „lieben Mitlandleuten“ plausibel. Er sprach die Hoffnung aus, daß Jeder, der einen Hund zu halten vermöge, auch gern die paar Centimes zu einer Steuer bezahlen werde, die zu wohlthätigen, von ihm näher auseinandergesetzten Zwecken verwendet werden solle.
Es entstand kein Widerspruch. Keine Stimme wurde gegen
[662] den Vorschlag laut. Schon wollte der Landammann die Abstimmung vornehmen lassen.
Da erhob sich ganz, ganz hinten auf dem Bretergerüste ein altes, graues, dürres Bäuerlein.
Es hatte sich lange Zeit verwundert umgesehen, ob denn Keiner ein Wort gegen die Sache habe, die ihm nicht gefallen zu wollen schien. Keiner hatte ein Wort unter allen den sieben- bis achttausend Männern rund um den alten Mann. Aber dafür hatte jetzt das alte Männlein kernige und körnige Worte.
„Herr Landammann, meine Herren von der Regierung und meine lieben Mitlandleute,“ erhob es sich, wie es die Form der Sitte und des Herkommens erheischte. Und es bat die „liebe Landslüt’,“ daß es seine Meinung über die Sache sagen dürfe. Es sei zwar nur ein „einfältig Hirtenmännli“ hinten aus dem Gebirge, und es wisse nicht den hundertsten Theil von allem dem, was die gelehrten Herren im Hauptort Glarus, und all’ die reichen und vornehmen Fabrikherrn des Landes in und außer dem Lande gelernt hätten. Aber er habe doch auch so seine Gedanken, auch in dieser Sache, über die „Hündli.“ Alle jene Herren mochten sich recht viele Hündli halten können, für ihr Plaisir, und die Steuer möge für sie auch eine geringe sein. Das sei aber wohl nicht so für manche andere Leute im Canton. Ihm zum Beispiel sei sein Hündli sein Freund, und einen Freund müsse der Mensch haben. Und er könne seinen Freund nun einmal gar nicht gut entbehren, denn er wohne hinten im einsamen Gebirge, viertausend Fuß hoch und noch höher, und auf eine halbe Stunde rund um ihn herum wohne kein anderer Mensch. Und wenn nun, nach dem Sinne der gelehrten und reichen Herren, die Hundesteuer eingeführt werden solle, die er, als ein armer Hirtenmann, nicht bezahlen könne, so müsse er sein Hündli „wirklich“ abschaffen, und er habe da oben in seiner Einsamkeit keinen Freund und keinen Beschützer mehr. Und wie ihm, so ergehe es gewiß manchem seiner braven „Mitlandslüt’“. Und – darauf schloß das Männlein – so sei denn seine Meinung an den Herrn Landammann, und an seine hochgeachteten Herren von der Regierung und an seine lieben Mitlandleute:
„Lasset die Hündli leben!“
Und da – ja, die Glarner sind das lebhafteste Völkchen der Deutschen Schweiz – da riefen auf einmal Tausende und Tausende von Stimmen:
„Lasset die Hündli leben!“
Und die regierenden Herren wußten nun schon, bevor sie das „Mehr“ aufnehmen ließen, wie es ausfallen werde, und als sie es aufnehmen ließen, fiel ihr Antrag gegen eine große Mehrheit.
Ich habe Ihnen Wort gehalten, lieber Keil. Die erste Landesgemeinde seit Ihrem Hiersein war vorgestern, am Sonntag, den dritten October, im Appenzellerlande, und ich bin hingereist, und habe ihr beigewohnt, und setze mich heute hin, sie Ihnen zu beschreiben.
Theile ich Ihnen dabei zugleich Manches mit, was nicht strenge und nicht unmittelbar zur Sache gehört, so halten Sie und Ihre Leser es ja wohl einem Manne zu gut, der in seinen älteren Tagen noch ein Stück von einem deutschen Professor geworden ist; ein deutscher Professor kann nun einmal nicht wohl anders, als in die einfachste Sache hundert andere Sachen hineinbringen; er nennt das: seinen Gegenstand gründlich nach allen Seiten erschöpfen.
Zuerst lassen Sie mich Ihnen Einiges von meiner Reise erzählen. Es gehört vielleicht mit zur Sache, wenigstens in jenem Sinne des deutschen Professorenthums.
Ich reiste am Sonnabend von Zürich ab. Das Wetter war anfangs zweifelhaft, aber in Herisau, dem Hauptorte von Appenzell-Außerrhoden, wo ich übernachtete, prophezeite man zum folgenden Tage gutes Wetter. Und so traf es ein. Am andern Morgen um sechs Uhr weckte mich Musik. Ich sah zum Fenster hinaus. Der Himmel war klar, auf den Spitzen der Berge rund umher kündigte sich mit goldnem Glanze die Morgensonne an.
Die Musik durchzog bis sieben Uhr den Flecken Herisau; sie war zur Feier des Tages, der Landesgemeinde, des jährlichen wichtigsten politischen Tages im Lande. Es war die Musik des Cadettencorps des Orts.
Des Cadettencorps? fragen Sie und Ihre Leser! Doch nein. Da fällt mir eben ein, daß ja unser Freund Roßmäßler vor einigen Jahren in der Gartenlaube mitgetheilt hat, was Cadetten und Cadettencorps in der Schweiz sind. Vielleicht mache ich Sie und Ihre Leser ein andermal noch näher damit bekannt.
Um sieben Uhr machte ich mich von Herisau auf den Weg nach Hundwyl, wo die Landesgemeinde sich versammelte. Hundwyl ist ein altes, kleines Dorf, starke anderthalb Stunden (Schweizer-Stunden) von Herisau entfernt. Welch’ ein schönes Stück der Erde, welch’ ein schönes Stück Schweizerland sah ich da!
Die Sonne war goldenklar aufgegangen, wie sie sich angekündigt hatte. Keine Wolke war am Himmel, kein Nebel in der Luft. Nur hin und wieder hatten einzelne feine, schneeweiße Nebelstreifen an den Rand wie Berge sich gelagert, oder in eine Felsschlucht sich zurückgezogen.
In diesem klaren Sonnenmorgen lag das schöne Land da, Berg an Berg, Thal an Thal. Und Alles bedeckt mit den frischesten, grünen Matten. So weit das Auge reichte, grüne Weide, grüne Alpen, bis oben zu den Kämmen und Spitzen der Berge hinan, wo Tannen und Fichten und Birken sich anschlossen. Und wie voll, wie reich, wie üppig waren diese Matten!
Und überall waren sie wie besäet mit den frischen, braunen Bauernhäusern und den grauen Sennhütten. Und überall sah man das schöne, bunte Vieh grasen. Ueberall bis zu jenen mit den Tannen und Birken bedeckten Kämmen und Spitzen der Berge hinan, hörte man das Geläute der Glocken und Glöckchen, die die schönen Thiere trugen. Dazwischen das Geläute der Glocken von den fernen Thürmen der Dörfer, bald in der Tiefe der Thäler, bald von den Höhen der Berge.
Und nun die Menschen! Aus allen den Häusern traten sie heraus, auf allen Wegen und Pfaden, die von den grünen Alpen, durch die üppigen Matten führten, sah man sie herniedersteigen und weiter schreiten. Nur Männer! Die Frauen und Kinder sahen ihnen aus den Häusern nach oder geleiteten sie einige Schritte. Alle waren festlich gekleidet, Alle in stiller, gemessener, feierlicher Haltung. Die Männer gingen zur Landesgemeinde!
Und über dem Allem schien die Sonne so warm und so klar, war der Himmel so heiter, so hell, so frei!
Es war ein wundervoller Sonntagmorgen. So schön habe ich noch keinen in der Schweiz erlebt; noch keinen in meinem Leben. Ach, mußte ich unwillkürlich denken, wärst du doch jetzt erst sechzehn Jahre alt, anstatt beinahe sechzig! Den Sonntag vergäßest du in deinem ganzen Leben nicht, und er thäte dir gut für dein ganzes Leben, noch nach sechzig Jahren! So ein schöner, klarer, sonniger Sonntagmorgen in Gottes freier großer Natur ist etwas Werth für das Leben.
