Westphälische Erinnerungen – Geheime Polizei

Textdaten
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Autor: Heinrich König
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Titel: Westphälische Erinnerungen – Geheime Polizei
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aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 273–276
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[273]
Westphälische Erinnerungen.
Mitgetheilt von Heinr. König.[1]
2. Geheime Polizei.

Wir berühren in unserer Erinnerung an eine schmachvolle Zeit deutscher Erniedrigung heute einen Gegenstand, der uns leider abermals belehrt, daß es Deutsche waren, die in schmählicher Selbstvergessenheit die Absichten der Eindringlinge auf jede Weise förderten – mit andern Worten, daß französische Polizei am besten von deutschen Subjecten bedient wurde.

Wir sind hier unter uns, in einer vertrauten Gartenlaube: – gestehen wir uns, was ja schon mehr ausgesprochen worden, – es ist mitunter etwas Hündisches in der deutschen Natur, wie ja selbst auch die gerühmte deutsche Treue nicht selten eine etwas hündische war. Keine Nation kann sich an Umfang und Tiefe der Naturbegabung mit der deutschen messen, und keine besitzt so wenig nationalen Stolz, keine andere gibt sich mehr dazu her, die Fremden zu umwedeln.[2] In welchem Bade oder Gasthof begegneten wir nicht alle Tage verzwickten deutschen Reisenden, die lieber schlecht französisch oder englisch belfern, als gut deutsch reden! Und haben wir es nicht neulich erlebt, daß deutsche Veteranen, die einst zu der Münze gehörten, in welcher der Rheinbund an den großen Bewältiger zur Bestreitung seiner Eroberungen die drückende Hundesteuer bezahlte, sich jetzt um das Anhängsel, um das Zeichen der wirklich bezahlten Steuer bemühten?

Die geheime Polizei in Westphalen, in Verbindung mit ihrem Vorbilde, der französischen Polizei, war sehr verzweigt und – man darf auch sagen – verwurzelt, da ja doch die Wurzeln der Bäume eigentlich unterirdische Zweige sind. Die 900 Gensd’armen des Königreichs hatten die gemessenste Instruction im Interesse der geheimen Polizei. Bei dem geringsten Verdacht, auf die frivolste Denunciation hin, fanden die rücksichtslosesten Haussuchungen statt. Lüderliche Ehefrauen, verworfene Weibsbilder, Drehorgelspieler und Bänkelsänger standen im Dienste der Polizei. Es gab in der Schloßstraße in Kassel ein Gesindevermiethungscomptoir unter Leitung der Polizei, um mittelst der dienenden Personen in das Innerste der Familien zu dringen. Am Polizeilocal am „Steinweg“ war neben dem Eingangsthor eine Oeffnung angebracht, durch die man, ohne selbst bemerkt zu werden, heimliche Anzeigen einwerfen konnte. Es diente zur Erleichterung der Angeberei, die sonst vielleicht noch ein wenig blöde oder verschämt gewesen wäre, und auf diesem Wege nicht unverschämt zu werden brauchte. Im Hinterbau der Polizei bestand ein verschwiegenes Cabinet, wo geheime Briefe beantwortet und die Postcorrespondenz geöffnet wurde. Der Generaldirector der [274] Posten, Staatsrath Pothau, ein Schwager des uns bekannten Ministers Grafen Fürstenstein, war ein einverstandener Mann, ein gefälliger, geistloser Mensch, der seine Ignoranz im Postdienste unter vornehmer Miene zu verbergen wußte, ein Mann ohne Charakter, den man ganz richtig als „verschmitzt-geschmeidig“ bezeichnet.

Von jenem schwarzen Cabinet gingen auch erdichtete Nachrichten, als von einem reisenden Kaufmanne herrührend, oder aus London datirt, durch den westphälischen Moniteur in’s Publicum. Auch hatte die Polizei ein besonderes Siegel, mit welchem die Pässe für jene Personen ausgefertigt wurden, auf welche man die besondere Wirksamkeit der die Pässe visirenden Beamten lenken wollte. Man konnte es ein – Uriassiegel nennen.

Wenn die Franzosen in Westphalen an den Deutschen überhaupt ihre ergebensten Diener anerkannten: so thaten sie dies im Fache der Polizei mit gebührendem Hohn, und schoben überall einen Deutschen vor, um da zuzugreifen, wo kein Franzose seine Finger beschmutzen mochte.

