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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[425]
Eine unenthüllte Begebenheit.
Erzählung von Heinrich Smidt.
(Aus einer gefundenen Mappe.)
I.

In großer Erregtheit trat Alexis bei mir ein. Ich hatte ihn erst in einigen Wochen erwartet, und sprach ihm meine Verwunderung aus.

„Wie würden Sie sich erst wundern, wenn Sie wüßten!“ entgegnete Alexis mit einiger Hast. „Uebrigens bin ich nur gekommen, um einige nöthige Vorkehrungen zu treffen, dann reise ich sofort wieder ab.“

Erstaunt sah ich ihn an. Das war der heitere, unbefangene Jüngling nicht mehr, der mich vor einigen Wochen verließ, um eine Reise durch einen Theil des deutschen Vaterlandes zu machen und Stoffe für seine künstlerische Thätigkeit zu finden. Er versprach mir, eine ganze Mappe voll der schönsten Skizzen mitzubringen. Um dem Gespräche eine andere Wendung zu geben, erinnerte ich ihn daran.

Mit einem trüben Lächeln zog er seine Schreibtafel hervor, und reichte mir aus derselben ein Pergamentblatt.

„Vorläufig müssen Sie sich mit dieser einen begnügen.“

Ich warf einen Blick auf die Zeichnung. Sie machte einen lebhaften Eindruck auf mich. Neben einem Lehnstuhl stand ein alter Mann mit gramerfülltem Antlitz. Aus den Zügen desselben sprach eine Freundlichkeit und Milde, die unwiderstehlich anzog. Ein junger Mann trat durch die Thür. Der Alte hatte sich erhoben, um ihn zu begrüßen. Der schmerzliche Zug in dem Gesicht sagte deutlich, daß der Eingetretene nicht derjenige sei, den man erwartete. Die Kleidung des alten Herrn, so wie die ganze Umgebung deuteten einen Geistlichen an.

„Und die Erklärung zu diesem Bilde?“ fragte ich neugierig.

„Die will ich Ihnen geben, so gut ich’s vermag,“ entgegnete Alexis. „Ich stehe selbst mitten in einem Labyrinth und kann den Ausgang nicht finden.“

Mit steigender Aufmerksamkeit hörte ich auf die Mittheilung des Freundes, der so begann:

„Ich hatte die Gebirgsstadt, von welcher aus ich zuletzt an Sie schrieb, mit fröhlichem Wandermuthe verlassen. Als der Abend hereinbrach, fand sich, daß ich den rechten Weg verloren. Ein schmaler Pfad führte mich fast senkrecht zu Thale. Auf gut Glück weiter schreitend, gewahrte ich durch den vorüber streichenden feuchten Nebel einzelne Häuser, zwischen den Felsen eingeklemmt, oder hart an ihrem Abhange errichtet, neugierig in das Thal schauend. Ueberall tiefe Stille; kein Mensch mehr draußen. Bald erblickte ich auch die Kirche des Dorfes mit ihrem kurzen, hölzernen Thurm und unweit davon ein Haus, wenig größer, als die umherliegenden. Ein Fenster desselben war matt erhellt. Ohne Zweifel die Pfarrwohnung. Ich ging näher, um mir ein Nachtquartier zu erbitten. Durch das Fenster blickend, gewahrte ich einen Mann, das schneeweiße Haupt tief auf die Brust herabgesenkt. Er wandte das Gesicht dem vollen Lichte zu und ich konnte jeden Zug deutlich erkennen. Ein tiefer Gram sprach aus denselben, aber der Ausdruck des Kummers und des Schmerzes war durch einen Hauch von Milde und Anmuth verklärt. Mich fesselte dies Bild, und es bedurfte erst einer ernsten Mahnung des jetzt schärfer herabströmenden Regens, um mich zu erinnern, daß ich noch keine Herberge hatte.

Leise klopfte ich an das Fenster. Der Pfarrer fuhr auf. Er blickte zerstreut um sich. Wie träumend ließ er die Hand über die Stirn gleiten. Auf mein wiederholtes Klopfen öffnete er das Fenster und fragte: „Wer ist draußen?“

„Alexis!“ antwortete ich, meinen Namen nennend.

„Alexis!“ schrie der geistliche Herr und begann zu zittern; ich wußte nicht, ob vor Schreck oder Freude. „Alexis!“ wiederholte er. „O, herein, herein!“ Und mit jugendlicher Schnelle eilte er hinaus, um die Thür zu öffnen. Er ergriff meine Hand und zog mich hinter sich her bis in die Mitte des Stübchens; dann sah er mich scharf an und meine Hand fahren lassend, sagte er mit dem Tone getäuschter Hoffnung: „Sie haben mich betrogen, Sie sind nicht Alexis.“

Eine tiefe Trauer bemächtigte sich seiner. Bewegt von seinem Schmerz und von der Seltsamkeit der Aufnahme entgegnete ich: „Ich bin wirklich Alexis, wenn auch nicht derjenige, den Sie zu erwarten scheinen.“

„Verzeihen Sie,“ sagte er nach einer Pause. „Wie konnte ich auch glauben – der arme Mensch – er hätte meine Frage nicht beantworten können. Er ist stumm.“

Diese mit wahrhaftem Kummer gesprochenen Worte rührten mich und ich blickte mit aufrichtiger Theilnahme auf den alten Herrn, der sich nun wieder gefaßt hatte und mit der größten Liebenswürdigkeit sagte:

„Ich begreife Alles. Sie sind ein Fußreisender, haben sich in dieser unwegsamen Gegend verirrt und suchen eine Herberge zur Nacht. Sie sind mir herzlich willkommen; ich freue mich, Ihnen diesen kleinen Dienst leisten zu können.“

[426] Mit freundlicher Gefälligkeit war er für mich besorgt, und in einer Viertelstunde war ich völlig heimisch. Der Tisch ward an den warmen Ofen gerückt, und nachdem ich meine Abendmahlzeit verzehrt hatte, brachte mein Wirth eine Flasche Wein. Er füllte die Gläser, und mit mir anstoßend, sagte er: „Da ich Sie auf eine so seltsame Weise empfangen habe, bin ich auch verpflichtet, Ihnen den Schlüssel zu diesem Empfange zu geben. Sie könnten sonst Seltsames von mir denken. Sie haben bemerkt, wie sehr mich der Name Alexis bewegte. Ein liebenswürdiger Knabe hieß so, den einst ein Zufall – nein, nicht Zufall, sondern die gütige Vorsicht mir zuführte, und dem ich alle Liebe und Zuneigung schenkte, deren dies Herz fähig ist. Der Knabe war mehrere Jahre bei mir; ich sah ihn sich allmälig entwickeln, ich weckte seinen Geist und freute mich, die Saat, welche ich streute, so schöne Früchte tragen zu sehen. Dies Glück dauerte bis zu der Stunde, wo ich ihn auf eine eben so räthselhafte Weise verlor, als ich ihn einst fand. Alexis –“

Der Pfarrer hatte mich während dieser Mittheilungen fest angesehen. Seine Unruhe kehrte wieder, als er jetzt abermals den Namen seines Pfleglings nannte. Er unterbrach sich:

„Entschuldigen Sie! – Aber, je mehr ich Sie betrachte – Sie nennen sich auch Alexis? Ich finde den Zusammenhang nicht, aber die Thatsache besteht. Die Aehnlichkeit zwischen Ihnen und jenem unglücklichen Knaben ist wirklich wunderbar.“

„Das wäre allerdings seltsam!“ entgegnete ich. „Aber sollten Sie sich nicht abermals täuschen?“

„Täuschen?“ sagte der Pfarrer. „Das mögen Sie selbst entscheiden. Der Knabe ward von der ganzen Gemeinde geliebt, und selbst Fremde, die hier flüchtig durchreisten, legten Theilnahme für ihn an den Tag. Ein Maler, der sich einige Zeit in diesem Thale aufhielt und bei mir wohnte, wollte mir ein Gastgeschenk zurücklassen und malte Alexis. Ich hole Ihnen das Bild.“

Der Geistliche nahm ein Miniatur-Portrait aus seinem Schreibtische und reichte es mir. Als Maler war ich keinen Augenblick in Zweifel. Das Bild glich mir. So mußte ich in meiner Kindheit ausgesehen haben. Ich konnte mich von dem Anblick nicht trennen.

„Es geht Ihnen, wie Jedem, der es sieht,“ sagte der Geistliche. „Aber lassen Sie mich meine Mittheilung beenden.

„Die Wohnungen meiner Gemeinde liegen in dem Thale zerstreut umher. Will ich die Pflichten meines Amtes gewissenhaft üben, muß ich manche beschwerliche Wanderung unternehmen, von denen ich öfters erst bei einbrechender Nacht wiederkehre. Eines Abends erreiche ich, mehr als sonst erschöpft, die Straße, welche aus unserm Gebirgskessel hinab in die Ebene führt. Die untergehende Sonne wirft ihren letzten Strahl darüber hin, und ich gewahre, von all’ dem hellen Glanz umgeben, einen Knaben, der sich mir mit allen Zeichen der Angst zu Füßen wirft. Erschreckt richte ich ihn auf, setze mich auf einen Stein und suche den heftig Weinenden zu beruhigen. Mit vieler Mühe gelingt es mir nach und nach. Er sieht mich an, lächelt, schlägt seine kleinen Arme um meinen Hals, wird immer stiller und schläft endlich ein. Während er auf meinem Schooße ruht, betrachte ich ihn näher. Sein ganzes Wesen macht den tiefsten Eindruck auf mich. Der Kleine schlief so sorglos, daß ich ihn um Alles in der Welt nicht hätte wecken mögen. Und doch brach die Nacht herein. Mit großer Vorsicht erhebe ich mich und trage ihn nach Hause. Dort bereite ich ihm ein Lager neben dem meinen und begebe mich zur Ruhe. Ich schlafe mit dem Gedanken ein, daß sich die Angehörigen des Knaben wohl am andern Morgen einfinden werden. Aber es kam Niemand, weder am nächsten Tage noch an einem der folgenden. Eine Entdeckung, die ich gleich nach dem Erwachen mache, erschreckt mich, der Knabe ist stumm. Darnach ist es unmöglich, auch nur die geringste Erkundigung von ihm einzuziehen. Zu mir fühlt sich der Knabe lebhaft hingezogen und auch an die Verwandte, die meinen Haushalt führt, schließt er sich gern an. Sie widmet ihm mütterliche Theilnahme. Niemand kümmert sich um unsern Findling; er bleibt uns völlig fremd, und nur weil wir seine Wäsche mit dem Namen Alexis gezeichnet finden, nennen wir ihn so.

„Einige Wochen nach diesem Ereigniß,“ fuhr der Geistliche fort, „bereist der Kreisarzt diese Gegend. Mit gleicher Theilnahme wie Alle wendet er sich dem Knaben zu. Er beschäftigt sich viel mit ihm und sagt beim Scheiden zu mir: der Knabe ist nicht stumm geboren; er ist es durch irgend ein schreckliches Ereigniß geworden. Sein Gemüth ist ungemein weich, doch habe ich auch bemerkt, daß tiefe Leidenschaften in ihm schlummern. Es scheint der Mühe werth, die schlummernden Seelenkräfte zu wecken. Sie, lieber Pastor, haben dazu die Muße und den Beruf. Ich ahne ein Geheimniß, was dieser stumme Knabe uns nicht verrathen kann. Unterrichten Sie ihn, und es wird ein Tag kommen, wo er das, was er Ihnen jetzt nicht sagen kann, niederschreiben wird.

„Diese Worte,“ sagte der Geistliche, „mit denen der Arzt von mir Abschied nahm, sind nicht auf einen unfruchtbaren Boden gefallen. Mit Eifer lege ich Hand an das Werk. Die ersten Erfolge sind glücklich. Meine Lust an dem Unterrichte steigt. Ich ertheile ihn nicht, um ein Geheimniß zu erfahren, sondern aus Liebe zur Sache. Rasch entwickeln sich die geistigen Fähigkeiten meines Zöglings. Schon fängt er an, mir seine Gedanken und Empfindungen mitzutheilen. Aber im Laufe der Zeit, wo jeder Tag neue Eindrücke bringt, tritt die Erinnerung an seine Vergangenheit immer weiter in ihm zurück. Nur einzelne Bilder vermag er zu erhaschen. Er schildert mir ein dunkles Haus, woran ein Garten stößt, den hohe Mauern umgeben. Ein alter Mann, der selten, sprach, bediente ihn. Von Zeit zu Zeit erscheint eine Dame in dem Garten, ohne daß er bemerkt, woher sie kommt und wohin sie geht. Sie liebkost ihn stets auf das Zärtlichste und füllt seine Hände mit kleinen Geschenken. Eines Morgens tritt der alte Diener an sein Bett, heißt ihn aufstehen und sagt ihm, daß die Dame heute wiederkommen und ihn mit sich nehmen werde. Nun sind ihm seine Erinnerungen untreu. Er weiß nur, daß er neben der Dame in einem Wagen gesessen. Auch ein Herr wäre darin gewesen, der ihn öfters umarmt und seinen lieben, lieben Alexis genannt habe. Alles dies, mein werther Herr, erfahre ich bruchstückweise in verschiedenen Zeiträumen, wie es in dem Geist des Knaben aufdämmert. Zuletzt schreibt er wieder, daß der Wägen plötzlich still hält und Männer mit schwarzen Gesichtern denselben umringen. Die Dame sinkt ohnmächtig hin. Der Herr zieht seinen Säbel und stellt sich zur Wehre, bis er blutend niederstürzt. Aber Alexis sieht nichts mehr. Einer der schwarzen Kerle streckt die Hand nach ihm aus und droht, ihn zu erwürgen. Er weiß auch nicht, wie er dem Wüthenden entkommen ist; er sieht sich nur eine Strecke vom Wagen seitwärts stehen, wie man in denselben den Herrn und die Dame hineinträgt und davon fährt. Er will schreien, aber er vermag es nicht. Das Entsetzen hat ihm die Sprache geraubt, und er ist nun blindlings fortgelaufen, bis er mich gefunden. Weiteres war nicht zu erfahren.