Und frei und groß ist Gottes Natur in dem schönen Appenzellerlande. Diese sanft sich windenden Thäler, diese endlosen weichen Matten, diese reichen Alpen bis an die Spitze der Berge hinanreichend; diese hohen Berge, einer immer höher, als der andere, und über ihnen allen hervorragend der Säntis, der Bergriese des Appenzellerlandes! Dann plötzlich ein tiefer Riß durch die Berge, eine breite, weite Furche. Unten tief aus dem Grunde die Spitzen ungeheurer Bäume bis zu unseren Füßen heranreichend. Unter ihnen, an den Wurzeln ihrer Stämme ein helles, hastiges Rauschen. Auf einmal vor uns ein schmaler Steg, unter uns eine breite bedeckte Brücke. Wir sind an einer Schlucht, durch die der Rothbach sich drängt, die Sitter sich mühsam eine Bahn erkämpft, die wilde Urnäsch stolz und trotzig und gewaltsam die hohen Berge, die harten Felsen zerspalten und zerbrochen hat, um im schmalen, finsteren Bette fort und fort ihre grollenden Wellen weiter zu wälzen.
Am schönsten war der Anblick, als wir, nach Zurücklegung stark des halben Weges von Herisau nach Hundwyl eine neue bedeckte Brücke über die Urnäsch überschritten und jenseits auf steilem, manchmal keine zwei Fuß breitem, immer an dem tiefen Abgrunde entlang führendem Felsenpfade jenseits die Höhe des nächsten Bergkammes erreicht hatten.
Auf derselben Höhe mit uns, nur wenig tiefer, lag das Dorf Hundwyl, das Ziel unserer Reise, der diesjährige Versammlungsort der Landesgemeinde.
Rund um das Dorf herum erhoben sich höhere Berge. Wie es zwar oben auf einer Bergeshöhe lag, so lag es so dennoch in einem Kessel von Bergen vor uns.
Und von allen diesen Bergen liefen Pfade herunter nach dem Dorfe zu, und eben diese Pfade konnten wir übersehen. Und alle [663] waren von der Spitze bis zum Grunde mit Menschen bedeckt, die von allen verschiedenen Seiten nach dem Einen Mittelpunkte, dem alten Dorfe Hundwyl, herunterstiegen und zusammenströmten.
Das war auch ein Anblick, den man nie vergessen kann.
Ich erreichte das Dorf, eins der ältesten des Appenzellerlandes. Man sah ihm freilich sein Alter nicht sehr an. Altes und Verfallenes sah man wenigstens gar nicht darin. Die Bauart einiger Häuser schien zwar besonders eigenthümlich zu sein. Aber wenn es mir hier auffiel, so hatte ich wohl nur anderswo nicht so genau darauf geachtet. Die Bauernhäuser in den Schweizer- und besonders Appenzellerdörfern haben überall ihre eigenthümliche alterthümliche Bauart.
Andere Häuser, als die von Holz aufgeführten Bauernhäuser sah man in dem Dorfe nicht. Nur eins der Wirthshäuser war anders, neuer gebaut. Aber selbst das Pfarrhaus unterschied sich von den anderen Bauernhäusern nicht.
Ueberall aber sah man auch in diesem Appenzellerdorfe die Wohlhabenheit. Auch die Kirche zeigte sie. Sie war, mit ihrem Thurme, vor wenigen Jahren reparirt. Sie war so hübsch und freundlich, wie ich selten eine Dorfkirche gesehen habe. In der Evangelischen Schweiz gewiß nicht. Diese reformirten Kirchen, in denen man gar nichts sieht, als kahle, nackte, meist graue Wände und an einer der Wände einen schwarzen Gegenstand, der einer alten Tonne ähnlich sieht und die Kanzel ist, sie sind nicht mehr einfach, sie machen nicht den edlen, oft erhabenen Eindruck der Einfachheit; sie sind traurig einförmig und machen den Eindruck einer Wüste, in der man eben nichts findet, am allerwenigsten Liebe und Erhebung. Für mein Gefühl sind sie einmal so. Können Andere andere, bessere Eindrücke darin empfangen, desto besser.
Der Ort wimmelte schon von Menschen. Alle waren in ihrer festlichsten Sonntagstracht. Das Dorf selbst lag blos in dem Festschmucke des schönsten, klarsten, sonnigsten Herbstsonntagmorgens da. Nicht einmal eine einzige Fahne war zu sehen. Es fiel mir um so mehr auf, als man sonst in der Schweiz bei jeder Gelegenheit Fahnen sieht. In Zürich zum Beispiel findet keine Localfestlichkeit statt, ohne daß jedes Haus und in manchem Hause jedes Fenster seine rothweiße – die eidgenössische Farbe – und blauweiße (die Zürcherische) Fahne aufgesteckt hat.
Daß eine große Versammlung erwartet wurde, zeigten nur besonders eine Menge von Buden, die im Dorfe, namentlich in der Nähe der Kirche und der Wirthshäuser, aufgerichtet waren. Ungeheuer viele Kuchen und Cigarren waren da.
Auch ein Handelsmann mit Volksbüchern und Bildern. Er war aus dem würtembergischen Städtchen Friedrichshafen drüben vom Bodensee herübergekommen. Seine Bude war die am meisten umlagerte. Sie zog – ja, es muß heraus – selbst in diesem alten, schweizerischen, republikanischen, demokratischen Canton, die Leute heran, durch die europäischen Potentaten, die stolz und in prächtigen Farben, hoch zu Rosse, an einem Faden neben einander hoch für Alle sichtbar aufgehängt waren. Und hatte der Mann sie so absichtlich sinnreich neben einander aufgerichtet?
Zuerst kam „Ihro Kaiserliche Hoheit, Olga, Kronprinzessin von Würtemberg.“ Der Mann war ja Würtemberger, und er zeigte, daß der Schwabe eben so galant, wie patriotisch sein kann. Neben ihr hing, wie billig, ihr Gemahl, der Kronprinz von Würtemberg.
Dann kam – nicht der König von Würtemberg. Ach, der ist schon alt, er zählt schon seine 76 Jahre, und – war der Mann auch ein Höfling, der sich, um die untergehende Sonne unbekümmert, nur der aufgehenden zuwendet? Ja, ja, wenn es die Fürsten nur immer wissen wollten, der moderne Patriotismus besteht vielfach nur in solchem – Sonnendienste.
Neben dem Kronprinzen von Würtemberg hing der Kaiser Alexander II. von Rußland. „Unser Schwager“ sagten die Berliner früher von seinem Vater, dem Kaiser Nicolaus.
Auf den Kaiser von Rußland folgte der – türkische Sultan, und auf diesen die Königin Victoria von England. Und diese Aufstellung, mein lieber Freund, war äußerst sinnreich und gelungen. Der arme Sultan sah so schrecklich blaß und krank und elend aus, in der Mitte jener beiden Potentaten. Die Königin Victoria sprengte auf ihrem hohen Engländer so stolz auf ihn zu. Er fürchtete sich offenbar vor ihr. Er wollte ihr entfliehen. Er sah noch halb nach ihr zurück, er wollte sein Pferd in Galopp setzen. Da blickt er vor sich, und unmittelbar vor ihm sprengt von der anderen Seite, drohend, den Säbel geschwungen, der russische Kaiser auf ihn ein. Wohin soll der arme Sultan? Hier England, hier Rußland! Er konnte wohl blaß und kläglich aussehen.
Hinter der Königin Victoria kam der Kaiser Napoleon III. Sie hatten einander den Rücken zugedreht.
Dann kam der König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen. Er war der Letzte. Er und der Kaiser Napoleon sahen sich etwas verwundert an.
Aber von den hohen Potentaten wieder zu der Republik, zu der einfachen Bauernrepublik.
Schelten Sie mich, wie Sie wollen, mein lieber Keil; ehe ich zu der Landesgemeinde des Appenzellerlandes komme, muß ich Ihnen doch noch Einiges über Land und Leute von Appenzell sagen.
Das Land Appenzell stand in früheren Zeiten unter der Grundherrschaft des Abtes von St. Gallen. Die Leute in Appenzell wurden von dem Abte behandelt, wie andere Klosterleute. Aber sie hatten früh einen freien, selbstständigen Sinn. Schon im Jahr 1367 standen sie auf gegen den Abt, um eine mildere Behandlung zu verlangen. Sie erhielten diese. Der Abt gab ihnen sogar, was früher nicht geschehen war, einheimische Amtmänner.
Es kam darauf an, den besseren Zustand sich zu sichern. Dazu schlossen sie, unter Vermittelung der ihnen befreundeten Stadt St. Gallen, eine Verbindung mit dem schwäbischen Städtebunde. Hierdurch war ihre Freiheit gesichert. Hieraus entstand auch zuerst ihre Landesgemeinde, die bis auf den heutigen Tag fortgewährt hat.
