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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1857
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[241]

No. 18. 1857.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Die Marquise Pescara.
Ein Gemälde Tizian’s in der Dresdner Gallerie.
Von A. v. Sternberg.[1]

Unter den schönen Frauen Roms, zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, war Junia, die Fürstin Romagnola, die schönste. Ihr Wuchs hielt sich in dem reinsten Ebenmaß der Antike, ihr Antlitz zeigte, bei aller Vollendung der Form, wenn man etwas tadeln wollte, zu große Ruhe, man möchte sagen, Kälte. Nichts erschütterte diese junonischen Züge. Ein Reiz von Gefälligkeit und Lieblichkeit wäre eine Unmöglichkeit gewesen, allein er würde es bezaubernd gemacht haben, während es jetzt nur befehlend und herrschend war.

Junia war die einzige Tochter eines der reichsten Adelshäuser Roms, ihr Vater, der Fürst Romagnola, stand in hohem Ansehen, er hatte den Ruf eines strengen Mannes von untadelhaften Sitten. Sein Name wurde zuerst genannt, wenn es auf Vollbringung einer That ankam, dem Vaterlande wichtig und der Gesammtheit von Nutzen. Wenn man ihn suchte, fand man ihn, aber man mußte ihn suchen, da wo man die stolzen Erlen suchte, die sich ihres Werthes bewußt waren. Fügsamkeit und Geschmeidigkeit war nicht seine Sache, obgleich er höfischer Sitte zugethan war. Der Papst Paul III. erhob ihn zu einem Großwürdenträger des römischen Stuhls und Carl V. fügte in das Wappen des römischen Edlen die drei rothen Lilien des castilianischen Adels. Diese Auszeichnungen erfreuten den Fürsten, aber sie überraschten ihn nicht: sein Stolz war auf sie gefaßt.

Tizian’s Madonna.

Aehnlich dem Vater war Junia. Auch sie trug das Haupt hoch. Man sagte sich in Rom, daß sie des Vaters Geheimsecretair sei, wenigstens wußte man, daß sie mit ihm arbeitete, und daß, wenn man sie aus der Thüre des Cabinets ihres Vaters treten sah, irgend eine wichtige Entscheidung zur Reife gediehen sei. Die fremden Fürsten, sowie ihre Gesandten blickten zuerst auf die umwölkte oder auf die heitere Stirn Junia’s, wenn sie sich Gewißheit verschaffen wollten, ob das, was sie durchzusetzen gekommen waren, durchsetzbar war oder nicht. Ein zürnendes Auge der jungen Fürstin erschreckte, ein sinnendes weckte Hoffnungen, ein niedergesenktes lähmte diese Hoffnungen und ein offenes, freies machte Glückliche. Ein lächelndes sah man nie. Ehe hätte man sich Pallas Athene lächelnd denken können.

Paul der Dritte hatte den päpstlichen Thron bestiegen mit schwankendem Fuße und unsicherem Blick. Mißtrauend, wie er war, sah er dicht neben seiner Erhöhung seinen Sturz. Der Boden unter ihm schien zu beben und er getraute sich keinen sichern Schritt zu thun. Aus der dumpfen Enge einer Klosterzelle hervorgegangen, hatte er nie gelernt, einen großen und freien Blick auf die Geschicke der Menschen zu werfen und sein Geist nahm die Richtung zu Kleinlichem und Armseligem hin. Romagnola war es, der ihm Stütze und Halt wurde. Der Stolz und der Trotz dieses Mannes legten in die Seele dieses Greises zu Zeiten feste Entschlüsse und eifrige Thaten. Aber es gab Augenblicke, wo dieser Günstling ihm ebenfalls verdächtig wurde, so wie er alle Welt beargwöhnte, und diese Zeichen der Schwäche benutzten des Fürsten Feinde, um ihn zu stürzen. Es gelang ihnen ihr Plan nicht, aber so viel erreichten sie, daß Romagnola durch Gesandtschaftsreisen öfters dem [242] persönlichen Verkehre mit Seiner Heiligkeit entzogen wurde. Und dies war ihnen ein mächtiger Vortheil.

Wir richten unsern Blick auf Junia; denn mit ihr haben wir es ausschließend zu thun. Sie verließ ihren Vater nie. Mochte es sein, daß man ihn nach Spanien sandte, an den Hof Frankreichs oder zu einem der kleinen italienischen Fürsten, sie war stets in seinem Gefolge. So sehen wir sie denn auch jetzt, wo unsere Erzählung beginnt, an dem Hofe zu Ferrara, wo damals sich drei berühmte Männer aufhielten: Ariost, Aretino[2] und – der noch junge Tizian, aber bereits durch geniale Schöpfungen seines Pinsels bekannt. Man kann sich denken, welchen Eindruck auf diese an sich so verschiedenen poetischen Naturen die Erscheinung eines Weibes machte von dem großartigen Schönheitsgepräge der jungen Fürstin. Sie entschlossen sich alle drei, ihr den Hof zu machen, und sie fanden einen Nebenbuhler in dem Herzog, der sich beeilte, den Vater mit Gunstbezeigungen zu überschütten, um dadurch die Tochter für sich zu gewinnen. Doch die Göttin blieb auf ihrem Siegeswagen, sie stieg nicht herab, um Einen aus diesem Gefolge zu wählen. Der berühmte Sänger des Orlando fand keine Demüthigung des Stolzes darin, die Nächte hindurch wie ein gewöhnlicher Citherspieler unter dem Fenster des Palastes zu stehen, um sein Lied zu singen – vergebens. Tizian bemühte sich um nur eine Sitzung, um eine Skizze zu vollenden, die er im Geheimen angefangen; er erhielt diese Gunst nicht, und Aretino’s schönste Sonnette blieben unbeachtet. Nur den Artigkeiten des Herzogs wurde ein gemessenes Entgegenkommen gezeigt, aber dieses galt der Diplomatie, nicht der Liebe. Verzweifelnd über die Kälte des göttergleichen Weibes entschloß sich Ariost, den Hof zu verlassen, Tizian stürzte sich in ein theologisches Thema und malte ein Concil der Kirchenväter, die über die unentweihte Empfängniß Mariä disputirten, nur Aretino, der boshafte, der tückische Aretino, beleidigt, sich abgewiesen zu sehen, verließ den Gegenstand früher seiner Liebe, jetzt seines Hasses, nicht und sann auf eine Gelegenheit, um sich zu rächen.

Der Fürst verließ mit seiner Tochter den Hof von Ferrara; Aretino begleitete ihn nach Rom. Er war der angenehmste Gesellschafter, den man sich wünschen konnte. Geistvoll, witzig, immer bereit, ein treffendes Wort zu geben und zu nehmen, stets in heiterer Laune und voll von Aufmerksamkeiten gegen die, denen er sich verpflichtet zeigen wollte. Ein gewandter Weltmann, wie es keinen zweiten gab, hatte er den weitesten Horizont vor sich, und da die Empfindlichkeit und Reizbarkeit seines Gewissens ihn nicht beengte, so erweiterte er diesen Horizont auch gelegentlich nach Richtungen hin, wo das Auge eines ehrlichen Mannes nicht hindringt. Boshaft bis in die tiefste Falte seiner Seele hinein, zeigte er die offene Stirn und das heitere Lächeln einer Natur, die Ursache hat, zu glauben, daß sie sich ebenso mit dem Himmel wie mit der Erde gut stehe. Er, der seine Feder angesetzt hatte, um die berüchtigten Gemälde Julio Romanos so zu erklären, daß die Linien, die die Feder zog, noch die an Zügellosigkeit übertraf, die der Griffel vorgezeichnet hatte; ich sage, dieser Mann machte, wenn er wollte, so reizende Schäfergedichtchen, daß sie die Unschuld selbst mit Entzücken las. Junia wußte, was sie an ihm hatte: sie wollte ihn auch gern zum Gesellschafter, nur nicht zum Liebhaber, und da Aretin auf diese Stellung verzichtet hatte, so gab ihm Junia Ersatz, indem sie ihm zeigte, wie sehr sie mit ihm harmonirte, wenn es darauf ankam, über Bücher, Menschen und Dinge ein Urtheil zu fällen.

„Sie ist ein Teufel,“ schrieb er an Ariost, „aber ich werde sie zu meinen Füßen legen. Ich oder sie – Einer von uns muß siegen. Nie hat mich ein Weib so beschäftigt, wie dieses – das soll sie mir entgelten. Ich sinne über meine Rache, wie ein Poet über sein Gedicht. Ich sitze Nächte lang auf und ziehe sie heimlich groß, und freue mich an ihrem Wachsthum. Armer Ariosto, der Du glaubtest, dieses Weib könne durch einen schönen Vers besiegt werden! Es sind andere Mittel nöthig – um daß sie falle. Für’s Erste habe ich schon bemerkt, daß sie mit ihrer Stellung nicht zufrieden ist, sie will noch unabhängiger dastehen, als es bei diesem sie verzärtelnden Vater der Fall ist. Dies kann nur durch Heirath geschehen. So weit hab ich sie. Jetzt gilt es, den Mann zu finden. Ich will mich unter meinen Schülern umsehen. Es ist nicht die erste Frau, die ich verderbe! Erkundigt Euch, Freund Ariosto, nach einem gewissen Bernardo, er muß jetzt in Neapel verweilen, wenn er nicht als Bravo im Albaneser Gebirge umherstreift. Denn wie ich ihn verließ, war er von allen Mitteln entblößt, und wurde von den Sbirren verfolgt. Schreibt mir, was ihr über ihn in Erfahrung gebracht habt. Lange Zeit habe ich mich damit abgegeben, diesen jungen Mann zu bilden – für meine Zwecke; dann wurde mir die Arbeit zu mühevoll und ich ließ ihn seiner Wege gehen. Es thut mir leid, mein Entschluß war vielleicht zu rasch, ich hätte länger ausharren sollen; allein der Draht, den ich befestigte, um ihn nach Gefallen daran zu ziehen, wollte nicht haften, ich wurde ungeduldig, was ich doch sonst nicht leicht werde. Jetzt will mir sein Bild nicht aus dem Kopfe. Er ist über alles Maaß hinaus wild, frech und zügellos, aber dabei mir gehorsam. Wir wollen sehen, was sich nachholen läßt. Vor allen Dingen muß er aus dem Schlamm gezogen werden, in welchen er sich jetzt gestürzt. So können wir ihn nicht brauchen.“

Einige Wochen später schrieb Aretin nochmals:

„Was Ihr mir von dem Bernardo schreibt, trifft zu. Er war also eingefangen und sollte bereits auf die Galeere abgeliefert werden. Der Commandore, dem Ihr mein Schreiben abliefert, der mein Freund und mir Dank schuldig ist, weil ich ihn einst aus einer häßlichen Geschichte gerissen, hat, wie ich es gewünscht, rasch gehandelt und den Bernardo entschlüpfen lassen. Nun will ich mit ihm eine Zusammenkuft halten und ihn instruiren. Sollte er für diesen Zweck nicht tauglich sein, so bringe ich ihn in päpstliche Dienste, und er muß mir als Spion diejenigen überwachen, von denen ich etwas zu fürchten habe. Doch ich hoffe, er wird meine Erwartungen erfüllen. Ihr schreibt mir, theurer Bruder, daß Ihr den Burschen nicht so schön findet, als Ihr nach meinen Andeutungen ihn zu finden den festen Glauben gehabt. Laßt ihn nur erst in feinem genuesischem Sammet stecken, mit der goldenen Kette um den Hals! Sein schwarzes wildes Lockenhaar, seine dunkeln, glühenden Augen! Ich will ihn schon die Kunst lehren, alles dieses und noch manches Andere in’s gehörige Licht zu stellen! Dazu bin ich der Mann. Beim Bacchus, wozu hätte ich denn meine Weiberkenntniß! Der Fürst geht nach Madrid, seine Tochter natürlich mit ihm, sie sollen Carl V. von Seiten Sr. Heiligkeit beglückwünschen und ihn nach Rom zur Krönung einladen. Der Fürst, der ohne mich nicht leben kann, hat mich gebeten, ihn zu begleiten. Ich gebe mir die Miene, als folgte ich aus Höflichkeit und erzwungen dieser Einladung, die mir das Erwünschteste ist, was mir hätte kommen können.“

Nach Verlauf dreier Monate sehen wir Junia am Hofe zu Madrid. Sie ist die Sonne, um die sich Alles bewegt. Carl, der Held des Tages, nicht mehr jung, aber immer noch ein Glücksjäger bei den Schönen, wetteifert mit seinem jugendlichen Sohne, Philipp, der schönen Römerin ein Lächeln zu entlocken. Feste folgen auf Feste; der spanische Adel tummelt in Festturniren seine andalusischen Rosse, um den stolzen Blick der jungen Fürstin auf sich zu lenken. Die Sonne von Sevilla hat farbige Früchte gereift, glühende Romanzen und Notturnos, und diese werden unter dem Balkone der kaiserlichen Hofburg von verführerischen Stimmen in die blaue Mondnacht gesendet. Was tausend Frauen rührt, Junia rührt es nicht. Sie bleibt kalt, ruhig, leidenschaftslos, immer bedacht, die Schritte ihres Vaters zu leiten, auf seinem Wege die Hindernisse hinwegzuschaffen, kurz, immer mit Politik beschäftigt, und wenn sie sich eine müßige Stunde gönnt, so verplaudert sie diese mit Aretin, mit dem sie zusammen Sonnette dichtet und Epigramme fertigt. Auch mit Ariost bleiben Beide im Briefwechsel. An den Letzteren schreibt Aretin:

„Erwäge meine Lage! Immer in der Nähe eines Weibes, das ich bis zum Wahnsinn begehrt habe und das ich jetzt vernichten will. Je liebenswürdiger sie sich mir zeigt, um so schärfer wetze ich mein Messer. Ich hole aus zum Stoße, während sie, nichts ahnend, lächelnd und sicher an meiner Seite sitzt. Kalt und berechnend, gehe ich Schritt vor Schritt weiter, und ziehe meine Pflanzen, wie der sorgsame Gärtner groß, indem ich sie vor jedem Nachtwind, jedem Sturmwind hüte.“

Im Gefolge des Gesandten der Republik von St. Marco erschien am Hofe Carl’s ein Marquis Pescara, ein Mann, der die Blicke auf sich zu lenken wußte. Groß, schön gewachsen, mit dem Anstand eines Fürsten, machte er zugleich den Eindruck eines Piraten, der die Welt, mit tausend Gefahren kämpfend, durchzogen hatte. [243] Unbeugsamer Trotz lag in seinen Augen und Wildheit und Spott leuchtete unter den schwarzen Wellen seines gekräuselten Bartes. Man war neugierig über seine Herkunft, doch waren die Zeugnisse da, daß sein Wappen ein untadeliges sei, und Mitglieder seiner Familie sich in den Registern des goldenen Buches des venetianischen Adels fanden. Dies genügte. In einer Zeit, wo so viele glückliche Abenteurer umherzogen, die Söhne von Vätern, die diese Söhne nicht anerkannten, wollte und konnte man nicht so genau prüfen. War doch Don Juan von Oesterreich selbst ein solcher Abenteurer. Der Marquis Pescara wurde mit Beifall aufgenommen, und Aretin führte ihn in dem Hause des Fürsten Romagnola ein. Junia gab nicht das mindeste Zeichen, als wenn sie sich mit dem neuen Ankömmlinge beschäftige, und doch war dem so.

Eines Tages sagte sie zu Aretin, als sie eben die Satyren des Lucian gelesen hatten, eine Lectüre, die Junia liebte und die Aretin vortrefflich zu illustriren wußte, indem er sie auf die Gegenwart anwendete: „Signor, gebt mir einen Rath, soll ich mich vermählen?“

„Wozu? seid Ihr mit dem Manne nicht zufrieden, den Ihr habt?“

„Ich, einen Mann?“

„Nun ja, Ihr habt Euch selbst; die schöne Hülle ist eine Lüge: ein Weib seid Ihr nicht.“

„Ihr sucht das Weib nur in der Schwäche.“

„Sollen wir sie in der Stärke suchen, was sind wir Männer denn?“

„Was Ihr stets gewesen seid; so lange die Stärkeren, als kein Stärkerer kommt.“

„Sei es; doch was hat das mit der Ehe zu thun? Die großen Geister heirathen überhaupt nie. Sie schließen augenblickliche Verbindungen, die sie rasch zerreißen, wenn sie ihnen lästig fallen. Nur der grosse Haufe schließt Ehen, weil es des großen Haufen Geschäft ist, die Welt zu bevölkern. Was macht sich ein Philosoph daraus, Vater genannt zu werden? Er, der die Ideen seine Kinder nennt?“

„Genug! was sagt Ihr von dem Marquis Pescara?“

„Der Venetianer?“

„Derselbe.“

„Wenn ich zu wählen hätte, würde ich ihn nicht wählen, er beweist zu wenig Fügsamkeit und Unterwürfigkeit. Hat er auch noch je eine Serenade gebracht?“

„Ist das nöthig?“

„Wenn er auf den Saiten eines Herzens spielen will, muß ich vorher sehen, daß er die Saiten der Cither zu rühren weis?, sagt die Catalonierie.“

„Ich liebe die singenden Männer nicht, sie sollen reden oder – schweigen.“

„Das letztere ist die Eigenschaft unseres Helden.“

„Sagt ihm, daß er heute bei dem Feste nicht fehle, das man meinem Vater zu Ehren gibt. Es ist das Abschiedsfest, morgen gehen wir nach Rom zurück.“

„Ich werde Euren Auftrag bestellen, Signora.“

Aber er bestellte diesen Auftrag nicht. Wie die Kerzen im hellglänzenden Prachtsaale schimmerten, war unter der Menge Einer nicht zu finden, und dieser Eine war der Marquis von Pescara. Junia hatte ihn schon gesucht und sie flüsterte jetzt ihrem Vertrauten zu: „Habt Ihr ihn herbeschieden, wie ich gesagt?“

„Signora, dieser Wildfang hat es vorgezogen, eine Jagdpartie, die schon längst verabredet war, heute abzuhalten. Er läßt sich entschuldigen.“ Die Fürstin erwiderte nichts; es war nicht der leiseste Zug von Bewegung in ihrem Gesichte zu lesen, und dennoch las Aretin darin, daß er gesiegt habe. Diese Vernachlässigung, die erste, die sie erfuhr, reizte die Stolze. Aretin wußte jetzt, daß er rasch vorwärts schreiten durfte. Er gab seiner Creatur Befehl, sich um das Opfer zu bewerben, das reif war, zu fallen.