Indem wie daran erinnern, daß auch der berühmte Spion der großen Armee sich durch seinen Namen „Schulmeister“ als einen Deutschen verräth, müssen wir leider bemerken, daß die deutschen Polizei-Agenten in Westphalen, besonders ein gewisser Kroschky, es nur allzubald zu der Mißachtung brachten, daß keiner derselben wagen durfte, eines der Expeditionszimmer im Polizeilocal ungerufen zu betreten. Sie mußten wie die Hunde vor der Thür warten, bis sie zum Aufwarten befohlen wurden. Von den Franzosen selbst wurde keiner anders, als mit dem Ehrentitel eines Mouchard – eines Spions, bezeichnet.

Darunter waren besonders einige, die uns, wären sie noch in unserer leibhaften Nähe, das artige Wort Shakespeare’s abnöthigen würden: „Mein Herr, ich wünsche mir ihre entferntere Bekanntschaft!“ – – oder das andre: „Ich hoffe, mein Herr, bei unserer nähern Bekanntschaft auch eine recht gründliche Mißachtung für Sie zu gewinnen!“

Der eine geheime Agent, Namens Würtz, war eine lange, ausgetrocknete, gichtische Gestalt mit kleinem Kopfe, das starke braune Haar über der Stirn gekräuselt. Ein matter, unstäter Blick begleitete sein erzwungenes Lachen; geschminkte Wangen umgaben einen breiten Mund voll morscher Bruchstücke von Zähnen zwischen Kinn und Nase, die spitz hervorragten. Auf seinem Angesicht hatte das Laster unvergängliche Fußstapfen hinterlassen. Sein feiner, modischer Anzug duftete von wohlriechenden Wassern. Seine allgefällige Freundlichkeit konnte rasch eine drohende Miene annehmen, wenn er für leckere Bewirthung in den Gasthäusern ohne Geld über das Bezahlen hinauskommen wollte. Er wurde unverschämt, wenn er spionirte, und spielte, unter Verwünschungen seines Polizeidienstes, den ehrlichen Deutschen, so oft er täuschen und aushorchen wollte. Er knüpfte Verhältnisse mit weiblichen Dienstboten an, um sie über ihre Herrschaft auszuforschen. So brachte er von der Magd eines Büreauchefs im Kriegsministerium heraus, daß ihre Madame ein prächtiges Geburtstagsgeschenk erhalten habe, von den Geldern angeschafft, die bei der letzten Militairziehung von einigen Bauern in die Tasche des Büreauchefs gefallen seien. Würtz beeilte sich mit einer so feinen Entdeckung, und der Beamte wurde entlassen.

Der alte Sünder verlockte, wo er konnte, junge Mädchen zur Liebschaft, um sie dann unter der Drohung, sie als lüderliche Dirnen anzuzeigen, zu seinen Spionirungen zu brauchen. Seine Frau, als die „Halle’sche Mine“ berüchtigt, wirkte als geheime Agentin bei Männern, die nicht zu ekel waren, in ihre Falle zu gehen. Würtz verschmähte es nicht, an den Stubenthüren zu horchen, hinter denen sich angesehene Männer versammelt hatten. Dennoch versichert uns ein Zeitgenosse, der ihn gekannt hat, er sei nicht aller Gutmüthigkeit bar – und nicht so bösartig gewesen, als der früher genannte Kroschky.

Ein zweiter Agent, Steinbach, war als Kundschafter mit einer schlimmen Schwäche behaftet. Er trieb sich hauptsächlich in den Wirthshäusern herum, hatte aber das Unglück, wenn man ihm einen Rausch beibrachte, alles zu vergessen, was er zu einer polizeilichen Anzeige beobachtet oder erlauscht hatte. Dieser berufswidrige Fehler seines Naturells würde ihn gar bald um seinen Dienst gebracht haben, hätte er sich nicht auf andre Weise zu empfehlen gewußt. Bergagny, der Generaldirector der hohen Polizei, den wir noch werden kennen lernen, gab nämlich, als er seine Familie von Paris kommen ließ, diesem Steinbach die liebenswürdige Person zur Frau, mit der er bisher, in Ermangelung seiner Gemahlin, sehr zufrieden gewesen war. Diese erfahrne Person hielt den glücklichen Steinbach dadurch aufrecht oder, wie man zu sagen pflegt, über Wasser, daß sie als noch ganz artige Mitspionin ein einträgliches Revier betrieb und ihm die beste Aushülfe leistete.