Nämlich am 22. Mai 1378 empfahl ein Bundestag der Schwäbischen Reichsstädte, zu Ulm versammelt, die Gemeinden, „Lendlin,“ von Appenzell der besonderen Aufsicht und Fürsorge der zwei benachbarten Städte St. Gallen und Constanz, und beschloß zugleich, daß jene aus ihrer Mitte dreizehn Männer erwählen möchten, welche die gewöhnlichen Steuern und andere gemeine Ausgaben unter sämmtliche Landleute nach Markzahl ihres Vermögens zu vertheilen und dafür zu sorgen hätten, daß dem Bunde die nöthige Hülfe geleistet werde. Diese dreizehn Männer wurden alle Jahre von den zu diesem Zwecke zusammentretenden Gemeinden des Landes gewählt und so entstand die jährliche „Landesgemeinde,“ und der erste Anfang der noch jetzt in dem Canton bestehenden demokratischen Verfassung.
Fast unmittelbar darauf, seit dem im Jahre 1379 erfolgten Tode des Abtes Georg von St. Gallen erhoben sich nun aber auch fortwährende Uneinigkeiten und Reibungen mit dem Grundherrn, dem Kloster zu St. Gallen, die zuletzt zu einem langwierigen Kriege führten, in welchem auf Seiten der Appenzeller ihre Eidgenossen, darunter auch schon Schwyz, Unterwalden und Glarus, auf Seiten des Klosters aber mehrere mit ihm verbündete Reichsstädte standen. Am 14. Mai 1403 erlitt das Heer des Klosters und dieser Reichsstädte bei Vögelinseck eine schimpfliche Niederlage. Die Reichsstädte verließen darauf den Abt, der sich nun mit dem Herzoge von Oesterreich verbündete. Das hatte neue Bündnisse der Appenzeller mit ihren Nachbarn zur Folge, und so entstand der berühmte „Bund ob dem See“ (Bodensee), zur Festhaltung der Freiheit und der volksthümlichen Verfassung auf beiden Seiten des Rheines oberhalb des Sees. Nach der Schlacht am Stoß, 17. Juni 1405, die das Kloster wieder verlor, stand das kleine Appenzell gar an der Spitze dieses Bundes. Im Jahre 1421 kam demnächst auch ein Vergleich mit dem Kloster St. Gallen zu Stande, durch welchen, unter Vorbehalt mancher Rechte des Klosters, das Land Appenzell als ein Freistaat ausdrücklich anerkannt wurde.
Im Jahre 1513 wurde Appenzell, als „dreizehnter Ort“ in die schweizerische Eidgenossenschaft aufgenommen.
Das Land hatte nun Freiheit, Friede und Sicherheit. Der Friede sollte ihm bald wieder genommen werden. Die Lehre des Friedens, der Liebe, die so oft gerade von ihren Priestern zu Unfrieden, zu Hader und blutigem Streit mißbrauchte Lehre der christlichen Religion, war die Veranlassung, auch dem friedlichen Lande einen Hader zu bringen, der es für immer, bis auf die gegenwärtige Zeit hinab, getrennt hat. Die neue Lehre Zwingli’s drang auch in das Appenzellerland, aber nur in die äußeren Rhoden, die von dem Orte Appenzell entfernteren, äußeren Bezirke des Landes. Die inneren Rhoden, die Bezirke mit und um Appenzell herum, blieben bei dem alten Glauben. Die Glaubensverschiedenheit wurde zum Glaubensstreit; der Glaubensstreit wurde zum [664] Staats-, Volks- und Lebensstreit zwischen Land und Leuten. Von außen wurde der Streit genährt. Endlich kam im September 1597 ein Vergleich zu Stande, freilich ein Vergleich, der nicht vereinigte, sondern zerriß, völlig zerriß. Das Land Appenzell blieb zwar in der Eidgenossenschaft ein Ganzes, Eines. Im Innern aber war es fortan in zwei vollständig geschiedene selbstständige Ländergebiete getrennt, die nichts weiter mit einander gemein hatten, nicht Verfassung, nicht Lasten, nicht Rechte, nicht Behörden, auch nicht Landesgemeinde. Die Trennung wurde als eine so rein confessionelle aufgefaßt und durchgeführt, daß die einzelnen katholischen Leute, die sich noch in Außerrhoden befanden, nach Innerrhoden, dagegen die protestantischen Einwohner der inneren Rhoden nach den äußeren Rhoden ausgetauscht wurden. Nur zwei Klöster, Wonnenstein und Grimmenstein, konnten nicht über die Grenze transportirt werden; man mußte sie in den äußeren Rhoden lassen.
Die Trennung ist, wie gesagt, geblieben. Der jetzige eidgenössische Canton Appenzell, in der Eidgenossenschaft nur Ein Canton, zerfällt in die beiden „Halbcantone“ Außerrrhoden und Innerhoden. Dieser ist auch seitdem streng katholisch, jener protestantisch geblieben.
Der Größe nach hat Innerhoden vier Quadratmeilen mit 16,000 Einwohnern, Außerrhoden hat sechs Quadratmeilen 44,000 Bewohnern.
Wir haben es hier nur noch mit Außerrhoden zu thun.
Daß es ein schönes Land, das fruchtbarste Weideland ist, habe ich schon gesagt. Aber darum hat es nicht blos Viehzucht, und seine Bewohner sind nicht blos Viehhirten und Käsefabrikanten, Schon seit einer Reihe von Jahren hat ein anderer Gewerbszweig durch das ganze Land sich verbreitet: Baumwollenweberei und Stickerei. Die Appenzeller Stickereien haben sich in der ganzen Welt berühmt gemacht. In jedem Bauernhause sind Weber und Stickerinnen. Die Viehzucht läßt ihnen Zeit genug zu diesen Beschäftigungen. Herisau, der Hauptort des Cantons, ist ein bedeutender Fabrikort geworden. Teufen nicht minder. Auch anderswo im Lande findet man größere Fabriken zerstreut. Die Fabrikherren sind mitunter sehr reiche Leute, Millionäre. Wohlhabenheit sieht man im ganzen Lande.
Auch auf der Landesgemeinde versammelt sich daher nicht blos ein Volk von Bauern und Hirten. Sie sind da; aber mit ihnen sind auch Fabrikanten und Kaufleute da, die nicht nur an Reichthum, sondern auch an Bildung und Kenntnissen Niemandem ihres Standes anderswo nachstehen. Sie haben wieder andere, weitere, selbst gelehrte Bildung in das Land hineingezogen. Ich habe bei Gelegenheit der Landesgemeinde ältere und jüngere Aerzte, junge Rechtsgelehrte kennen gelernt, die auf den schweizerischen, aber auch auf den ersten deutschen Universitäten ihre Studien gemacht hatten und vielfach die Lieblinge der berühmtesten Lehrer geworden waren. In dem Director der Cantonschule zu Herisau fand ich einen tüchtigen Pädagogen, und der Appenzeller Grunholzer, hier in Zürich seit Jahren mein lieber Freund und Miteinwohner, ist der erste Pädagog und populärste Name in der Schweiz.
Was das Land Appenzell geworden ist, das ist es durch sich selbst, einzig und allein durch das Volk geworden, durch seine freie Verfassung. Auch diese Verfassung hat sich das Volk selbst gegeben.
Und wie einfach ist diese Verfassung! Wie einfach die ganze Gesetzgebung des Landes! Ich habe sie hier gedruckt vor mir liegen, die Verfassung und die sämmtlichen Gesetze des Landes. Und was meinen Sie, mein lieber Freund, wie viele Bände es wären?
Ein einziges Bändchen ist es, klein Octav, groß gedruckt, und 440, sage vierhundert und vierzig Seiten stark.
Aber von dieser Verfassung der Appenzeller muß ich Ihnen nun noch Einiges mittheilen, ehe ich Ihnen von der Landesgemeinde am 3. October dieses Jahres erzählen kann. Ich könnte Ihnen sonst von dieser eben nicht viel Verständliches sagen.
In der Schweiz sind jetzt noch vier Cantone, die ihre uralte Verfassung beibehalten haben, und zwar in der Art, daß das gesammte Volk alljährlich zu der Landesgemeinde zusammentritt, um seine Obrigkeit zu wählen, die Verwaltung der abgehenden Obrigkeit zu prüfen und, wenn es nöthig sein sollte, sich neue Gesetze zu geben. Nach dieser rein demokratischen Verfassung werden sie besonderlich „die Schweizerischen Demokratien“ genannt. Es sind die Cantone Uri, Unterwalden, Glarus und Appenzell. Ein paar andere Cantone führen gleichfalls noch den Namen. Aber sie haben sich in neuerer Zeit mehr eine Repräsentativverfassung gegeben.