„Wie Sie leicht denken können,“ schloß der Pfarrer, „unterließ ich seiner Zeit nicht, den Behörden von dem Findling, der sich bei mir aufhielt, Nachricht zu geben, und es sind deshalb Nachforschungen angestellt. Jetzt erneuere ich meine Bemühungen, indem ich Alles mittheile, was ich von Alexis erfahren habe. Aber auch jetzt bleibt jede Mühe eine vergebliche. So habe ich mich allmälig daran gewöhnt, Alexis als meinen Sohn zu betrachten, und schon mache ich Pläne für seine Zukunft, als mich plötzlich der härteste Schlag trifft. Eines Nachmittags tritt er eine seiner gewohnten Wanderungen an, von denen er sonst stets nach einigen Stunden wiederkehrt. An diesem Abend kommt er nicht heim. Nach einer ängstlich durchwachten Nacht wende ich mich an die Bewohner des Dorfes. Der Gedanke, daß Alexis irgendwo verunglückte, ist am natürlichsten. Der Knabe war so beliebt bei Alt und Jung, daß Alle sich unaufgefordert aufmachen, ihn zu suchen. Keine Mühe, keine Anstrengung wird gespart. Die Männer setzen sich umsonst der augenscheinlichsten Gefahr aus. An dem Rande eines jähen Abgrundes hängt sein Hut an einem Strauche, unfern davon eine lederne Reisetasche, wie er sie zu tragen pflegte. Der Inhalt derselben, Bücher und einiges Obst, liegt zerstreut umher; von dem Leichnam aber findet sich keine Spur. Nach dreien Tagen ununterbrochener Arbeit muß ich selbst bekennen, daß jedes weitere Bemühen vergeblich ist, und ich lebe nun in der steten Ungewißheit, ob Alexis verunglückt, oder von seinen frühern Verfolgern entdeckt und – Gott weiß, wohin entführt ist.“

So lauteten die Mittheilungen des Geistlichen, wie ich sie von meinem Freunde als eine Erklärung der Skizze erhielt, die er mir aus dem Gebirge mitbrachte. Als er seine Erzählung endete, sagte er zu mir:

„Ich glaube kaum, daß wir uns vor meiner Weiterreise [427] noch wiedersehen werden. Was ich erfuhr, hat, wie geringe es auch sein mag, eine Vergangenheit in mir wach gerufen, die ich längst überwunden glaubte. Dieser Knabe, der wie ich Alexis heißt, dessen Ähnlichkeit mit mir so bedeutend war, daß sie nicht blos der Geistliche, sondern auch die Bauern, die mich zufällig erblickten, bemerkten, giebt mir viel zu denken. Bei dem Beginn meiner Reise sagte ich Ihnen, ich würde Ihre Vaterstadt zu einem längeren Wohnsitz wählen. Jetzt ist sie nur eine Station für mich geworden, von der ich nach kurzer Rast scheide.“

Er reichte mir zum Abschiede die Hand, und ohne ein Wort weiter zu sagen, entfernte er sich.


II.

Auf einem steilen Hügel, dessen granitnen Fuß die Seebrandung umrauscht, erhob sich ein finsteres Schloß, zu welchem man nur auf einem zerfahrenen, mit Gestrüpp und Steingeröll bedeckten Weg gelangte. Auch legten sich Wenige diese Anstrengung auf, denn die Mauern und Thürme waren verwittert, das Dach mit Moos bewachsen und Schaaren von Krähen und Dohlen hatten dort oben ihre Herberge. Die ganze Erscheinung hatte eher etwas Abstoßendes, als etwas Anziehendes, und die nach Romantik begierigen Reisenden wählten lieber eine auf einer zugänglicheren Höhe malerisch liegende Ruine, die auf ein reiches, blühendes Thal hinabschaute.

Das Schloß galt für verödet, und nur die am Fuße des steilen Hügels wohnenden wenigen Sassen wußten, daß ein geringer Theil desselben noch jetzt bewohnt wurde. Ein unbekannter alter Herr lebte dort mit einem eben so alten Diener, und Beide kamen mit den Sassen am Fuße des Schloßberges nur selten in Berührung.

Sie erinnerten sich des alten Herrn, den sie nicht gesehen hatten, seit er die Ruine bezog, als eines stattlichen Greises mit schneeweißem Haupte. Die Jahre hatten es nicht gebeugt. Seine strengen Gesichtszüge, die selten durch einen schmerzlichen Ausdruck gemildert wurden, sagten, daß eine sturmbewegte Zeit hinter ihm lag. Den größten Theil der langen Herbstabende brachte er in dem stattlichsten der von ihm bewohnten Gemächer zu und beobachtete hier die prasselnden Flammen im Kamine. Manchmal flog sein Auge flüchtig über ein Gemälde hin, dessen lebensgroße Figuren einen Theil der Wand bedeckten, und diese Augenblicke waren es, wo die Empfindungen der Wehmuth und des Schmerzes die Strenge seiner Züge milderten.

Es war ein schönes, farbenprächtiges Bild, von Meisterhand auf diese breite Fläche gemalt. Durch einen Pfeiler ward es in zwei Felder getheilt. Das erste Feld zeigte eine reichgeschmückte Halle von tausend flammenden Kerzen erhellt. Auf einer Estrade des Hintergrundes standen die Musiker in Gold und Scharlach gekleidet. Zu ihren Füßen drehten sich die muntern Schaaren im fröhlichen Tanz. Seitwärts an einer Säule lehnte die Gestalt eines ältlichen Herrn mit vornehmen Manieren, in schwarzen Sammet gekleidet, der behaglich lächelnd die vielfach verschlungenen Gruppen betrachtete. Augenscheinlich hatte dieser Herr auf dem Bilde große Ähnlichkeit mit dem Herrn am Kamin, nur daß Ersterer viele Jahre jünger war und schwerer Gram seine Stirn nicht durchfurchte. Ein lieblicher Knabe, buntphantastisch gekleidet, schmiegte sich kindlich an den Herrn im schwarzen Sammetkleide und schien die Theilnahme desselben für eine Zeichnung gewinnen zu wollen, die er ihm entgegenhielt. Aber der Herr strich gutmüthig die Falten der Ungeduld aus dem Gesicht des kleinen Künstlers, hatte wenig Auge für seine kindische Schöpfung und schenkte seine ganze Aufmerksamkeit einem jungen Paare, das aus den Reihen der Tänzer getreten war. Die Jungfrau stand, in holder Scham erglühend, das Gesicht abgewendet und hielt eine Blume in der Hand, noch nicht mit sich einig, ob sie dem jungen Ritter diese stürmisch begehrte Gabe reichen dürfe oder nicht. Eine zweite, ganz gleiche Blume an ihrer Brust zeigte, woher sie die erste genommen. Der junge Ritter, das sah man auf den ersten Blick, war entweder der Sohn und Bruder oder doch ein naher Verwandter des beobachtenden alten Herrn und des lieblichen Knaben. Eifrig bemühte sich der junge Ritter um die Blume, die ihm symbolisch das Herz bedeutete, an welchem sie noch vor Kurzem ruhte. Alle waren so sehr in ihr Glück versenkt, daß sie nicht auf einen Fremden achteten, der sich seitwärts von den Liebenden aufgestellt hatte und sie mit einer teuflischen Mischung von Haß und Schadenfreude betrachtete. Seine kohlschwarzen Augen brannten wie zwei unheimliche Flammen.

Den größten Theil des zweiten Bildes füllte eine düstere Baumlandschaft, die vom Mondlicht sanft übergossen ward. Es schien ein Theil des Gartens zu sein, der an die breite Terrasse des Ballsaales grenzte, zu welcher man auf weißen Marmorstufen hinanstieg. So war das große Gemälde, obgleich durch den breiten Pfeiler getrennt, dennoch eins. Vertrieben von der im Saale herrschenden lauten Freude war das junge Liebespaar hinausgetreten in die kühle Sommernacht. Ein leiser Wonneschauer beseligte sie, und sie schmiegten sich inniger aneinander. Beide athmeten schon unter dem Bann der neckischen Elfen, die auf den feuchten Mondesstrahlen zu ihnen niederschwebten. Ihre sehnsüchtigen Blicke trafen tief in das Herz hinein und nahe waren sie dem Gipfel ihres irdischen Glückes. Aber die Hand, welche es ihnen wehren wollte, war näher. Der Fremde aus dem Ballsaal stand mit einer drohenden Geberde hinter ihnen.

Das waren die Bilder, welche der greise Edelmann vor dem Kamin wohl zum hundertsten Male aufmerksam betrachtete. Sie waren für ihn eine sichtbare Erinnerung an eine glücklichere Zeit, die mit all’ ihrer Lust und Freude weit hinter ihm lag.

Mit einem tiefen Seufzer wandte er sich jetzt von dem Bilde ab und sagte zu dem alten Diener, der ihm den Abendtrunk reichte: „Es ist Alles dahin!“

„Alles!“ wiederholte dieser. „Seit unser armes Land von einem so furchtbaren Unglück betroffen wurde, will es nirgend mehr recht gedeihen. Die Leute unten am Berge, die heute hier waren, um die gewöhnlichen Lebensmittel zu bringen, erzählten wundersame Geschichten wie es jetzt drunten in der Welt zugehen soll, und Euer Gnaden würden erschrecken, wenn –“

„Ich will nichts hören!“ entgegnete der Alte heftig. „Mit großen Opfern habe ich mir von den Machthabern die Erlaubniß erkauft, auf diesem letzten Besitzthume einstigen Glückes meine Tage in voller Einsamkeit zu beschließen. Ich will von der Welt und ihren Händeln nichts mehr wissen; sie ist todt für mich und ich für sie.“

Der Diener versuchte nochmals die Aufmerksamkeit des Herrn zu erwecken; dieser aber winkte unwillig mit der Hand und sagte:

„Ich will lesen.“

Sofort rückte der Diener einen Tisch neben den Sessel des Gebieters, stellte zwei brennende Kerzen darauf und legte ein großes Buch daneben, das einzige, was in der alten Schloßhalle zu finden war. Dieser Foliant, dessen Pergamentdeckel durch zwei starke silberne Klammern zusammengehalten wurden, war die Chronik dieses altberühmten Hauses, dessen Name seit undenklichen Zeiten in der Geschichte des Vaterlandes glänzte.

Unter den hohen Adelsherren des Reiches, die dem fürstlichen Gebieter bei allen Wechselfällen treu ergeben blieben, stand Graf Eberhard von Steinau in erster Reihe. Es war die Erbtugend dieses edlen Hauses, das von seinem ersten Ahn abwärts bis zu dem jüngsten Sprossen eine stattliche Reihe von Männern zählte, die mit dem Schwerte in der Hand oder mit den Waffen des Geistes für die wachsende Größe des fürstlichen Hauses gefochten hatten. Das machte die Steinau’s zu den Angesehendsten im Lande und eifrig bewarb man sich um ihre Gunst.

Graf Eberhard stand in der Blüthe des männlichen Alters und der Fülle des Glückes, umgeben von einer Familie, die ihn hoch in Ehren hielt und die er schwärmerisch liebte, als in der Stille sich der Dämon zu regen begann, der seitdem die halbe Welt in Flammen setzte, und statt einer wohlthuenden Wärme nur todte Asche hinter sich ließ. Er war Anfangs so klein, so schuldlos dieser finstere Unhold. Er erschien in so freundlicher, mitleidheischender Gestalt, daß Alle ihn liebkosten und Jeder auf seine Frage die Antwort erhielt, welche seiner Eitelkeit schmeichelte. Wie ein bettelndes Kind war er eingetreten in die höheren und niederen Kreise. Aber von den Gaben, die ihm zuflossen, schwellte er an und riesiggroß reckte er den Leib empor, nicht mehr flehend mit offner Hand, sondern mit der geballten Faust trotzig fordernd.

Nur Graf Eberhard von Steinau hatte des Sturmes bisher nicht geachtet und gedachte es ferner so zu halten. Ihm schien das neumodische Treiben so gering, daß er sich mit verächtlichem Achselzucken von demselben abwandte. Nur ein Zweig des stolzen [428] Baumes, ein entfernter Verwandter, der, wenn auch nicht die Grafenkrone, doch den Namen derer von Steinau trug, ein Mann von beschränkten Mitteln aber voll Geistesstärke und von maßlosem Ehrgeize erfüllt, trat dem Haupte des Hauses mit der Energie des Hasses entgegen, und da er nicht im Stande war, offenen Kampf zu bieten, legte er insgeheim seine tiefverborgenen Schlingen.

Mitten in diesen beginnenden Kämpfen ward Graf Eberhard von einem Familienleid getroffen, das er lange nicht verschmerzte; das war der Tod seines geliebten Weibes. Nur allgemach verlor sich dieser Schmerz in der Liebe für seine Söhne, und seine einzige Hoffnung war, das ihm entrissene Glück in dem Glücke seiner Kinder wieder zu finden. Sehnsüchtig spähte er nach einer Gelegenheit, diesen Gedanken durch die That zu verwirklichen und freudig jauchzte er auf, als sich unerwartet eine solche darbot.

Der älteste von den Söhnen des Grafen war ein kräftiger, lebensmuthiger Jüngling, voll Energie wie sein Vater. Er hatte die Waffen ergriffen, zeichnete sich in allen militärischen Tugenden aus und erregte die schönsten Hoffnungen. Seine Laufbahn führte ihn als Obersten eines Reiterregiments in eine ferne Garnison und bald fühlte er sich dort von so lieblichen Banden gefesselt, daß er schrieb, er sei im Begriff, den Gipfel seines Glückes zu erklimmen, doch wage er es nicht, bevor er nicht die Einwilligung des Vaters zu einem Bündniß mit dem Mädchen seiner Liebe empfangen habe. Graf Eberhard säumte keinen Augenblick, sondern schrieb zurück: „Bringe mir eine Schwiegertochter in’s Haus, die Dich glücklich macht, und sie soll mein liebstes Kind sein. Nur die eine Bedingung stelle ich, daß ihre Familie der unsrigen ebenbürtig sei. Ich weiß wohl, welche neue Ordnung der Dinge der Zeitgeist predigt; aber dieser angeblich versöhnende Genius ist für mich der Dämon des Hasses und der Zwietracht, gegen den ich bis zum letzten Hauche meines Lebens kämpfen werde.“ Auf diese seine väterliche Botschaft erwartete er mit Sehnsucht eine Antwort, die sich, ihm unbegreiflich, von Tag zu Tag verzögerte.

Rosa von Bergheim war die Zauberin, welche den jungen Grafen von Steinau, den kühnsten Reiteroberst der Armee durch ihre Reize gefesselt hatte. Ihr Vater, ein zurückgekommener Edelmann, der gezwungen ward, sein Familiengut zu veräußern, lebte in diesem Garnisonorte, mit sich selbst zerfallen, von einer mäßigen Leibrente. Wenig fruchtete ihm die zärtliche Sorge seiner Tochter Rosa, deren junge Schönheit sich blühend entfaltete. Er ward täglich mürrischer und scheuchte die milde Trösterin mit harten Worten zurück.

Da erschien ein Mann auf dem Schauplatz, welcher eine nicht geringe Verwirrung anregte. Das war Theodor von Steinau, der entfernte Verwandte des Grafen Eberhard. Von diesem seinem Oheim zurückgewiesen, suchte Theodor sich einen andern Wirkungskreis für sein abenteuerliches Dichten und Trachten, das ihm die Ungunst des Oheims schon früher zuzog. An den herabgekommenen Herrn von Bergheim fand er einen gelehrigen Schüler, der die seltsamen Lehren, welche Jener predigte, mit Begier erfaßte. Theodor war unermüdlich und er wußte auch, warum. Noch nicht lange hatte er in dem Hause des Herrn von Bergheim Zutritt erlangt, als er den seltenen Schatz entdeckte, der darin verborgen war. Er entbrannte in heißer Liebe zu Rosa und bewarb sich eifrig um ihre Gunst. Im Tiefinnersten ihres jungfräulichen Gemüthes fühlte sie die Nähe eines bösen Geistes und zog sich scheu zurück. Theodor ward dringender und erfuhr eine kränkende Abweisung. Nicht gewohnt, vor Hindernissen zurückzubeben, verdoppelte er seine Bemühungen. Zu der Liebe gesellte sich der Trotz. Er wollte Rosa besitzen und erwählte zu seinem Bundesgenossen ihren Vater, den er bereits so sehr umstrickt hatte, daß dieser ihm nichts mehr abschlagen konnte. Herr von Bergheim nahm ihn als seinen Sohn auf und verkündete seiner Tochter, daß er sie mit Theodor von Steinau vermählen werde, sobald dieser von seinem Oheim die Herausgabe der ihm widerrechtlich vorenthaltenen Besitzungen erzwungen habe.