Das Abschiedsfest war vorüber, einige Tage mußte der Fürst noch zugeben; als es wirklich zur Reise kam, erschien der Kaiser, den Herzog von Olivarez an der Hand führend.

„Ich komme als Brautwerber, Fürstin!“ sagte der mächtige Herrscher mit der gütigen Stimme eines Protectors; „hier, einer der ersten Granden meines Reiches wirbt durch mich um Eure Hand, Donna Junia! Werdet Ihr Euch weigern, einem würdigen Manne, der zugleich mein Freund ist, anzugehören?“

„Sire,“ entgegnete die junge Römerin, „Seine Hoheit, der Herzog kommt zu spät; vor einer Stunde habe ich mich mit dem Marquis Pescara verlobt!“

Welche Worte! der ganze Hof ist sprachlos vor Erstaunen. Man blickt auf den Vater; auch dieser scheint zum ersten Mal diese Nachricht zu hören. Indessen läßt sich nichts anderes hier thun, als dem Marquis Glück zu wünschen, der über den Herzog von Olivarez den Preis davon getragen hat, ohne daß man wußte, daß er überhaupt nach diesem Preise ringe. Junia triumphirte und über Junia triumphirte Aretin.

In Bologna wurde die Hochzeit mit fürstlicher Pracht gefeiert, dann begaben sich die jungen Vermählten nach Rom. In der Vorhalle des Palastes Romagnola fand folgendes Gespräch statt.

Aretin: „Kennt Ihr schon, Signor, den ganzen Umfang des Vermögensantheils, der Euch zugefallen?“

Der Marquis: „Vollkommen. Es sind Landgüter und baare Geldsummen.“

Aretin: „Die ersteren behaltet, von den letzteren gehört mir die Hälfte.“

Der Marquis: „Euch, Signor?“

Aretin: „Mit vollkommenem Rechte; ich zog Euch aus der Niedrigkeit empor und habe Euch erstens eine Stellung und dann diese Heirath verschafft. Ihr wißt, ihr waret genöthigt, einen falschen Namen anzunehmen, und doch hat Euch die Gerechtigkeit gefunden. Ihr waret verloren, wenn ich nicht kam, Euch zu retten. Euere Familie hatte sich von Euch losgesagt.“

Der Marquis: „Soll ich Euch für alles dieses dankbar sein?“

Aretin: „Haltet es damit, wie ihr wollt.“

Der Marquis: „Nun denn, ich halte es so, daß ich Euch keinen Dank und auch kein Goldstück zahle! O, ich weiß auch, wie ich in der Welt mich zu benehmen habe!“

Einen Augenblick leuchtete ein Blitz in Aretin’s Auge, dann sagte er mit seinem gewohnten kalten Lächeln: „Gut, Signor, ich habe ja die Papiere des Commandore über Euch in meinen Händen. Morgen erfährt ganz Rom, daß Bernardo und der Marquis Pescara eine und dieselbe Person ist.“

Der Marquis gab nach, indem er mit den Zähnen knirschte und seinen Dolch in der Scheide zuckte. Jetzt war Aretin’s Mission vollendet; das, was nun folgen sollte, konnte er getrost seinem Zöglinge überlassen.

Sieben Jahre waren vergangen und nun entrollten die letzten Scenen dieser Tragödie. Wir haben es jetzt mit dem Bilde zu thun, das die Meisterhand Tizians schuf und auf dem die Heldin unserer Erzählung uns zum letzten Male und in einer gänzlich umgeschaffenen Gestalt entgegentritt. Wir sehen ein stolzes Herz gebrochen, einen wilden Sinn gebeugt. Laßt uns nun die Geschichte dieses Bildes erzählen.

Wir haben es jetzt mit Tizian zu thun. Eines Abends sitzt der berühmte Künstler mit einigen Freunden bei einem kleinen Festmahle in der Villa des Cardinals Orsini in Rom, da wird ihm gemeldet, daß Jemand ihn zu sprechen wünsche. Es ist der Bote einer vornehmen Dame, die ihn zu sich bescheidet. Der Name dieser Dame klingt dem Künstler fremd in’s Ohr, dennoch machte er sich sogleich bereit, dem Diener zu folgen, nachdem er seine Freunde nur wenige Augenblicke zu verlassen gedenkt. Er wird in einen Palast geführt und in einem prachtvoll decorirten Gemache allein gelassen. Bald öffnete sich die Thür und eine hoch und schlank gewachsene Frau, in schwarze Schleier gehüllt, tritt herein, bleibt stehen und scheint sich die Züge und die Gestalt des Künstlers mit Aufmerksamkeit zu betrachten. Endlich nimmt sie einen Sessel ein, ihrem Gaste gegenüber. Als sie den Schleier zurückschlägt, glaubt Tizian, diese edlen, reinen Formen, die die Schönheit, aber auch die Kälte des antiken Marmors an sich tragen, schon einmal gesehen zu haben.

„Ihr erkennt mich nicht wieder, Meister,“ hebt sie an, es sind über zehn Jahre, daß wir uns in Ferrara gesehen haben.“

„Fürstin Romagnola!“ ruft der Künstler.

„So hieß ich damals,“ entgegete sie.

„Ihr seid vermählt?“

„Gewesen.“

Nach diesen Worten entsteht eine Pause. Die Dame sieht zu Boden nieder und ihre Stirn ist umwölkt, die starre Blässe ihres Gesichts scheint sich noch gesteigert zu haben. Mit Anstrengung nimmt sie endlich wieder das Wort und sagt: „Damals, Meister [244] Tizian, wünschtet ihr mein Bild zu malen, ich hatte Gründe, Euch dieses Begehren, obgleich es meiner Eitelkeit schmeichelte, abzuschlagen, ich komme, um Euch zu bitten, dieses Bild jetzt zu schaffen.“

„Ihr sollt in mir Eueren gehorsamen Diener finden, Signora. Bestimmt mir nur den Tag und die Stunde, denn ich mache diesmal nur einen kurzen Aufenthalt in Rom.“

„Laßt es morgen in der Frühstunde sein.“

„Wohl. Ihr wünscht doch ein Bildniß?“

„Nicht das allein. Ihr sollt mich in Verbindung bringen mit der Madonna und dem Christkinde, und zwar will ich als Reuige und um Vergebung Flehende vor der Mutter Gottes erscheinen.“

Tizian glaubt seinem Ohre nicht trauen zu dürfen, als er diese Worte hört. Die stolze Junia eine Fromme! Die Freundin Aretin’s eine Devote! Diese Gedanken müssen in dem offenen und freien Antlitz des großen Mannes zu lesen gewesen sein, denn die Dame schlägt verwirrt und finster die Blicke von Neuem zur Erde, und von Neuem entsteht eine Pause beiderseitiger Befangenheit.

„Wollt Ihr?“ fragt sie.

„Gewiß,“ erwidert er, „nur laßt mich über diese Aufgabe nachdenken. Ich habe schon mehr als eine galante Dame vor den Thron der jungfräulichen Gottesmutter gebracht, aber es war nicht gerade nöthig, sie in Reue und Zerknirschung darzustellen. Ich habe diese schönen Frauen dargestellt, wie sie eine anständige und respectvolle Verbeugung vor der Mutter Gottes machen, dies ist, dünkt mich, genug. Wozu ein Weiteres? Soll die Weit unnützer Weise Dinge erfahren, die sie nichts angehen? Wenn ich Euch als Magdalena male, mit Thränen im Auge, und zaghaften Schrittes dem Throne der Madonna sich nähernd, so wird alle Welt fragen, was hat die Fürstin verbrochen, warum kommt sie in solcher Gestalt vor die Gottesmutter? Aber dies sind nur meine besonderen Ansichten, Signora, thut was Euch gefällt, ich bin nur froh, daß Euere erhabenen Züge sich endlich einmal meinem Pinsel anvertrauen.“

Den andern Tag wurde das Bild begonnen. Der Künstler hatte eine Skizze mitgebracht. Auf dieser sah man die Mutter Gottes in der Hütte sitzen, das Kind auf dem Arme, und mit dem Gepränge einer Fürstin, gefolgt von einer Dienerschaar, trat die schöne Frau in ihrem weltlichen Glanze in diesen bescheidenen Raum.

„So will ich’s nicht,“ rief die Dame etwas heftig, „die Madonna soll auf dem Throne sitzen und ich will als niedere Magd vor ihr stehen. Seht her, in diesem Gewande!“

Und damit warf sie den langen schwarzen Schleier ab und stand in einem einfachen weißen Kleide vor dem Künstler, der, geblendet von der Schönheit und dem wundersamen Ernste dieser Gestalt, mit langen prüfenden Blicken auf dieser Form weilte. Es war allerdings nicht die Demuth und Zerknirschung einer Magdalena, wie man sie gewöhnlich darstellt, es lag zu viel Trotz, zu viel finstrer Unmuth in diesen Zügen, aber es war dennoch eine irdische Größe, die sich vor der himmlischen beugte. Das wundervolle Gemälde, das Tizian geschaffen, zeigt uns den Seelenzustand, dieses stolzen, nicht gebeugten, nur gebrochenen Weibes.

Dieses Bild fesselte unsern Künstler so sehr, daß er statt der Tage, die er bleiben wollte, Wochen blieb. In dieser Zeit wurde er mit der Marquise so vertraut, wie es überhaupt möglich war, mit ihr vertraut zu werden. Allein das finstere Geheimniß, das ihre Seele einschloß, erfuhr er nicht. Den Verlust ihres Vaters beklagte sie innig, von ihrem Gemahl, den sie vor wenigen Jahren verloren, sprach sie nicht, ebensowenig von zwei Kindern, die bald hintereinander gestorben. Diesen Umstand erfuhr der Künstler durch Andere. Aber ein Gespräch hatte er eines Tages mit ihr, dessen Inhalt ihn mit einem namenlosen Grausen erfüllte und, wenn er die einzelnen Andeutungen, die in den Worten dieser Frau lagen, weiter zu verfolgen versuchte, ihn vor ihr zittern machten.

Welch’ eine Welt von Stolz, von Eigenmacht, von wilder Rachgier und kalter Grausamkeit lag in diesem Weibe? Welche Verbrechen belasteten ihre Seele!

Es war von dem Geschick der Frauen im Allgemeinen die Rede gewesen, plötzlich fuhr die Marquise auf und sagte:

„O, nennt mir irgend ein Schreckniß in der Welt, eine entsetzliche Qual, eine die Seele zerreißende Demüthigung, es ist alles nichts gegen das Geschick eines Weibes, das von einem Manne, den sie haßt, die Pfänder einer schmachvollen Ehe unter dem Herzen tragen muß! Da ist alles beisammen, was Erniedrigung und Elend heißt. Von dem ein Leben zu hegen, der unseres Lebens Feind! O, ihr ewigen himmlischen Gewalten, kann es da anders kommen, als daß in der Hand dieses niedergetretenen Weibes Dolch oder Gift ihre willkommenen Dienste leisten?“ – Nach einer Welle setzte sie hinzu: „Ihr habt mich auf meiner Höhe gesehen, ich bin von dieser Höhe vor der Welt nicht hinabgestiegen, und wenn mir ein solcher Sturz drohte, so würde ich ihm rasch zu entgehen wissen. Daß ich mich mit dem Himmel versöhnen will, ist nur allein mein Entschluß, keine äußere Gewalt bringt mich dazu. Ich will dieses Bild, das ihr auf mein Geheiß malt, in meinem Gemache aufstellen, und wenn es mir gelingt, mein Herz zu bezwingen, so will ich, demüthig, wie ich hier im Bilde stehe, vor die Gebenedeite hintreten und ihr sagen: Bereuen kann ich nicht, was ich gethan habe; ich konnte nicht anders! Doch gib mir Frieden, heiligste und reinste der Frauen – gibt mir Frieden – Frieden!“

Diese letzten Worte wurden mit einem herzzerreißenden Tone gesprochen, der in diesem stolzen Munde ganz besonders erschütternd klang. –

Wenige Jahre nach diesen Vorfällen erfüllte Rom die Kunde von einer entsetzlichen That, die Thäterin selbst war nicht mehr unter den Lebenden. Die Marquise Pescara, so hatten jetzt die Nachforschungen ermittelt, hatte ihren Mann und ihre Kinder vergiftet. Der Verdacht war bereits einmal schon rege geworden, doch hatten die Stellung der Verbrecherin und ihre mächtigen Verwandten ihn niedergehalten, es kam jetzt zur öffentlichen Anklage. Aretin – hatte diese Anklage erhoben. Die Marquise fand man eines Morgens todt in ihrem Gemache. Rom hatte sein schönstes, aber auch sein verbrecherischstes Weib verloren.

Das Bild Tizian’s von ihr gewann an großer Bedeutung, just da die Schicksale dieser Frau bekannt wurden. Auch wir, die ferne Nachwelt, stehen mit ganz anderm Gefühl vor diesem Bilde, da wir seine Geschichte kennen, als wenn wir nur die Meisterschaft des großen Künstlers zu bewundern hätten.

Ueber Tizian selbst fügen wir kein Wort weiter hinzu. Sein Leben und seine Werke sind weltbekannt.




Wüsten-Bilder.[3]
II.
Natur- und Menschenleben in der Sahara.

Es gibt keinen Tod. Gerade der Tod ist ein kräftiger Schöpfungs- und Auferstehungs-Proceß. Auch die Wüste, in der gewöhnlichen Vorstellung das endlose, rahmenlose Bild des Todes, ist Leben und just sehr energisches Leben. Der tödtliche Samum, der giftige, glühende Chamsin-Sturm, ganze Karavanen in kochenden Sandwolken begrabend und dann die verdorrten Gebeine wieder aufdeckend und höhnisch dem großen Allah zeigend, zu dem jeder Wüstensohn drei Mal des Tages inbrünstig im Staube betet, sie kämpfen schon vergebens gegen die grünen, quelligen Oasen und Wadis, und ihr europagroßer Gluthofen wird, in Gemeinschaft mit dem Golfstrome, zur belebendsten, schöpferischen Treibhauswärme für das halbe westliche Europa. Ohne diese Winde und geheizten Strömungen des Oceans würden Italien, Frankreich, Spanien, Portugal, England, Holland, das nordwestliche Europa bis Schweden und Norwegen hinauf eine viel niedrigere Temperatur und für Millionen Menschen weniger Nahrungsmittel haben. Die Sahara ist nicht nur der Gewächshausofen für Europa, sondern auch für sich selbst der riesigste Titanenkampf des Humus und der Vegetation

[245]

Giraffe und Löwe.

gegen das glühende Gestein, um den im vieltausendjährigen Kriege für Luft und Erdenleben gewonnenen Meeresboden in Weiden und Wiesen, in Palmenhaine, Dattelparks, goldene Getreidewogen, Olivengärten, Feigenbaumwälder mit Tausenden sprudelnder, umblühter, umlebter Quellen zu erheben. Die quellenden Oasen greifen still und energisch um sich. Mit Pflanzen und Bäumen stellt sich immer mehr Anziehungs- und Ansiedelungskraft für Wasserdämpfe und Regen ein. Wälder sind der wahre Jupiter pluvius, der Regengott. Wo sie verschwinden, werden Felder und Fluren zu Wüsten, wo sie sich wieder einstellen, kehren auch die vertriebenen Nymphen und Nixen zurück und mit ihnen fruchtschwangere Felder und blumenwogende Wiesen und zwischen ihnen wohlige, arbeitsame Menschen. Die jetzt in der Luft sich spiegelnde Lüge der „Wasser des Satans,“ wie die Araber die Kimmung (Fata morgana) nennen, von Quellen und Wiesen und Wäldern, und Städten und Meeren mit geschwollenen Segeln – wird einst zur Wahrheit. Die Natur kämpft langsam, aber sicher und immer mächtiger und immer schneller für dieses Ziel.