Die anderen Cantone wurden früher bekanntlich durch einzelne privilegirte Städte oder Familien regiert. Jetzt sind aber auch sie sämmtlich demokratisch, sie haben nur keine allgemeine Urversammlung, keine Landesgemeinde. Sie üben Wahlen und Gesetzgebung durch Abgeordnete aus, freilich nicht immer alle Wahlen, wie z. B. in Genf. Die Landesgemeinde bildet also das wesentlichste Kennzeichen jener Demokratien.
In Appenzell-Außerrhoden besteht sie aus allen „Landleuten“ (Cantonsbürgern), „die den Religionsunterricht erhalten und das 18. Jahr erreicht haben.“ Ausgeschlossen sind nur die, „welche ehr- und wehrlos, d. h, unter Scharfrichters Hand gewesen sind.“ Sie wird alle Jahre gehalten, am letzten Sonntag Aprils, abwechselnd in den Dörfern Hundwyl und Trogen. „Sie ist die oberste Gewalt im Lande; was sie erkennt, soll keine Behörde abändern oder aufheben mögen.“ Sie wählt alle Landesbeamte; ihr allein kommt es zu, neue Gesetze zu machen und alte abzuändern oder abzuschaffen, Sie ertheilt das „Landrecht“ (Staatsbürgerrecht). Die Jahresrechnungen (der Landesverwaltung) werden ihr vorgelegt. Das ist die ordentliche Landesgemeinde.
Es können aber auch außerordentliche Landesgemeinden gehalten werden: „so oft die Obrigkeit es nöthig findet“, oder auch, wenn „Landleute sie verlangen“. In dem letzteren Falle kann Jeder sich an die Obrigkeit wenden und diese muß entweder dem Antrage entsprechen oder unverzüglich außerordentliche „Kirchhören“ (Gemeindeversammlungen) anordnen. „Wenn dann wenigstens zehn Kirchhören dafür sind, so soll die Landesgemeinde außerordentlich versammelt werden, und zwar ebenfalls an einem der beiden Orte, wo die ordentlichen Landesgemeinden stattfinden, jedoch ohne Rücksicht auf diese.“
Einer solchen außerordentlichen Landesgemeinde wohnte ich am 3. October in Hundwyl bei.
Unter den an Zahl täglich zunehmenden berufsmäßigen Naturforschern muß man zwei Classen unterscheiden. Die Einen haben bei ihrem Forschen nur die Förderung der Wissenschaft an sich im Auge, wobei sie dem sehr verzeihlichen Ehrgeiz huldigen, ihrem Namen in den Annalen der Wissenschaft einen Ehrenplatz zu erringen. Die Andern bestimmen ihr wissenschaftliches Streben nur nach dem Grundsatze, daß vor allen andern die Wissenschaft der Natur Gemeingut Aller sei, und ihr Ehrgeiz ist darauf gerichtet, den Dank des Volkes zu gewinnen, dem sie klare Einblicke in den Naturhaushalt und somit das Verständniß ihrer irdischen Heimathsangehörigkeit eröffneten.
Wer wollte den Rang zwischen beiden Classen abwägen? Beide sind gleicher Ehre werth, die auch beiden von dem Volke bereitwillig zuerkannt wird.
Um so betrübender ist es, daß nicht wenige Naturforscher der erstgenannten Classe mit einer gewissen Geringschätzung auf die anderen herabsehen, und die „Popularisirung“ für eine Entweihung der Wissenschaft halten. Einigen Grund zu dieser Anschauung haben Jene darin, daß sich allerdings unter die Zahl der naturwissenschaftlichen Volksschriftsteller mancher Unberufene eingedrängt und bei dem urtheilsunfähigen Publicum wohl gar einen großen Beifall gefunden hat.
Vielleicht mehr noch als hierin finden die strengen Forscher der ersten Classe einen, freilich nicht berechtigten, Grund, die Volksschriftsteller über die Achsel anzusehen, weil diese Letzteren meist nicht selbst forschen, sondern das von ihnen, den strengen Forschern, Erforschte nur weiter verbreiten, indem sie es für das Verständniß des großen Publicums zurichten.
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Bis zu welchem verbissenen Ingrimm dieser naturforscherliche Corps Geist hinreißen kann, beweisen Liebig’s Ausdrücke: „Spaziergänger an den Grenzen der Naturwissenschaft,“ „Kinder an Erkenntniß der Naturgesetze,“ „Dilettanten,“ womit derselbe einen Forscher wie Moleschott zu bezeichnen wagte.
Otto Ule, dem Gleichstrebenden, würde es wahrscheinlich gleich ergangen sein, wenn sein Streben das Feld der Chemie näher berührte, denn auch er ist, und zwar noch ausgesprochener, als Moleschott, ein Volksnaturforscher, der allerdings an dem Gebäude der Physik, wo er am liebsten weilt, vielleicht noch keine neue Stufe gelegt, noch ein neues Fenster gebrochen, oder gar ein neues Stockwerk aufgesetzt hat, Dennoch geht er mit sicherem Tritt und Schritt dem Volke voran, wenn er es in den weiten Hallen und verschlungenen Gängen dieses Gebäudes herumführt, denn er ist darin vollkommen zu Hause, und mit sicherem Urtheil kann er seinen Begleitern zurufen: „duckt euch, hier sind die Wände nicht taktfest“, oder an einer andern Stelle, wo es noch finster ist: „hier wird es bald auch hell werden, das Fenster ist schon ziemlich fertig.“ Otto Ule könnte bei der Fortführung des großen Baues sich seine Stelle vollberechtigt auswählen, aber – man werde sich nur dessen recht klar – er hat als Volkslehrer dazu keine Zeit, eben so gut wie die vorhin sogenannten strengen Forscher von sich sagen können: „wir haben keine Zeit, an das Volk zu denken; die Ueberwachung unserer Experimente, unserer Beobachtungen, die Aufzeichnung der Ausweise unserer Instrumente – Alles das nimmt uns so in Anspruch, daß wir uns in die gemüthliche Stimmung eines Volksnaturforschers gar nicht versetzen können, gar nicht versetzen dürfen.“
Noch einmal, man werde sich nur dessen recht klar, daß der Volksnaturforscher, wenn er mit Hingebung seinem schönen Berufe huldigt, sich und seine ganze Zeit derselben zum Opfer bringen muß. Und in diesem Lichte wollten wir den Lesern der Gartenlaube das Bild Otto Ule’s vorführen, als eines Volksnaturforschers im edelsten Sinne des Wortes. Aus alle dem, was er schreibt, leuchtet unverkennbar die ungeschmälerte Hingebung an das Bildungsbedürfniß seines Volkes hervor.
Es bedarf der authentischen Unterlagen über Ule’s Lebens- und Bildungsgang nicht, denn dieser geht, soweit er hierher gehört, aus seinen Schriften so deutlich von selbst hervor und spitzt sich so klar und bestimmt auf den Beruf des Volkslehrers zu, daß wir in diesem Augenblicke den Mangel solcher Unterlagen kaum empfinden.
Sein erstes Auftreten als Schriftsteller im Jahre 1850 mit seinem dreibändigen Werke „das Weltall“, von welchem unseres Wissens jetzt die dritte Auflage unter der Presse ist, zeigte sofort, daß er seinen Beruf als Volkslehrer mit ernster Tiefe auffaßte. Er fügte sich darin nicht dem leider nur noch zu tief in allerlei Volk wurzelnden Gelüste nach angenehm mundender „belehrender Unterhaltung“, sondern er verlangte von seinen Lesern den Ernst der Lernbegierde. Und er hat sich nicht verrechnet. Das Buch fand eine glänzende Aufnahme, welche Ule ermuthigte, schon im Jahre darauf in seinem kleineren Buche „Die Natur. Ihre Kräfte, Gesetze und Erscheinungen im Geiste kosmischer Anschauung“, noch einen [666] Schritt weiter zu gehen. In diesem gibt er dem Volke nicht blos für seine Naturanschauung ein maßgebendes Gesetzbuch, sondern auch einen Spiegel, von dem er auf der letzten Seite selbst sagt: „hier findet ihr Freiheit und Liebe, Gesetz und Ordnung: hier findet ihr euch selbst wieder.“
Um in noch innigeren Verkehr mit den Lesern seiner Schriften zu treten und in weiteren Kreisen belehrend zu wirken, gründete Ule im Jahre 1852 im Verein mit Karl Müller und Roßmäßler die seitdem im besten Fortgange stehende Zeitschrift „Natur“. In dieser konnten die Drei mit vielen sich ihnen zugesellenden Gehülfen aus allen Gebieten der Naturwissenschaft ihren Lesern Belehrung bieten, wobei Ule nicht nur Hauptredacteur, sondern auch Hauptmitarbeiter ist, und dabei den ehrlichen Muth gehabt hat, den Verketzerungen seiner Weltanschauung namentlich in dem kritischen Beiblatte entgegenzutreten.