Der Dritte in diesem Kleeblatte zeichnete sich durch sein robustes Aussehen, schwarzes Haar, starke Augenbrauen, durch sein tiefliegend stechendes Banditenauge und eine hohe, braunrothe Gesichtsfarbe auffallend aus. Es war der Jude Hirsch, der sich auch Cerf oder Cerfy nannte. Die Franzosen fanden ihn, als sie im Jahre 1806 gegen Preußen anrückten, in Frankfurt am Main, mit dem Barbierbecken umherlaufend. Rasch schleuderte er den Seifenschaum von den Fingern und stürzte sich auf gut Glück in den Strom der großen Armee. Mit ihr kam er nach Berlin und von da nach Kassel, – ein gemeiner, unwissender, roher Bursche, dummdreist in seinem Dünkel, boshaft listig bei seinem Prahlen mit vornehmen Bekanntschaften, besonders wenn er darauf ausging, unter Schimpfen auf seine Vorgesetzten, treuherzige Menschen zu verlocken.

Als später, zur Zeit der aufständischen Bewegungen in Deutschland, der Herzog von Braunschweig-Oels mit seinem Corps über Halle und Halberstadt gen Braunschweig zog, gab sich Cerf für einen Officier des Herzogs aus, wiegelte westphälische Bauern auf und führte sie, statt zum Heer des Herzogs, – vor ein westphälisches Kriegsgericht.

Recht bezeichnend für jene Zeit ist auch die Geschichte, die mir ein Mann mitgetheilt hat, der damals selbst in einem Büreau der Polizeiverwaltung angestellt war.

Eines Tages lief von dem General-Commissar der hohen Polizei in Marburg, Herrn von Wolff, der Bericht ein, die Gensd’armerie habe einen sehr verdächtigen, aller Legitimation baren Menschen eingebracht, der sich unbedingt weigere, Auskunft über sich zu geben. Ehe noch ein Beschluß des Ministeriums gefaßt war, kam die weitere Anzeige, der Unbekannte sei auf unbegreifliche Weise entwischt, und sofort erfolgte die dritte Meldung, der Flüchtling sei wieder festgenommen, wolle aber nur in Kassel selbst Erklärungen abgeben, und falls man ihm Straflosigkeit und Freiheit verbriefe und eine Anstellung im Polizeifach verspreche, wo er sich höchst nützlich machen könne, sei er bereit, die umfassendsten Geständnisse zu machen, die das Glück und den Wohlstand von Unzähligen sicherstellen würden.

Dieser außerordentliche Fall gab Anlaß zu lebhafter Verhandlung zwischen dem General Bongars als Gensd’armerie-Obersten und dem Justizminister Simeon, und führte zu einem gemeinschaftlichen Bericht an den König. Jerome entschied für das Begehren des Gefangenen; die verlangten Zusagen wurden demselben durch Herrn von Wolff zugestellt, und er gab nun seine Mitteilungen zu Protokoll.

Der Gefangene nannte sich Karl Wenderoth und gab sich für den Anführer der aus den Trümmern der berüchtigten Schinderhannes’schen Räuberbande gebildeten und von allen Seiten her rekrutirten großen Bande aus, die seit Jahren schon die westphälischen Provinzen, die Wetterau, den Spessart und die beiden Rheinufer durch Straßenraub, Einbruch, Brand und Mord in Schreck und Angst gesetzt und alle von den Behörden gegen sie ergriffenen Maßregeln bis jetzt vereitelt hatte. Wenderoth machte sich verbindlich, unter Beistand der Gensd’armerie, der Polizei und des Militairs alle seine bisherigen Genossen einzufangen und eine Menge des versteckten Raubes zur Entdeckung zu bringen.

Man traf seine Anstalten hiernach, und es sollen über hundert (vielleicht unschuldig) Angeklagte vor die Tribunale, besonders vor das Kasseler, gebracht worden sein, denen allen Wenderoth als Hauptzeuge gegenüber gestellt wurde, was zu den grausenhaftesten Erörterungen führte. Dreizehn wurden von den Geschworenen zum Tode und eine große Zahl zum Zuchthaus verurtheilt. Was mit den verborgenen Schätzen geworden ist, wissen wir nicht.