Die Luft, die jetzt am Tage gelblich grau von Unten nach Oben und von Oben nach Unten glüht, die menschliche Blutwärme übersteigend, um des Nachts plötzlich haltlos am Gestein und am leeren, kalten, sternenfunkelnden Himmel zur trockensten Ostwindkälte zusammenzusinken, gleicht dann Tag und Nacht durch des Tages duftige Wärme und der Nächte blätterrauschende Kühlung aus und wärmt sich am grünen, wurzelgefesselten Sandhügel und kühlt sich zwischen den bächerieselnden Thälern derselben. Zu [246] dem Kameele, dem vieltausendjährigen Träger aller Lasten und brennenden Mühsale dieses ruhelosen Wanderlebens der Wüste, gesellen sich das Pferd, die Kuh, die wollige Heerde; und der kriegerische Räuber, hart wie das Gestein seines Bodens, und der rastlos umher gehende Nomade, unstät wie der im leisesten Lüftchen hinwogende Sand, werden warm und weich und wohnlich unter mannigfaltigeren Wirthschafts- und socialen Verhältnissen auf ländergroßen Oasen, die dann Millionen Menschen dauernd nähren, während sie jetzt oft Hunderten kaum eine bald erschöpfte kärgliche Kost gewähren. Bebaute Felder und melkende Kühe geben den festgesiedelten Bauer, das Pferd liefert den Ritter, der sie regelmäßig besteuert statt, wie jetzt, durch räuberische Ueberfälle. Die umhergetriebenen Stämme und Familien werden zu Dörfern und Städten, in welchen sich regelmäßige Industrie und zwischen denen sich umgrünte Handelswege einfinden. Die „Gesellschaft“ schichtet sich. Es findet sich der Feudalismus ein und endlich ein eiserner Ritter, der die berittenen Steuereinnehmer seiner Collegen mit Hülfe bewaffneter Bauerjungen sich unterwirft, „Ruhe und Ordnung“ schafft und als Monarch und Garantie „des Blühens der Gewerbe“ gefürchtet und geehrt wird, bis Gewerbe und Handel, Wissenschaften und Künste die Entdeckung machen, daß sie ohne Garantie viel besser blühen. –

Der vieltausendjährige einförmige, hier fromme, dort kannibalische Patriarchalismus Afrika’s wird einem historischen Leben weichen. Barth, Overweg, Richardson, Vogel, Magyar Lazlo, der eine schwarze Prinzessin heirathete, englische Dampfschiffe auf dem Kowara, Frankreich vom Norden, England, Holland und die „deutsche Fremdenlegion“ vom Süden her und historische Völker und Interessen von allen Seiten aus führen die Geschichte in das Innere Afrika’s ein, das dafür reichliche Schätze seines heißen, befruchteten Innern nach allen Seiten ausströmen wird.

Die Sahara selbst bietet für die Arbeit der Cultur zwei große entgegengesetzte Völkerstämme, die Tibbuhs und die Tuariks. Sie wohnen nicht. Erstere ziehen mit ihren Hütten und Heerden von Oase zu Oase, um so aus Tausenden von Meilen mühsam zusammenzusuchen, was bei uns eine einzige Quadratmeile reichlicher und dauernd liefert. Letztere fliegen auf graziösen, leichten Moharikameelen mit dem Sturme um die Wette über Ebenen, um die darüber hinziehenden Karavanen und Tibbuhs zu besteuern. Der Ritter, Räuber und Krieger und der Schäfer – ganz vortreffliche Materialien und Gegensätze für Cultur und Civilisation. Freilich auch eine Aufgabe, die wilde Poesie dieser schrankenlosen Lebensweise in die Prosa von Polizeibezirken zu fesseln. Der Beduine und Tuarik haben keinen Halt in Ebenen, die z. B. zwischen dem 20sten und 28sten Grade nördlicher Breite, also in einer Ausdehnung von 120 geographischen Meilen dem Auge nicht den geringsten Gegenstand bieten, an welchen es sich halten könnte. Er bricht sein Zelt ab, das die Frauen den Abend vorher aufschlugen, ladet es auf’s Kameel, packt eine Bratpfanne und vier Ziegenfellschläuche, mit Wasser, mit zwei Sorten Mehl und mit Datteln gefüllt, dazu, fällt mit Familie und Kameel auf den Boden, bittet Allah um Wasser, Futter für’s Kameel, friedliche Begegnung mit Menschen und um den richtigen Weg und ist so reisefertig für jede Entfernung, auf Allah, aber noch mehr auf das Compaßtalent seines lieben Thieres vertrauend, dem er von Oben her etwas vorspielt, dem er Märchen erzählt, wenn er neben ihm in dessen Schatten wandelt, von den Palmen und Quellen der Heimath, die sie finden werden, von blökenden Heerden und lachenden Kindern. Das Kameel wendet seinen kleinen Kopf öfter nach der Schattenseite und blickt den Plaudernden mit verständigen, freudeglänzenden Augen an, als verstände und fühlte es Alles Wort für Wort. Und wer kann es dem Plaudernden verdenken, daß er an den Menschenverstand und das dankbare Herz seines Thieres glaubt?

Die Bewohner der Sahara sind Beduinen, Araber, Kinder der alten Berber in verschiedenen Farben vom Negerschwarz bis zur Weißheit des Europäers (da wo die Sonne die Haut nicht schmort) und in den mannigfaltigsten Stammes-, vielleicht auch Racen-Unterschieden.

Zwischen Murzuk und dem Tsadsee umhernomadisirend findet man die schönen, friedlichen Tibbuhs, hoch und schlank, voller Anmuth, Grazie und Würde besonders in Frauen und Mädchen, mit lockigem, fließendem Haar, feingemeißelt, wie classische Sculpturen der Griechen in aller Gliederung, Kinder und Mädchen sich mit Ziegen neckend oder mit übermüthigen, spielerigen Kameel-Kälbern umherjagend, im Schatten wiederkäuender Dromedare lagernd, Hirse säend, erntend und kochend und Hirsebrei essend, manchmal glänzend braun und glühend wie Abendroth, dann dunkelbraun, dann tief äthiopisch schwarz und negerartig; hier friedlich angesiedelt auf einige Wochen, dort in malerischen Gruppen auf Kameelen, zwischen Schafen und Ziegen über glatte, heiße Ebenen nach einer neuen Heimath lechzend; hier auf der Lauer und Jagd nach Gazellen und Straußen, um für Haut, Geweihe und Fleisch der ersteren und die kostbaren Federn letzterer von vorüberziehenden Karavanen Pferde und Schnellkameele (Moharis oder Mohers), Kleidungs- und Putzstoffe einzutauschen. Die classischen Bronzestatuen der Tibbuh-Mädchen putzen sich gern, aber viel einfacher und antiker, als die eingeschnürten und aufgedonnerten Schönen unserer Gegenden. Ihr Gewand besteht aus einem leichten, farbigen Stück Zeug, das nach Belieben und Haltung um den nackten Körper flattert. Alle übrige Kleidung fehlt eben so, wie an antiken Statuen, und auch der bei allem weiblichen Geschlechte unentbehrliche Putz beschränkt sich größtenteils auf einen ehernen oder silbernen breiten Ring über den Knöcheln. Wohlhabendere (und es gibt in besseren Gegenden der libyschen Wüste Tibbuh-Familien mit 5000 Stück Vieh und mehr) fügen dazu Ringe um den Oberarm und das Handgelenk und große, oft doppelte Ohrringe, außerdem Schmuck im Haargeflecht, der oft aus Silber besteht und dann herrlich contrastirt zu dem Glanze des schwarzen Haars und der strahlenden, dunkeln Augen. Die Tibbuhs verbreiten sich über eine ungeheuere Strecke und nehmen alle Oasen, Quellen und fruchtfähigen Stellen auf der rechten Seite des früher erwähnten Wüstengürtels von Tripolis bis zu den Sudanstaaten am Tsadsee, vom 16ten bis zum 26sten Grade nördlicher Breite als ihr Land in Anspruch. Sie bewohnen die Inseln dieses Wüsten-Oceans, auf den ergiebigeren dauernd, auf den kärglicheren vorüberziehend. Wo der Boden auch den armseligsten Hirse, ihr Brod, nicht aufkommen läßt und das kärgliche, rauhe Gras und das stachelige Gesträuche nicht hinreichen, die genügsamen Kameele zu sättigen, da müssen Stra0- und Gazellenjagd Tauschartikel für die jährlich durchziehenden Earavanen und so das Fehlende herbeischaffen. Im Uebrigen sind sie an Entbehrungen gewöhnt, wie das Kameel, und der durch Noth und Gefahr ausgebildete Scharfsinn und Mutterwitz hilft ihnen durch tausend Sorgen und drohende Tode, denen der gebildete Europäer erliegen würde. Da sie keine Regierung, keine Soldaten und Polizei halten und zu bezahlen brauchen, kommen sie mit Gütern und Lebensmitteln aus, von denen man nach unsern Begriffen keine Katze erhalten könnte. Wenn es darauf ankommt, sind sie alle Soldaten, Weib und Kind nicht ausgenommen. Aber dabei erliegen sie freilich oft genug den kriegerisch und räuberisch über sie dahin brausenden Nachbarn, den Tuariks.

Vor einem Tibbuh-Dorfe strecken Palmen ihr herrliches Gefieder hoch in die Luft, ohne den tödtlichen Strahl der Sonne zu fürchten. Kameele, Schafe und Ziegen weiden in Gruppen und vereinzelt weit in die Ferne umher und kommen gelegentlich heran zu spielenden Kindern, Mädchen und Frauen, die kindisch frohlocken, wenn eine glückliche Schöne eine einzige Blume fand, ihr lockiges, fließendes Haar damit zu schmücken. Dort läuft sie hin die Glückliche mit dem seltenen Schmuck, in übermüthiger Jugendlust vor dem jungen Kameele fliehend, das großen Appetit auf den seltenen Haarschmuck verräth und deshalb in lustigen, luftigen Sätzen und Bockssprüngen um sie her jagt und trotz aller Behendigkeit der schlanken, elastischen braunen Gestalt nicht nahe genug kommen kann. Sie bückt sich und schießt an ihm vorbei, sie fliegt in gekreuzten Sprüngen lachend in’s Weite, bewundert von den lachenden Zurückbleibenden und der neugierig aufblickenden, bunten Heerde. Sie merkt es nicht, daß am äußersten, kahlen Horizonte der Wüste ein schwarzes Pünktchen sichtbar wird und mit reißender Schnelligkeit zu einer dunkeln, bewegten Masse anschwillt. Aus der dunkeln Masse blitzt es hell in Waffenglanz. Sie wird zu einem daher brausenden Mohari-Reiter. Im Nu hat sich die vermummte riesige Gestalt des Tuarik vermittelst der Lanze vom Kameele gestürzt, das reizende Tibbuhmädchen gepackt und auf seinem Mohari wieder die Weite gesucht. Er verschwindet mit ihr wieder als schwarzer Punkt am Horizonte, zufrieden mit der Beute, während die Andern in’s Dorf hineinreiten und entweder eine bestimmte Steuer eintreiben oder im grausamen Kampfe gegen die friedlichen, aber tapfern Bewohner siegen und Heerden als Beute und die schönsten Frauen und Kinder als Sclavinnen zum Verkauf mit fortschleppen.

Und wie in der Menschen-, so auch in der Thierwelt der Wüste [247] und an ihrem Saume: Tod und Leben, friedlicher Erwerb und räuberischer Ueberfall sind sich stets erneuernde Bilder. Ueber die weite, kiesbedeckte Ebene schreitet majestätisch aufgerichtet das Wunder der afrikanischen Thierwelt, die Giraffe. Eine Pyramide inmitten der Thiere, wunderbar in Größe und Bau, durchmustert sie scheu mit den klugen, herrlichen Augen die weite Ebene: keiner ihrer Feinde zeigt sich, kein Brüllen des hungrigen Löwen, ja nicht ein Laut schlägt an ihr Ohr, die ganze Wüsteneinsamkeit deckt tiefes Schweigen. Ihr schwerfälliger, doch außerordentlich schneller Lauf wendet sich nach dem Wüstensaume, da wo Tod und Leben, öde Erstarrung und friedliches Wachsthum mit einander kämpfen, wo der Boden des Landes sich hebt, eine fruchtbare Erdkruste ihn deckt und aus ihrem Innern der schöpferische, kühlende, silberhelle Quell hervorsprudelt. Ein üppiger, nur von einzeln stehenden Palmen, Akazien und Mimosen überragter und von stachelichten Schlingpflanzen durchflochtener Graswald breitet sich auf ihm aus, hart an der Grenze von Tod und Leben. Hierher eilt der erschöpfte Nomade, der Tibbuh der Wüstenthiere, die Giraffe, hier will sie weiden und sich ätzen, aus frischsprudelndem Quelle die lechzende, blauschwarze Zunge kühlen, am grünen Mimosengesträuch den brennenden Hunger stillen und dann im Fluge der sicheren Wüste wieder zueilen; sagt ihr doch ein dunkles Gefühl, daß es dort geheurer als hier ist, so lachend auch die grüne Pflanzenwelt erscheint. Scheuen Laufes dringt sie in den Graswald ein, birgt mit hochaufgerichtetem Halse den schöngeformten Kopf im saftigen Laube der Akazie, ihre Lieblingsnahrung mit der rauhen Zunge erfassend, und eilt dann, das dichte Gras hoch überragend, hin zum wohlbekannten labenden Quell. Doch plötzlich stutzt sie, ein leises Geräusch traf das feine Ohr; das scheue Auge überfliegt prüfend das verrätherische Grasdickicht. Schon will sie der unheimlichen Stätte entfliehen, da stürzt aus heimtückischem Versteck ein Löwe hervor. Muthig stellt sie sich ihm entgegen, wirft ihn mit dem Vorderhufe, ihrer kräftigsten und bei gleichem Kampfe oft siegreichen Vertheidigungswaffe, zurück und will angsterfüllt der Stätte des Verderbens entflehen, als gleichzeitig von hinten zwei andere Räuber, Löwe und Löwin erscheinen, in gewaltigem Anlauf den hohen Bug erreichen und die scharfbekrallten Tatzen, das furchtbare Gebiß tief in das schöngefärbte Fell eingraben, während das in Schmerz und Angst den Kopf hoch hebende Thier sich nicht mehr gegen den erneuten Angriff des ersten Löwen zu decken vermag. Seine Tatzen, sein furchtbares Gebiß dringen tief in den Schwanenhals des nun verlorenen Wüstenthieres, ein Blutstrom entquillt den vielen, tief aufgerissenen Wunden, die Last der sich mehrenden Räuber drückt es nach vergeblichem Kampfe in den zertretenen, blutgetränkten Rasen nieder. Das schöne Thier verendet, die räuberische Meute, die Tuariks der Thierwelt, stillt den nagenden Hunger, leckt gierig das aus den geöffneten Adern rinnende Blut und läßt nur wenig der Hyäne und dem Schakal zum nächtlichen Fraße übrig. So bietet die Wüste in Thier- und Menschenwelt sich einander entsprechende Bilder: die Gewaltthat des Räubers gegen den friedlichen Nomaden.

Die Tuariks, selbst unter den Wilden der Wüste als besonders wild, grausam und tollkühn verrufen und gefürchtet wie höhere Wesen, betrachten sich selbst als die zum Raube privilegirte Aristokratie der Sahara und zeigen als Legitimation für diese ritterlichen Privilegien auf ihre weiße Haut hin (die natürlich blos da weiß ist, wo der Kleiderschmuck die Sonne ausschließt). – Auch scheint es ihnen nicht an Stammbäumen und Ahnen zu fehlen. Sie halten sich allein für echte Nachkommen der alten Urbewohner Afrika’s, der Berber, die mit den alten Römern kämpften.

An Denkmälern ihrer alten Cultur und Sprache, in welcher neuerdings viele Inschriften an den Felsenwänden entdeckt wurden, an römischen Ruinen und Sculpturen (Ghareah hinter den Bergen von Tripolis) fehlt es auch nicht. Hier ist ein frisches Feld für Alterthumsforscher. Ein kühner, stolzer Menschenschlag, diese Tuariks, unvergleichlich in der Kunst der Waffenführung gegen Jeden, dem etwas abzunehmen ist. Aber es sind keine gemeine Räuber. Sie lassen mit sich handeln und die überfallene Karavane gegen Entrichtung einer entsprechenden Abgabe (für die schwere Arbeit des Auflauerns und Ueberfalles) ihres Weges ziehen. Später, mit zunehmender Civilisation werden sie wohl ordentliche Zöllner, Steuer- und Accise-Beamte anstellen, und den Raub in gesetzliche Façon bringen. – Nur die Handelsleute aus dem Sudan, die oft mit kostbaren Schätzen von Elfenbein, Gold und Sclaven durch die Wüste ziehen, müssen in der Regel etwas unverschämten „Durchgangszoll“ herausrücken. Die Reisenden durch die Wüste haben sich schon so sehr an die Furcht vor ihnen und das alte „historische Recht“ ihrer Steuereintreibung gewöhnt, daß selbst mächtige, große Karavanen dem Einzelnen unterthänigst huldigen und zollen. Wenn der am fernen Horizonte auftauchende schwarze Punkt sich auf fliegendem Kameele schnell in einen glänzenden Tuarikritter mit goldenem und silbernem Schmuck und künstlich geschnitzten Waffen, mit dem nie fehlenden Schußrohre, vor dem staunenden Blick des Beduinen verwandelt, holt er Alles hervor, was ihn beschwichtigen und befriedigen kann, froh, daß er mit dem Leben und dem Reste seiner Habe davonkommt.