Treu seiner Auffassung von gründlicher Volksbelehrung auf physikalischer Basis gab er 1854 und 1857 die 2 Bände seiner „Physikalischen Bilder im Geiste kosmischer Anschauung“ heraus. In diesem Buche ist es Ule meisterlich gelungen, das allgemein herrschende Gesetz der Bewegung in allen seinen Bethätigungen dem Leser klar zu machen und dadurch das große Publicum einzuführen in das weite Entdeckungsgebiet, wo jetzt die berühmtesten Forscher unablässig beschäftigt sind und für eine nicht mehr ferne Zukunft die wichtigsten Umgestaltungen vorbereiten.
So ist denn Otto Ule nicht einer von den vielen naturwissenschaftlichen Volksschriftstellern, welche als immerhin kundige Cicerones das Volk doch mehr nur bald hierhin, bald dorthin leichten Schrittes durch die vor ihm ausgebreitete Natur führen; sondern er gleicht mehr einem kundigen Bergführer, welcher durch wohldurchdachte Führung das Interesse und die Kräfte zu steigern und zu concentriren weiß. Wir dürfen hoffen, daß er dem Volke noch lange ein solcher Führer sein werde, denn er ist noch jung und körperlich und geistig frisch. Ule ist uns seit einigen Jahren in zwiefacher Hinsicht immer als das Glied einer Trias erschienen, die er, der Physiker, mit Moleschott dem Physiologen und Strecker dem Chemiker bildet; von drei Schwestern auch durch verwandtschaftliche Bande innig aneinander gefesselt, huldigen die Drei der wissenschaftlichen Trias, welche die Gegenwart bewegt und die Zukunft beherrschen wird. Wir führen dies nicht blos an als gelegentliche Notiz über Ule’s äußeres Leben; sondern weil das äußere Leben die Basis des innern ist, so betonen wir es, daß Ule und seine beiden berühmten Schwäger durch ihre Frauen, welche ihre Männer verstehen, in ihrer wissenschaftlichen Einmüthigkeit gewissermaßen in Liebe getragen werden.
Der Panther-Jäger Bombonnel.
Nachdem Jules Gerard durch seine Löwenjagden eine Berühmtheit erlangt hat, wie weiland Nimrod, gibt das Pariser Jagd-Journal von einem Stern zweiter Größe Nachricht, welcher in Algier aufgetaucht ist, und Bombonnel, le Tueur de Panthères genannt wird.
Die Araber von Nord-Afrika unterscheiden zwei verschiedene Arten Panther oder Leoparden, den großen (Dolly) und den kleinen (Berrany). Ersterer fällt nicht selten Menschen an. In neuerer Zeit reisten zwei Einwohner der Stadt Algier von Blidah nach Koleah in einem Planwagen. In dem Gehölz von Mazafran sprang ein Panther bei hellem Tage auf den Wagen, stürzte diesen um, ergriff aber dann, wie auch der Königstiger dies thut, die Flucht, weil er mit dem ersten Sprunge seine Beute nicht erreicht hatte. Ein Araber, Sidi Hamdam, befand sich auf der Schweinsjagd, als ein Panther sich unvermuthet auf ihn stürzte. Er wurde vom Pferde gerissen, und obgleich es ihm glückte, den Panther abzuschlagen, starb er doch bald an den erhaltenen schweren Wunden.
Andere zahlreiche Fälle sind in Algier vorgekommen, daß Menschen von den Panthern getödtet oder schwer verwundet wurden, und man sieht hieraus, daß dieser große Panther nicht ein so feiges Thier ist, wie Gerard dies behauptet. Gerard selbst hatte wenig Gelegenheit, den Muth dieses Thieres aus eigener Erfahrung kennen zu lernen, er wiederholte nur, was er von den Arabern gehört hatte; diese aber haben eine beinahe übernatürliche Scheu und Ehrfurcht vor dem Löwen, und es ist daher erklärlich, daß sie im Vergleich zu diesem den Panther für feig halten; denn den Muth des Löwen, welcher, auf seine Stärke vertrauend, keinen Feind scheut, hat der Panther allerdings nicht; er springt womöglich nur von hinten oder aus einem Versteck auf seine erwählte Beute. Verwundet ergreift er aber nicht die Flucht, sondern stürzt sich vielmehr wüthend auf seine Feinde.
So wie Gerard sich ausschließlich damit beschäftigte, die Löwen zu verfolgen, so hatte sich Bombonnel die Aufgabe gestellt, die Panther auszurotten. In einem Gebüsch in der Nähe von Bab-Ali, einer wilden Gegend voll Felsen und Schluchten, hatte ein Panther seit einiger Zeit seinen Aufenthalt. In dem kurzen Zeitraum von einigen Wochen wurde ein alter Mann, zwei Knaben und ein kleines Mädchen von dem Raubthiere zerrissen. Der Schrecken, von dem die Bewohner der Umgegend in Folge hiervon ergriffen waren, war nicht gering, und die Feldarbeiten wurden sogar einige Tage unterbrochen.
Bombonnel hatte vergebens das Lager des Raubthieres aufgesucht; er war der Spur desselben bis in die wildesten Gegenden gefolgt, ohne den Panther zu Gesicht zu bekommen; er beschloß daher, sich des Nachts auf den Anstand zu begeben. Zur Kirrung band Bombonnel eine Ziege an, und zwar auf den Rath der Araber eine Ziege mit ihrem erst wenige Wochen alten Lamm. Während er die Ziege an einen zwanzig Schritte von seinem Stande entfernten Pfahl anbinden ließ, behielt er das Junge bei sich. Dies ist ein sicheres Mittel, die alte Ziege zum Schreien zu bewegen, während eine andere des Nachts in der Wildniß aus Furcht vor den Raubthieren keinen Laut von sich geben würde. Bekanntlich sind die Geruchsnerven aller Katzenarten sehr schlecht, sie wittern selbst auf sehr geringe Entfernungen ihre Beute nicht, um so besser aber sind Augen und Gehör.
Der Araber, welcher sich auf diese Weise des Nachts auf den Anstand begibt, erklettert einen Baum, Felsen oder dergleichen, setzt sich also nicht der Gefahr aus, von dem vielleicht verwundeten Raubthier angegriffen zu werden. Nicht so Bombonnel: trotz der Ermahnungen und Warnungen der Araber, wählte er seinen Stand auf dem Boden der Schlucht selbst.
Er befand sich bereits mehrere Stunden auf seinem Posten. Der Mond, der bisher geschienen hatte, verschwand für einige Minuten hinter dichten Wolken, und die hierdurch eingetretene Dunkelheit verhinderte Bombonnel, die nächste Umgebung mit derselben Aufmerksamkeit zu beobachten, als er bisher gethan hatte. Es mochte ungefähr ein Uhr sein. Das Lamm hatte er eben wieder in die Höhe gehoben, um es zum Schreien und hierdurch die Mutter zum Antworten zu bewegen, da vernimmt er plötzlich einen dumpfen schweren Fall, hierauf einen Angstschrei, nur einen, – die Ziege war todt. Er hörte jetzt die Knochen des armen Thieres unter dem zermalmenden Gebiß des Panthers krachen, ohne daß er diesen sehen konnte. Nur mit vieler Mühe gewahrte er in der Dunkelheit eine undeutliche schwarze Masse. Bombonnel selbst stand nicht, sondern saß auf dem Boden; vor ihm befand sich ein zwei Fuß hoher, an seinem obersten Ende mit einer Gabel versehener Pfahl, auf diesem ruhte sein Gewehr. Dreimal brachte er dasselbe an den Backen, um Feuer zu geben, doch er setzte jedesmal wieder ab, weil er in der Dunkelheit die richtige Visirlinie nicht finden konnte, obgleich er die Vorsicht gebraucht hatte, einen Diamant am Ende des Gewehrlaufs zu befestigen. In dieser verhängnißvollen Lage war er kaltblütig genug, die Kugelpatrone aus dem Laufe des Gewehres herauszunehmen, und mit einer Cartouche, welche 24 kleine Posten enthielt, zu laden. Hierauf zielt er noch einmal und giebt Feuer. Alles bleibt still, kein Laut läßt sich vernehmen. Der Panther war, durch Kopf und Herz geschossen, auf der Ziege zusammengebrochen. Dieser erste glückliche Versuch trug viel dazu bei, die Passion für die Pantherjagd in Bombonnel zu vermehren; in allen Duars, welche er besuchte, versprach er denen Belohnungen, welche ihm das Lager oder die Spur eines Panthers nachweisen könnten. In der kurzen Zeit von einigen Monaten erlegte er sechs Stück, und sein Ruhm als Pantherjäger verbreitete sich bald in der ganzen Provinz.