Um diese Zeit war es, als der Oberst, Graf von Steinau an der Spitze des Regiments erschien, das hier seine Garnison angewiesen erhielt. Jung, reich, von dem ältesten Adel, konnte es nicht fehlen, daß ihm alle Thüren bereitwillig offen standen. Den Herrn von Bergheim lernte er nicht kennen. Die Vermögensumstände dieses Edelmannes gestatteten ihm nicht, ein Haus zu machen. Ueberdies liebte er Zerstreuungen und Ergötzlichkeiten, zu welchen es keiner glänzenden Gesellschaften bedurfte. Für die Freuden des Weines und des Spiels genügte ein beschränkter Kreis von Gleichgesinnten. Dagegen legte er seiner Tochter keinen Zwang auf. Sie war in einigen Häusern eingeführt und durfte sich dort frei bewegen. Gern suchte sie jede Gelegenheit dazu auf; war sie doch dann den Verfolgungen Theodors weniger ausgesetzt, der sich in Kreisen, wo man ihn nicht sonderlich aufmerksam behandelte, unbehaglich fühlte und sich mehr unter den Leuten gefiel, die sich um Herrn von Bergheim sammelten.

Der Oberst hatte bald die zarte Blüthe entdeckt, die sich in voller Schönheit entfaltete und sein Herz war wunderbar bewegt. Auf einem Balle gab er seinem Gefühle Worte und fand Erhörung. Die erste zarte Neigung entfaltete sich bald zur reichsten Liebe. In dieser glücklichen Stimmung schrieb der Oberst den schon erwähnten Brief an seinen Vater, erhielt dessen Antwort und brachte darauf seine Bewerbung an.

Herr von Bergheim stutzte. Er wußte den Werth diesen Bündnisses wohl zu würdigen und hätte gern zur Stelle eingewilligt, aber er fühlte sich Theodor gegenüber gebunden und entließ den Obersten mit einer zweifelhaften Antwort.

Eine trübe Zeit brach für alle Betheiligten an. Rosa wurde von ihrem Vater bei jeder Gelegenheit hart angelassen, daß sie es sei, welche die Verwirrung hervorgerufen und den Frieden und die Ruhe seines Alters trübe. Auch Theodor ließ es empfinden, wie er durch Rosa’s Zurücksetzung gekränkt sei und wie er nichts unversucht lassen werde, sich zu rächen; sie sei ihm feierlich von dem Vater anverlobt, und Niemandem solle es gelingen, sie ihm zu entreißen. Zwischen dem Obersten und Theodor entstand ein harter Kampf. Beide wurden scharf beobachtet, aber Keiner wußte mit Bestimmtheit anzugeben, was eigentlich zwischen ihnen vorgefallen war. Man erschöpfte sich in Muthmaßungen. Bald hieß es, ein Duell habe stattgefunden und Theodor sei geblieben. Aber kurz darauf erschien dieser wieder auf dem Schauplatze mit großem Reichthum prunkend, welches zu dem Gerüchte Anlaß gab, Theodor habe seine Rechte dem Obersten verkauft. Aber auch dieses Gerücht hielt nicht Stich, denn Theodor strebte eifriger als je nach der Hand der jungen Dame und noch niemals hatte sich der Vater so entschieden für ihn erklärt, als um diese Zeit. Es war der verführerische Schimmer des Goldes, der den alten Sünder für jede edlere Regung des Herzens, für die Leiden seines einzigen Kindes taub und blind machte. Theodor hatte ihm in verhängnißvoller Stunde den Schlüssel zu reichen gewußt, der ihm die Pforte zu öffnen schien, die in eine nie zu erschöpfende Schatzkammer führte.

Da trat Theodor eines Abends in großer Erregtheit in das Zimmer seines Schwiegervaters, der noch mit einigen Genossen an der schwelgerischen Tafel saß. Er verkündete, daß er noch in dieser Nacht abreisen müsse und sobald nicht wiederkommen könne, darum wolle er vorher alles Zweifelhafte in Richtigkeit gebracht wissen und forderte den Vater auf, ihn ohne Aufenthalt mit Rosa zu vermählen. Ein von ihm gewonnener Geistlicher sei bereit, die Trauung zu vollziehen. Für diese Gunst versprach Theodor goldene Berge und der halbberauschte Alte willigte ein. Die anwesenden Gäste wurden als Zeugen eingeladen und ein nahegelegenes Zimmer zu der feierlichen Handlung eingerichtet. Der Geistliche erschien und fragte nach der Braut. Der Vater ging, um sie zu holen; aber Rosa war nirgend zu finden. Ein Diener, dem sie mehrfache Wohlthaten erzeigt, bewahrte ein dankbares Herz und entdeckte ihr Alles. Sie verließ, von dem treuen Diener geleitet, unbemerkt das Haus. Eine Freundin nahm sie mit offnen Armen auf. Von dort aus wurde der Oberst von dem Vorgefallenen benachrichtigt.

Theodor wüthete. So nahe am Ziel, hatte er dasselbe auf lange, wenn nicht für immer, aus den Augen verloren. Unter gräßlichen Flüchen schied er von dem alten Bergheim, den er mit dem Obersten im Einverständniß glaubte und schwur Allen glühende Rache. Von dieser Stunde an war er ein unversöhnlicher Feind. In aller Stille reisete er ab. Es war die höchste Zeit. Kaum hatte er die Stadtthore hinter sich, als ein höherer Beamter erschien, um ihn zu verhaften. Es verbreitete sich das Gerücht, Theodor von Steinau habe sich einem hochverräterischen Komplotte angeschlossen und stehe in dem Solde auswärtiger geheimer Klubbs.

(Fortsetzung folgt.)
[429]
Drei Frauenbilder in Bayreuth.
2. Das preußische Familiengespenst.

Die weiße Frau.

Im neuen Schlosse in Bayreuth hängt ihr Portrait, ein zweites in der Eremitage. Das neue Schloß ist eine Schöpfung des Markgrafen Friedrich und seiner Gemahlin, der berühmten Markgräfin, aber sie erlebten Beide die Vollendung desselben nicht. Mit ihnen ging die Glanzperiode Bayreuths zu Grabe und schon 1769 starb die Linie aus, und Bayreuth hörte auf eine Residenzstadt zu sein.

Die Schlösser solcher ehemaliger Residenzen, in welchen regierende Fürstengeschlechter ausgestorben sind, haben stets etwas Unheimliches, und in allen solchen Städten trägt sich das Volk mit Spukgeschichten, die sich in solchen Schlössern ereignet haben sollen. Es gibt da stereotype Gespenster, die ein sehr zähes Leben haben, und die „weiße Frau“ ist ein sehr bequemes, das fast in allen deutschen Fürstenschlössern, ja sogar in außerdeutschen eingebürgert ist.

Soll sie doch sogar in dem nahen Orte Himmelkron, ehemaligem Kloster, dann Lustschloß und Erbbegräbniß des bayreuther Markgrafengeschlechts, begraben liegen. Hinsichtlich der Volkssagen, die seit vier oder fünf Jahrhunderten über sie im Schwange sind, können wir uns kurz fassen.

Die allgemeine Sage ist, daß das Gespenst „die weiße Frau“ sich vor Todesfällen in den betreffenden Fürstenfamilien an den Höfen und in den Residenzschlössern dieser Familien zu zeigen pflege und von dem langen weißen Gewande und dem weißen Schleier, in welche sie gehüllt sei, den Namen erhalten habe. Man behauptet aber auch sie sei erschienen, ohne daß bald nachher ein fürstliches Haupt zu Grabe gegangen, und viele fürstliche Personen in den Fürstenhäusern, in welchen sich das Gespenst vorzugsweise heimisch gemacht, seien Todes verblichen, ohne daß die Weiße Frau vorher von einem menschlichen Auge erblickt worden sei.

Die Orte ihrer prophetischen Wirksamkeit sind zumeist die Höfe des hohenzollernschen Fürstengeschlechts, und in Berlin ist sie sogar in neuerer Zeit wieder Mode geworden, und da die meisten deutschen Höfe mit dem brandenburger Hause verwandt sind, so hat sie sich allmälig bei denselben auch eingefunden; außerdem besucht sie die Königsschlösser in London, Kopenhagen und Stockholm und erlaubt sich überall unziemliche Vertraulichkeiten. In den drei letzten Städten mögen ihr Lokalsagen zu Hülfe kommen, und sie mag Gegenstand mancher Verwechselungen und falscher Deutungen sein. Ein Geschichtsforscher, der ihr Schritt vor Schritt nachgehen wollte, würde interessante Studien über die [430] Metamorphosis der Volkssage machen. Wir halten uns an unsre Landsmännin, die gute deutsche weiße Frau, die sich auch bei andern und sogar bei freudigen Gelegenheiten, wie Hochzeiten, Geburten und Glücksfällen zu zeigen pflegt, und diese Theilnahme ist, wie wir sehen werden, ihrer eigentlichen Natur die angemessenste. Die Sage gibt ihr mehrfache verschiedene Abstammung und Schicksale, doch treten zwei Versionen vor den übrigen hervor.

Nach der erstern ist sie eine Thüringerin oder Osterländerin, die Wittwe des Grafen Otto IV. von Orlamünde, der auf der Pfaffenburg bei Culmbach wohnte, von welchem ihr zwei Kinder lebten. Sie faßte eine so heftige Leidenschaft für den Burggrafen von Nürnberg, Albrecht den Schönen von Hohenzollern, daß sie sich ihm zur Gemahlin anbot. Der Graf wich mit der Erklärung aus: „vier Augen verhinderten ihn auf ihren Wunsch einzugehen,“ damit auf seine noch lebenden Eltern deutend. Sie bezog das dunkle Wort aber auf ihre Kinder und ermordete sie heimlich, indem sie den unschuldigen Kindlein die Hirnschale auf dem Wirbel mit einer Haarnadel durchstach. Die That kam an den Tag und die Mörderin in lebenslängliches Gefängniß, wo sie von Reue und Leidenschaft gefoltert, dem Geschlecht des Burggrafen ewige Rache schwur. Nach ihrem Tode trat sie denn als bösartiges Familiengespenst der Hohenzollern auf. Nach dieser Sage fiele sie in’s 14. Jahrhundert; ihr Name ist schwankend Kunigunde, Agnes, Beatrix, Bertha. Von Bedeutung ist der letzte Name und auch der vorletzte noch bezeichnend; doch verwischen sie sich, weil das dämonische Element vorherrschend ist. – Anders ist’s nach der zweiten Version. Da heißt sie ganz bestimmt Perchta (Bertha) und ist ein guter Geist, welcher die Rolle eines freundlichen schützenden Genius in den Fürstenhäusern spielt, deren Verwandtschaft sie beansprucht. Hier ist sie eine Tochter des 15. Jahrhunderts und dem berühmten Grafengeschlecht der Rosenberg entsprossen. Ihr Vater soll Ulrich von Rosenberg, Burggraf von Böhmen und kaiserlicher Feldherr gegen die Hussiten gewesen sein. Sie war mit dem steierschen Freiherrn Hans von Lichtenstein vermählt, der sie sehr vernachlässigte und verließ, worauf sie trauernd zu ihrem Bruder Heinrich von Rosenberg zurückkehrte und eine gute Kindererzieherin in ihr verwandten Familien wurde. So erzog sie auch die verwaisten Kinder des Meinhard von Neuhaus, erbaute als Vormünderin derselben das Schloß Neuhaus und lebte bei ihnen bis zum Tode. Weshalb sie nachher als Gespenst auftritt, ist aus dieser Sage nicht zu ersehen, aber das ist zu ihrer Erklärung gerade charakteristisch. Denn höchst bedeutungsvoll fügt die Sage hinzu: jener Schloßbau habe viele Jahre gedauert und sei äußerst mühsam gewesen, so daß Frau Perchta den arbeitenden Unterthanen oft freundlich zugesprochen und ihnen nach vollendetem Bau eine kostbare Mahlzeit ausgerichtet, auch eine Stiftung gemacht, aus welcher dieses Festessen, „der süße Brei“ genannt, alljährlich den Unterthanen verabreicht wurde.

Die Inhaber des Schlosses mußten das Gebot des Vermächtnisses treulich erfüllen, wenn sie nicht bösen Besuch von der weißen Frau haben wollten. Der böhmische Jesuit Balbinus versichert, daß er selbst einige Male als Zuschauer auf dem Schlosse Neuhaus gewesen als die Speisung aus der Stiftung der weißen Frau stattfand, an welcher sieben- bis zehntausend Arme Theil genommen. Unterblieb die Mahlzeit einmal aus Geiz oder Fahrlässigkeit des Schloßbesitzers, so ließ das sonst gutmüthige Gespenst seine Wuth aus.

So geschah es vorzüglich im dreißigjährigen Kriege, wo die Schweden das Schloß Neuhaus eingenommen hatten. Da gab’s schlimme Auftritte. Die Offiziere wurden des Nachts aus den Betten geworfen und am Boden geschleift, die Wachen von unsichtbaren Händen geprügelt und zu Boden geworfen; ein schrecklicher Lärm tobte durch die Gemächer, so daß Alles entsetzt floh. Auf Anrathen eines verständigen einheimischen Mannes ließ endlich der schwedische Kommandant das unterlassene Liebesmahl herrichten, und mit dem Hunger der Armen war auch der Zorn der weißen Frau beschwichtigt.

Unwichtig dagegen für unsern Zweck sind die vielfachen aufgezeichneten Erscheinungen auf einer Anzahl Schlösser in Böhmen und der übrigen Welt. Der genannte Jesuit hat darüber Buch geführt. Das Gespenst wurde bei Nacht und bei Tage gesehen. Wie viel Betrug, Selbsttäuschung und Lüge da mitgespielt hat, läßt sich denken. Bemerkenswerth ist aber wiederum, daß sie oft mit einem Schlüsselbunde gesehen wurde, und Zimmer auf- und zuschloß. Die Brücke, auf der sie in das brandenburger Fürstenhaus geschlüpft ist, ist schwach und schwankend.

Im Jahre 1561 vermählte sich Wilhelm von Rosenberg, Oberburggraf von Böhmen, mit einer Tochter des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg, eines damals berühmten fürstlichen Theosophen und Adepten. Mit der Morgengabe des böhmischen Großen kam die weiße Frau in das berliner Schloß. Und nun trat sie auch in dem dem Kurfürstenhause so nah verwandten Markgrafenhause in Bayreuth auf, und hier hat sie sich vorzüglich festgesetzt. Die Sage berichtet, sie habe eigentlich nur männliche Todesfälle voraus verkündet, doch werden auch mehrere Fürstinnen genannt, deren Absterben sie angezeigt haben soll.

Genug von ihren zahlreichen Erscheinungen; es sind meist gemachte Geschichten, Erfindungen des modernen Aberglaubens, der nach dem dreißigjährigen Kriege über hundert Jahre wie ein schwerer Alp auf Deutschland lastete.