Caillé, der französische Reisende, zog mit einer reichen, wohlbewaffneten Karavane von 600 Kameelen durch den „Steuerbezirk“ der Tuariks. Da fliegen zwei Ritter derselben auf einem Kameele heran. Sie springen herab, wechseln mit den Leuten einige Zeichen und im Nu breiten sich Teppiche aus und decken sich für die beiden Herren mit den feinsten Speisen und Erquickungen. Diese lassen sich’s schmecken, wischen sich den Schnabel und fliegen, mit graziösen Handbewegungen Abschied nehmend, von dannen.

In ganzen Raubzügen umherspeculirend, sehen sie besonders dämonisch aus. Vermummte dunkle Gestalten, starrend von Speeren, sitzen sie auf ihren Eil-Dromedaren und spähen aus glühenden Augen in die Weite. Andere reiten auf Pferden, Sclaven wandern zu Fuß daneben. In ihrer dunkeln Umhüllung von Leder und Wolle, die Alles, mit Ausnahme der Augen und Hände, bedecken, steigen sie wie riesige Dämonen (auf der glatten Wüste erscheint Alles größer, da es dem Auge oft Wochen und Monate lang an andern Gegenständen zum Vergleichen fehlt) aus dem kahlen Horizonte herauf, wie böse Geister der Wüste, unter deren Schrecknissen geboren und erzogen, um den Wanderer zu berauben und dann zu verschwinden, wie eine Sandwoge des Samum.

Außer diesen großen, viele Völkerschaften und Racen in sich schließenden beiden Hauptvölkern der Wüste gibt es noch unzählige andere Wander- und feste Stämme, die sich erst mit der Zeit spätern Forschern aufthun werden. Man kennt jetzt kaum ein Hundertstel der Sahara. Von den Umwohnern der Wüste sprechen wir nicht und erwähnen nur noch, daß es über Marokko hinaus weit in die Wüste hinein manche berberische Ansiedlungen gibt, deren Bewohner als Handwerker und Künstler für die Tuariks u. s. w. berühmt sind. Endlich dürfen wir die Juden nicht vergessen, die sich von den großen Handelsunternehmungen, welche die wüstengetrennten Völker verbinden, in die Sahara ziehen und dort trotz aller Gefahren und Beschimpfungen als Vermittler zwischen Käufern und Verkäufern, Schacherer und Hausirer (wenn man hier so sagen kann) fesseln ließen. Um des Gewinnes wegen trug der Jude von jeher selbst das Ueber- und Untermenschlichste, nirgends aber so viel, als in der Wüste, die härteste Verachtung Aller, die ihm begegnen, und selbst den gräßlichsten Hohn der Natur, die ihn unter prachtvollen Lügenbildern der Luft und – fata morgana erbarmungslos vertrocknen und versengen läßt.

„Längst hat er aus dem ziegenledernen Schlauche den letzten Wassertropfen ausgepreßt,“ wie es in einer berühmt gewordenen Schilderung des amerikanischen „Putnam’s Monthly Magazine“ heißt. „Seine Glieder sind ausgedampft, seine Lippen verdorrt. Da liegen seine kostbaren Güter neben dem schnell in Aas übergehenden Kameele. Er späht um sich. Plötzlich vernimmt er das leise Knistern des Wüstensandes. Fern taucht ein schaukelndes Dromedar auf mit einer stolz funkelnden Gestalt auf dem hohen Sattel. Schuß- und Hiebwaffen werfen einen stechenden Glanz in die verdorrten, heißen Augen des Juden. Die stolze Reitergestalt wiegt sich anmuthig auf dem Sattel des jäh und rasch sprengenden Kameels. Er schmaucht gravitätisch aus langem Chibuk. Der Jude sieht Hülfe. Er erhebt sich hoffnungsvoll und nahet sich bittend demüthig. Der stolze Reiter sprengt mit einem Fluche auf den Vertreter des verachteten Geschlechts vorbei und verschwindet am Horizonte. Den verzweiflungsvoll zusammensinkenden Juden erwarten noch größere Qualen, ehe ihm die Erlösung wird. Sein fieberentzündetes Auge funkelt in die leere Weite hinein. Zusammengedörrt, lebt er jetzt zur letzten Anstrengung auf. Der Gott Abrahams hat ihn nicht verlassen. Er sieht Wasser! Wasser! Bäche, Brunnen, Meeresspiegel, grüne Eilande und Berge. Segel schwellen auf Schiffen, die aber nicht vorwärts kommen. Mit der letzten Kraft schleppt er sich über den brennenden Sand. Nur noch hundert Schritte, und seine Augen werden das köstliche Wasser berühren [248] und sein Antlitz wird sich tauchen in die kühlende Fluth! Er verläßt den himmlischen Anblick mit keinem Auge. Aber einmal sinken doch die matten Augenlider. Er erhebt sie wieder und vor ihm gähnt und glüht wieder die leere, gluthzitternde Wüste. Die „Wasser des Satans“ sind spurlos verschwunden. Dies traf sein Leben. Sein Haupt sinkt zusammen, zusammen sinkt die ganze Gestalt, und auf seine Zunge fällt der schwarze Tropfen vom Schwerte des Todesengels. Diese Nacht wird er bei seinen Vätern sein.“

Er ist todt, entsetzlich todt. Aber es gibt keinen Tod. Auch die Wüste ist Leben. Ein windgescheuchtes Distelsaamenkorn, ein Dattelkern im Sande findet das vermoderte Gebein, faßt Wurzel und keimt. So legt sich der Grund zu einer Oase. Dreimal dörrt sie die Sonne aus und begräbt sie in Sand, aber die Leichname der ersten Pflanzen werden Geburtsstätten einer zahlreicheren Pflanzenwelt, die eine Sonnengluth aushält, um jedem neuen Angriffe neue Streitkräfte und endlich gar eine Quelle entgegenzusetzen. Jetzt hat sie gewonnen. So stehen die Gebeine der Verdorrten wieder auf als Pflanzen, als Futter, als Bestandtheile von Vieh und Menschen und als Menschen. So erfüllt sich das Wort des Propheten: „Die Wüste wird jubeln und blühen wie die Rose.“




Ein Ball im Irrenhause.

Zufällig führte mich ein kleiner Ausflug, den ich zu meiner Erholung machte, nach dem Städtchen L…s, das eine weit bekannte und berühmte Irrenanstalt besitzt. Ich erinnerte mich bei meiner Ankunft, daß der Director derselben einer meiner Universitätsfreunde war, und beschloß, demselben meinen Besuch abzustatten und zugleich das von ihm geleitete Institut in Augenschein zu nehmen. Von jeher hatte ich mich für Geisteskranke und deren Behandlung ganz besonders interessirt; die pathologischen Zustände der menschlichen Seele waren mein Lieblingsstudium, und ich versäumte keine Gelegenheit, meine Kenntnisse auf diesem Gebiete zu bereichern. Sobald ich daher meine Reisetoilette einigermaßen in Ordnung gebracht hatte, ließ ich mich nach dem eine Viertelstunde von der Stadt entfernten Irrenhause führen. Die Anstalt selbst lag in einer sehr gesunden Gegend auf einem Hügel, von dem ich die herrlichste Aussicht auf die fruchtbare Gegend genoß. Das Gebäude war in früherer Zeit ein reiches Kloster gewesen und man weiß, daß die Mönche es fast immer verstanden, den schönsten Punkt für ihre Ansiedlungen zu wählen. Grüne Thäler und mit Reben bepflanzte Hügel wechselten mit einander ab. Der blaue Strom schlängelte sich durch üppige Wiesen und der Duft des frisch gemähten Grases vermischte sich mit dem balsamischen Harzgeruch der benachbarten Fichtenwälder. Rings herum herrschte eine wohlthuende Stille, die rechte Waldeinsamkeit, ganz geeignet, den Frieden einem zerrütteten Gemüth wiederzugeben. Die Lage konnte nicht besser und passender sein. Ein wohlgepflegter Weg führte zwischen Obstbäumen und blühenden Linden zu dem Institut, das eher einer großen ländlichen Besitzung glich, als dem Aufenthalte der Wahnsinnigen. Nichts mahnte an diese traurige Bestimmung; es schien Alles vermieden zu sein, was daran erinnern konnte. Durch einen zweckmäßigen Umbau und Hinzufügung einiger Seitenflügel war das alte Kloster in einen Palast umgeschaffen worden. Ich glaubte ein Gefängniß, einen düsteren Kerker, eine Wohnstätte des Jammers mit finsteren Zellen zu finden, und sah mich in jeder Beziehung angenehm enttäuscht; dennoch konnte ich mich eines leisen Schauers nicht erwehren, als ich vor der rings herumgezogenen hohen Mauer stand und Einlaß begehrend an dem verschlossenen Thore pochte. Draußen lag die Welt der vernünftigen Wesen, und hier drinnen war das Reich des Wahnsinns und des Irrthums. Nur eine leichte Scheidewand trennte Beide von einander, wie in unserem eigenen Gehirn, wo die Grenzen ebenfalls dicht nebeneinander liegen und kaum bemerkbar in einander fließen.

Ein alter Portier öffnete und fragte nach meinem Anliegen. Ich verlangte den Director zu sprechen.

„Das wird kaum angehen,“ sagte der Hüter, „da der Herr Director eben die Visite machen. Wollen Sie indeß eine Viertelstunde hier verweilen, so werden Sie ihn dann sprechen können. Sie dürfen nur im Garten so lange warten.“

Mit diesen Worten zeigte er mir den Weg über den weitläufigen Hof nach dem hinter der Anstalt liegenden Park. Derselbe war mit vielem Geschmack angelegt und mit der äußersten Sorgfalt gepflegt. Hohe, uralte Eichen, unter deren Schatten einst die Mönche als frühere Bewohner des Hauses wandelten, standen hier in seltener Pracht und schauten wie ehrwürdige Patriarchen auf den jüngeren Nachwuchs der Bäume, welche weit später angepflanzt sein mußten. Der Garten zerfiel in mehrere Abtheilungen für Küchengewächse, Zierpflanzen und selbst für Feldfrüchte. Ich sah Kartoffeln und Kohlstauden von außerordentlicher Größe und Schönheit. Einzelne dieser Abtheilungen waren sorgfältig verschlossen, und mit einem eisernen Gitter rings umzogen. Ich begegnete auch verschiedenen Arbeitern, welche emsig mit Graben, Jäten, Harken und Anpflanzen beschäftigt waren; sie schienen mich wenig oder gar nicht zu beachten und ganz in ihre Arbeit vertieft. Ihrem anständigen Aussehen und ihrer Kleidung nach mußte ich sie für hier angestellte Gärtner halten; nur wunderte ich mich über die große Anzahl derselben, die mir in keinem rechten Verhältnisse zu dem beschränkten Bodenraum zu stehen schien.

Unter ihnen zog ein alter Mann ganz besonders meine Aufmerksamkeit auf sich; er stand vor einem eben oculirten Baum und sprach ganz laut, so daß ich in einiger Entfernung jedes Wort verstehen konnte. Anfänglich konnte ich mir nicht erklären, mit wem er sich eigentlich unterhielt, und ich vermuthete irgend einen mir unsichtbaren Gefährten, bis ich meinen Irrthum gewahr wurde. Der Arbeiter redete bald mit sich selber, bald mit seinem von ihm oculirten Stamme, den er wie ein lebendes Wesen behandelte.

„Wirst Du auch fortkommen?“ fragte er mit zitternder Stimme, die etwas unendlich Rührendes für mich hatte. „Oder willst Du auch zu Grunde gehen? O, nur nicht sterben! Der Tod ist schrecklich, sehr schrecklich. Ich kenne ihn, er hat mich besucht und mir Alles fortgenommen, Alles, Alles. Du darfst mir nicht sterben, wie meine Kinder, die armen Kinder und die Blumen, die alle mitgestorben sind. Ich bin ein unglücklicher Mann. Was ich berühre, verwelkt, und Du wirst auch verdorren.“

Während der Alte so sprach, strömte eine Thränenfluth über seine eingefallenen bleichen Wangen und sein Schmerz erschütterte mich selbst auf das Höchste. Ich vergaß fast, daß ich mich in einem Irrenhause befand, und wollte ihn anreden und zu trösten versuchen. Als ich mich jedoch bis auf einige Schritte ihm genähert hatte, erschien einer der immer hier verweilenden Aufseher und hielt mich zurück.

„Sie scheinen fremd zu sein,“ sagte derselbe mit Höflichkeit, „sonst würden Sie wissen, daß Niemand mit den Kranken hier reden darf.“

„Das Schicksal des armen Mannes geht mir nahe. Er hat gewiß in seinem Leben große Verluste und Familienkummer gehabt?“

„Keineswegs,“ antwortete der Aufseher. „Er ist nur ein schwerer Hypochonder, der sich einbildet, daß seine Kinder gestorben sind.“

„Wie, sie leben noch?“

„Allerdings, aber er hält sie für todt, und gibt trotz aller angewandten Mühe den Glauben nicht auf.“

„Und hat man nicht den Versuch gemacht, durch die Gegenwart seiner Angehörigen ihn von seinem Wahne zu heilen?“

„Das nutzte nichts; er blieb dennoch fest bei der Meinung stehen und behauptete, daß sie nur die Geister der Verstorbenen wären. Trotzdem hofft der Herr Director, ihn noch herzustellen. Seit er im Freien arbeitet, hat sich sein Zustand bedeutend gebessert, und es gibt wenigstens Augenblicke, in denen er seinen Irrthum vollkommen einsieht.“

Da indeß die Viertelstunde, wo ich den Director erwartete, vorüber war, so verließ ich den Garten und den freundlichen Aufseher. Einen Blick des tiefen Mitleids schenkte ich noch dem armen Hypochonder, obgleich ich wußte, daß seine Leiden eingebildet waren. Aber ist denn der Schmerz, den wir zu empfinden glauben, nicht eben so traurig und peinigend, wie die Wirklichkeit? Welcher Unterschied besteht denn zwischen einem derartigen Unglücklichen und dem Familienvater, der in Wahrheit den Verlust seiner Familie zu beklagen hat? Fühlte der Wahnsinnige minder tief, minder wahr? [249] Nicht in der Außenwelt, in unserer Seele nur liegt der Quell unserer Leiden und Freuden. Ich erinnerte mich bei dieser Gelegenheit des geistreichen Paradoxon eines neueren Schriftstellers, welcher den Wahnsinn als die Vernunft des Einzelnen, die Vernunft als den Wahnsinn Aller bezeichnete.

Wie ich erwartete, wurde ich von dem Director, der sich meiner lebhaft erinnerte, mit offenen Armen aufgenommen und auf das Freundschaftlichste empfangen. Bald waren wir im eifrigsten Gespräche, das anfänglich unsere Jugenderinnerungen und die Vergangenheit, später mehr die Gegenwart und unsere verschiedenen Lebensverhältnisse berührte. Wie man sich denken kann, kamen wir auch bald auf das uns Beide so sehr interessirende Capitel des Wahnsinns und auf die Behandlung desselben. Mein Freund war mit Leib und Seele Irrenarzt, und er betrachtete seine Stellung wie eine ihm aufgetragene höhere und heilige Mission.