Der Held dieser großen That, ein Mann vom Aussehen eines gutmüthigen, behäbigen Bürgers, trat nun als Agent in polizeilichen Dienst, ergab sich aber mehr und mehr dem Trunke, so daß er wiederholte Arreststrafen erhielt, und ging bei den großen Umwandlungen, die der Herbst des Jahres 1813 über Deutschland brachte, gänzlich verschollen.

Bergagny, der Generaldirector, ein hübscher Mann über mittleres Alter, besaß Verstand und Beredsamkeit, Kenntnisse und Geschmack. Er war früher Mönch gewesen, und die Kutte, die er [275] abgeworfen, hatte ihrem Ungetreuen unvertilgbare Angewöhnungen hinterlassen, ihn gleichsam für immer gezeichnet. Er hieß eigentlich Legras, hatte den Familiennamen seiner reichen Frau „de Bergagny“ noch dazu genommen, und nannte sich Chevalier. So bildete sich aus dem Anspruch des Ritterlichen, aus dem Benehmen für das Polizeiliche zu seiner klösterlichen Haltung eine sehr eigenthümliche Erscheinung. Er konnte sehr liebenswürdig sein, so lange ihn sein Temperament nicht zu Härte und Unbesonnenheit hinriß. Das Deutsche war ihm fremd, und seine Maßregeln hingen mithin von den französischen Berichten ab, die er erhielt. Wie sehr er aber auch im echt französischen Sinne verwaltete, geht daraus hervor, daß er einst, bei Durchsicht der Strafregister, als man die abnehmenden Polizeistrafen mit der Abnahme der Vergehen und Verbrechen entschuldigte, sehr unzufrieden ausrief: „Il faut créer des crimes!“ (Man muß Verbrechen hervorrufen!)

Aber auch in seiner klugen und taktvollen Rücksichtnahme zeigte sich der Franzose. Er hatte ein Töchterchen von acht bis neun Jahren, in Paris erzogen und durch ungemein graciöses Wesen ausgezeichnet. Wenn es auf Kinderbällen eine französische Quadrille mit tanzte, erhob sich Alles von den Spieltischen, um der kleinen anmuthigen Tänzerin zuzusehen. Es läßt sich denken, in welcher Verzweiflung die vernarrten Eltern bangten, als ihr Liebling einst schwer erkrankt lag. Der Arzt H. behandelte das Kind, und es genas. Als der vergnügte Vater den Arzt mit Worten des Dankes und einem artigen Geschenk entließ, drückte er ihm zugleich ein Päckchen Papiere in die Hand. Zu Hause geöffnet, enthielt es mehrere Briefe des Arztes, an verschiedene Freunde geschrieben und ihres freimüthigen Inhaltes wegen von der Polizei bei der heimlichen Eröffnung zurückbehalten. – – – War dies eine schonende oder die kluge Rücksicht, erst noch mehr solche Briefe abzuwarten, ehe man dem Schreiber den Proceß mache?

Bergagny war lange ein Günstling des Königs, bis Jerome einst, sehr ergrimmt darüber, daß der kaiserliche Bruder alle, auch die kleinsten Vorfälle vom Kasseler Hof kannte, von Paris zurückkam und von Bergagny wissen wollte, wer wohl die verrätherischen Berichte an den Kaiser abstatte. Der Polizeidirector wußte es nicht und konnte es nicht ermitteln. Dies verstärkte nur noch mehr den Unwillen des Königs. Da versprach ihm Bongars, der Legionschef der Gensd’armerie, den Berichterstatter auszumitteln. Er schickte einen gewandten Menschen nach Paris, der im Einverständnisse mit der Post alle Kasseler Briefe eröffnete. Da ergab sich denn der General-Commissar der Polizei in Kassel, Herr Savagner, als der Verräther. Alsbald wurde derselbe des Landes verwiesen, Bergagny ungnädig entlassen, und Bongars zum Generaldirector der hohen Polizei bestellt.