Es kann auch nicht in der Absicht dieses Artikels liegen, den Lesern der Gartenlaube alle die grausigen Fabeln und Sagen zu erzählen, welche über diese Dame existiren, nur so viel glauben wir noch hinzufügen zu müssen, daß es allerdings Thatsache ist, daß die Ersterwähnte, die Gräfin von Orlamünde, auf der Pfaffenburg lebte, noch jung war, als ihr Gatte starb und Culmbach damals von dem Burggrafen von Hohenzollern von Nürnberg aus häufig besucht ward. Thatsache ist es ferner, daß man unter dem orlamündischen Grabstein in der Klosterkirche des nahegelegenen Himmelskron zwei kleine Gerippe fand, von denen man nicht ohne Grund vermuthete, daß sie die Ueberreste der ermordeten Kinder seien. Wie weit sie ihre Rachsucht auf das hohenzollersche Geschlecht ausdehnte, darüber existiren eine Unmasse Geschichten, ja sogar einige Bücher. Da soll sie kurz vor Ableben des Kurfürsten Johann Georg im Jahr 1598, später vor dem Tode des Johann Sigismund, 1678 beim jungen Markgrafen Erdmann Philipp und bei vielen andern Prinzen und Prinzessinnen erschienen sein. Die damaligen Hofprediger Bergius und Rentzsch erzählen darüber ein Langes und Breites mit dem größten Ernste. Ja sogar neuerer Zeit, kurz vor dem Attentate auf den König Friedrich Wilhelm IV. 1850, soll sie sich auf dem Schlosse in Berlin mehrmals gezeigt haben, und mehrere Zeitungen waren taktlos und albern genug, Details über diesen gespenstigen Spektakel mitzutheilen, wie die Wachen davon gelaufen, wie die weiße Frau gewinkt, geächzt, drei Mal Wehe geschrieen etc. etc., und was des dummen Zeuges mehr war.

Die nüchternen Männer der Wissenschaft haben nachgeforscht, wie diese Sage, die so allgemein verbreitet ist, entstehen konnte, und Einige wollen ihren ersten Ursprung in der heidnischen Zeit suchen. Sie sahen in der weißen Frau eine Vereinigung der vorchristlichen Damen, Frau Holle, die Schwarze, und Frau Perchta, die Weiße, weil das Familiengespenst stets schwarz und weiß gekleidet erschien, und einerseits das beschützende, gütig waltende und fördernde, andererseits das warnende und strafende Element im Hause und in der Familie vertritt. Somit verwandelt sich das grausige Gespenst unter der Lupe der Wissenschaft in eine hochherrliche Gestalt als segenspendende, mütterliche, Haus und Hof schützende Gottheit, als Pflegerin alles Guten und Schönen, als warnender, strafender Hausgeist und für die letzten Tage als sanfte Löserin des Lebensbandes. Unsere schönen Leserinnen wollen sich also nicht mehr vor dem bleichen, starren Gesicht des „preußischen Familiengespenstes“ fürchten!



[431]
Spaziergänge auf dem Meeresboden.
(Von einer in England lebenden deutschen Dame.)
Zweiter Ausflug.

Als wir am Abend desselben Tages in dem D.’schen Hause versammelt waren und gehörig gegessen und getrunken hatten, kehrten wir in das Familienzimmer zurück, um unseres Wirthes aufgespeicherte Marine-Weisheit zu studiren.

„Nun, jungen Leute,“ sagte Herr D., „kommt her zu mir. Nehmt diese Lupe und Ihr werdet einen Baum voll Affen erblicken. Sie sitzen so dick darauf, daß kaum Platz für alle ist, ohne daß sich Einer auf des Andern Rücken hockt.“

Ein schreckliches Gelächter entstand unter den Mädchen, als sie durch das Vergrößerungsglas in den Wasserbehälter schauten, worin ein Zweig des vielfarbigen Seegrases von ungefähr 6–8 Zoll Höhe sich befand.

„O seht nur! Da ist Einer auf des Andern Schultern geklettert, und bewegt und küßt seine Hand, während er dahinfährt! Hier ist ein anderer auf dem höchsten Zweige, welcher dasitzt, als ob er eine Rede halten wollte. Jetzt verläßt er plötzlich seinen Platz und macht Sprünge von Zweig zu Zweig. Das sind gewiß ganz eigenthümliche Thiere, wie sie zwischen den Zweigen des Seegrases herumschwärmen und in der That nicht unähnlich auf Bäumen herumkletternden Affen.“

„Ach das müssen doch wenigstens 30–40 sein,“ sagte Fräulein C.

„Mehr noch! Zum wenigstens springen und klettern Hundert hier herum. Ich habe niemals solche komische Bewegungen und Possen gesehen. Bitte, sagen Sie uns, was das für Thierchen sind?

„Es sind dies kleine Fangkrebschen, Caprella, welche an den Gestaden herumschwärmen,“ erwiederte Herr D. „Sie pflegen sich mit den Hinterfüßen fest an Zoophyten zu halten, um sich mit ihrer gespenstigen Gestalt frei im Wasser, durch welches sie sich rück- und vorwärts bewegen, aufzurichten und mit ihren eigenthümlich geformten Vorderfüßen irgend eine vorüberziehende Beute zu fangen. Man braucht nicht viel Kenntniß dazu, um zu sehen, daß die Caprella zum Geschlecht der Raubthiere gehört. Es sind, von Ferne gesehen, komische gerippenähnliche Geschöpfe, mit langen dünnen, aus wenig Gelenken zusammengefügten Körpern und langen zappelnden Gliedern. Seht, wie es sich mit den sechs Hinterfüßen an das Seegras angeklammert hat! Und dann beobachtet diese eigenthümlich aufgerichteten Fangfäden, welche von dem Scheitel des Kopfes ausgehen, und die Bewegungen der Vorderfüße des Geschöpfes, welche ihm das Ansehen eines seine Hand küssenden Affen geben. Seht Ihr die eigenthümlich viereckig geformten Taschen an seinem Körper, welche wiederum mit schaufelähnlichen Figuren versehen sind?“

„Diese komischen Bewegungen, welche sie mit floßfederartigen Rudern machen, müßt Ihr sehen,“ sagte Fräulein C. „Wie diese Geschöpfe an den glätteren Theilen des Grasstengels hinklettern! Es bewegt sich wie eine Raupe, seinen langen fußlosen Körper in Schlingungen biegend, wie es sich mit seinen Vorderfüßen festhält, und die Hinterfüße an die Vorderfüße bringt, um sich dadurch vorwärts zu schieben. Und wie schnell geht das! Jetzt hat es sich von dem Grasstengel losgelassen und ist bis auf den Boden des Glases getaucht, was aussah, wie wenn ein Knabe sich mit dem Kopfe zuerst von einem Felsen herab in die See stürzte.“

„Nun, Ihr Kleinen,“ sagte Madame D., „nehmt das Glas mit den Affen in das Fenster und amüsirt Euch damit, hier ist eine Lupe, damit Ihr sie besser sehen könnt. Jetzt, Fräulein O., werde ich Ihnen etwas zeigen, was Sie noch nicht gesehen haben. Bemerken Sie den langen rosafarbnen hornigen Zweig, welcher parasitisch an dem Korallenzweige wächst? Es ist dies die Coryne squamata eine der schönsten und interessantesten Zoophyten, jedoch nicht selten vorkommend. Wenn Sie die Säulen genau betrachten, von welchen die Nebenzweige ausgehen, werden Sie finden, daß die Zweige sowie die Säule mit Roth umzogen und hohl sind, und eine eigenthümliche Masse einschließen. Diese Substanz ist der lebende Zoophyte, die hörnige Schale sein Polypidom oder Wohnplatz. Können sie die Büschel der kleinen rothfarbenen Knöpfe dieser Scheiben, welche die Enden der Zweige kräuseln, sehen? Jede von diesen gefransten Scheiben (einige, welche Sie sehen, sind rund, andere länglich viereckig, andere von noch seltsameren Formen) ist ein Polypenkopf, und diese kleinen Punkte mit knotigen Enden wie die Fühler eines Seeigels, mit welchen es umgeben ist, sind die Fangwerkzeuge oder Tentakeln. Es ist eine Art Hydra. Jedes dieser Thiere hat nicht weniger denn neun Köpfe, jeder mit zwei bis zwölf Tentakeln besetzt. Die Köpfe sterben aus und ersetzen sich nach einer gewissen Jahreszeit durch neue. Sobald sich ein solcher bildet, bemerkt man anfänglich einen rosafarbigen, sich nach und nach vergrößernden Knopf und ein zweiter und dritter erscheint, bis der Kopf vollständig ist. Wenn Sie genau darauf achten, können Sie deren graziöse, doch langsamen Bewegungen sehen. Jedes Tentakel ist in Bewegung, die Scheiben verändern ihre Gestalt fortwährend: die welche jetzt rund war, verlängert sich, und die lange und schmale rundet und kugelt sich wieder. Seht wie schön es den großen Kopf an seinem zerbrechlichen Stamme bewegt, gleich einer Dame, welche den auf ihrem Schwanenhalse sitzenden Kopf auf- und niederbückt und den Haarlocken freies Spiel läßt. Aber seht doch diese kleine liebliche dunkle Kreatur zwischen den Korallenzweigen auffahrend? Was ist das?“

„Ich kann Sie versichern, daß ich es nicht weiß,“ sagte Herr D. „Immer findet man etwas Neues und glaube ich, daß meine Entdeckungen nicht eher ein Ende nehmen werden, bis daß ich zu blind bin, länger danach zu sehen.“

Der Gegenstand, von welchem ich sprach, war eine Feder mit außerordentlichen flaumenartigen Fransen – zum wenigsten schienen sie mir so. Sie war nicht, wenn ausgedehnt, über 1/6 Zoll groß, aber schön genug, um Augen und Gedanken Stunden lang zu beschäftigen. Die Feder bestand aus zwölf kleinern.

Zuerst stieg sie gleich einem gallertartigen Klumpen in die Höhe, der sich nach und nach vergrößerte und an seinen äußern Spitzen anfing zu entwickeln. Bald hatte sie die Gestalt einer mit Regenbogenfarben geschmückten aufgeblüheten Blume. Ihre natürliche Farbe war fleischig, aber die Strahlen des Lichtes brachen sich auf eine so eigenthümliche Weise, daß in einer Entfernung der brennenden Kerze (denn alle diese Dinge wurden bei einem Lichte besehen, und immer so gestellt, daß es seine Strahlen in’s Glas werfen konnte) seine Schattirung blau ward, während es in einer andern mit Orangegelb, Weiß, Rosa und noch ein Dutzend andern Farben punktirt erschien. Aber das schöne reine Blau war immer die hervorstechendste. Durch eine Berührung des Wassers fiel das zierliche Geschöpf in das Korallenbad zurück, erhob sich jedoch dann wieder in solcher schattenhaften Weise, daß es Einer von uns mit einem Traume, ein Anderer mit einem Gedanken verglich.

Während Herr D. und ich mit einigen Andern unser Korallenfeld untersuchten, hatte Madame D. ein hohes enges Glas herbeigebracht, mit klarem Seewasser gefüllt und einen Zweig des gemeinen groben Seegrases (Fucus serratus) hineingetaucht. Sie rief mich zu sich und ließ mich nach dem Zweige und den Blättern des Grases sehen. Wie unendlich groß war mein Entzücken über das sich meinen Augen darbietende Schauspiel. Zurst sah ich nichts als eine rauhe braune Rinde, welche den ganzen Zweig einschloß und in runden Flecken auf den Blätter desselben lag. Nach einer Weile jedoch entdeckte ich kleine weiße durchsichtige Klümpchen, welche immer eins nach dem andern sich vergrößerten und am Ende sich zu Spitzen bildeten, aus welchen noch andere herausschossen – gerade wie die Röhren eines Fernrohres, das man auseinander zieht. – Aber eine kleine Bewegung des Tisches machte meiner bewundernden Erwartung ein Ende; denn in einem Augenblick verschwanden alle die Spitzen, welche in Hunderten herauszukommen schienen, und nichts als der braune unansehnliche Ueberzug blieb zurück.

Noch gab ich Achtung und ward bald für meine Geduld durch das Wiedererscheinen der Spitzen reichlich belohnt, welche diesmal viel schneller und in viel größern Massen zum Vorschein kamen.

Bald war die ganze Oberfläche der Rinde mit diesen bedeckt; eins öffnete sich nach dem andern mit ungefähr zwanzig eiszapfenähnlichen Tentakeln, die sich in die Form eines offnen Lampenschirmes ordneten. Ich erinnere mich nicht, jemals ein so reizendes [432] Schauspiel gesehen zu haben. Viele Tausende dieser kleinen lieblichen Dinger hatten sich vollkommen entwickelt, und spritzten von ihren festen Sitzen im Wasser umher, ihre lilienweißen Köpfe so weit niederbiegend, bis sie ziemlich flach auf dem Blatte lagen, um sie plötzlich wieder aufzuheben, und mit jedem einzelnen Tentakel zwickernd, ohne Zweifel um seinen spärlichen Raub zu fangen. Diese unsichtbaren Partikelchen des Lebens, Infusorien, an welchen das Wasser so reich ist und von welchen die kleinen Kreaturen leben, dieses ausgezeichnete Pflanzenthier ist das Cyclorum papillosum. Man findet es in Menge an den Seegewächsen, ein wenig über dem niederen Wasserstande, aber nur wenige, welche den Strand besuchen, sehen es, weil sie nicht wissen, daß der rauhe schmutzige Ueberzug, welcher das Seegras bedeckt, der Garten ist, aus welchem durch die Berührung der Fee des Meereswassers die delikatesten Lebensblumen hervorschießen. Ich zählte 38 dieser kleinen Thiere auf einem Fleckchen nicht größer als mein Fingernagel. Man kann deren Gestalt ohne Lupe sehen, aber nicht die Einzelnheiten, welche ich eben angeführt habe. Da ich nicht gern lateinische Namen, wo deutsche angewandt werden können, führe, will ich sie von jetzt an Weingläser nennen, denn sie sind den glockenförmigen Weingläsern sehr ähnlich, wenn sie mit ihren schönen glasigen Tentakeln aufrecht an ihrem leichten Stengel stehen.

Ich ward von Herrn D. zurückgerufen, um in sein Glas, in welches er einen neuen Gegenstand gestellt hatte, zu sehen. Es war dies eine Gruppe von Enten- und Schüsselmuscheln (Balanus cranchii), alle damit beschäftigt, ihre großen, braunen, handförmigen Netze, mit welchen sie ihr Abendbrot fangen wollten, auszuwerfen. Obgleich sehr unterhaltend, war es für uns nichts Neues mehr, und ich konnte mich dabei nicht aufhalten, da ich eben eine andere Art Zoophyten entdeckte, welche dem Stein, wo sie sich niedergelassen, ein Busenstreifen ähnliches Aussehen gaben. Auf der einen Seite war ein kleiner, bernsteinfarbiger Berg, dicht mit gleichmäßigen Zellen besetzt, einer Honigscheibe ähnlich. Von jeder sprangen bernsteingelbe Tentakeln hervor, ungefähr wie meine Lieblings-„Weingläser“ geformt. Auch bemerkte ich eine Art der Sertularia, welche wie ein Wald kleiner kompakter Zellen in zwei gegenüberliegenden Reihen dastanden. Einige der Hauptzweige waren über einen Zoll groß, von welchen mehrere auf jeder Seite mit kleineren Zweigen regelmäßig abwechselten. Die ganze Pflanze sah aus wie ein Baum. Von jeder dieser Zellen des oberen Theiles der Seitenzweige ragten kleine blasige Sterne hervor, wie kleine Jasminblüthen, nur ganz durchscheinend und glänzend.