„Auf keinem Gebiete der Medicin,“ sagte er im Verlauf unserer Unterhaltung, „hat sich das Vorurtheil und die Bornirtheit so lange behauptet, als auf dem der Geisteskranken. Bis in die neuere Zeit wurden die Wahnsinnigen nicht wie andere Kranke, die sie in der That nur sind, sondern wie Verbrecher behandelt. Mit Schaudern denke ich noch an die Marterwerkzeuge und Instrumente einer Tortur, die dem Mittelalter Ehre gemacht haben würde, und welche ich bei meinem Amtsantritt noch vorfand. Da gab es einen Drehstuhl, worin die Armen, wenn sie unruhig waren, so lange im Kreise herumgewirbelt wurden, bis sie vor Schwindel die Besinnung verloren; Zwangsbetten und Zwangsjacken; selbst Ketten für die Rasenden, an die man die Aerzte zuerst selber hätte anschließen müssen.“

„Du huldigst also dem entgegengesetzten Systeme, der möglichst größten Freiheit?“

„Du weißt, daß ich schon auf der Universität ein Feind aller sogenannten Systeme war. Die Natur kümmert sich nicht um derartigen menschlichen Schubfachkram; sie geht ihren eigenen Weg. Ich habe nichts weiter gethan, als was alle besseren Aerzte seit Hippokrates thaten! die Natur beobachtet und die so gewonnenen Resultate nach dem Beispiele meiner Lehrer, eines Esquirol, Ideler, Pinel, Martini u. s. w. auf die Geisteskranken angewendet. Dadurch bin ich allerdings zu überraschend günstigen Resultaten gelangt, von denen Du Dich noch heute überzeugen wirst. Du bleibst natürlich hier und bist mein Gast. Ich gebe nämlich diesen Abend einen Ball, zu dem Du hiermit feierlichst eingeladen wirst.“

„Und ich nehme Deine Einladung an; doch zuvor möchte ich gern Deine Pflegebefohlenen sehen.“

„Dazu haben wir ein andermal Zeit, wenn ich die Abendvisite abhalte. Augenblicklich bin ich durch Verwaltungsgeschäfte dermaßen in Anspruch genommen, daß Du mich entschuldigen mußt. Ich habe Rechnungen durchzusehen, Briefe und Eingaben zu beantworten, kurz, eine ganze Last von Arbeiten, die mit einem so großen Institute natürlich verbunden sind, und die ich beim besten Willen nicht aufschieben kann. Du nimmst es mir nicht übel, wenn ich Dich jetzt verlasse.“

„Gewiß nicht; mit einem alten Freunde brauchst Du keine Umstände zu machen.“

„Und auf den Abend sehen wir uns wieder; vergiß nur nicht, Deine Tanzstiefel zu schmieren, Du warst wenigstens früher ein flotter Tänzer auf der Universität.“

„Ich hoffe auch jetzt noch mit Ehren zu bestehen.“

„Das ist mir lieb, und nun auf baldiges Wiedersehen.“

Ich verließ das Irrenhaus vorläufig in einer ganz anderen Stimmung, als ich erwartet hatte; ich war in der Absicht gekommen, meine Kenntnisse zu bereichern, das dunkle Gebiet der psychologischen Krankheiten an der Hand eines kundigen Führers zu betreten, den Wahnsinn in allen seinen Graden und Abstufungen, vom stumpfen Blödsinn bis zur rasenden Wuth zu sehen, und erhielt statt dessen eine Einladung zu einem Balle. War das nicht eine bittere Ironie des Zufalls, wenn nicht gar die Absicht dahinter steckte, mich für meine zudringliche Neugierde auf diese feine Weise zu bestrafen. Mein Freund war mir von früher bei all seiner Wissenschaftlichkeit als ein loser Spottvogel bekannt, und ein kleiner Hang zur Satire war ihm ganz besonders eigen. Trotz dieser Bedenklichkeiten schien mir seine Einladung doch mit so vielem Ernste vorgebracht, daß ich keinen Anstand hatte, dieselbe eben so zu nehmen und ihr unbedingt Folge zu leisten. Zum Glück führte ich in meinem Felleisen den für solche Gelegenheiten unvermeidlichen Leibrock und die ebenso unvermeidliche weiße Weste. Mit Hülfe dieser Kleidungsstücke versetzte ich mich in das gebräuchliche, schwarzweiße Ballcostüm, womit ich, in Anbetracht, daß ich eigentlich nur ein Reisender war, alle Ehre einzulegen hoffte.

Schneller, als ich gedacht, kam der Abend heran, und ich begab mich, meiner Einladung folgend, wieder in das Irreninstitut. Diesmal wurde ich von dem alten Portier überaus freundlich nach einem großen Saale gewiesen, wo sich die Gesellschaft bereits versammelte. Ich wunderte mich, den eigentlichen Wirth des Hauses, meinen Freund, hier noch nicht anzutreffen; er wurde, wie man mir sagte, durch einige dringende und unvorhergesehene Berufsgeschäfte abgehalten. An seiner Stelle empfing mich ein junger Mann mit großer Höflichkeit, der mir einer der Assistenzärzte der Anstalt zu sein schien. Er machte mit vielem Anstande die Honneurs, und bald befand ich mich mit ihm und noch einigen der anwesenden Gäste in ein unterhaltendes Gespräch verwickelt. Ich bewunderte in der That den Scharfsinn meines neuen Bekannten, der außerdem keine geringe Bildung und die gediegensten Kenntnisse entwickelte. Er war mit den neuesten Entdeckungen der Chemie und Physiologie ganz vertraut, und nie glaubte ich eine lichtvollere Auseinandersetzung dieser wissenschaftlichen Probleme gehört zu haben, was mich um so mehr in dem Wahn bestärkte, einen philosophisch gebildeten Mediciner vor mir zu sehen. Wie geistreich behandelte er seine von ihm aufgestellten, oft nur zu paradox klingenden Ideen, wie scharf und treffend war sein Urtheil und mit welcher Begeisterung sprach er von seinen Studien! Seine Wangen rötheten sich, sein Auge glänzte, in einem ungewöhnlichen Feuer strahlend, und sein ganzes Gesicht gewann dann einen leidenschaftlichen Ausdruck. So konnte nur ein Mann reden, der von seinem Stoff ganz erfüllt, dem es einzig und allein um die Wahrheit zu thun war. Die Zuhörer verriethen auch einen hohen Grad von Aufmerksamkeit und folgten mit sichtbarer Spannung, wie ich selber, seinem genialen Vortrage, den ich allerdings am wenigsten in einer Ballgesellschaft zu vernehmen hoffte.

„Alle diese Fortschritte,“ sagte der junge Mann am Schlusse seiner Rede, „alle diese neuen Entdeckungen der Wissenschaft sind jedoch nur von vorübergehendem Werthe und nehmen nur eine untergeordnete Stelle ein gegen meine jüngste Erfindung auf dem Gebiete der Chemie. Es ist mir nämlich nach unendlicher Mühe gelungen, die atmosphärische Luft zu versteinern. Ich kann, unter uns gesagt, auch aus Kohlenstoff Demanten machen. Ich habe sogar schon welche gemacht und ich könnte Ihnen die nöthigen Proben liefern. Leider fürchte ich, daß Sie mir nicht glauben werden, das ist das Schicksal aller Erfinder, man verachtet und verspottet sie.“

Damit entfernte sich der junge Mann, um einige eintretende Damen zu begrüßen. Ich wußte wirklich nicht, was ich von ihm nach einer solchen Rede denken sollte, und hielt das Ganze lediglich für einen Scherz, für eine ironische Mystification. Ich äußerte diese Meinung vor einem der Herren, der, wie ich, seiner Auseinandersetzung beigewohnt hatte.

„Das kann doch nicht im Ernst die Meinung dieses jungen Gelehrten sein?“

„Doch,“ entgegnete mein Nachbar. „Er glaubt wirklich, daß er die Luft zu versteinern weiß.“

„Mein Gott!“ rief ich erschrocken aus. „Der Herr ist doch nicht etwa ein Bewohner dieser Anstalt?“

Der Gefragte ließ mich umsonst auf eine Antwort warten; er starrte mich mit einem eigenthümlichen Lächeln an, zuckte mit den Achseln und ließ mich voll Verwunderung stehen. Diese Unhöflichkeit setzte mich in ein noch größeres Erstaunen, aber schien mir wiederum erklärlich, da das Orchester so eben die Polonaise anstimmte und mein Nachbar wahrscheinlich irgend eine von ihm engagirte Dame suchte.

Das schöne Geschlecht war ebenfalls zahlreich vertreten; ich bemerkte darunter reizende Erscheinungen, einige junge Mädchen mit rosigen Wangen, feurigen Blicken und herrlichen Taillen. Allerdings gab es auch hier viele verblühte Schönheiten, nervöse Frauen, deren bleiche Gesichter, gelblicher Teint und erloschene Augen die Modekrankheit unseres Zeitalters errathen ließen. Ja die Zahl solcher Leidenden schien mir vorzuwiegen, obgleich ich auch unter diesen einige Damen zu bemerken hatte, welche sich durch eine gewisse Feinheit und den geistigen Adel ihrer Gesichtszüge auszeichneten. – Besonders interessirte mich eine bleiche Schönheit mit blassen Wangen und dunkelschwarzem Haar, das glatt und glänzend sich an die hohe, vielen Verstand verrathende Stirn anschmiegte. Ein [250] unendlicher Zauber umgab die ganze Gestalt, deren melancholisch sanftes Auge von brauner Farbe eine magnetische Anziehungskraft auf mich ausübte. Ich habe nie wieder in meinem späteren Leben einen ähnlich seelenvollen Blick gesehen; so stellte ich mir das Auge der heiligen Märtyrer im Momente ihrer Verzückung oder Verklärung vor; bald erschien mir dieser Blick wie die stille Klage der unerfüllten Sehnsucht, bald wie die demüthige Ergebung in einen höheren Willen; er schien nicht mehr der Erde, sondern mir noch dem Himmel anzugehören, ein heiliges Mysterium zu verhüllen. Wunderbar von diesem geheimnißvollen Blicke angegangen, näherte ich mich der Frau, die trotz ihres bleichen Aussehens mehr Reize für mich hatte, als all’ die blühenden Mädchengestalten, denen ich bisher begegnet war. Endlich stand ich ganz in ihrer Nähe und wagte, sie zu der Polonaise zu engagiren, selbst auf die Gefahr hin, einen Korb zu bekommen, da ich ihr nicht vorgestellt war. Zu meiner Verwunderung nahm sie mein Anerbieten an und ich war schon eitel genug, dieses Glück meiner Kühnheit und von der Natur nicht ganz vernachlässigten Persönlichkeit zuzuschreiben.

Man kann sich denken, daß ich meinen ganzen Geist und all’ die mir zu Gebote stehende Liebenswürdigkeit aufbot, um meine Tänzerin zu unterhalten. Sie hörte mir auch anscheinend mit der größten Aufmerksamkeit zu und ich schmeichelte mir, bereits einen bedeutenden Eindruck auf sie oder gar auf ihr Herz gemacht zu haben, aber so sehr ich mich auch bemühte, eine entsprechende Antwort auf meine Fragen zu erhalten, so mißlang mir jeder derartige Versuch. Nur mit Mühe und Noth entpreßte ich ihr ein trockenes „Nein“ oder ein eben so trockenes „Ja“; im Uebrigen setzte sie meinen geistreichsten Reden ein eben so hartnäckiges als beleidigendes Stillschweigen entgegen. Ich konnte mir nicht denken, daß eine Frau mit solchen Augen keinen Geist besitzen sollte; deshalb stellte ich ihr Verstummen auf Rechnung einer kleinen weiblichen Rache, um mich für meine Zudringlichkeit zu strafen. Meine Eitelkeit erhielt dadurch einen neuen Sporn und ich setzte alle Schleußen meiner Beredsamkeit in Bewegung, um ihr Stillschweigen zu brechen und endlich ihren feinen, geistreichen Lippen ein interessantes Wort oder ein zustimmendes Lächeln abzugewinnen. Vergebliche Mühe, alle meine Anstrengungen waren umsonst; ich verzweifelte zum ersten Male vielleicht in meinem Leben einer Dame gegenüber; ich fühlte mich vernichtet und vollkommen gedemüthigt. Mit mehr Ungeduld, als ich anfänglich mir vorgestellt hatte, erwartete ich das Ende der Polonaise, welche mir eine Ewigkeit zu dauern schien. Sobald der letzte Takt verhallt war, führte ich meine stumme Schöne oder schöne Stumme zu ihrem Platze zurück, noch einmal um Entschuldigung für meine Zudringlichkeit bittend; sie sah mich nur mit ihren wunderbaren Augen an, ohne eine Sylbe mir zu antworten. O, es war zum Verzweifeln! Auch hier schien es mir nur auf eine Mystification abgesehen. – Als ich mich umwendete, entdeckte ich endlich meinen Freund, den Director, der mir sogleich entgegenkam.

„Verzeihe nur,“ sagte er, „daß ich Dich dem Zufalle überlassen mußte und Dich nicht selbst empfangen konnte; aber ein Arzt ist selten Herr seiner Zeit. Wie ich sehe, hast Du bereits Dich bekannt gemacht und sogar getanzt.“

„Sage mir, wer war meine Tänzerin? Du kennst sie gewiß.“

„Dort die Dame mit den schönen Augen? Baronin von Eichenhof.“

„Ganz recht; ich wollte Dich nur fragen –“

Aber ehe ich noch meine Frage stellen konnte, war der Director mir entführt und ich gerade so klug, als zuvor. Ich wußte wirklich nicht, ob ich meinen Freund mehr beneiden oder mehr bedauern sollte. Nie habe ich in einer Gesellschaft einen Wirth getroffen, der mehr von seinen Gästen in Anspruch genommen wurde, als er. Jeder wollte mit ihm reden, wenigstens ein Wort aus seinem Munde hören; Alles drängte sich um ihn; man suchte ihn für sich zu fesseln und ihn ausschließlich fest zu halten. Es fand ein förmlicher Wettkampf um seine Person statt und besonders die Damen schienen seinetwegen förmlich auf einander eifersüchtig zu fein. Ich freute mich über eine solche Beliebtheit, obgleich ich selbst darunter zu leiden hatte, da ich nur selten und im Fluge meinen Freund zu sehen bekam; an Sprechen war unter solchen Umständen gar nicht zu denken. Aus demselben Grunde mußte ich also auf die Befriedigung meiner Neugierde verzichten und mich vorläufig nur mit dem Namen der stummen Baronin mit den schönen Augen begnügen.

Noch ganz niedergebeugt von meiner ersten Niederlage, ließ ich den nächsten Tanz vorübergehen und suchte Unterhaltung im Nebenzimmer, wo einige Spieltische aufgestellt waren. Als Zuschauer nahm ich Antheil an einer Wisthpartie, welche von zwei Herren und einer Frau gespielt wurde. Niemals waren mir ähnliche Spieler vorgekommen; jedes von ihnen schien mir ein seltenes Original zu sein. So oft die schon ältliche Dame Karten gab und zufällig Coeur Trumpf wurde, stieß sie ein schallendes krampfhaftes Gelächter aus, worauf sie im halbleisen Tone nach einer eigenen Melodie die Worte sang: „Herzen macht Schmerzen, Pique aber froh,“ wozu sie mit dem Kopfe und ihrer schon aus der Mode gekommenen hohen Frisur in ganz seltsamer Weise wackelte. Auch die beiden Herren hatten ihre besonderen Angewohnheiten, wie man sie jedoch zuweilen bei alten Spielern findet. Wenn der Erste ausspielte, warf ihm stets der Zweite einen wüthenden Blick zu und meist blieb es nicht nur bei bloßen Blicken, sondern es wurden auch allerlei scharfe, anzügliche Redensarten von ihm vorgebracht und zuletzt die Karten auf den Tisch geworfen, ohne Rücksicht auf die Gegenwart der Dame zu nehmen. Diese Heftigkeit des Einen bildete in der That einen komischen Contrast zu der fast phlegmatischen Sanftmuth des Andern, der für den aufbrausenden Zorn seines Gegners nur ein stumpfes Lächeln und seine Tabaksdose hatte, aus der er bei jedem neuen Wuthanfall des Tyrannen eine Prise mit den eintönigen Worten nahm: „Contenance, nur immer Contenance, Patience und immer Patience.“

Zuletzt ermüdete mich dies einförmige Schauspiel und ich kehrte wieder in den Saal zurück, wo einige Erfrischungen herumgereicht wurden. Dort in einer Ecke stand der junge Chemiker, der Entdecker der versteinerten Luft, und schien sich lebhaft mit der Analyse eines Glases Mandelmilch zu unterhalten, während meine Tänzerin mit ihren bezaubernden Augen die Decke anstarrend einen Löffel Ananaseis zwischen ihren zarten Lippen schmelzen ließ. Der Bediente näherte sich auch mir mit dem Präsentirteller und bot mir einige Erfrischungen an, für die ich ihm dankte.

„Warum nehmen Sie denn nichts?“ fragte mich ein feingekleideter Herr, der mir eine große Sorgfalt auf seine Toilette verwendet zu haben schien; „warum nehmen Sie denn nichts?“ wiederholte er in verwundertem und, wie es mir vorkommen wollte, gebieterischem Tone.

„Ich danke, da ich weder Hunger noch Durst verspüre,“ entgegnete ich ablehnend.

„Sie müssen aber essen und Sie sollen trinken. Ich befehle es Ihnen!“ herrschte er mir mit hochmüthiger Geberde zu.

„Mein Herr, der Scherz geht zu weit!“

„Wer sagt Ihnen, daß ich scherze! Wissen Sie, mit Wem Sie sprechen!“

„Zwar habe ich nicht die Ehre, aber jedenfalls sind Sie so gut wie ich hier ein Gast des Directors.“

„Ich ein Gast? Lächerlich! Ich bin der Kaiser Napoleon, der Beherrscher der ganzen Welt.“

Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Daß ich mich in einer Irrenanstalt befand, daß dieser Ball nur ein geistreiches Experiment meines Freundes war, wurde mir nun mit einem Male klar. Die meisten der eingeladenen Gäste mußten demnach Wahnsinnige sein und ich empfand jenes eigenthümliche Grauen, das mehr oder minder uns die Nähe von Geisteskranken einzuflößen pflegt. Jetzt konnte ich mir sowohl die seltsamen Reden des jungen Gelehrten wie die Apathie der Baronin deuten, der erste war ein überstudirter Schwärmer und die Dame eine beginnende Blödsinnige, trotz ihrer herrlichen Augen. – Ich eilte, um meinen Freund aufzusuchen und ihn wegen seiner Mystification einigermaßen zur Rede zu stellen. Bevor ich jedoch meinen Vorsatz ausführen konnte, trat mir wiederum eine neue Erscheinung entgegen, welche ganz und gar meine Aufmerksamkeit und Theilnahme in Anspruch nahm. Unter dem Schwarme, der sich mir entgegenstellte, begegnete ich unvermuthet einem bekannten Gesichte. Es war der Regierungsassessor Feldern, mit dem ich längere Zeit in einer Stadt und in naher Berührung gelebt hatte. Ich hatte in ihm einen eben so biederen Charakter als ausgezeichneten Kopf achten und schätzen gelernt; nur unsere verschiedene Berufsthätigkeit verhinderte, uns noch enger aneinander zu schließen. Seit seiner Versetzung hatte ich nichts von ihm direct gehört, nur zufällig erfuhr ich, daß er verheirathet und Vater eines oder mehrerer Kinder war. Ich erkannte ihn sogleich und seine Anwesenheit an diesem Orte erfüllte mich mit Trauer, da ich dieselbe nicht mit Unrecht einer geistigen [251] Krankheit zuschrieb. Auch er schien mich erkannt zu haben, denn er näherte sich mir und reichte mir seine ausgestreckte Hand.