Sehr interessant sind die Beobachtungen, die Bombonnel über das Benehmen der armen Ziegen machte, welche dazu dienen mußten, [667] die Panther herbeizulocken. Mit der feinsten Witterung begabt, kündigten sie gewöhnlich die Annäherung des Raubthieres schon lange vorher, ehe dasselbe erschien, durch Unruhe und Zittern an. Eines Nachts machte die vor Furcht zitternde Ziege mehrere vergebliche Anstrengungen, den Strick zu zerreißen, mit welchem sie befestigt war. In der Meinung, es wären nur Schakals, welche in der Nähe herumstrichen, wiederholte Bombonnel sein gewöhnliches Manöver mit der jungen Ziege; er hob dieselbe in die Höhe, um sie zum Schreien zu bringen, damit die Mutter dann ebenfalls laut werden sollte. Doch auf die Klagen des Jungen antwortete die Alte nur mit einem einzigen Tone, einem kurzen, durchdringenden, halblauten Warnungsrufe, und wunderbarer Weise verstand das Junge diesen Warnungsruf der Mutter vollkommen; es wurde plötzlich mäuschenstill. Alle Anstrengungen Bombonnel’s, das kleine Thier noch ferner zum Schreien zu bewegen, blieben fruchtlos, es gab keinen Laut mehr von sich; es gehorchte dem Befehle der Mutter, denn ein solcher war der kurze, halblaute Warnungsruf gewesen. Selbst Schläge, welche der ungeduldige Jäger anwendete, um das Kleine zum Schreien zu bewegen, erwiesen sich als fruchtlos. In dieser Verlegenheit weiß Bombonnel kein anderes Mittel, als den Schrei des Jungen selbst nachzuahmen. Da blickt ihn die Alte starr an und, indem sie mit dem Vorderlauf ungeduldig auf den Boden stampft, läßt sie noch einmal jenen kurzen, eigenthümlichen Warnungslaut erschallen, welchen der Jäger bereits vernommen hatte und welcher jetzt deutlich zu sagen schien: „Schweige doch, der Mörder ist in der Nähe;“ und wirklich gewahrte Bombonnel in diesem Augenblicke die leuchtenden Augen des Panthers, die gleich zwei glühenden Kohlen sich im Schatten des Gebüsches bewegten. Im nächsten Augenblicke stürzte sich der Panther auf die Ziege und riß sie zu Boden. Eine Kugel in den Kopf streckte ihn auf seine Beute nieder.
Die Jagden Bombonnel’s hatten bisher glücklichen Erfolg gehabt. Seine nächstfolgende Pantherjagd hätte ihm jedoch beinahe das Leben gekostet.
„Mein Araber,“ erzählt er, „hatte mir die Nachricht gebracht, daß ein Panther ein Kameel getödtet habe. Ich reiste sogleich ab und stellte mich auf einem guten Stande des Nachts an. Sechs Nächte harrte ich vergeblich und in der siebenten erschienen drei Panther, ein Weibchen, gefolgt von zwei Liebhabern. Ich ließ meine kleine Ziege schreien, doch die Bestien nahmen keine Notiz davon, sie zogen vorüber. Bald darauf hörte ich, wie die beiden Männchen miteinander kämpften. Während des übrigen Theiles der Nacht sah ich nichts mehr von ihnen.
Den folgenden Morgen brachte ein Araber die Nachricht, daß ein Panther abermals eine Ziege geraubt habe. Ich folgte sogleich. Einige andere Araber des Duars warteten bereits mit einer Ziege auf mich. Auf dem Platze angekommen, wo ich meinen Stand nehmen wollte, überließ ich es gegen meine Gewohnheit den Arabern, die Ziege anzubinden, ohne mich zu überzeugen, ob sie auch gehörig befestigt sei. Außerdem war ich so nachlässig, mein Jagdmesser, anstatt es neben mir in die Erde zu stoßen, wie ich dies bisher gethan hatte, in meinem Gürtel stecken zu lassen; auch hatte ich mir nicht die Zeit genommen, die Zweige der Sträucher, in denen ich meinen Sitz hatte, da abzubrechen, wo sie meinen Bewegungen hinderlich sein konnten. Als die Araber mich verlassen hatten und ich mich eben mit Abbrechen einiger Zweige beschäftigte, sprang plötzlich der Panther auf die Ziege. Der Mond war noch nicht aufgegangen, ich befand mich in vollkommener Dunkelheit und konnte daher das Raubthier nur sehr undeutlich sehen. Da ich mir fest vorgenommen hatte, niemals eher zu schießen, als bis ich den Kopf des Raubthieres deutlich unterscheiden könne, so beschloß ich, den Mond abzuwarten, welcher bald aufgehen mußte. Ich hoffte, der mit seiner Beute beschäftigte Panther würde mir so viel Zeit lassen. Da gewahrte ich, daß er ganz andere Gedanken hatte; er nahm nämlich die Ziege auf und wollte sich mit ihr entfernen; und zwar schien er das Thier mit einer solchen Leichtigkeit im Rachen zu halten, als wenn eine Katze eine Maus trägt. Bei diesem Anblick vergaß ich alle meine guten Vorsätze, ich gedachte der vielen Nächte, die ich bereits nutzlos auf dem Anstande verbracht hatte, und schlug auf die dunkle Masse an, die sich mehr und mehr entfernte. Ich gab endlich Feuer und der Panther brach zusammen. Unwillkürlich erhob ich mich, in der Absicht, ihm, wenn es nöthig sein sollte, noch eine Kugel zu geben. Doch kaum gewahrte er mich, so wendete er sich wie ein Pfeil mir zu und warf mich nieder. Dieser Angriff geschah so plötzlich und unvermuthet, daß ich den zweiten Lauf gar nicht abschießen konnte.
In dieser fürchterlichen Lage, der wüthende Panther auf mir, suche ich voll Verzweiflung und Wuth mit der rechten Hand mein Jagdmesser, während ich zugleich den linken Arm wie einen Schild vorhielt, um meinen Hals vor den Bissen und Krallen der wüthenden Bestie zu schützen. Vergebens suche ich mein Messer zu ergreifen, die Falten meines Paletots verhindern mich, es zu fassen. Während der Zeit hatte ich den Hals des Raubthieres mit der linken Hand gepackt, in welche es sogleich seine Zähne einschlug. Nochmals bemühte ich mich, das Messer zu ergreifen, doch wieder vergebens. Nicht mehr fähig, die Bestie mit der linken Hand zurückzuhalten, packt sie mich jetzt am Halse, welcher glücklicherweise durch den Kragen meines Paletots geschützt war. Zweimal beißt sie voll Wuth mir in’s Gesicht, meine Knochen krachen, meine Zähne fliegen umher. In dieser schrecklichen Noth strenge ich nochmals alle meine Kräfte an und packe das Raubthier am Halse; es glückt mir, mein Gesicht zu befreien, aber mein Arm wird abermals zerfleischt. Mit fürchterlicher Wuth schnappt der Panther jetzt nach meinem Kopfe; er glaubt ihn mit seinem Gebiß zu zermalmen; glücklicherweise aber ist es nur meine Mütze, welche er hält, und mit welcher er sich, wie mit einer Beute, entfernt, dieselbe wüthend zerreißend. In demselben Augenblicke richte ich mich auf, ergreife endlich mein Messer und folge ihm, um den Kampf fortzusetzen und Rache zu nehmen für meine Wunden, für fünf meiner Zähne, welche auf dem Kampfplatze umherliegen; – da erscheinen die Araber, welche den Schuß gehört hatten. Sie finden mich, mit Wunden und Blut bedeckt, und führen mich nach dem Duar.“
Den folgenden Morgen gingen die Araber dem Panther nach, dessen Spur sie aber bald im dichten Gebüsch der Schlucht verloren. Einige Tage später aber fand man ihn verendet und bereits durch Hyänen und Schakals halb verzehrt. Es war dies der achte durch Bombonnel erlegte Panther. Bei dem Kampfe hatte Ersterer vier Wunden in den Kopf, zehn in’s Gesicht, acht in den Arm, fünf in die linke Hand erhalten und fünf Zähne verloren.