An vielen Theilen des Steines erhoben sich einzelne Röhren, von welchen weiße Sterne an der Spitze, mit den vorhergehenden ziemlich ähnlich, hervorstanden; aber das Lieblichste und Ueberraschendste war eine Menge von schneeweißen Zickzackstämmen und Zweigen, welche so leicht waren, daß sie beständig fibrirten, und an jeder Spitze eisige Quasten erscheinen ließen, welche, wenn sie sich bogen, schimmerten und glänzten und mit ihren Diamantspitzen im Wasser zitterten. Der Stein sah aus wie ein Blumengarten, und dieser wiederum wie ein Beet voll weißer Astern und war von einer gläsernen Durchsichtigkeit. Das hübsche Gewächs war die Laomedia geniculata. Eine Schnecke, mit lauter einförmigen Blumen besetzt, lang und röhrenförmig, wie der Stengel einer blühenden Lilie, milchweis und undurchsichtig, entdeckte ich außerdem im Glase. Sie erhoben sich zuerst in kleinen, weißen, runden Klümpchen, dehnten sich später nach und nach aus, bis die Lilienstengel mit fünf bis acht zartgeformten Blumenblättern besetzt erschienen. Diese Schnecke war der Wohnplatz einer kleinen Eremitenkrabbe (Pagurus Bernhardus). Diese große runde Schnecke war auf jedem Theile ihrer Oberfläche mit einer Masse von hübschen Zoophyten (Hydractinia echinata) besetzt, welche, als die Krabbe darüber kletterte, wie ein Kopf voll weißer Haare wogten. Einige dieser Geschöpfe waren einen vollen Viertelzoll lang, und standen so dicht wie Haare, so daß sie der Schnecke ein mit weißem Pelz überzogenes Ansehen gaben.

Fräulein A. brachte jetzt eine große auf einem Drahtgestell stehende, mit Wasser angefüllte Glaskugel, in welcher die am Morgen gefangenen Meduse herumschwammen. Aber das Wasser war ganz trübe. Es sah ungereinigtem Kalbfuß-Gelée ähnlich, deshalb konnten wir das Geschöpf nicht eher in Augenschein nehmen, bis Herr D. das unreine Wasser mit reinem vertauscht hatte. Obgleich ganz klar, wurde es doch bald durch die fortwährenden Ausschwitzungen der Medusen getrübt. Wir hatten jedoch Zeit, die anmuthigen Bewegungen dieses Geschöpfes zu beobachten: den feinen, gefransten Rand, das fortwährende Ausdehnen und Zusammenziehen der Tentakeln, welche öfter einen halben Zoll vom Rand herunterhingen, dann wieder ganz zusammengezogen waren, je nachdem sich der Ring zusammenzog oder ausdehnte, wodurch der ballonartige Körper vorwärts getrieben ward, die gekräuselten und wie mit Falbeln besetzt aussehenden Gehänge, von welchen vier kreuzweise vom Mittelpunkt des untern Schirmtheiles hängen, steigend und fallend, so daß sie einen Augenblick tief in’s Wasser hingen, und den andern gänzlich unsichtbar wurden.

„Folgt mir jetzt,“ sagte Herr D., indem er das Glas nahm und nach der Thüre zu ging. Er führte uns Alle in eine kellerartige Stube, ein einziges Licht mitnehmend. Daselbst angelangt, rief er mit seiner tiefen Baßstimme: „Nun löscht das Licht aus, denn wir müssen totale Finsterniß haben.“

Nachdem dies geschehen, peitschte unser Freund mit einem Gebund Zweige das Wasser, worin sich die Medusen befanden. Welch’ ein wunderbares Schauspiel! Das Wasser war voll Feuer, jeder Zweig schien von Phosphorglanz erleuchtet, jeder Tropfen Wasser war ein Diamant, und in der Mitte des Wassers glänzten zwei feurige Ringe, die Medusen, in einem Gewand von glänzendem Licht, kleine Sonnen von Glanz und Glorie. Als Herr D., angetrieben durch den Beifall der Zuschauer, das Wasser immer heftiger schlug, wurde das seltsame Feuerwerk im Wasser noch schöner. Die Wassertropfen, welche er in seinem Eifer über den Rand an den Boden spritzte, glänzten wie Johanniswürmchen, und Blitze des Lichtes flogen nach allen Seiten umher.

„Seht Ihr,“ sagte er endlich, „hier haben wir den Schlüssel zu den geheimnißvollen Erscheinungen, welche die Seeleute und Andere so oft in Verlegenheit und Furcht gebracht haben. Ich meine die phosphorischen Lichter, welche zu gewissen Zeiten die Wogen des Meeres erleuchten. Man kann dann die Ruder, so oft sie aus dem Wasser hervorkommen, mit Feuer überzogen sehen. Jeder Tropfen, der niederfällt, erscheint wie ein Tropfen Feuer. Ich habe sogar ganze, morgengroße Flächen Wassers wie Feuer gesehen und Schiffskiele, welche auf ihrem Wege große feurige Streifen hinter sich zurückließen. Manchmal ist die Oberfläche des Meeres ganz und gar Licht, jede Welle bricht sich zu einem feurigen Kamm. Dieser prachtvolle Effekt entsteht durch die Masse von Zoophyten und vorzüglich Medusen, welche sich in dem Wasser drängen. Unsere Exemplare hier gehören zu den größern, aber es giebt noch Myriaden in dem Meere, nicht größer wie eine Erbse und noch andere, unsichtbar für das unbewaffnete Auge. Wenn sie jedoch phosphorisch leuchten – vielleicht besteht darin ihr Denken und Fühlen, insofern ja auch nach dem berühmten Ausspruch Moleschott’s kein Denken ohne Phosphor möglich sein soll – werden alle die Myriaden unsichtbarer beseelter Stäubchen sichtbar, da sich jedes mit einem wirklichen flammenden Heiligenscheine umgiebt. Jedes Stäubchen wird dann eine Sonne, strahlend und leuchtend aus eigner, innerer Lebens- und Gedankenfülle. Diese Sonnen der Tiefe leuchten in ein Leben hinab, von welchem wir bis jetzt blos Randbemerkungen kennen, auf ein Leben, gegen dessen Fülle, Farben- und Formenreichthum, gegen dessen Schönheiten und Schrecken unser oberflächliches Pflanzen- und Thierleben arm erscheinen würde; sie beleuchten unterseeische Gebirge beinahe eine deutsche Meile hoch oder tief und in unergründliche Tiefen hinab, in welche selbst kein centnerschweres Senkblei an meilenlangen Tauen hinabreicht, auf Meerungeheuer, gegen dessen scheußliche Gestaltung und Grausamkeit unsere grimmigsten Raubthiere zu Lämmern werden, auf riesige Pflanzenthiere, wie tausendjährige Eichen groß, aus deren tödtlichen Umarmungen, Saug- und Schlingapparaten sich der stärkste Mann nicht loswinden kann. Ein Matrose, der im indischen Oceane von einem solchen Raubpflanzenthier gepackt ward, rettete sich blos dadurch, daß er die von dem Ungeheuer umklammerten Glieder eins nach dem andern aus dessen lebendigen, gierigen Zweigen loshieb. Das ist entsetzlich! Aber die Natur fragt nicht danach, was uns entsetzlich erscheinen mag. Sie schafft und verschlingt in unerschöpflicher Energie und Fülle ununterbrochen das Herrlichste und Häßlichste, selbst mitten in Tod und Zerstörung neues Leben, neue Lust und Qual des Entsetzens, des Bestehens und Vergehens. Wir kennen ihre Gesetze, ihre Pläne, ihre Aesthetik nicht, wir suchen blos darnach und sind glücklich, wenn wir einmal ihre tiefsten Geheimnisse ahnen. Weil wir noch nicht in ihr inneres Wesen eindringen, [433] den Umfang ihrer Gestaltungsgesetze noch nicht übersehen können, deshalb erscheint uns Vieles unbegreiflich, sinnlos, häßlich, grausam, während uns oft die wunderbarsten Schönheiten mitten in ihrer dunkeln Werkstatt überraschen. Welch’, in Prachtscenen und Feuerwerken, zum Schlusse des letzten Aktes prunkendes Theaterstück könnte mit dem Schlusse unseres Spazierganges unterm Meere, mit unserm Feuerwerk aus dem Wasser wetteifern?“

Aber während Herr D. so sprach, hatte er aufgehört, das Wasser zu peitschen, so daß uns dichte, unheimliche Finsterniß umgab, in welche nur die unerschöpflichen Variationen blühender und leuchtender Medusen schwach hereinschimmerten und uns selbst zu unheimlichen Schatten und Gespenstern umzuwandeln schienen. Das Grauen der Nacht und Tiefe umschlich uns. Ich selbst fürchtete mich. Eins der Kinder klammerte sich krampfhaft an mich und verbarg sein Gesicht in mein Kleid. „Licht, Licht!“ wimmerte es; „die feurigen Gesichter im Wasser sehen so schrecklich aus, als wollten sie mich haben!“

Ich dachte an den Erlkönig. Wir hatten hier wirklich so etwas vom Erlkönig der Tiefe, des unergründlichen, erdumgürtenden Oceans vor uns. Wir Erwachsenen lachten über die Furcht des Kindes, aber als eine Krustacee („Birgus“ nannte sie Herr D.) aus einem Gefäße hervorbrach, und mit ihren langen, auf teleskopischen Stangen[1] leuchtenden Augen glotzig und grimmig umhergesticulirte, als wollte sie sich ein Opfer unter uns aussuchen, da hörte auch unter uns der Spaß auf. Das Kind schrie so herzzerreißend in Furcht und Entsetzen auf, daß wir Alle, so rasch wir konnten, die schöne, erleuchtete Erdoberfläche zu erreichen suchten, unser comfortables Zimmer, wo die Lampe freundlich wieder brannte, und wo am Tage die strahlende Königin des Himmels und Erden alles Grauen der Natur- und Phantasietiefen gebieterisch, aber freundlich in Schranken zu halten weiß.




General William Fenwick Williams von Kars.

In der Geschichte des Krieges der Westmächte und der Türkei gegen Rußland sind zahlreiche Beweise von Tapferkeit, Muth und Ausdauer verzeichnet; unter den vielen Generalen aber, die auf diesem letzten blutigen Schauplatze auftraten, hat sich Keiner durch ungewöhnliches militairisches Genie hervorgethan und nur der General Williams durch seine Vertheidigung des unglücklichen Kars bei Freunden und Feinden einstimmige Bewunderung erworben.

William Fenwick Williams wurde im Jahre 1800 zu Anapolis in der englischen Kolonie Neuschottland geboren, wo sein Vater als Artillerie-Offizier in Garnison stand. Seine Bildung erhielt er in der Militairschule zu Woolwich in England und in seinem fünfundzwanzigsten Jahre trat er ebenfalls in den Artilleriedienst seines Vaterlandes als Offizier ein. Erst in seinem vierzigsten Jahre indeß wurde er zum Hauptmann ernannt, und seit jener Zeit hat er nicht sowohl militairische als diplomatische Dienste geleistet. Seine Regierung verwendete ihn zu mancherlei Geschäften im Orient; namentlich hielt er sich lange in Erzerum als Vermittler in den Streitigkeiten zwischen Persien und der Türkei auf, die denn auch 1847 durch einen Vertrag zum Abschluß gebracht wurden. Zur Belohnung wurde Williams 1846 zum Major und 1848 zum Obersten befördert, nicht blos zur Belohnung für die Beseitigung der Streitigkeiten jener Reiche, sondern und hauptsächlich wegen der Verdienste, die er sich gleichzeitig um die Förderung des englischen Handels über Trapezunt und Erzerum erworben hatte, der jährlich nahe an 60,000 Waarenballen auf dieser Straße nach und von Persien befördert.

Durch seinen langjährigen Aufenthalt im Orient hatte sich Oberst Williams mit den Sitten, Meinungen und Vorurtheilen, so wie mit der Sprache der Orientalen ganz vertraut gemacht, wie er durch seinen vielfachen Verkehr mit der türkischen Regierung und deren Beamten die zweckmäßigste Art und Weise der Behandlung derselben kennen gelernt. Er war deshalb der geeignetste Mann, den England als Militair-Bevollmächtigten zu dem türkischen Heere in Kleinasien schicken konnte, was im August 1854 geschah.

Am Morgen des 29. September erschien Williams, den seine Regierung provisorisch zum General ernannt hatte, mit Major Teesdale und dem Arzte Sandwith in Kars und obwohl er da keineswegs als General zu befehlen, sondern nur die Aufgabe hatte, über den Gang der Ereignisse an seine Regierung zu berichten, sah er sich doch sehr bald genöthigt, thätig einzugreifen und den Oberbefehl factisch selbst zu übernehmen. Er bat zunächst um die Musterung eines Regiments, das ihm denn auch vorgeführt wurde. In der Musterrolle, die man ihm zugleich mit übergab, waren 900 Mann aufgeführt, als aber Williams die Leute zählen ließ, fanden sich nur 600. Der Sold und die Rationen der fehlenden 300 Mann waren in die Tasche des Obersten gewandert, der davon gewisse Procente herkömmlich an höhern Beamte [434] abgegeben hatte. Trotzdem, daß seine Stellung ihn nicht dazu berechtigte, zog er die Beamten und Offiziere, die sich solcher Unterschleife schuldig gemacht hatten, zur Rechenschaft und inspicirte täglich selbst, ob den Soldaten pünktlich geliefert würde, was ihnen zukam. Den ganzen Winter von 1854 zu 1855 blieb er unausgesetzt in dieser Thätigkeit und organisirte die Armee neu für den kommenden neuen Feldzug, obgleich er selbst in Constantinopel fortwährend auf Hindernisse stieß.

Gleichzeitig beschäftigte er sich mit den englischen Offizieren, Oberst Lake, Major Teesdal und Kapitain Thomson, die Höhen um Kars her zu befestigen, die unbedeutenden Vertheidigungswerke der Stadt zu verstärken und dieselben in den Stand zu setzen, eine Belagerung durch den russischen General Murawiew auszuhalten.

Das Kastell von Kars, sagt der schon erwähnte Stabsarzt Dr. Sandwith, der die „Geschichte der Belagerung von Kars“ (Braunschweig, Vieweg) geschrieben hat, ist ein sehr malerisches Bild einer mittelalterlichen Zwingburg. Auf einem steilen Felsen erbaut, der sich jählings am Eingange einer tiefen Schlucht erhebt, beherrscht es die ganze Stadt, und seine alten grauen Mauern scheinen mit den Klippen und Granitblöcken, auf denen es steht, eins zu sein. Am Fuße seiner felsigen Grundfeste stürzt der Kars-Tschai, ein Bergstrom, überwölbt von einer uralten steinernen Brücke, in seinem Kieselbette dahin. Ein seltsamer, kreisförmiger Thurm steht dicht neben dem Kastell, und schöne Ueberreste persischer Architektur erheben sich mitten unter den Lehmhütten der Stadt. Die Straßen sind eng und schmutzig, die Einwohner in ihrer äußern Erscheinung unsauber, und die Hauptbeschäftigung der Weiber scheint die Anfertigung von Feuermaterial aus getrocknetem Kuhmist zu sein, dessen kuchenartige Stücke an den Wänden jedes Hauses aufgeschichtet sind.