Bongars, Staatsrath und Ritter des holländischen Ordens, ein Sechziger von hohem, stattlichem Wuchs, etwas mager und in seiner Haltung vorgebeugt, trug kurzes graues Haar, war weit weniger als Bergagny unterrichtet, aber von bedeutenden Gesichtszügen und freundlichem Aeußeren, so sehr er auch wieder Hitzkopf und ziemlich brutal sein konnte. Er hatte noch als Edelknabe am Hofe Ludwig’s XVI. gestanden und war jetzt ein braver Hausvater. In der öffentlichen Meinung war er verhaßt, da man wußte, daß er durch seine Gensd’armen die Familien überwachen ließ. Auch war von ihm das Verbot veranlaßt, daß kein Beamter einen – Bart unterm Kinn tragen durfte. Er wollte nämlich wissen, daß solches Barthaar das Abzeichen, das Erkennungszeichen der Mitglieder des preußischen „Tugendbundes“ sei, – einer Verbindung in Preußen, deren wir noch gedenken werden.

Seiner nicht allzugroßen Fassungsgabe begegnete eine fast unglaubliche Täuschung, die uns einen tiefen Blick in die damalige Lage der Kasseler Verhältnisse thun läßt.

Zu einer vacanten Schreiberstelle in den Bureaux der Gensd’armerie meldete sich nämlich eines Tages bei Bongars, dem Legionschef, ein mit den besten Zeugnissen versehener junger Mensch aus einer armen, aber als ehrenwerth bekannten bürgerlichen Familie. Er gefällt dem freundlichen Manne, wird für die Stelle angenommen und macht sich auch sehr bald durch Fleiß, Aufmersamkeit und Hingebung an das Interesse der neuen Regierung so beliebt, daß Bongars ihn bei seiner Militairpflicht durch Aufnahme in das Gensd’armerie-Corps in der Weise erleichtert, daß er, ohne ihn wirklich Dienst thun zu lassen, seinen Namen in den Controlen des Corps vorrücken läßt, um ihm dadurch den Zuschuß der Löhnung zu seinem Gehalte als Schreiber zuzuwenden. Nicht zufrieden damit, zieht er ihn auch in seinen liebenswürdigen Familienkreis, sorgt durch Privatunterricht für seine höhere Ausbildung und verschafft ihm dann einen Platz mit ansehnlichem Gehalte im Generalsecretariate des Ministeriums der hohen Polizei. Ja, er dehnt dies Wohlwollen auf die Familie des jungen Menschen aus und bringt einen seiner Brüder auf die einträgliche Stelle eines Kriegscommissars. Kurz, er handelt als Vater an ihm, hat kein Geheimniß vor ihm und überhäuft ihn mit Beweisen von Liebe und Vertrauen. Und der Schützling erkennt dies auch und vergilt Alles durch die lebhaftesten Darlegungen von Dankbarkeit und Ergebenheit. Früh und spät ist er auf seinem Platze. Bei allen lauten Huldigungen für den König und zu Gunsten der öffentlichen Gewalt gibt er den Ton an. Wenn, um eins anzuführen, bei festlichen Gelegenheiten der König und die Königin im Theater die große Loge betreten, und das Orchester die Melodie des alten beliebten Volksliedes anhebt: „Où peut-on être mieux qu’au sein de sa famille?“ ist gewiß der junge Mann der Erste, der durch Zuruf und Händeklatschen sein Entzücken beurkundet und das Publicum zu gleichen Beifallspenden herausfordert.

So schwang er sich immer höher in der Gunst des Generals Bongars, der Familie desselben und der öffentlichen Behörden, die alle in ihm den dankbarsten Menschen und den treuesten Anhänger der Jerome’schen Herrschaft erkannten.

Dies dauerte Jahre lang, bis gegen Ende September 1813 Kassel eines schönen Morgens von dem fliegenden Corps Czernitschew’s, der über die Elbe gegangen war, überrascht wurde. Dieser feindliche Besuch kam so unvermuthet neben der großen Armee her, daß kaum eine halbe Stunde voraus die Stadt von einigen dem Feind entgangenen Gensd’armen aufgeschreckt wurde. Doch brachte man es noch dahin, daß durch die guten Maßregeln des ausgezeichneten Artilleriegenerals Allix, durch die tapfere Haltung der Soldaten auf der Fuldabrücke, durch eine Batterie unter dem Befehl des Prinzen Salm und besonders durch die wohlgerichteten Schüsse der Gardejäger unter dem Prinzen von Hessen-Philippsthal der Einzug Czernitschew’s aufgehalten wurde. Während dessen hielt Jerome auf dem Schloßplatze einen Kriegsrath, nach welchem er selbst und die Minister unter Bedeckung der Garde du Corps die Residenz durch das Frankfurter Thor verließen und Allix das Generalcommando übernahm. Am Abende kam auf Andrängen der Behörden und der Bürger eine Uebereinkunft zur Uebergabe der Stadt zu Stande, in Folge welcher die westphälischen Truppen durch das holländische Thor abzogen und zwei Stunden später Czernitschew seinen Einzug hielt. Durch die gute Mannszucht des russischen Generals gingen alle Geschäfte, ja selbst die gewohnten Vergnügungen des Theaters ihren gelassenen Gang.