„Armer Feldern!“ dachte ich im stillen. „Auch Du bist den finsteren Mächten verfallen.“

Meine Bemerkung mußte ihm nicht entgangen sein, denn er sah mich mit dem mißtrauischen, forschenden Blicke an, den man meist bei Wahnsinnigen anzutreffen pflegt.

„Mein Gott!“ rief er mir zu, „wie kommen Sie denn hierher? – Ich habe Sie früher doch nie bemerkt.“

„Natürlich, da ich erst seit heute hier bin.“

„Sie bleiben und ich gehe. O! ich bedauere Sie von ganzem Herzen, obgleich Sie hier in jeder Beziehung vortrefflich aufgehoben sind. Der Director ist der trefflichste Arzt, den ich kenne, und er wird Sie ohne Zweifel wieder herstellen. Ich verdanke ihm meine vollständige Genesung.“

„Was fällt Ihnen ein? Ich bin ja gar nicht krank,“ rief ich, bei dem bloßen Gedanken schon von Entsetzen ergriffen.

„Sie sprechen gerade so, wie ich im Anfange gesprochen habe. Das ist ein gewöhnliches Symptom, das man bei jedem Neuangekommenen Patienten findet. Bevor man nicht zu dem Bewußtsein seines Wahnes gelangt, eher ist auch keine Heilung möglich. Fragen Sie den guten Director, dort kommt er, mein Retter, mein edler Wohlthäter.“

Das war mir doch zu toll, daß ich von Feldern für toll gehalten wurde. Indeß bedurfte es nur einiger Worte meines Freundes, um dieses Mißverständniß sogleich aufzuklären. Er entschuldigte sich mit seinem gewöhnlichen satirischen und doch wieder so gutmüthigen Lächeln wegen der kleinen Ueberraschung, die er mir zugedacht hatte.

„Ich wollte Dir einen praktischen Cursus meiner neuen Methode zeigen. Die früheren Irrenärzte wirkten durch Drohungen und Schrecken, wir durch Milde und Freude. Schon die Alten suchten den Wahnsinn durch Musik zu heilen und ich glaube, daß sie auf dem richtigen Wege waren. Der gesunde, wie der kranke Mensch bedarf der Liebe; sie allein thut Wunder. So manche Regierung würde ganz wohl daran thun, ein Collegium über Geisteskrankheiten und deren Behandlung zu hören; sie würde zu der Ueberzeugung gelangen, daß weit mehr durch Nachsicht und Milde als durch Strenge und Tyrannei sich wirken und erzielen läßt. Dir aber, dem Denker und Philosophen, gönne ich auch die Dir heut zu Theil gewordene Lehre, daß die Kluft zwischen uns und den armen Geisteskranken keineswegs so groß ist, wie wir uns in unserer Eitelkeit einbilden. Du hast die Wahnsinnigen für vernünftige Wesen angesehen und Du selbst bist von Andern für wahnsinnig gehalten worden. Hoffentlich wirst Du mir nicht deshalb zürnen.“

Er reichte mir die Hand mit seiner alten Herzlichkeit hin, so daß ich nicht böse sein konnte, selbst wenn ich es gewollt hätte. Hierauf wandte er sich zu Feldern, den scherzhaften Ton zum Ernst umstimmend.

„Sie sind genesen und ich kann Sie schon morgen entlassen.“

„Tausend Dank für diese Nachricht!“ rief der Glückliche mit strahlenden Blicken.

„Es handelt sich nur darum, Sie vor der Möglichkeit eines Rückfalls zu bewahren. Wenn Sie noch einige Wochen bei uns bleiben wollen, so bürge ich für Ihre fernere Lebenszeit.“

„So werde ich bleiben,“ sagte Feldern, indem Thränen seinen Augen entstürzten. „Ich hatte mich allerdings darauf gefreut, meine gute Frau und meine Kinder in einigen Tagen wiederzusehen; aber Ihr Ausspruch allein ist für mich entscheidend.“

„So ist es Recht,“ erwiderte der Director; „aber Ihre Frau und Ihre Kinder sollen Sie deshalb doch sehen. Sie sind hier, um Sie abzuholen. Nach dieser Probe ist kein Rückfall mehr zu befürchten. Morgen reisen Sie mit Gott.“

In demselben Augenblicke öffnete sich der herumstehende Kreis und eine Dame mit zwei blühenden Kindern umarmte den überraschten Feldern, der nicht wußte, wie ihm geschah. Sein Auge füllte sich mit Thränen und auch der Blick des Directors, der an solche Scenen gewöhnt war, wurde feucht, als der jüngste Knabe von vier Jahren Feldern mit kindlicher Stimme zurief:

„Papa! Du darfst nicht weinen; ich will ja artig sein.“

Die übrigen Geisteskranken nahmen mehr oder minder an dem frohen Ereignisse dieser Familie Antheil; auf Alle schien der günstige Fall einen wohlthätigen Eindruck gemacht zu haben; sie dachten wohl dabei an die eigene Genesung und an die baldige Vereinigung mit den Ihrigen, obgleich auch nicht ein Einziger von ihnen den Wunsch aussprach, vor der Zeit die Anstalt zu verlassen. – Mit neuer Lust kehrten die Meisten zu ihrem Vergnügen zurück und der Ball hatte nach dieser angenehmen Unterbrechung seinen ungestörten Fortgang. Auch ich genoß jetzt mit anderen Gefühlen das außerordentliche Schauspiel, welches mir hier geboten wurde. Nicht die geringste Störung trübte das in seiner Art seltene Fest. Der Geist des Directors übte einen unsichtbaren, magnetischen Einfluß auf alle Anwesenden aus, sie sahen in Gedanken nur auf ihn und hatten nur das eine Streben, seine Zufriedenheit zu erlangen. So herrschte er mit einer Allgewalt, wie sie kein Fürst auf dieser Welt besitzt, lediglich durch seinen Geist und seine Liebe, die er zu der leidenden Menschheit trug und in ihr hervorzurufen wußte; denn nur die Liebe weckt Gegenliebe; sie vollbringt die größten Wunder und vermag noch mehr, wie der Glaube, Berge zu versetzen und selbst die armen Geisteskranken in vernünftige Wesen umzuschaffen. –

Max Ring.




Ein Besuch in Schul-Pforta.
Von Wilhelm Künstler.

Als ich vor mehreren Jahren genöthigt war, das Bad in Teplitz zu gebrauchen, hatte ich daselbst zum Hausgenossen u. A. einen Engländer, der mich je länger je mehr anzog. War er doch eine jener glücklich organisirten Naturen, denen man – fast wider Willen – gut sein muß. Selbst eine gewisse Schroffheit, die auch an ihm, als einem echten Sohne Albions, hin und wieder zu Tage trat, selbst diese übersah man gern im Hinblick auf die Offenheit seines Wesens, auf den Reichthum seiner Bildung und auf die in ihm zur schönsten Blüthe vereinigten englischen Nationaltugenden. Seine große Vorliebe für deutsche Literatur mußte mir ihn nur noch lieber machen. Wir wurden bald Freunde. Als ich endlich abreiste, begleitete er mich auf die Nollendorfer Höhe, jenen so überaus reizenden Bergrücken, wo 1813 der preußische General Kleist durch seinen heldenmüthigen und siegreichen Kampf gegen die Franzosen unter Vandamme sich den ehrenvollen Beinamen von Nollendorf erworben. Hier reichten wir uns noch einmal die Hand, indem ich auf sein treuherziges: „Fare well!“ mit einem tief bewegten „Lebewohl“ erwiderte; denn der Gedanke, daß wir uns in diesem Leben wohl nie wieder sehen dürften, hatte mich recht traurig gestimmt. Und in der That: es vergingen Jahre, und – wir sahen uns nicht wieder.

Wie groß war daher meine Freude, als endlich an einem schönen Sommertage ein kräftiger, hochgewachsener Mann sans façon in mein Zimmer trat und mich mit den Worten anredete: „How do you do?“

Traun, es hätte dieser paar englischen Worte nicht erst bedurft; schon an den großen blauen Augen erkannte ich den Eintretenden: es war Alfred, mein lieber, lieber Teplitzer Hausgenosse.

„O,“ sagte er unter Anderm, „ich bin gewesen in Berlin, in diesem an Polizei-, Sand- und Geheimrathvierteln so reichen Berlin; aber ich bin auch gewesen auf dem Leipziger Schlachtfeld und auf den blutgetränkten Ebenen von Lützen und habe hier gekniet vor dem Schwedensteine, an der heiligen Stelle, wo der Heldenkönig Gustav Adolf – dieser Protestant durch und durch – kämpfend und siegend gefallen. – Und was will ich jetzt sehen? Euer liebes Thüringen will ich sehen, will sehen die tausend und abertausend von Feeen und Kobolden belebten Berge, Thäler und Höhlen, will sehen den Kyffhäuser, den Ihr so sehr liebt, weil Euer Kaiser Barbarossa noch immer dorten schläft und Ihr deshalb ein Recht zu haben glaubt, getrost auch weiter schlafen und träumen zu dürfen; – jedoch vor Allem will ich jetzt das deutsche Eton, das weltberühmte Schul-Pforta sehen! Und da Dir dieser Musensitz hinlänglich bekannt, so bitte ich Dich: sei mir ein freundlicher Führer dahin!“

[252] Und wir wanderten selbander hinaus – westwärts auf der Frankfurter Straße.

Dicht hinter Naumburg blieb Alfred stehen und labte sich lange an der herrlichen Aussicht, die auf diesem Bergwege dem Wanderer sich darbietet.

Nordwärts – gerade gegenüber, hinter den Rebenhügeln, an deren Fuße die Unstrut sich zwischen schmucken Dörfern hindurchschlängelt, um gleich darauf in die Saale zu münden, erhebt sich der majestätische Thurm des Freiburger Bergschlosses und gibt dem ohnehin anmuthigen Thalgrunde einen höchst romantischen Charakter. In der That: eine liebliche Aussicht, die noch eine reichere wird, wenn man sie von einer der Villa’s aus genießt, welche diesen Theil der Frankfurter Straße zieren. Besonders ist hierbei die Villa hervorzuheben, welche gegenwärtig der Dichterin Elise Mente zur Wohnung dient. –

Die Klopstocks-Quelle bei Schul-Pforta.

Bei dem eine halbe Stunde von Naumburg entfernten Dorfe Altenburg (gewöhnlich Almrich genannt) verließen wir die Chaussee und erstiegen, uns etwas links wendend, den imposanten, schön bewaldeten Knabenberg.

Von der westlichen Kante dieser mit so reichem Wechsel herrlicher Thalsichten ausgestatteten Hochebene – über der sogenannten „Windlücke“ – erblickt man Kösen, die Saaleck, die Rudelsburg, den hohen Rittersitz Kreipitzsch, den Ettersberg; ja es lassen sich bei klarem Wetter sogar der Schneekopf, Finsterberg und Kikelhahn, sowie andere einzelne Spitzen des Thüringer Waldes erkennen. Hier ist auch der Punkt, von wo aus Fürst Pückler-Muskau unser Saalthal näher in Augenschein genommen. Daß er die Gegend „eine magere Schönheit“ nennt, darf bei ihm, dem „über die Maßen Verwöhnten,“ nicht Wunder nehmen.

Von der Windlücke aus führt ein Pfad in das „Eichenunterholz“ und dann links zuletzt zu einer Laube, welche gerade über dem Pfortaischen Garten steht. Der Blick auf Pforta und auf seine Kirche hinab ist wahrhaft reizend und mein Engländer hatte wohl Recht, als er auf dieser Stelle entzückt ausrief:

„O dieses liebliche Bild friedlicher Ruhe!“ –

Als wir die Höhe wieder hinabgestiegen waren, gingen wir durch das anmuthige „Pfortenholz,“ das von einem schmalen Arme der Saale, der sogenannten kleinen Saale – Klopstock in der Ode „Erinnerungen“ nennt sie den kastalischen Arm – durchflossen wird. An diesem Wege liegt die Klopstocksquelle, jene Quelle, welche ihrem Namen zum Gedächtniß des einst so gefeierten Dichters trägt, der – wie weiter unten gezeigt werden wird – schon als Alumnus hier den Plan zu seinem Messias entworfen und „beinahe ganz vollendet hat.“

Alfred war ein warmer Verehrer der Messiade. Er führte mehrere seltene Ausgaben derselben bei sich, darunter sogar eine holländische Übersetzung des Freiherrn von Meerman. Es nahm mich daher nicht Wunder, daß er sich mit einer wahren Andacht dem „Lieblingsplatze des heiligen Sängers“ näherte. Noch ein paar Schritte, und – wir standen vor der Quelle, die die ersten Töne der himmlischen Harfe vernommen. Ein einfacher Ueberbau, aber von Schlingpflanzen und Baumzweigen malerisch umrankt, ist der einzige Schmuck derselben.

Der Engländer entblößte ehrerbietig sein Haupt. Dann sprach er mit feierlicher Stimme:

„Der Seraph stammelt, und die Unendlichkeit
Bebt durch den Umkreis ihrer Gefilde nach
Dein hohes Lied –“

„Man spricht so wenig noch von diesem Dichter. Ist Klopstock in seinem, in Eurem Deutschland – vergessen?!!“ frug er.

[253] „In Pforta gewiß nicht,“ lautete meine Antwort.

Um ihn hiervon zu überzeugen, führte ich ihn denn nach dem Hauptportale der „königlichen Landesschule,“ die im officiellen Styl gegenwärtig die alte Fürstenschule genannt wird.

Die ganze Anstalt, mit Einschluß der Oekonomie-Gebäude, der Papier- und Mahlmühle, der Bäckerei, der Brauerei, des großen und kleinen Schulgartens u. s. w. wird von einer noch aus der Klosterzeit stammenden steinernen, 12 Fuß hohen Mauer umschlossen, die auf der Südseite am Walde 1577 Fuß lang ist. Sie hat gegen Westen, also nach Kösen zu, den Haupteingang: ein doppeltes, gewölbtes Thor.

Vor diesem Thore erheben sich auf einem Bergabhange – dicht an der Landstraße – die Gebäude der Oberförsterei, welche Blumenhagen der Schauplatz seiner bekannten historischen Novelle „Luther’s Ring“ sein läßt. Der erste Blick des in den Hofraum eintretenden Besuchers fällt auf das Kirchenportal.

Dasselbe, erst vor einigen Jahren restaurirt, hat einen hohen architektonischen Werth, indem seine Verhältnisse besonders rein und edel gehalten sind. Die Kirche selbst, dieses schöne Denkmal gothischen Baustyles, ist in den Jahren 1268 vollendet worden. Sie

Die Fürstenschule Pforta.

hat die Form eines Kreuzes. Ihr Inneres wird jetzt ebenfalls restaurirt. Und dies that Noth; denn die abscheulichen Zwischenbauten, wie wir solche leider in so vielen evangelischen Kirchen vorfinden, hatten dem herrlichen Gebäude viel von seiner ursprünglichen Schönheit geraubt. Ja, Professor Riese in Pforte hat Recht, wenn er in Bezug auf dergleichen Verunstaltungen ausruft: „Wo sich an dem Reinen und Schönen einmal ungestraft vergangen worden ist, da kannst du sicher sein, daß sich im Laufe der Zeiten an das Häßliche nur noch immer Häßlicheres reihen wird.“

In der Kirche und zwar in der in sehr edlem Styl erbauten „Evangelistencapelle“ befindet sich auch die gegen 6000 Bände starke Schulbibliothek.

Hinter den Kreuzflügeln der Kirche liegt, wie in einem stillen Versteck, der Gottesacker.

Durch die alten Kreuzgänge wird das Gotteshaus mit dem Schulhause verbunden. Letzteres ist in den Jahren 1803 und 4 in seiner jetzigen Gestalt aufgeführt worden. In den Parterreräumen befinden sich die Auditorien, der Betsaal und der Speisesaal; im zweiten Stock die „Zellen“ der Alumnen und im dritten die Schlafsäle.

Die Krankenstuben befinden sich neben den Wohnungen der beiden Schulärzte, in den dem Schulhause gegenüberliegenden Oekonomiegebäuden.