Dies war der Mittelpunkt des Schauplatzes, auf welchem das blutige Kriegsdrama aufgeführt werden sollte, und den Lesern ist noch in frischer Erinnerung, mit welchem ungeheuern Verluste am 29. September 1855 der Sturm der Russen abgeschlagen wurde. Der Hunger indeß konnte nicht abgeschlagen werden, die Hülfe, welche die tapfern Vertheidiger erwarteten, erschien nicht, wohl aber rückte der Winter mit aller Strenge heran. Da sah sich Williams genöthigt, mit dem russischen General Murawiew wegen Uebergabe der Festung zu unterhandeln. Am 25. Novbr. erschien er selbst bei seinem Gegner und sagte ihm, noch habe sich die Festung nicht übergeben und sie werde es nicht ohne gewisse Bedingungen. „Wenn Sie diese nicht bewilligen, soll jede Kanone gesprengt, jede Standarte verbrannt, jede Trophäe vernichtet werden, und Sie mögen dann über die ausgehungerte Stadt nach Belieben verfügen.“ – „General,“ antwortete Murawiew, „Sie haben sich einen Namen gemacht in der Geschichte, und die Nachwelt wird staunen über die Ausdauer, den Muth und die Disciplin, welche diese Belagerung bei den Ueberresten Ihrer Armee hervorgerufen hat. Lassen Sie uns eine Kapitulation aufsetzen, welche den Anforderungen des Krieges genügt, ohne der Menschlichkeit Hohn zu sprechen.“

Es wurde eine für die Belagerten ehrenvolle Kapitulation geschlossen und Williams trat seine Rückreise nach der Heimath an, die sich zu einem wahren Triumphzuge gestaltete. Mit Jubel namentlich wurde er in England aufgenommen. Er erhielt überdies definitiv den Rang als General, wurde zum Baronet ernannt mit dem stolzen Namen Williams von Kars, sofort in das Parlament erwählt und durch zahllose Festessen gefeiert. Bei seinen Reden, die er dabei hielt, ist indeß aufgefallen, daß er mit einer wahren Begeisterung nicht blos von seinem Gegner, dem siebenzigjährigen General Murawiew, sondern von Rußland und dessen Zuständen überhaupt spricht. Er scheint, nach der Beendigung seiner Thätigkeit als General, sofort wieder Diplomat geworden zu sein.




Populäre Briefe über Musik.
Von J. C Lobe.
Vierter Brief. Das Lied in musikalischer Hinsicht.

Der Tonkunst, sagte ich am Ende des dritten Briefes, stehen weit reichere Mittel als der Dichtkunst zu Gebote, die mannigfaltigen Regungen des Gemüths hervorzurufen.

Sie wissen, daß eine Menge Erscheinungen der äußeren Welt und der inneren geistigen Natur des Menschen (seiner Gefühle und Vorstellungen) Ähnlichkeit oder Gleichheit (Analogie) mit einander haben. Den Sturm, der die Wellen des Meeres schäumend emportreibt, finden wir analogisch mit den Gemüthsbewegungen des in Wuth versetzten Menschen; eine ruhige Abendlandschaft vergleichen die Dichter wohl mit der friedlichen Stimmung der Seele u. s. w.

Viele analogische Erscheinungen werden aber nicht blos von unserem Geiste erkannt, sondern, wenn ihnen ein Gefühlselement inwohnt, auch von unserem Herzen mitempfunden. Wir fühlen Sympathie für, Antipathie gegen Menschen und Dinge, beides um so stärker, je mehr Wärmestoff unser Gemüth in sich birgt. Zwar gibt es Sterbliche, deren Inneres auf den Gefrierpunkt gesunken zu sein scheint, die für nichts mehr Theilnahme empfinden, die nichts lieben, nichts hassen können, kurz die dem Indifferentismus ganz verfallen sind; für solche blasirte Naturen ist auch alle Kunst nichts. Unter den Lesern und Leserinnen der Gartenlaube gibt es indessen kein einziges solch’ bedauerliches Individuum. Wir alle nehmen Theil an Anderer Leiden und Freuden; ja es gibt Viele unter uns, deren Antipathie beim Anblick eines unserem Nächsten angethanen Unrechtes, deren Sympathie beim Anblick eines unserem Nächsten widerfahrenen Glückes bis zum Siedepunkt gesteigert werden kann. Auf der Analogie, der Sympathie und Antipathie aber ruht die Hauptwirkungsfähigkeit aller Künste. Bei den meisten fällt das unbestreitbar in die Augen, bei Gemälden, z. B. bei dramatischen Vorstellungen u. s. w. Egmont’s Abführung zur Hinrichtung in der dramatischen Nachbildung durch Goethe, oder in der treuen Nachahmung auf der Leinwand des Malers, rührt uns ebenso, unter Umständen vielleicht stärker, als wenn wir dem grauenvollen Schauspiel in der Wirklichkeit zusehen.

Schwerer scheint die Nachahmung von Gefühlen durch Töne, sowohl herzustellen als zu erkennen und nachzuempfinden. Dennoch geschieht es, und sind die Ursachen davon anzugeben. Schon einzelne Laute liefern Fingerzeige dazu. Den Schrei des Entsetzens unterscheiden Sie sicher von dem Schrei des Entzückens, ohne die Menschen zu sehen, von denen jene Laute ausgestoßen werden. Das Gekreisch der Wuth werden Sie in keinem Falle für das Jauchzen der Lust nehmen. Da haben Sie den Urgrund, auf welchem die Nachahmungs- und Wirkungsfähigkeit der Töne beruht. Die Kunst hat darauf weiter gebaut, in jedem musikalischen Element Analogieen mit den Merkmalen der Gemüthserscheinungen entdeckt und zu benutzen verstanden. Nehmen Sie hierüber Notiz von den folgenden Andeutungen.

Erstens. Wenn der Mensch in Affekt geräth, so steigen und fallen seine Worte nach dem innerlich waltenden Gesetz der bezüglichen Regungen. Der unsichtbare Wogenwechsel gibt sich kund durch die hörbaren Wogen der Sprache. Dieses innere Wogenleben kann, wie Sie wissen, die Musik durch das Steigen und Fallen der Töne nachahmen, und die Singstimme vermag es in weit größerem Umfange als das Sprachorgan. Dieses wird in den allerleidenschaftlichsten Fällen kaum die Grenzen einer Oktave nach Oben oder Unten überschreiten dürfen, ohne in’s Gebiet des Skurrilen oder Lächerlichen zu gerathen; jene kann zwei, ja dritthalb Oktaven durchlaufen und durchspringen. Noch viel umfangreichere Tongebiete stehen den meisten Streich-, Tasten- und Blas-Instrumenten zu Gebote. Sie begreifen daher, daß die Hebungen und Senkungen des erregten Gemüths von den Tönen weit auffallender und nachdrücklicher als von der bloßen Sprachäußerung (Wortdeklamation) analogisirt werden können. Sie haben hiermit den Grund, warum die Töne der Musik überhaupt steigen und fallen.

Zweitens. Die inneren Regungen treiben den Menschen [435] nicht blos zum Heben und Senken der Sprachlaute, sondern auch zu längerer und kürzerer Angabe derselben. Daß die Töne in viel mannigfaltigern Längen und Kürzen aufeinander folgen können, als der Sprechende sie anzugeben vermag, haben Sie schon aus meinem ersten Briefe erfahren. Indem die Musik diesen Merkmal den inneren Bewegungen verähnlicht, entstehen die mannigifaltigen rhythmischen Figuren in der Musik.

Drittens. Dieselbe Wortreihe, mit denselben Längen und Kürzen, wird im Ganzen in längeren oder kürzeren Zeitmomenten, je nach verschiedenen Empfindungen und Lagen (Situationen) ausgesprochen. Die Worte: „Gerechter Gott!“ wird ein von plötzlicher Todesgefahr überraschter Mensch sehr hastig herausschreien, ein in langjähriger Haft Schmachtender langsam und gedehnt hervorseufzen. Die Analogisirung dieser Unterschiede der inneren Regungen ist der Grund der verschiednen Tempo’s (Zeitmaße) in der Musik. Sie können z. B. die Melodie Don Juan’s: „Reich mir die Hand, mein Leben“, vom langsamsten bis zum schnellsten Tempo vortragen. Die Längen und Kürzen der Noten bleiben an sich stets dieselben, aber in jedem verschiedenen Tempo ziehen sie in verschiedener längerer oder kürzerer Zeit an dem Ohr vorüber. So behalten die auf einem Erdglobus verzeichneten Welttheile, Länder und Meere stets dieselben Größenverhältnisse gegeneinander bei, aber je nach der schnelleren oder langsameren Drehung der Kugel ziehen sie jetzt in einer Minute, jetzt in einer Viertelstunde an Ihrem Auge vorüber. Die Wirkung derselben musikalischen Figuren wird durch das verschiedene Tempo, in welchem sie vorgetragen werden, eine ganz andere. Hören Sie Don Juan’s Melodie in dem mäßigen, von Mozart angegebenen Zeitmaße singen, so erkennen Sie das zärtlich-schmeichelnde Gefühl, das der große Meister hat ausdrücken wollen. Wird dieselbe Melodie im Polka-Tempo vorgetragen, so glaubt man einen leichtsinnigen Fant zu vernehmen, der Zerlinen merken lassen will, daß er sie verspottet.

Viertens. Der wüthende Mensch schreit seine Worte mit möglichster Stärke heraus; Tücke, Argwohn murmeln in dumpfen Lauten vor sich hin. Für alle möglichen Arten der Stärke und Schwäche der Gefühlsäußerung hat die Musik ihre analogischen Stärke- und Schwächegrade. Vom Fortissimo an bis zum Pianissimo. Sie kann auch die Töne vom leisesten Zephir-Hauche bis zum gewaltigsten Sturmwinde nach und nach anschwellend (crescendo) und umgekehrt, vom stärksten bis zum leisesten Hauche abnehmend (decrescendo) brauchen, und dadurch die gradweise anwachsenden und abnehmenden Wellen der Leidenschaften treffend verähnlichen. Und wie ferner der erregte Mensch zuweilen blos einzelne Worte heftig herausstößt, andere dumpf hinmurmelt, so hat auch für alle diese Nüançen die Musik ihre entsprechenden Accente.

Fünftens. Im allgemeinsten Ueberblick theilt sich der ganze Kreis der Affekte, Gefühle und Leidenschaften in die zwei Hauptgebiete: Trauer und Freude. Zur Verähnlichung derselben können in der Musik die beiden Tongeschlechte, Dur für die Freude, Moll für die Trauer, gar wohl verwendet werden. Außer den mannigfaltigen Abstufungen innerhalb dieser beiden Hauptgefühlsgebiete, von der tiefsten Trauer bis zur sanften Wehmuth, von der jauchzendsten Lust bis zur ruhigen Freudeempfindung, haben wir nicht selten schmerzliche und freudige Stimmungen zugleich, gemischte Gefühle. Welche Erscheinungen der Art sich im Gemüthe kund geben mögen, der Musiker kann sie durch Mischungen von Dur und Moll nachahmen.

Sechstens. Je nach der stärkeren oder schwächeren Erregungsfähigkeit des Menschengemüthes äußert sich ein und dasselbe Gefühl in sehr verschiedenen lebhafteren oder matteren Weisen. Ueber einen großen Gewinn freut sich wohl jeder Spieler, aber ein junger feuriger Mann gewiß lebhafter als ein kühler empfindender Greis. Als Verähnlichungsmittel lebhafterer oder gemäßigterer Ausdrucksweisen ein und desselben Gefühls stehen dem Tondichter, außer den bereits angegebenen musikalischen Analogieen, noch die höher und tiefer liegenden, helleren und dunkleren Farben der Tonarten, zwölf für Dur, zwölf für Moll, zu Gebote. Der „Jungfernkranz“ im Freischütz wird in C-Dur gesungen. Schließen Sie die Augen, und lassen Sie diese Melodie in der um eine große Terz höher liegenden Tonart E-Dur singen, so werden Sie, zwischen Kind und Jungfrau schwebende, sogenannte Backfischchen zu hören glauben; in der Unterquinte F-Dur vorgetragen, wird der Gesang aus dem Munde alter Jungfern zu kommen scheinen.

Siebentens. Manche Gefühle bewegen sich, von nur einer Vorstellung angeregt, in einem beschränkten, durchaus einheitlichen Kreise; in anderen Lagen wechseln verschiedene Gemüthsstimmungen mit einander ab. Die erstere Art analogisirt die Musik durch vorherrschende leitereigene, die andere Art durch ausweichende Modulation. Das Gesetz für den Komponisten heißt in dieser Beziehung: wie die inneren Regungen moduliren, modulirt die Musik.

Sie sahen aus den bisherigen, freilich nur sehr flüchtigen Andeutungen, daß für jedes einzelne Kennzeichen der Gemüthserscheinungen, so weit wir sie als innere Anschauungen allenfalls erfassen und mit Worten aussprechen können, ein analoges Wesen in der Musik zu finden ist. Die Angabe dieser einzelnen Tonanalogieen war eine Arbeit des sondernden Verstandes. Die Natur weiß nichts davon. In dem Gemüth des Menschen erscheinen bis einzeln aufgezählten Merkmale in jeder bezüglichen Leidenschaft alle zu gleicher Zeit vereinigt, und ebenso vereinigt die Musik alle Analogieen jener Regungen in einem Gesammtbilde und einer Gesammtwirkung. Eine melancholische Stimmung z. B. bewegt sich nicht blos, und fordert in dieser Hinsicht analoge, langsam gehaltene Töne, Rhythmen, Tempo, sie wohnt auch in tieferen Regionen des Gemüths, äußert sich in dumpfen Lauten etc., zu deren gleichzeitiger Analogisirung Moll-Geschlecht, tiefere Stimmregionen, Pianoaccente u. s. w. gehören. Wenn nun der Komponist durch genaue Beobachtungen sich eine deutliche und umfassende Kenntniß des Wesens aller menschlichen Gefühle erworben hat, wenn er dazu die leicht erregbare Phantasie besitzt, welche nöthig ist, sich in die verschiedensten Situationen und Gefühle zu versetzen, sie im Augenblicke ihres reproduzirten Lebens gleichsam in sich selber anzuschauen, wenn er ferner alle Analogieen sicher kennt und zu verwenden versteht, welche die Musik zur Versinnlichung der Gemüthsstimmungen durch Töne bietet, so wird er zu jedem Wortinhalte eines Liedes die passende Ton- und Taktart, das analoge Tempo, Steigen und Fallen der Töne, die analogen Längen und Kürzen u. s. w. suchen und finden. Durch den glücklichen Verein aller Analogieen entsteht alsdann die ganze analoge Melodie des Gefühls, welche unser Herz mit einer größeren und unmittelbareren Gewalt, als irgend eine andere Kunst es vermag, in die gleiche Stimmung zwingt.

Diese Andeutungen bezogen sich zunächst nur auf die Bildung der Gesangmelodie, auf den musikalischen Ausdruck, welcher einer Stimme, und zwar der Singstimme, die sich mit den Worten des Dichters verbindet, möglich ist. Aber damit sind, wie Sie wissen, die Ausdrucksmittel der Musik noch lange nicht erschöpft. Es tritt dazu die Begleitung (Accompagnement) eines Instrumentes, des Klavier-, der Harfe, Guitarre, oder des ganzen Orchesters, und es kommen dadurch Harmonie, mehrere Stimmen ohne Worte, und Instrumentation (verschiedene Klangfarben) u. s. w. in Betracht, wovon später die Rede sein wird.