Aber was wurde mit unserem jungen Manne, dem Günstlinge des mitentflohenen Bongars? War er seinem Gönner gefolgt?

Vom Augenblicke des Abzugs Jerome’s war er unsichtbar geworden und man zweifelte nicht, er sei mit seinem Wohlthäter entflohen, bis nach dem Rückzüge Czernitschew’s, der sich nur wenige Tage mit seinem Corps in Kassel hielt, das Gerücht sich verbreitete, der arme Mensch sei in seinem Versteck aufgefunden und als Gefangener mit fortgeführt worden. Einige wollten ihn auch in einem von Kosaken begleiteten Wagen erblickt haben. Jedenfalls war er fort und blieb es auch, als der König Jerome bald wieder in seine Residenz zurückkehrte. Bongars, der mitkam und das Schicksal seines Lieblings erfuhr, war untröstlich darüber und soll zu Thränen gerührt gewesen sein.

Erst als Jerome, nach der Schlacht bei Leipzig, am 26. Oct. zum zweiten Male und für immer aus Kassel floh, kam unser junger Mann wieder zum Vorschein, und zwar im Gefolge des damaligen Kurprinzen, Vaters des jetzt regierenden Kurfürsten. Und nun erfuhr man denn, daß er nicht als Gefangener, sondern als Schützling Czernitschew’s Kassel verlassen hatte. Diesem russischen General hatte er sich nämlich entdeckt und durch Documente als einen treuen Anhänger des Kurfürsten ausgewiesen, dem er unter der Maske der Ergebenheit gegen die Franzosen und durch seine Stellung bei der Polizei begünstigt, über alle, auch die geheimsten Vorgänge in Kassel genaue Berichte nach Prag auf verabredeten Wegen regelmäßig erstattet hatte. Das Unerhörte war ihm gelungen und es bleibt höchst merkwürdig, daß die oberste Polizeigewalt, zum Schutze des Königs organisirt, einen so gefährlichen Gegner in ihrem eigenen Schooße gehegt und aufgenährt hatte.

[276] Der so verdienstvolle junge Bursche zog nun als reitender Jäger mit nach Frankreich. Hier konnte er seinem dankbaren Herzen nicht widerstehen und gab, wie er sich selbst gerühmt haben soll, dem edelmüthigen Bongars, seinem so lange getäuschten Wohlthäter, beruhigende Nachrichten von sich und über seine russische Gefangenschaft. Nach Beendigung des kurzen Feldzuges wurde er in den Adelstand erhoben und schien sich als brauchbar zu diplomatischen Geschäften praktisch erwiesen zu haben. Wirklich lebt er noch als diplomatische Excellenz, – rathet, wo? Wir selbst wollen es heute noch nicht verrathen.




  1. Siehe Jahrgang 1858. Nr. 46.
  2. Nationaler Stolz? Man macht der deutschen Nation stets diesen Vorwurf, ohne zu bedenken, daß bei den vielen „Maßregelungen“, mit denen von oben herab jeder Nationalregung in’s Gesicht geschlagen hat, das Erstarken eines Stolzes doch geradezu eine Unmöglichkeit war. Sollen wir – um nur von der Neuzeit zu sprechen – an die Versteigerung der deutschen Flotte, an die schleswig-holstein’sche Schmach, an das bleiche Erschrecken deutscher Cabinete vor den Noten und Arroganzen irgend eines – – – Abenteurers erinnern? Wo soll unter solchen niederdrückenden beschämenden Eindrücken noch der Stolz herkommen? Es gehört die Zähigkeit, die unendliche Hingebung und Vaterlandsliebe des deutschen Volkes dazu, um das Alles zu vergessen und Gut und Blut anzubieten, wie es in den jüngsten Tagen geschah, wo es galt, die Frechheit und Anmaßung des Auslandes in die Schranken zurückzuweisen.      D. Redact.