Nachdem er von diesen größtentheils schweren Wunden geheilt war, meinten die Araber, er würde künftig auf der Pantherjagd einen Sitz auf einem Baume oder dergleichen vorziehen. Doch sie täuschten sich hierin, denn Bombonnel erklärte ihnen, er würde eher der Jagd entsagen, als von einem sichern Versteck aus dem Feinde auflauern.
Der Laubfall. Warum fällt das Laub? Warum fällt es erst im Herbst? Diese Fragen sollen uns beschäftigen.
Um sie uns klar zu machen, müssen wir den Baum, denn von dessen Laubfall handelt es sich, mit seinen Blättern und Blüthen und Früchten richtig verstehen. Verhalten sich die genannten Theile zu ihrem Stamme und Zweigen etwa ähnlich wie die Gliedmaßen zu dem Leibesstamme eines Säugethieres? Nimmermehr. Es ist überhaupt sehr bedenklich, das Verständniß der Pflanze von einer Vergleichung mit dem Thiere zu entlehnen. Beide haben wohl in dem Wesen der innern Lebensvorgänge Vieles mit einander gemein, aber, um so zu sagen, im ganzen Plane beider liegt ein großer Unterschied. Wir sind geneigt, die Blätter und Blüthen für das Wesentliche des Baumes zu halten, und dennoch sterben dieselben alle Jahre ab, um sich auf dem Jahrhunderte dauernden und jährlich zunehmenden Stamme durch neue zu ersetzen. Eine ähnliche Erscheinung bilden zwar auch die Federn, Haare, Schuppen, Häute vieler Thiere. Aber es kann uns dennoch nicht einfallen, diese unwesentlichen Hautgebilde mit den Blättern und Blüthen zu vergleichen, wenn auch Virgilius die Blätter das Haar des Waldes nennt.
Vielleicht hilft uns die Fortpflanzungsweise eines Baumes zu einem richtigen, wenigstens für unsern Zweck brauchbaren Verständniß der Blätter und Blüthen. Schon oft hat man den Baum mit einem Staate verglichen. Der Stamm, der im nahrungsreichen Boden wurzelt, gleicht gewissermaßen dem vaterländischen Boden, auf welchem nicht in durchgreifenden Abschnitten, sondern in ewiger Verjüngung ein Geschlecht dem andern folgt, und die zunehmende Volkszahl theils durch bessere Bodenbenutzung, theils durch Erweiterung der Landesgrenzen sich Raum schafft. Etwas Aehnliches finden wir am Baume. Die Blätter, die Einwohner des Baumes, bereiten den Stoff, der den Umfang des Stammes vergrößert und [668] die neuen Triebe bildet. Jedes sterbende Blatt hinterläßt dicht neben der Stelle, wo es im Leben stand, eine Knospe, gewissermaßen seinen Nachkommen. Aus ihr entfaltet sich im kommenden Jahre ein neuer Trieb mit neuen Blättern. So lebt also der Baum nicht wie ein Thier als abgeschlossener Leib, der wohl an Masse größer wird, aber keine neuen Glieder gewinnt, sondern wie ein Staat voll wechselnden Lebens, erfüllt mit arbeitenden Bewohnern, wo stets der Neugeborene das Werk des Sterbenden fortsetzt. Ein Pferd erlangt nach einer gewissen Zeit seine Vollendung, wo ihm dann kein Glied mehr nachwächst, wo wir ihm aber auch keins nehmen können, ohne es zu verstümmeln. Wann können wir denn von einem Baume sagen, nun sei er fertig? Wachsen ihm nicht bis zu seinem Tode neue Triebe hinzu? Ebenso können wir einem Baum Aeste abschneiden, ohne ihn wesentlich zu verstümmeln.
Aber der Baumstaat lebt nicht nur als ein sich fort und fort verjüngender und vergrößernder Mutterstaat – er sendet auch Colonisten aus. Das sind die Samen. Sie trennen sich vom Mutterlande und gründen in der Fremde des gedeihenspendenden Erdbodens junge Staaten nach dem Muster des Mutterlandes.
Demnach kann man mit einigem Recht sagen, daß das Blatt gewissermaßen nur ein Bewohner des Baumes ist, auf ihm geboren wird und stirbt. Deshalb kann man auch eine Knospe, die Wiege eines jungen Blättervereins, durch Oculation von einer Stelle an eine andere versetzen, nicht blos von einem Baume auf einen andern seiner Art, sondern in vielen Fällen selbst auf einen blos verwandten, z. B. ein Auge des Apfelbaumes auf ein Quittenbäumchen. Ja man kann zehnerlei Apfelsorten durch Oculation auf Einem Baume vereinigen, die alsdann ihre Eigentümlichkeiten der Blatt- und Blüthenbildung, der Form und des Geschmackes der Früchte bewahren, obgleich ihnen allen mit einander mir dieselbe Art des Nahrungssaftes aus dem gemeinsamen Wohnstamme zuströmt.
Mit dieser Auffassung des Blattes als eines vorübergebenden Bewohners des mehrere Jahrtausende lebend überdauernden Stammes (ein so hohes Baumalter ist bekanntlich in einigen Fällen erwiesen) müssen wir es im Einklang finden, daß auch seine Anheftung am Zweige es sofort zu erkennen gibt, daß diese Verbindung auf eine baldige Trennung berechnet ist. Die Anheftungsstelle der Blätter finden wir bei allen Baumarten mehr oder weniger deutlich und scharf bezeichnet, und ist dann das Blatt abgefallen, so hinterläßt es am Zweige eine sehr bestimmt gestaltete Spur seines Standes, wie wir im Schnee oder auf weichem lehmigen Boden die Spuren unserer Fußsohlen zurücklassen. Bei den verschiedenen Baumarten sind diese Blattstielnarben, wie man diese Spuren nennt, verschieden und zuweilen sehr auffallend gestaltet, z. B. bei der Eiche, der Wallnuß, dem Ahorn, der Roßkastanie. Es ist also kein gewaltsames Abtrennen, etwa durch die berüchtigten Herbststürme, was den Laubfall verursacht, sondern die Blätter lösen sich freiwillig von ihrer Stelle, wie sich das Petschaft leicht von dem Lack löst, sobald diese- kalt und hart geworden ist.
Die meisten Blätter stehen mit einer besonderen, regelmäßig gestalteten Anschwellung des Blattstieles, welche am Kastanienblatt fast pferdehufähnlich ist, auf dem Zweige. So lange das Blatt noch frisch und kräftig ist, können wir es nur gewaltsam abreißen und es wird dann meist von der Rinde des Zweiges ein Stück mit abgerissen. Die Verbindung ist also innig und fest. Aber sie besteht nicht dadurch, daß sich die gestreckten Zellen und die sogenannten Gefäße des Zweiges durch die Verbindungsstelle hindurch bis in den Blattstiel verlängern, so wie sich die Holzzellen eines stärkeren Zweiges unmittelbar in die eines dünneren Seitenzweiges verlängern; sondern die Zellen des Zweiges enden in der Ebene der gewissermaßen vorausbedachten Ablösungsstelle, und fast Zelle um Zelle mit ihnen aneinandertreffend, beginnen im Blattstiele neue. Aber zwischen den Enden der Zweigzellen und den Anfängen der Blattstielzellen findet sich, gewissermaßen als ein verbindender Kitt, eine dünne Schicht eines zarten, kleinzelligen Zellgewebes, welches während des Blattlebens das Blatt fest an seine Stelle bindet. In dieser Zellenschicht müssen wir, da sie das Mittel der Verbindung ist, auch die Ursache des Abfallens suchen. Stoßen wir ein dem Abfallen ganz nahes Blatt von seiner Stelle, wozu im rechten Augenblicke die leiseste Berührung ausreicht, so bemerken wir mit dem Vergrößerungsglas an den nun beiderseits sichtbaren Berührungsflächen eine trockene Zellenschicht, welche am Triebe im folgenden Jahre sich rindenartig in eine dünne Korkschicht verwandelt. Ohne Zweifel ist dies die erwähnte zusammenkittende Schicht, die halb sitzen blieb, halb von dem abfallenden Blatte mitgenommen wurde. An beiden Flächen sehen wir einerseits die Enden, andererseits die Anfänge der Gefäße, die z. B. bei der Esche einem liegenden o gleichen und bei der Roßkastanie einen Halbkreis von fünf oder sieben runden Punkten bilden.