Das Fürstenhaus, ein stattliches schloßähnliches Gebäude, schließt den Pfortenhof von Osten und hält in der Länge 172 Fuß. Es ist vom Kurfürsten August, Moritzen’s Nachfolger, erbaut worden, um bei seinem öftern Aufenthalt hier eine passende Wohnung zu haben. Gegenwärtig dient es, mit Ausnahme der sogenannten Commissionszimmer, die seit 1821 zur Aufnahme von Mitgliedern hoher vorgesetzter Behörden als königlicher Commissarien bestimmt und deshalb stattlich decorirt und möblirt sind, einigen Lehrern und andern Beamten zur Wohnung. Hinter diesen Gebäuden sind die Gärten. In einem der Schulgärten befindet sich der Spielplatz der Alumnen, welche hier auch eine Turnanstalt und mehrere Kegelbahnen haben.

In einem andern Garten erstreckt sich auf 50 Fuß Länge eine kleine Kirche aus Quadern, die im edelsten byzantinischen Rundstyl erbaut ist. Ihr Schiff hat zwei Kreuzgewölbe, die zu beiden Seiten von drei gleichfalls dreifachen und mit herrlichen Capitälern gezierten Säulenbündeln getragen werden. Wahrscheinlich hat dieses interessante Gebäude, dessen Erbauung – wie Puttrich andeutet – in die Zeit von 1136 bis 40 fallen mag, den Aebten als Privatcapelle gedient.

Ja: die Pforte hat einst Aebte gehabt! Wie es jetzt durch Rectoren regiert wird, so ward es einst von mächtigen Obern beherrscht, die sogar das Recht über Leben und Tod hatten. Pforta war früher ein Kloster.

Mit seiner Gründung verhält es sich folgendermaßen:

In der Landschaft Pleißen, im heutigen Altenburgischen, lebte zu Anfange des zwölften Jahrhunderts ein reich begüterter Graf, Namens Bruno. Der hatte in seinen alten Tagen das Unglück, seinen einzigen Sohn Edwin auf der Jagd durch einen wüthenden Eber zu verlieren. Dieser harte Schlag beugte ihn gewaltig und alles Weltliche verlor bei ihm fortan seinen Werth. Um seine beträchtlichen Güter so fromm als möglich anzulegen, gründete er 1127 zu Schmölln im Altenburgischen ein Nonnenkloster, das er überaus reichlich ausstattete. Demungeachtet wollte seine Stiftung nicht gedeihen; denn die Himmelsbräute führten ein so weltliches Leben, daß er sich endlich genöthigt sah, sie mit schwarzen Benediktinern zu vertauschen. Diese frommen Väter trieben es aber leider fast noch [254] schlimmer, als es die leichtfertigen Nonnen gethan. Graf Bruno sah mit Schmerz, wie seine ihm so theure Anstalt immer mehr verfiel, und noch auf seinem Sterbebette empfahl er auf das Dringendste seinem Vetter, dem Bischof Udo I. von Naumburg, für das Kloster zu sorgen. Dieser übergab denn auch im Jahre 1132 die Schmöllner Stiftung den damals in besonderem Geruch der Heiligkeit stehenden Cisterziensermönchen, welche er aus Walkenried am Harz berufen. Aber auch diese brachten dem Kloster keine bessere Zeit, trotzdem sie ein sehr „geistliches“ Leben führten. Sie selbst wurden von den umwohnenden Slaven je länger, je mehr geplagt, bis sie endlich in ihrer Noth nach Naumburg zu Udo I. flohen, der ihnen denn auch erlaubte, sich eine Freistatt aufzusuchen. Sie siedelten sich demnach bei Kösen an. Doch da sie hier wegen der zu nahen Heerstraße sich nicht recht sicher fühlten, so suchten sie nach einer „lieben guten, aber abgelegenen Stelle“ und wählten den Punkt, wo das heutige Pforta steht. Diese Wahl macht ihrem Geschmack alle Ehre!

Der Convent erhielt nun gegen Abtretung seiner Schmöllner Güter an den Bischof von Naumburg ungefähr 50 Hufen urbaren Landes, die angrenzenden Waldungen und andere Benefizien.

Dies Alles erhielt seine Bestätigung durch Papst Innocenz II. im Jahre 1137 und durch Kaiser Konrad III. im Jahre 1140.

Das neue Kloster erhielt im Laufe der Zeit so ansehnliche Schenkungen, namentlich an liegenden Gründen, daß es – wie ein alter Chronikenschreiber sich ausdrückt – „fast eine Grafschaft worden.“ Selbst die mehr denn sechs Meilen entfernten Orte Gebesee, Behra und Heutschleben in Thüringen gehörten zu seinen Besitzungen.

Was seinen Namen betrifft, so haben ihn Einige von der Lage am Kösener Engpasse abgeleitet: „Porta Thuringiae“ wie „Porta Westfalica“ u. dgl. Andere hingegen geben ihm die stolze Deutung Himmelspforte und nehmen hierbei Bezug auf einen Indulgenzbrief des Bischofs Rupert von Magdeburg vom Jahre 1266, in welchem es unter anderm heißt: „Ad structuram monasterii Porta, in honorem ipsius portae coeli laudabiliter inchoatam.“ (Zum Bau des Klosters Pforta, der zur Ehre der Himmelspforte selbst glorreich begonnen ist). –

Dem sei, wie ihm wolle: soviel ist gewiß, daß wenigstens die frommen Väter ein Leben wie im Himmel geführt. Ja, sie hatten es in ihrer „lieben, guten und abgelegenen“ Pforte überaus gut, bis endlich die Reformation auch ihrem süßen Farniente ein Ende machte und sie nöthigte, ihre behaglichen Zellen zu verlassen.

Herzog Moritz von Sachsen – später Kurfürst – verwandelte dann – 1543 – die Abtei, indem er gleichzeitig ihre Besitzungen vermehrte, in eine höhere Schul- und Erziehungsanstalt.[4]

Am 1. November des eben gedachten Jahres erfolgte die feierliche Einweihung und Eröffnung des neuen Instituts, an welchem Tage der erste Alumnus, Namens Nikolas Lutze aus Kindelbrück, aufgenommen wurde – noch jetzt ein Festtag für die Anstalt, der jährlich gefeiert wird.

Gegenwärtig ist die höchste Zahl der eigentlichen Alumnen auf 180 festgesetzt. Unter diesen haben 140 völlige Freistellen. – 20 alte Koststellen zahlen jährlich „25 Meißner Gülden“ und 20 neue fundirte Koststellen jährlich 80 Thaler. – Endlich sind noch 20 Stellen für „Extraneer“ vorhanden, das heißt für Kostgänger, welche jeder der sechs ersten ordentlichen Lehrer – aber der Einzelne nicht über sechs – in sein Haus anzunehmen berechtigt ist. Die Zahl der Extraneer[5] darf gesetzlich nicht über 20 sein, so daß 200 die höchste Zahl sämmtlicher Schüler ist. Diese sind in 5 Classen eingetheilt: Prima, Ober- und Unter-Secunda, Ober- und Unter-Tertia.

Die Alumnen wohnen im Schulhause. Ihre Zimmer – 12 an der Zahl – sind geräumig und freundlich und faßt ein jedes 12 bis 20 Schüler. Diese sind an einzelne Tische vertheilt und zwar so, daß an jedem Tische ein Primaner als „Obergesell“ präsidirt. Derselbe hat aus den untern Classen einen oder zwei „Untergesellen“, die er überwacht und in der „Lesestunde“ unterrichtet. Ein Secundaner ist sein „Mittelgesell.“ Die Aufsicht über die ganze Stubengenossenschaft aber liegt dem ältesten Primaner als „Inspector“ ob.

Je zwei Stuben haben einen Schlafsaal. Im Sommersemester wird halb fünf, im Winter-Semester aber eine halbe Stunde später aufgestanden.

Bei Tische führt der als Inspector hebdomadarius fungirende Lehrer die Aufsicht. Jede Mahlzeit beginnt mit einem von einem Primaner – der Wocheninspector ist – gesprochenen Gebet, worauf vom ganzen Cötus das Gloria angestimmt wird, und schließt auf ein vom Hebdomadarius mit der Klingel gegebenes Zeichen, worauf wieder ein Gebet und zum Schluß der Gesang eines Liederverses folgt. Der Speisesaal, derselbe wie in der Klosterzeit, ist 85 Fuß lang und 26 Fuß breit. In diesem ansehnlichen und hübsch decorirten Cönakel sitzen die Alumnen in zwei langen Reihen an 14 Tafeln. An jeder Tafel besorgen die beiden obersten Primaner das Vorlegen und Austheilen der Speisen, des Weins u. s. w.

Ja, die Portenser speisen vortrefflich! Daß dies schon früher anerkannt worden, geht u. A. auch aus den „Briefen eines wandernden Helvetiers“ hervor, der im Jahre 1800 die Pforte besucht. Es heißt darin in Bezug hierauf: „Die Alumnen hatten in einem Monat 1520 Pfd. Rindfleisch, 3,250 Pfund Kalbfleisch, 4560 Pfd. Brot, 9000 Kannen Bier und 4 Eimer Wein erhalten.“

Aber die Portenser studiren auch viel! Bald sind es die Sprachen – lateinisch, griechisch, deutsch, französisch, hebräisch –; bald der wissenschaftliche Unterricht in der Religion, der Mathematik, Geographie und Geschichte, der Physik, der deutschen Literatur und pliilosophischen Propädeutik; bald die Künste des Schreibens, Zeichnens, Tanzens, der Musik und Gymnastik – was ihre Thätigkeit in Anspruch nimmt. In ihrem Lehrplane tritt das classische Element entschieden hervor, indem dem lateinischen Sprachunterricht in beiden Tertien 14 Stunden, in den beiden Secunden 12, in Prima 10 Stunden, dem Griechischen in den drei untern Klassen 5, in beiden obern 6 Stunden gewidmet sind. Hierzu kommen die täglichen „Lesestunden“ der Obergesellen mit den Untergesellen, worin letztere in der lateinischen und griechischen Grammatik, im Uebersetzen, in Exercitien und der lateinischen Verskunst[6] hauptsächlich geübt werden. Um bei so vielen Lectionen Zeit zu gewinnen, die jugendliche Kraft zu jeder Art von freier Geistesthätigkeit geschickt zu machen, hat man die im vorigen Jahrhundert erfundenen „Ausschlafetage“ beibehalten, d. h.: noch immer fällt in jeder Woche an einem der vollen Lectionstage der gesammte Unterricht aus, und Lehrer und Schüler behalten den ganzen Tag zu ihrem Privatstudium.

„In keiner Schule wird vielleicht weniger docirt und mehr gearbeitet und corrigirt, als in dieser,“ – sagt der Rector Kirchner in einem seiner Programme. –

Nach §. 22. der Schulgesetze darf kein Schüler – abgesehen von gesetzlichen Spaziergängen der Primaner und Extraneer, sich aus den Schulmauern ohne gesetzliche Erlaubniß entfernen, welche dem Hebdomadar zu übergeben ist, bei dem sich auch jeder Zurückkehrende sofort persönlich zu melden hat. Auch darf kein Alumnus, außer in den Stunden, wo schulgartenfrei ist, ohne Wissen und Willen des Hebdomadars das Schulhaus verlassen. Schon dieser Paragraph läßt ahnen, was für ein Regiment hier herrscht: das Regiment der Strenge.

„Die gebietende Stimme eines Obergesellen war hinlänglich, um augenblicklich die lautbewegte Menge zum Schweigen zu bringen, und – wie auf ein militairisches Commandowort – stand in wenig Minuten das ganze Heer, den Lehrer erwartend, in Reih’ und Glied.“

So schildert der gelehrte Professor Dr. Schmidt die Zucht, wie er sie im vorigen Jahrhundert als Alumnus hier kennen gelernt. – Und noch heute ist die Zucht in Pforte eine klösterliche. Bei alledem haben die Alumnen fast durchweg ein frisches, heiteres Aussehen und zeichnen sich durch eine gewisse Feinheit ihres Benehmens vortheilhaft aus. Die artige Willfährigkeit, mit der sie den Besuchern ihrer „alma mater“ als Cicerone dienen, thut den Fremden besonders wohl.

Alfred war über unsern jugendlichen Cicerone förmlich entzückt. Und in der That war dieser blühende Jüngling für das Amt eines Führers ganz besonders geeignet. Er war ein renommirter Obergesell.

[255] Auf die Frage des Engländers, ob der Unterschied der Pulte in den Schülerwohnungen eine Bedeutung habe, antwortete er:

„Allerdings; denn während die Untergesellen, so wie die Lichtputzer, das sind „untere Mittelgesellen“ – sich mit einem Kasten in den Bücherregalen begnügen müssen, darf der eigentliche Mittelgesell schon ein Stehpult haben.“

„Und Sie?“

„Ich habe das Vorrecht eines Sitzpultes.“ –

(Schluß folgt.)




Die Handwerkernoth,
ihr Grund und die Mittel zu ihrer Hebung.
Von Schulze-Delitzsch.
Nr. 2.

Die erste der in unserm vorigen Artikel (Nr. 9.) aufgestellten Forderung zur Abhülfe der Noth war also: Verminderung der Zahl der Handwerker. Hierbei wird man zunächst von der Verminderung der gegenwärtig etwa vorhandenen Ueberzahl ganz abstehen müssen. Denn die theilweise Ausschließung der Leute, welche einmal sich Jahre lang auf diesen Beruf eingelernt haben, würde deren Pensionirung oder Ueberführung nach entfernten Colonieen voraussetzen, wenn sie nicht verhungern sollen: Maßregeln, wovon bei uns nicht die Rede sein kann. Man wird sich also darauf beschränken müssen, den Andrang für die Zukunft zu vermindern. Dabei kann man einen doppelten Weg einschlagen. Der erste, der allein wahrhaft zu dem vorgestellten Ziele führt, ist: daß man die Zahl der jungen Leute beschränkt, welche sich dem Handwerke widmen wollen, daß man also einen Theil daran hindert und nöthigt, einen andern Beruf zu ergreifen. Geradezu könnte dies natürlich nur von einer mit öffentlicher Autorität bekleideten Behörde geschehen. Daß es aber eine sehr mißliche Sache ist, dem Einzelnen die freie Selbstbestimmung über die Wahl des künftigen Lebensberufes zu verschränken, sieht Jeder ein. Unleugbar kommen hierbei Neigung und natürliche Fähigkeit, Familien- und Vermögensverhältnisse und andere zur amtlichen Entscheidung wenig geeignete Punkte in Anschlag, und man hat im Gefühl der Unthunlichkeit einer solchen officiellen Regelung die Sache dadurch zu vermitteln gesucht, daß man eine Beschränkung der Handwerksmeister bei der Annahme von Lehrlingen vorschlug. Allein abgesehen davon, daß hier eine Gleichstellung sämmtlicher Meister, ohne Rücksicht auf den Umfang ihres Geschäfts und ihre persönliche Tüchtigkeit, schon große Unzuträglichkeiten mit sich führt, ist die Fixirung dieser Zahl in den einzelnen Gewerken und Orten äußerst schwierig und würde zu den widersprechendsten Reclamationen der betheiligten Meister Anlaß geben. Denn wollte man wirklich mit dieser Beschränkung so weit gehen, daß der natürliche Abgang unter den Handwerkern durch Alter und Tod durch den Zugang von Lehrlingen nicht weiter überschritten würde, als das Steigen der Bevölkerung mit sich bringt, so würde man den einzelnen Meistern kaum mehr als einen Lehrling auf einmal zu halten gestatten können. Mit einer solchen Maßregel wäre aber den Handwerkern selbst am wenigsten gedient. Nicht nur, daß sie dadurch nicht selten am Heranlernen der eignen Söhne gehindert wären, fristet sich auch eine Menge von Meistern gerade nur dadurch hin, daß sie in den Lehrlingen Gehülfen erhält, welche sie nicht zu lohnen braucht, und die noch obenein Lehrgeld zahlen müssen. Deshalb ist denn auch dieser Vorschlag noch nirgends consequent durchgeführt worden.

So bleibt denn noch der andere Weg übrig, auf welchem man die Concurrenz der Handwerker unter sich beschränken will, und der wirklich früher bei den geschlossenen Zünften üblich war; der nämlich, daß man zwar die Erlernung der Handwerke frei gibt, dafür aber die Meister an jedem Orte, je nach dem Bedürfniß, auf eine gewisse Zahl beschränkt. Allerdings ließe sich hierdurch wohl erreichen, daß sich eine günstig gestellte Minderheit auf Unkosten der Mehrheit ihrer Genossen, welche zur dauernden Unselbstständigkeit verdammt und daher gezwungen wären, bei jenen um geringen Lohn zu dienen, bereicherte, wobei natürlich auch das Publicum mit leiden müßte, insoweit es an jene kleine Zahl bei Beziehung seiner Bedürfnisse gebunden wäre. Da man aber auf solche Weise die Zahl der Handwerker nicht vermindert, sondern nur eine kleine, bevorzugte Classe unter ihnen schafft, welche die Früchte der Arbeit ihrer Genossen sich zu eigen machte, so wird dies Niemand im Ernste für eine wirkliche Lösung der Frage ausgeben, da es vielmehr ein Anerkenntniß ist, daß die Frage im Interesse der Gesammtheit keine Lösung zuläßt, weil man für nöthig hält, einen Theil der Masse zu opfern, um für den Rest eine erträgliche Existenz zu gewinnen.