Inzwischen sind Sie durch die bisher gegebenen Andeutungen doch der musikalischen Kennerschaft schon wieder um einige Schritte näher gerückt, wie ich Ihnen gleich an einem speziellen Fall nachweisen kann.

Es ist vor nicht langer Zeit von einem wiener Aesthetiker ein Werkchen ausgegangen, in welchem nichts Geringeres behauptet wird, als daß die ganze Welt hinsichtlich der Musik bisher in dem dicksten Irrthum befangen gewesen sei, indem man ihr Seele, d. h. die Fähigkeit, Gefühle zu schildern und zu erregen, zugesprochen habe. Diese besitze sie ganz und gar nicht! Die Tonkunst an sich sei nichts als ein Spiel mit Tönen für das Ohr, etwa wie das Spiel der Steinchen in dem gerüttelten Kaleidoskop für das Auge. Was wir beim Vortrag eines Liedes empfänden, sei nicht Wirkung der Töne, sondern allein der deutlich sprechenden Worte; und die Gefühle, welche wir aus der reinen Instrumentalmusik, einer Symphonie z. B., heraus zu hören glaubten, schildere nicht etwa Beethoven, sondern legten wir unser krankhaft gereiztes und aufgeregtes Gemüth hinein. Als Beweis für den ersten Fall wird angeführt, daß wir oft einer und derselben Lied- oder Opernmelodie ganz andere Worte unterlegen könnten, ohne die eingebildete Wahrheit derselben zu verletzen; zur Unterstützung [436] der letzteren Meinung soll gelten, daß verschiedene Hörer bei derselben Instrumentalmusik oft ganz verschiedene Empfindungen hätten.

Daß solche Gedanken in einem Menschenkopfe entstehen und von ihm für wahr gehalten werden, gehört nicht unter die unglaublichen Dinge. Vor welcher Idee schreckte die Neuerungssucht zurück, und welcher noch so große Irrthum wäre nicht durch eine geschickte Dialektik plausibel zu machen! Aber erstaunen werden Sie, wenn ich Ihnen sage, daß fast alle Journale jenes Werkchen als ein geistreich und richtig gedachtes begrüßt haben!

Singen Sie einmal zu der Melodie der Brautjungfern im Freischütz, anstatt: „Wir führen dich zu Spiel und Tanz“ – die Worte: „Wir führen dich zum Hochgericht.“ – Oder zu Papageno’s Melodie: „Der Vogelfänger bin ich ja“, Sarastro’s Worte: „In diesen heil’gen Hallen“ – und sagen Sie mir dann, ob Ihnen diese Melodien mit beiden Lesarten gleich wahr erscheinen? Hören Sie vier Mal hintereinander einen und denselben straußischen Walzer, wozu keine Worte gesungen werden, und versuchen Sie, das erstemal jauchzende Lust, das zweitemal tiefe Trauer, das drittemal zarte Liebessehnsucht, das viertemal knirschende Wuth daraus hören zu wollen! Oder versuchen Sie, in einen und denselben beethovenschen Symphoniesatz alle Seelenstimmungen zu legen, die Sie wollen. Wenn diese Experimente nach Ihrem Willen ausfallen, so ist die wiener Behauptung richtig; wenn Sie dabei empfinden müssen, was die Komponisten gewollt, so ist sie falsch.

Es ist in der That unbegreiflich, wie man dem Verein der zahlreichen Musikelemente die Ausdrucksfähigkeit der Gefühle absprechen kann, da es kaum einen Menschen geben wird, dem nicht schon im gewöhnlichen Leben die analogische Kraft des einzelnen Elementes oft genug vor die Sinne treten muß. Auf der Trommel sind nur Rhythmus und Schall darstellbar. Wie verschieden zeiget sich die Verwendung beider Mittel bei dem Trauermarsch und dem Sturmmarsch! Jener hat langsame Rhythmen und gedämpfte Klänge, dieser schnelle und rauschende. Was diktirt den verschiedenen Gebrauch der Rhythmen und Klänge in diesem Falle? Ist es nicht die Analogie mit den inneren Empfindungen? Die Trauer bei jenem, die muthige Erregung bei diesem? Nach der neuen ästhetischen Lehre könnte das zu dem Trauermarsche ausgesprochene Wort „schnell“ den langsamen Rhythmus in einen schnellen, das Wort „hell“ die gedämpften Trommeln in rauschende für unser Gefühl verwandeln? Oder durch die dazu gesprochenen Worte: „heisa, hopsa, trallera“, verwandeln sich die traurigen Rhythmen und Klänge der Trommeln in heitere? Wenn aber in diesem Falle durch widersprechende Worte dem Rhythmus und Klang der Trommeln ihr Ausdruck nicht weggeschwatzt werden kann, so muß er diesen Elementen ursprünglich und eigentümlich sein. Und wenn bei Ihnen die Worte: „Wir führen dich zum Hochgericht“ eine grauenvolle Vorstellung und eine traurige, peinvolle Empfindung erwecken, die oben erwähnte weber’sche Melodie aber eine heitere Stimmung bezeichnen, so müssen die Töne an sich eine ursprüngliche und eigenthümliche Analogisirungs- und Ausdruckskraft besitzen, denen widersprechende Worte nichts davon nehmen können.

Mit dieser, nicht wegzuästhetisirenden Erfahrung wollen wir uns für heute begnügen. Sie werden durch die folgenden Briefe erfahren, daß für Den, welchem die Einsichten in das Wesen der Tonkunst vollständig erschlossen sind, das Verständniß auch der reinen Instrumentalwerke von solchen Meistern, die sich in bestimmte Gemüthszustände zu versetzen, und dieselben durch die musikalische Analogie deutlich und sicher zu schildern vermochten, ohne Beigabe von Worten möglich ist.




Eine Fahrt mit dem alten Jahn.
Von Wilhelm Künstler.
Ein Briefchen. – Weißenfels. – Der alte Jahn und seine Gesellen. – Die Denk-Ohrfeige. – Goseck. – Der Janushügel. – Schönburg. – Louisenruh. – Ein Abend in Jahn’s Wohnung. – Napoleon in Freiburg. – Herr v. Bodelschwingh.

Der Pfiff der Lokomotive, dieses Wehgeschrei der Industrie – wie ihn der bekannte Consistorialrath Dr. Tholuck in Halle einmal schmerzlich genannt – erweckte mein Gegenüber im Coupé, einen behäbigen Berliner, aus seinem Halbschlummer.

„Mein Gott,“ sagte der Sandländer, indem er sich die Augen rieb, „wo sind wir denn hingezaubert? Hier ist ja ein förmliches Paradies, schöner als im Thiergarten. Guter Gott, wir halten ja inmitten von Weinbergen!“

„Station Weißenfels!“ verkündete die Stentorstimme des Schaffners.

„Ah,“ äußerte mein Berliner schmunzelnd, „das ist also das liebe Städtchen, wo die Herren Trinius und Bürger ihren himmlischen Champagner fabriciren!“ Und an den Schaffner sich wendend, fuhr er fort: „Liebster, gutster, bester Herr Oberconducteur, haben wir noch viel Zeit übrig, hier einer Flasche Moussé den Hals zu brechen ?“

„Der Zug geht unbedingt und effektiv in zwei Minuten ab,“ antwortete der Gefragte mit der Bestimmtheit eines Dictators und zugleich mit jener graziös-martialischen Tournure, die uns in den meisten dergleichen preußischen Eisenbahnbeamten den ehemaligen Unteroffizier leicht wieder erkennen läßt.

Während dieses Zwiegesprächs hatte ich einen Knaben beobachtet, der – in Turntracht und einen Zettel in der Rechten – den Perron auf- und abging und irgend einen Passagier zu suchen schien. Als ich mich plötzlich erinnerte, den jungen Turner öfters in Freiburg a. d. Unstrut gesehen zu haben, wurde auch er meiner gewahr.

„Hier bringe ich Ihnen etwas!“ rief er vergnügt aus, und nachdem er mir das Papier in die Hand gedrückt, war er auch schon wieder verschwunden.

Der Zettel aber war mit folgenden Worten beschrieben:

„Ich habe mehren Berlinern, so mich gestern auf ihrer Turnfahrt aufgesucht, heute mit dem Frühesten das Geleit gegeben und zwar gegen meine Gewohnheit weit über die Grenzen des Weichbildes hinaus. Die Leute waren verschieden an Jahren, wie an Bildung; ja der Eine seines Zeichens sogar ein – Schneider. Aber frisch waren sie Alle und unter ihnen Keiner, der ein bloßer Maulturner. Da ich nun die Rückfahrt nach meinem Heimwesen heute im Zickzack auszuführen gedenke, so wär’ es mir lieb, wenn wir selbander wanderten. Wie ich hoffe, verschmähst auch Du vor einem Garten Gottes, wie solcher sich hier aufthut, den leidigen Schienenweg, wenn es anders nicht die Noth erheischt. Verlaß drum in Weißenfels den Dämpfer und erwarte mich dort eine Stunde nach Deiner Ankunft bei Freund G. – Mit Herz und Hand
Dein F. L. J.“

„Ah,“ rief ich bei Lesung der ersten Zeilen aus, „das kommt vom Alten!“ Denn obgleich das Papier nur mit den drei Buchstaben F. L. J. unterzeichnet war, so kannte ich doch Handschrift und Styl Friedrich Ludwig Jahn’s zu genau, als daß ich nicht sogleich an ihn hätte denken sollen. Ich schickte mich sofort zum Aussteigen an, indem ich meinen bisherigen Reisegefährten schnell mit dem Inhalt des empfangenen Billets bekannt machte.

„Herr!“ rief hierbei mein Berliner plötzlich aus und zwar so erregt, wie es bei ihm wohl selten der Fall sein mochte. – „Herr, ist das Vater Jahn, der heute hier eintreffen wird?!“

„Viele nennen ihn allerdings Vater Jahn.“

„Der Professor?“

„Der Doctor Friedrich Ludwig Jahn.“

„Der einst bei uns in der Hasenhaide –?“

„Das Turnen mehre Jahre hindurch geleitet hat.“

„Der Professor Jahn? Der Lützower, der dann in Colberg –?“

„Ja, ja, derselbe! Ich merke schon, mein Herr, der Mann ist Ihnen nicht unbekannt.“

„Liebster, Gutster, Bester! ich steige mit aus; ich muß Vater Jahn von Angesicht zu Angesicht kennen lernen. Wissen Sie, einer meiner Onkels hat unter ihm im Gefecht beim Waldschloß Göhrde gekämpft, einer meiner Schwäger ist während des Waffenstillstandes [437] Singmeister seines Bataillons gewesen und was noch mehr sagen will, meinem eignen seligen Vater rühmt man nach, daß er es gewesen, der vor dem brandenburger Thore jene berühmte jahn’sche Ohrfeige erhalten hat.“

„Jetzt ist keine Zeit zum Aussteigen mehr!“ herrschte uns der vorhin erwähnte Schaffner zu, als wir eben unser Coupé verließen.

„Wir fahren nicht weiter, liebster, gutster, bester Herr Oberconducteur,“ entgegnete fein lächelnd mein Reisegefährte, worauf der Herr Oberconducteur, indem er in den reichen blonden Bart brummte: „Larifari, der hiesige Champagner schmeckt auch nicht anders, als der in Berlin“ – die Thür des Waggons heftig zuschlug.

Mein Berliner gedachte jedoch nicht mehr des künstlichen Sectes; er wollte jetzt Jahn genießen. Da wir bis zum Eintreffen desselben jedoch noch eine Stunde Zeit hatten, so durchwanderten wir die Straßen der Stadt.

Es ist wahr, Weißenfels ist ein gar schmuckes Städtchen. Seine Physiognomie thut besonders wohl, wenn man auf der

Schönburg an der Saale.

Tour von Magdeburg nach Thüringen eben Halle und Merseburg passirt hat. Von der auf einem ansehnlichen Berge dicht bei der Stadt gelegenen Augustusburg, der im Jahre 1660 gegründeten herzoglichen Residenz der Nebenlinie Sachsen-Weissenfels-Querfurt, jetzt Friedrich-Wilhelms-Kaserne, vom Volke aber immer noch das „Schloß“ genannt, genießt man eine liebliche Aussicht auf das Saalthal, das hier bereits von Bergen mit Rebengewand eingefaßt ist. Auf dieser Höhe liegt auch das Schützenhaus, woselbst ein Müllner († 1829) oft und gern verkehrte. Daß derselbe ein eben so guter Büchsenschütz als Schlittschuhläufer gewesen, davon erzählten uns weißenfelser Bürger, der eine immer ausführlicher als der andere; von seiner „Schuld“ aber wußten sie nichts mehr, eben so wenig von den Romanen der Fanny Tarnow und den Poesien der unglücklichen Louise Brachmann († 1822), welche beiden Schriftstellerinnen bekanntlich eine Reihe von Jahren hindurch in diesem Städtchen gelebt. Aber von Novalis (Friedrich von Hardenberg) erzählten sie uns, daß er auf ihrem Gottesacker begraben sei.

„Geht da unten nicht der alte Jahn?“ frug plötzlich der blutjunge Infanterie-Lieutenant, der mit liebenswürdiger chevaleresker Zuvorkommenheit uns das Innere der Kaserne gezeigt hatte und uns jetzt den Schloßberg hinabbegleitete.

Und es war Jahn. Der schwarze altdeutsche Rock, geschmückt mit dem schwarz-weißen Bande des eisernen Kreuzes, der lange umgeklappte Halskragen, der bis zur Brust herabwallende Silberbart, Alles dies ließ ihn auf den ersten Blick erkennen.

Als wir unten mit ihm zusammentrafen, richtete er sein großes Falkenauge ein paar Secunden lang dermaßen auf den Berliner, daß dieser aus Verlegenheit nicht wußte, wo er mit den Händen und den Augen hin sollte.

„Aus Berlin also?“

„Ja, mein liebster, gutster, bester Herr Professor.“

Professor ist mein Spitzname; aber Doctor kann ich und jeder Andere mich mit gutem Gewissen nennen. Sie heißen?“

„Friedrich Wilhelm T–born, zu dienen, Herr Professor, wollte sagen: Herr Doctor.“

„Stammen Sie nicht aus der großen frankfurter Straße?“

„Aufzuwarten.“

„Nun dann habe ich Ihren Ohm, den langen Fritz, und Ihren Schwager, den braunen Lautenschläger, recht wohl gekannt. Beide waren schlichte, doch wackere Gesellen. Ihr Schwager ist todt, aber Ihr Ohm muß, wenn ich mich recht erinnere, noch leben und zwar im Waadtland als Sprachmeister.“

„Entschuldigen Sie, mein Onkel Fritz ist –“

„Ja, ja, ich weiß, was Sie sagen wollen; der lange Fritz wurde – ich entsinne mich jetzt – aus jener Schweizerei hinausgemaßregelt, irrwischte dann längere Zeit im Elsaß umher, bis er endlich mit einem stein- und launenreichen Lord, dem er bei Straßburg das Leben rettete, nach London zog, woselbst er wahrscheinlich noch heute sich abmüht, in die riesige Bücherei Sr. dick- und querköpfischen Herrlichkeit Plan und Ordnung zu bringen.“

„Herr Doctor, deuten Sie gütigst mein Erstaunen nicht übel; aber Alles, was Sie sagen, ist buchstäblich wahr! Bei einem solch’ ungeheuren Gedächtniß werden Sie sich gewiß denn auch noch meines seligen Vaters zu erinnern wissen, der –“

„Der, nachdem er den Candidatenfrack sammt der Gottesgelahrtheit an den Nagel gehängt, eine Tabakshandlung errichtete?“ „Richtig, sehr richtig; aber mein seliger Vater ist auch derselbe, [438] der von dem Herrn Doctor Jahn einst als dessen Schüler einen Backenstreich erhalten, ich meine jene Maulschelle, die so lange im Munde des preußischen Volkes leben wird, als von unserer Victoria über dem brandenburger Thore die Rede ist.“[2]

„Da sind Sie im Irrthum. Ich erinnere mich Ihres Vaters noch wohl, wie er den Turnplatz besuchte. Er war ein leidlicher Kletterer, wetteiferte im Springen mit den Tüchtigsten und übertraf im Dauer-Lauf alle seine Altersgenossen. Aber der, dem ich jene Dachtel steckte, war er nicht. Das war vielmehr ein gewisser Dietrich, ein träumerischer, aber sonst ehrlicher Kauz, der nun auch schon längst heimgegangen ist. Wenn Sie aber künftig diese Geschichte nacherzählen, wie sie sich wirklich zugetragen, so reden Sie dabei weder von einem Backenstreich, noch von einer Maulschelle oder Ohrfeige, sondern von einer echt deutschen Dachtel; denn Dachtel kommt her von „denken“ und ist also keine gewöhnliche, sondern eine Denk-Ohrfeige.