Wir haben also die Ursache des Laubfalles in einem Schwinden, in einem Vertrocknen dieser verbindenden Zellenschicht zu suchen, wodurch sie ihre zusammenkittende Kraft verliert. Mit dem Ende des Blattlebens erstirbt diese Schicht. Das Band löst sich freiwillig.
Aber so ganz einfach ist der Vorgang doch nicht. Büsche von Eichen und Hainbuchen, namentlich Hecken von letzterer Baumart, behalten ihr dürres Land meist bis zum kommenden Frühjahre, bis die dem Aufspringen ganz nahen Knospen es von sich stoßen. Hier mag eine noch unerforschte Ursache das bereits längst Erstorbene mumienartig an der Stelle des Lebens festhalten und der neueingetretene Saftstrom, der die Knospen schwellt, die endliche Beseitigung einleiten, und hier ist es vielleicht wirklich die beginnende Ausdehnung der Knospe, was die todten Blätter wegstößt, früher nahm man diesen Grund für den Laubfall überhaupt an. Allein dies war ein Irrthum. Denn die Knospen sind im Spätsommer meist schon lange vor dem Laubfalle fertig. Eben so irrig erwies sich die Annahme, daß das Abfallen des Blattes dadurch bedingt sei, daß der den Sommer über dicker werdende Trieb allmählich die Anheftungsstelle des Blattes ausdehne und dadurch zuletzt das Blatt losdrücke.
Alles bisher Gesagte gilt blos von unseren sommergrünen Laubholzbäumen und von dem einzigen sommergrünen Nadelholz, dem Lärchenbaume, denn bekanntlich fallen dessen Nadeln im Herbst sogar noch früher, als manches Laubholzbaumes Blätter. Die immer- oder wintergrünen Bäume: Fichte, Tanne, Kiefer, Taxus, Wachholder und die in manchen Gegenden Deutschlands gemeine Stechpalme oder Hülse, Ilex aquifolia, ein kleiner Laubholzbaum, sind zwar immer grün, aber sie verlieren dennoch ihre Nadeln und die letztere ihre Blätter, nur nicht in demselben Jahre, wo sie wuchsen; sie verlieren sie auf dieselbe Weise und aus demselben Grunde und an den Zweigen bleiben dieselben regelmäßigen Narben zurück. Im Durchschnitt fallen diese starren Blattgebilde erst im dritten, vierten oder fünften Jahre ab, was trotz der Feinheit derselben den Nadelhölzern doch die dichten Kronen verleibt. An den Laubbolzbäumen stehen die Blätter stets nur an den diesjährigen Trieben, an den Nadelhölzern die Nadeln an den ein-, zwei-, drei- bis vier- und fünfjährigen, ja an jungen Tannen findet man zuweilen noch sechs- und siebenjährige Nadeln.
Darin aber liegt noch ein fernerer erheblicher Unterschied zwischen den Blättern und den Nadeln, daß jedes Laubblatt uns in einer Knospe eine Gewähr der nächstjährigen Verjüngung hinterläßt, während die Kiefer streng nur an den Spitzen der Triebe, und Fichte und Tanne außer diesen Endknospen nur noch einige wenige Seitenknospen an den Trieben hervortreibt. Zum Theil aus diesem Grunde hat die völlige Entnadelung fast immer den unausbleiblichen Tod des Baumes zur Folge, während Entlaubung, etwa durch schädliche Insecten, nur in mehrmaliger Wiederholung den Tod bringt.
Aus dem Leben eines Geretteten. Ueber den Brand der „Austria“
laufen noch immer Mitteilungen ein, aus denen wir schaudernd erfahren,
daß kaum je ein so entsetzliches Ereignis; auf offenem Meere sich zugetragen
hat. Mancher der Geretteten verlebte Stunden, deren Schrecken zu
schildern kaum möglich ist. Unter den glücklich Zurückgekehrten hatte namentlich
der zweite Officier der „Austria“, B. Heitmann, Furchtbares zu
erdulden, ehe eins der Rettungsboote der „Maurice“ ihn fand und aufnahm.
Heitmann ward bald nach Entstehung des Feuers, beschäftigt, eins
der Boote, dessen Führung ihm zukam, herabzulassen, über Bord gedrängt.
Die Angst der Passagiere hatte eine solche Höhe erreicht, daß sie nach der
Schilderung dieses Augenzeugen an Raserei grenzte. Es war unmöglich,
sie abzuhalten von den Booten, um diese zu lösen und in’s Meer zu lassen.
Die Mannschaft, deren Geschäft dies war, konnte sich nur mit Gewalt Bahn
brechen. Als es dem Genannten endlich gelang, die Taue zu lösen, stürzten
sich so Viele auf einmal in das Boot, daß es mit einem gewaltigen Ruck
niederglitt. Der Officier war genöthigt, zu folgen, um das Boot zu steuern.
Durch die Menge der auf einmal sich hinabstürzenden Menschen aber
brach der Boden des Bootes durch, während es fast noch sechs Fuß über
dem Wasser hing. Alle darin Befindlichen sanken kopfüber in’s Meer, und
wahrscheinlich ist kaum Einer dieser Unglücklichen gerettet worden. B. Heitmann,
ein gewandter Schwimmer, behielt jedoch seine Geistesgegenwart. Er
wußte, daß, gerieth er in’s Kielwasser des Dampfers, das ihn zur Schraube
fortreißen mußte, er von den Eisenflügeln derselben rettungslos zermalmt
wurde. Mit Anstrengung aller Kräfte schwamm er daher in’s offene Meer
hinaus. So kam er aus dem Bereich des flammend fortsegelnden Kolosses.
Aber er trug seine volle Uniform und Stiefeln an den Füßen. An baldige
Rettung war nicht zu denken, und schon fühlte er seine Kräfte schwinden!
Wollte er sich schwimmend halten, so mußte er sich vor Allem der behindernden
Fußbekleidung zu entledigen suchen. Nur mit einem Arme rudernd,
unternahm er es, die Stiefeln abzustreifen, ein schweres Stück Arbeit, mit dem
er nach langem Mühen doch glücklich zu Stande kam. Nun aber war er ganz
erschöpft. Um nicht zu sinken, legte er sich auf den Rücken. Da trafen
seltsame Stöße seine Schultern, und die Schnauzen großer Fische wurden
dicht neben ihm sichtbar. War unter diesen Ungeheuern der Tiefe vielleicht
auch ein gefräßiger Hai? Wer konnte das wissen! So begann denn der
Verlassene auf’s Neue zu rudern, bis die Kräfte abermals erschöpft waren
und er doch wieder seine Zuflucht zu der rettenden Lage auf dem Rücken
nehmen mußte. Immer fanden sich dann regelmäßig die stoßenden Fische
ein. Diesen gesellten sich aber noch weit gefährlichere Feinde zu. Es waren
lang- und spitzschnäblige große Seevögel. Die treibenden Leichname
mochten sie angelockt haben, und auch den Lebenden hielten sie für todt. Ihre
Schwingen berührten den auf den Wellen Liegenden und ihre Schnäbel
konnten sich jede Secunde in seine Augen bohren. So in steter Gefahr
schwebend, entweder zu ertrinken oder der Raub eines hungrigen Seefisches
oder endlich durch die nicht zu verscheuchenden Vögel seiner Augen beraubt
zu werden, schwamm der Gerettete volle sechs Stunden im Ocean umher.
Da erst nahete sich das rettende Boot und nahm ihn an Bord. Sechs so
verbrachte Stunden wiegen in dem Leben eines Menschen schwerer als Jahrzehnte.
Durch alle Buchhandlungen ist zu beziehen:
Eine Mitgabe auf des Lebens Pilgerreise.
Dichtungen von Ferdinand Stolle.
Zweite Auflage.
Prachtvoll gebunden mit Goldschnitt 1 Thaler 10 Neugroschen.