Ebenso mißlich steht es mit der zweiten Forderung: „dem Verbot der Fertigung von Handwerkerwaaren von andern als Handwerksmeistern, insbesondere von Fabrikanten.“ Wo ist hier die Grenze zwischen Handwerk und Fabrik, welche Artikel eignen wir dem erstern, welche der letztern zu? Nach dem gegenwärtigen Stande der Sache sind eine ganze Menge von Gewerbszweigen, welche früher nur von Handwerkern gefertigt wurden, in die Fabrikproduction dergestalt übergegangen, daß der handwerksmäßige Betrieb entweder ganz aufgehört hat oder kaum noch das trockne Brod abwirft, wie wir z. B. an der Leinen- und Baumwollenweberei u. a. sehen. Bei andern existirt zwar auch die Concurrenz zwischen Handwerk und Fabrik, wie z. B. bei der Möbel-Production, bei verschiedenen Eisen- und Blechwaaren, jedoch wird die Stellung der Handwerker den Fabrikanten gegenüber mit jedem Tage unhaltbarer. Bei noch andern Gewerbszweigen endlich bedienen sich unsere Handwerker selbst der Erzeugnisse der Fabriken, weil sie die Stücke gar nicht oder nicht so billig herstellen können, und behalten sich höchstens die Zusammensetzung und letzte Ueberarbeitung, manchmal auch nur den Handel vor. Man frage z. B. nur die Tischler hinsichtlich der Fourniere, der gedrechselten oder geschnitzten Möbeltheile; die Schlosser in Bezug auf ganze oder Theile von Schlössern, die Büchsenmacher u. a., welche oft die wesentlichsten Stücke ihrer Waaren aus den Fabriken entnehmen und sich dabei viel besser stehen, als wenn sie dieselben selbst verfertigten. Wie soll es nun in dieser Hinsicht ferner gehalten werden? – Will man den gegenwärtigen Stand der Dinge bei Ziehung der Grenze zwischen Fabrik und Handwerk zu Grunde legen, der Fabrik die bisher eroberten Gebiete belassen und ihr nur verbieten, weiter um sich zu greifen? Und heißt das nicht den gewerblichen Fortschritt, jede neue Erfindung und Vervollkommnung der Betriebsart untersagen? Oder will man etwa gar auf irgend einen frühern Zeitpunkt zurückgehn, die Fabrikation von Waaren, welche irgend einmal von Handwerkern gefertigt worden sind, überhaupt verbieten, und die damit beschäftigten Fabriken schließen? – Der Natur der Sache nach werden die Handwerker, die sich bei dem gegenwärtigen Stande der Dinge nicht halten können, es auch nicht dabei belassen wollen, sondern die Rückkehr zu frühern Zuständen, also die Schließung einer Menge von Fabriken fordern. Was soll aber dann zunächst aus der Menge entlassener Fabrikarbeiter werden, denen man doch am Ende so gut, wie den Handwerkern, das Recht, von ihrer Hände Arbeit zu leben, zugestehn muß? Beim Handwerk läßt man sie nicht zu, denn das ist ohnehin schon überfüllt, und sie haben ja nichts darin gelernt. Beim Landbau geht es ihnen nicht besser, da einerseits auch hier schon ein ländliches Proletariat vorhanden ist, welches in vielen Gegenden auf die Dauer keine lohnende Beschäftigung findet, andererseits die Leute die Arbeiten auch nicht verstehn, zum Theil sogar die Kraft nicht dazu besitzen. Wollte man aber auch hiervon absehn, und die Fabrikproduction in einer Menge von Artikeln, welche sie billiger und besser als die Handwerker herzustellen vermag, wirklich vernichten: wie will man da mit dem Auslande Schritt halten? Was soll daraus entstehen, wenn man alle neuen Erfindungen und verbesserte Productionsmethoden, wie sie der fabrikmäßige Betrieb allein in Anwendung bringen kann, von einer so großen Menge von Industriezweigen ausschließt? Die nothwendige Folge würde sein, daß sich die gewaltsam gehemmte Industrie über die Grenzen zieht, daß ein solches Land in gewerblicher und commercieller Hinsicht gegen seine Nachbarländer zurückkommt. Und die Handwerker sind deßhalb um wenig besser dran, denn die auswärtigen Fabriken [256] überschwemmen alsdann den Markt mit ihren Producten, so lange nicht die strengsten Einfuhrverbote in Geltung gesetzt werden.

Und hier kommen wir eben zur dritten Forderung, als dem Schlußstein des ganzen Systems, zur Absperrung, zur industriellen Kriegserklärung der einzelnen Staaten gegen einander, ohne welche Maßregel es in keiner Weise aufrecht zu halten ist. Wirklich bestanden solche Zustände im Mittelalter und selbst bis in die Anfänge des achtzehnten Jahrhunderts hinein, ein Zeitraum, welcher die größte Blüthe des Handwerks umfaßt. Nicht blos eine Anzahl von Reichsstädten und Reichsrittern bildeten dazumal mit ihren Besitzungen kleine Staaten, völlig abgeschlossene Gebiete für sich; jeder einzelne Ort war durch die Schwierigkeit und Kostspieligkeit der Communication, die Menge von Fehden und Privatkriegen, von Zöllen und Geleiten, durch die Unsicherheit der wenigen überaus schlechten Verkehrsstraßen, thatsächlich bis zu einem gewissen Grade abgesperrt, so daß die Einwohner, was irgend daselbst zu haben war, nicht leicht von anders woher zu nehmen in Versuchung kamen. Da war denn eine solche auf das locale Bedürfniß berechnete Gewerbsorganisation ganz am Platze. Allein wie will man ein solches Sperrsystem jetzt durchführen, wo jene politische Zerrissenheit der Bildung großer, geordneter Staaten gewichen ist, und die ungeheure Steigerung aller Verkehrsmittel die fernsten Länder mit einer Leichtigkeit und Sicherheit mit einander verbindet, wie dies früher bei Ortschaften desselben Landes auf wenige Meilen Entfernung kaum der Fall war? Wenn auch ganze große Ländercomplexe noch gewisse Zolllinien gegen einander aufrecht erhalten, so schwinden diese von Tage zu Tage im wohlverstandenen allseitigen Interesse immer mehr, auch sind sie nicht der Art, eine solche Absperrung zu bewirken, wie sie nothwendig wäre, die auswärtige Production auszuschließen und Producenten und Consumenten ortsweise auf einander zu beschränken. Ohnehin wäre dies bei unseren dicht bevölkerten Staaten unausführbar und würde die Existenz der Mehrzahl der Einwohner ganzer großer Bezirke und Provinzen gefährden, welche blos bei ungehindertem Absatz ihrer Producte in entfernte Gegenden bestehen können, der ihnen bei Durchführung obiger Maßregel natürlich entzogen würde. Denn nie darf man dabei außer Acht lassen, daß die Hemmung der Einfuhr mit der Hemmung der Ausfuhr nothwendig Hand in Hand geht, und daß die eine stets die andere erzeugt. Nicht blos, daß, wenn ein Staat sich gegen die andern abschließt, diese in der Regel eine solche Maßregel erwidern, sondern dem Lande, dessen Producte in dem andern nicht zugelassen werden, fehlen ja eben deßhalb die Zahlungsmittel für die Producte des letztern, sich abschließenden, indem volkswirthschaftlich aller Verkehr am letzten Ende auf einen Productenaustausch hinausläuft.

Das wäre ohngefähr dasjenige, was sich der Betrachtung jedes Unbefangenen über den von den Handwerkern bei der vorliegenden Frage eingenommenen Standpunkt aufdrängt, und wir wollen schließlich nur noch einer großen offenbaren Täuschung gedenken, welcher sich die Handwerker dabei hingeben. Wären nämlich die gemachten Forderungen auch wirklich ausführbar – wie sie es eben nicht sind – würde durch ihre Realisirung wirklich der Preis und Absatz der Handwerkerwaaren auf die Dauer erhöht, so könnte den Handwerkern dies doch nur sehr wenig nützen. Daß durch die Ausschließung vom Handwerk, durch die Beschränkung des Fabrikwesens Massen brodloser Menschen geschaffen werden, an welche die Handwerker nichts verkaufen können, wollen wir hier ganz bei Seite setzen. Allein da nicht blos einzelne, sondern sämmtliche Handwerke gleichmäßig begünstigt werden sollen, so muß die erwartete Preissteigerung natürlich in allen Handwerksartikeln gleichmäßig eintreten. Nun ist der einzelne Handwerker aber immer nur in Bezug auf eine einzige sehr beschränkte Classe von Artikeln Producent, mit der Wirkung, daß er sich und seine Familie darin durch eigne Arbeit versorgen kann. In den meisten Fällen muß er sich, zur Befriedigung seiner, wie der Bedürfnisse der Seinigen, selbst an andre Handwerker wenden und deren Producte kaufen. Was braucht der Schuhmacher nicht alles außer seinem Schuhwerk, der Kammmacher außer Kämmen, der Bäcker außer Brod, Schlosser und Schmidt außer ihren Eisenwaaren! Sind nun alle diese verschiedenen Waaren im Preise gestiegen, so geht nothwendig das Mehrverdienst, die größere Einnahme in dem einen Gewerbszweige, durch die größere Ausgabe beim Ankauf der Waaren von den andern wieder verloren. Gesetzt, der Tischler A. hätte bisher mit Hülfe eines Gesellen und Lehrlings jährlich 400 Thaler verdient, und davon an Bäcker, Schuhmacher, Fleischer, Schneider u. s. w. 350 Thaler ausgegeben, während ihm seine Wohnung 50 Thaler kostet, so daß er gerade auskam, aber Nichts übrig behielt. Durch die Preissteigerung in Folge der Gewerbsbeschränkungen soll sich nun sein Verdienst bei gleicher Arbeit auf 550 Thaler erhöhen. Wenn nun alle übrigen Producte ebenfalls im Preise gestiegen sind, so daß das verdiente Mehr von 150 Thaler durch die Mehrkosten für seine übrigen Bedürfnisse aufgewogen wird, so ist er nicht im Mindesten gebessert: eine Seite der Sache, die nur zu oft außer Anschlag gelassen wird.




Blätter und Blüthen.

Wie eine Frau ihren Mann erzog. Die Leidenschaft des Trunkes war im siebzehnten Jahrhundert und weit über die Mitte des achtzehnten noch hinaus sehr ausgebreitet. England blieb darin nicht zurück, ja es übertraf noch in nicht seltenen Fällen den Continent, der schon sein Möglichstes leistete. Eine Geschichte der Trinkgelage ist zum größten Theil eine Geschichte der Höfe. Die Frauen waren dabei in übler Stellung, sie litten unsäglich unter dem herrschenden Laster, das den Mann zum wilden Thier erniedrigte, in dessen Hand Alles zur Waffe wurde, und über dessen Zunge die heftigsten Verwünschungen und Beleidigungen kamen, die durch keine Sühne wieder gut zu machen waren. Hier nur ein Beispiel, wie sich eine kluge Frau in einem solchen Falle zu benehmen wußte.

Lord Hair[WS 1], 1673 zu Edinburg geboren, stammte aus der Familie John Dalrymple’s, Viscounts und ersten Earls of Hair, den Wilhelm III. zum Lord-Advocat von Schottland machte. – Lord Hair machte unter Marlborough den spanischen Erbfolgekrieg mit, zeichnete sich bei Oudenarde aus und war der Erste, der die Nachricht des Sieges nach England brachte. 1709 wurde er als Gesandter nach Dresden geschickt, von wo er bei Marlborough’s Sturze zurückberufen wurde. Georg I. ernannte ihn zum Oberbefehlshaber der schottischen Truppen und dann zum Gesandten in Paris. 1730 wurde er Großadmiral von Schottland. Alle diese Ehren hinderten den edlen Lord nicht, daß er bis zu der Katastrophe, von der wir soeben berichten wollen, der Leidenschaft des Trunkes in einem Grade ergeben war, die Alles übertraf, was in diesem Fache bei seinen Landsleuten geleistet wurde. Lady Eleanor Campbell, Tochter des Earl von London[WS 2], war seine Auserkohrene, und zwar hatte er sich in ihren Besitz auf eine etwas eigenthümliche und nicht sehr zu empfehlende Weise gesetzt. Da die schöne Dame sehr wenig Neigung für ihn empfand, und ihm schon ein paar Mal einen Korb gegeben hatte, ging seine Lordschaft darauf aus, die Schöne zu zwingen. Er stahl sich demnach in ein Zimmer ihrer Garderobe, dessen Fenster auf eine belebte Straße Edinburgs führte, und hier, ohne daß die Lady eine Ahnung davon hatte, zeigte er sich am frühen Morgen halbangekleidet am Fenster. Der Ruf der Dame war vernichtet, und wollte sie sich rehabilitiren, so mußte sie, wohl oder übel, dem frechen Manne ihre Hand reichen. So kam die Ehe zu Stande, die bei alledem eine glückliche war, denn Lady Eleanor liebte den Mann, den sie anfangs geflohen, und sie entdeckte gute Eigenschaften an ihm, die sie nicht gesucht; namentlich sprachen sein Muth, seine Ehrenhaftigkeit und seine männliche Energie, die ihm nie erlaubte, ein gegebenes Wort zu brechen, zu seinen Gunsten. Nur einen unvertilgbaren Makel fand sie, und dieser war der Trunk. Lord Hair berauschte sich bis zur Sinnlosigkeit. Lady Eleanor hatte, wenn er sich in solchem gefährlichen Zustande befand, die herkulische Kraft seiner Fäuste mehr als einmal auf ihren zarten Schultern gefühlt, und sie nahm sich fest vor, diesem bösen Spiele ein Ende zu machen. Eines Abends hatte seine Lordschaft der Flasche wiederum über alle Gebühr zugesprochen und er ging in die Gemächer seiner Frau und versetzte ihr einen Faustschlag in’s Gesicht mit solcher Kraft, daß das Blut über Stirn und Wangen sich ergoß und selbst Hals und Busen färbte. Als er diese Heldenthat vollführt, legte er sich zu Bette. Aber Lady Eleanor blieb die ganze Nacht über sitzen, und am andern Tage in der Frühe, als der Trunkenbold ausgeschlafen hatte, trat sie ihm entgegen, ein Schreckbild, ganz in Blut getaucht, und kaum aus den Augen sehend. Der Anblick wirkte wie das Haupt der Medusa, versteinernd auf den Armen, der sich gewöhnlich nur dunkel der Vorgänge des Abends besinnen konnte, jetzt aber in furchtbarer Deutlichkeit sein Werk vor sich sah. Er that das Gelübde, wie Einer, der vor sich selbst einen Abscheu gefaßt, nie wieder einen Tropfen Wein über seine Zunge gleiten zu lassen, außer seine Frau selbst fülle ihm den Becher. Lady Eleanor hatte gesiegt: daß er den Schwur halten würde, das wußte sie. Jetzt ging sie und wusch sich rein. Später, bei allen Gelagen, die er mitfeierte, trank Lord Hair nur das Quantum an geistigen Getränken, das ihm seine Frau zumaß, und er war hierin so gewissenhaft, daß bei den Trinkgelagen, die die Männer nach alter Sitte in England beginnen, wenn die Frauen sich vom Tische erhoben und entfernt haben, er jedesmal die Lady bat, ehe sie sich entfernte, ihm das Maß zu bestimmen, das sie ihm zu trinken erlaube. So that der Großadmiral und Oberbefehlshaber Schottlands!



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Aus dem in einigen Monaten bei Brockhaus erscheinenden 2. Bande der „Geschichte und Bilder der Dresdner Gallerie“ –. Unser heutiges unter dem Namen „Tizian’s Madonna“ bekanntes Bild befindet sich im zweiten Saale des Dresdner Museums (in Quandt’s Katalog pag. 36)
    D. Redact. 
  2. Ein italienischer Classiker des 16. Jahrhunderts, ein feiner Kunstkenner, damals gefürchtet wegen seiner scharfen Satyre und seines stets schlagfertigen Witzes, als Mensch aber wegen seines wüsten Lebens und seiner Zügellosigkeit wenig geachtet.
    D. Redact. 
  3. Nr. 1. siehe Jahrg. 1856. Nr. 23.
  4. Zu gleicher Zeit verwandelte er ein Kloster zu Meißen und eins zu Merseburg in solche „Fürstenschulen.“ Die zu Merseburg wurde späterhin nach Grimma verlegt. –
    Anmerk. des Verf.
  5. Als ein solcher Pensionär lebt gegenwärtig der griechische Fürst Suzzo in Pforta. Da jedoch nur Jünglinge, die der evangelischen Consession angehören, als Schüler ausgenommen werden, so besucht er die Lectionen nur als „Hospes.“
    Anmerk. des Verf.
  6. Nach einer „genauen“ Zahlung sind im Michaelis-Examen 1810 an griechischen, lateinischen und deutschen Versen 23,980 und vom Jahre 1543 bis 1813 – nach Prof. Dr. Schmidt’s Berechnung – 10,800,000 Verse geliefert worden!! –
    Anmerk. des Verf.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Gemeint ist hier wie folgend statt Hair der Earl of Stair. Siehe Wikipedia: John Dalrymple, 2. Earl of Stair
  2. Gemeint ist der Earl of Loudoun, siehe Wikipedia