Friedrich Wilhelm T–born, erstaunt über das Gehörte, schwieg eine Weile und zog dann erregt ein elegantes Notizbuch hervor. Als er jedoch den Bleistift in Bewegung setzen wollte, sagte Jahn, indem plötzlich seine Stirnader mächtig anschwoll: „Mit Leuten, die solch’ Geräth bei sich führen, in der Absicht, meinen geflügelten Worten Sprenkel zu stellen, wand’re ich nicht gern. Ich halte Sie für einen guten Märker, und ich liebe die Märker; stecken Sie darum Ihr Merkbuch ein, damit ich Ihnen nicht in Gedanken wehe thue und in Ihnen einen Merker argwöhne. Ich habe gar trübe Erfahrungen gemacht.“

Nach einer kleinen Pause fuhr er dann aber wieder heiter fort: „Vorwärts! sagt Blücher.“ Und hierbei faßte er uns Beide an der Hand und zog uns so über die Saalbrücke auf den Weg nach Goseck. Dieses nächste Ziel unserer Wanderung würden wir unter Anführung Jahn’s, dieser zweibeinigen Lokomotive, wie ihn der nun bereits auch verstorbene Minister Eichhorn kurz vorher genannt hatte, unfehlbar in 5/4 Stunden erreicht haben, wenn derselbe nicht – außerdem daß er uns seinen überaus reichen Sagen- und Liederschatz immer von Neuem wieder erschloß – bald bei einer schön geformten Feldblume, bald bei einem verwitterten Denksteine Halt gemacht, oder mit diesem und jenem Hirten ein Gespräch über „das Wetter“ angeknüpft hätte. So legten wir den übrigens wahrhaft romantischen Weg erst in zwei Stunden zurück.

Goseck, zu Anfange des 11. Jahrhunderts die Residenz des Burggrafen von Zörbig, Friedrich I., dann von dessen Söhnen – unter diesen der bekannte Adelbert von Bremen, Erzieher des Kaisers Heinrich IV., – in ein Kloster umgewandelt, endlich (1539) secularisirt, gehört gegenwärtig dem Grafen Zech-Burckersrode. Das stattliche Schloß, zum Theil Ueberreste der ehemaligen Abtei, hat man in den letzten Jahren restaurirt. Es liegt an dem oberen Theile eines der nördlichen Saalberge malerisch angelehnt. Daß es auf den Grundmauern einer in uralter Zeit hier gestandenen Slavenburg, Namens Panzig, erbaut worden sein soll, gehört in das Gebiet der Sage. Die Schloßkirche – das Dorf Goseck auf der Hochebene hinter dem Schlosse hat seine besondere Kirche – ist die ehemalige Klosterkirche. In ihr befindet sich unter Anderem ein Gemälde, die Opferung der Tochter Jephta’s darstellend, das dem Lehrer Albrecht Dürer’s, dem berühmten Meister Wohlgemuth († 1519) zugeschrieben wird. Auch hat sie eine Krypta, die jedoch im Laufe der Zeit sehr gelitten hat. In ihr soll zu Ausgang des 11. Jahrhunderts die vom Teufel besessene Gräfin Gepa von Kamburg, eine der Mitgründerinnen des naumburger Domes, durch die Gebete eines Benediktinerabtes geheilt worden sein.

Die Aussicht bei Goseck, namentlich vom „Igelsberge“ aus, ist sehr belohnend; man überblickt den ganzen östlichen Theil des naumburger Thales. Außerdem wußte Jahn gar bald dieser „Umschau“ noch ein anderes Interesse zu verleihen.

„Seht Ihr dort gegen Mitternacht, ungefähr eine Meile entfernt, die Erhöhung?“ frug er, uns nach dem nördlichen Vorsprung des Bergrückens führend. „Das ist der Janushügel.“

„Jahn’s Hügel?“ gab mein Berliner die Frage unter komischem Erstaunen zurück.

„Ich bin nicht ein solcher Hansnarr, daß ich Sie mit einer gewissen Feierlichkeit auf den Hügel aufmerksam machen würde, Falls mein Vatersname bei ihm Gevatter gestanden hätte. Jene Höhe erinnert aber an Einen, dem wir Deutschen durch die Bank nicht werth sind, die Schuhriemen zu lösen; denn dort war es, von wo aus der alte Fritz die Schlacht bei Roßbach leitete!

A la bonheur – also Friedrich der Große!“

„Ach was, der Große! Groß werden in der geschriebenen Weltgeschichte gar manche Großhänse nur genannt, weil sie viel Turkel, oder wie es im Wörterbuche der Studentensprache heißt, weil sie famoses Schwein gehabt. Wenn Sie aber den alten Fritz nun einmal Friedrich nennen wollen, so nennen Sie ihn Friedrich den Einzigen! Derselbe soll – wie geistreiche Witzbolde der Neuzeit sagen, die preußische Großmacht erfunden haben; wohl! aber er hat sich zugleich auf diese Erfindung ein solches, wie man es nennt, Patent ausgewirkt oder vielmehr selber ausgestellt, daß sowohl welsche als deutschvergessene Neidharte sich fort und fort daran die Zähne ausbrechen sollen und werden. Es lebe der alte Fritz!

Und hierbei entblößte er ehrerbietig sein Haupt und machte nach der Gegend des Janushügel zu eine tiefe Verbeugung. –

„Ich habe Dir geschrieben,“ wandte er sich dann zu mir, „daß wir heute im Zickzack gen Freiburg wandern werden. Wir wollen deshalb Eulau rechts liegen lassen und uns nach der Schönburg wenden.“

Schönburg, eine Stunde von Goseck entfernt, liegt aber jenseit der Saale und da diese hier weder Brücke noch Fähre hat, so sah ich den Alten mit Recht verwundert an.

„Nun,“ fuhr er, dies bemerkend, lächelnd fort, „ich will Euch nicht zumuthen, den Strom zu durchschwimmen; wir wollen schon anderswie hinüber kommen. Seht Ihr dort die schmächtige Zille mit dem blauen Stern über der preußischen Flagge? Sie gehört einem mir befreundeten Unstrutschiffer, der hoffentlich von meinem Hiersein bereits unterrichtet sein wird.“

Und nun sprang er behend den ziemlich steilen Schloßberg hinab und nachdem er unten einen dreifachen gellenden Pfiff hatte ertönen lassen, steuerte der Beikahn jenes Frachtschiffes sofort auf uns zu und brachte uns an das rechte Saalufer.

Ein überaus lieblicher Weg über breite schmaragdne Wiesen führte uns sodann nach dem ansehnlichen Dorfe Schönburg.

Die imposante Ruine gleichen Namens liegt auf einem isolirten grünen Hügel. Durch das Portal des verfallenen Hauptgebäudes tritt man in den innern Burghof, aus welchem sich der noch wohlerhaltene Wartthurm stolz erhebt. Die Gebäude an der Südseite, im Jahre 1460 errichtet, dienen gegenwärtig einem königlichen Förster zur Wohnung. Bei demselben kann sich der Wanderer auch restauriren.

Von der Schönburg, namentlich von dem auf der Nordseite liegenden Altan bietet sich dem Auge eine vortreffliche Aussicht dar, denn man überschaut Naumburg, die weite zschellsitzer Aue und weiter stromab drei stattliche Eisenbahnbrücken, darunter eine von 8 Bogen zu 35 Fuß Spannung.

Die Entstehung der Schönburg wird von der Sage Ludwig dem Springer zugeschrieben, der sie im Jahre 1080 erbaut und von ihren Zinnen aus es beobachtet haben soll, wenn der Gemahl seiner geliebten Adelheid, Pfalzgraf Friedrich III., sich von Weißenburg[3] aus in das Kloster Goseck verfügt. In der Mitte des 12. Jahrhunderts kam sie an die Bischöfe von Naumburg, denen sie auch bis in’s 16. Jahrhundert verblieb, zu welcher Zeit sie bei Secularisation des Bisthums in Staatseigentum umgewandelt wurde. Ruine ist sie seit 1446, in welchem Jahre sie böhmische Kriegshorden, die der sächsische Herzog Wilhelm wider seinen Bruder, den Kurfürsten Friedrich, in’s Feld schickte, verbrannten.

Williges, Erzbischof von Mainz – um’s Jahr 990 – soll der Sohn eines schönburger Wagners gewesen sein. Als [439] ihn einst einer seiner Gegner an das Handwerk seines Vaters dadurch erinnerte, daß er mit Kreide ein Rad auf die rothe Kirchthür malte und die Worte darunter setzte: „Williges, Williges, was du gewesen – nie vergiß!“ bestimmte Williges, daß das Mainzer Wappen fortan in einem weißen Rad in rothem Feld bestehen solle.

Von Schönburg nach Naumburg gibt es mehre Wege; aber der angenehmste ist der, welcher sich bei der sogenannten „Straße“ in der Nähe der reizend gelegenen Kroppenmühle an dem Wethau-Flüßchen rechts abwendet und dann am südlichen Ufer der Saale an dem „Felsenkeller“ vorbei durch einen kühlen Grund bis in das zu Naumburg gehörige Dorf Grochlitz hinschlängelt. Ehe man von hier aus durch die prächtige Lindenallee der Stadt zuschreitet, verweile man ja einige Minuten auf dem kleinen Plateau, von dem jenes Dorf getragen wird. Es gewährt eine köstliche Umschau. Die Saale mit ihrem malerischen Bogen, den sie hier durch üppige Wiesen zieht, die reichen Felder und Gärten, die freundlichen Dörfer und heitern Villa’s und dann die Berge im frischen Rebengewand und gekrönt entweder mit dem Reste grauer Burgen oder grünem Eichwald: – Alles dies macht diesen gesegneten Landstrich zu einem der schönsten des nordöstlichen Thüringens.

Die Lindenallee zwischen Grochlitz und Naumburg links liegen lassend, stiegen wir die herrliche Terrasse hinab, welche sich von hier aus in einem weiten Bogen in die Aue hineinzieht, durchschritten dann das mit Nachtigallen so reich gesegnete Wäldchen – Dechantsgrund genannt – und gelangten so an die halle’sche Fähre, mittels welcher wir nun wieder das linke Saalufer erreichten. Dicht am Ufer liegt der Gasthof „zur Henne“ und unmittelbar über diesem die Louisenruh, jene freundliche Höhe, wo die verewigte Königin von Preußen im Jahre 1806 sich wiederholt der schönen Aussicht erfreute. Bei der großen Verehrung, womit man im ganzen weiten deutschen Vaterlande dieser edlen Fürstin noch heute gedenkt, ist es kein Wunder, daß die Naumburger schon vor Jahren auf dieser Höhe ein Denkmal errichtet haben und daß zu dem „Louisenfeste“, welches jährlich hier gefeiert wird, Stadt- und Landleute in großen Schaaren herbeiströmen. Als wir vor den mit Pappeln umpflanzten Denkstein hintraten, entblößte der alte Jahn wiederum ehrerbietig sein Haupt und sagte mit feierlicher Stimme:

Louise war ein holdes und zugleich wahrhaft majestätisches Frauenbild, ein Wesen – so recht nach dem Herzen Gottes und drum eine Fürstin, wie sie der Deutsche gern haben will. Sie und der edle Schiller – der zu früh gefallenen Kämpfer jetzt nicht zu gedenken – hätten, nach meiner Rechnung, das Fest Aller Deutschen[4] erleben müssen.“

Von der „Henne“ aus wählten wir den Weg, der saalaufwärts durch einen herrlichen Obstgrund nach der Mündung der Unstrut in die Saale führt. Von den vielen Weinbergen, neben welchen dieser Pfad hinläuft, verdient einer durch die in eine seiner Felswände eingehauenen Bildwerke eine besondere Beachtung. Es ist dies der sogenannte Ratsch-Barthelsberg, derselbe, in welchem Gellert im Jahre 1740 längere Zeit wohnte.

Von diesem Berge aus beherrscht das Auge den östlichen Thalkessel der Unstrut und das ganze so überaus malerische Saalthal von Kösen bis Schönburg.

Nachdem wir auf dem Rittersitze zu Groß-Jena in dem zwar kleinen, aber äußerst geschmackvoll angelegten Garten den Kaffee eingenommen, begaben wir uns nach dem „Keller,“ einer oberhalb des Dorfes gelegenen Restauration. Hier trafen wir eine zahlreiche Gesellschaft und darunter die Familie Jahn’s vor.

Groß-Jena, schon in der heidnischen Zeit bewohnt, dann der Stammsitz des Markgrafen Eckard’s I., ist einst eine nicht unbedeutende Stadt gewesen. Gegenwärtig zählt es jedoch kaum 400 Einwohner. Das am andern Unstrutufer, eine Viertelstunde vom Flusse entfernt liegende Dorf Klein-Jena heißt in den ältesten Urkunden Deutschen Jena.

Den Weg von Groß-Jena bis Freiburg legten wir innerhalb einer halben Stunde zurück.

Als wir vor Jahn’s Hause, unmittelbar am Schloßberge, anlangten, betrachtete mein berliner Reisegefährte mit einer Art von Ehrfurcht das vierfache F, welches dies so schön gelegene und stattliche Gebäude in seinem westlichen Giebel „im Schilde führt.“

„Ja,“ sagte, dies bemerkend, der Alte lächelnd, „erzählen Sie in Berlin in Gottes Namen, daß ich bis an mein Ende an meinem doppelten FF: frisch! fromm! fröhlich! frei! festhalten werde, wie viele – mehr als mattherzig gewordene alte Turn- und Gesinnungsgenossen dem neuaufgekommenen Vier-F: fein, faul, feig und falsch – auch fröhnen mögen!“

Dann reichte er uns Beiden die Hand und führte uns unter einem herzlichen „Willkommen!“ in das Familienzimmer. Hier saßen wir bei einer Tasse Thee bis tief in die Nacht, indem unser so geschichtskundiger Wirth die Unterhaltung immer von Neuem zu beleben wußte. Er erzählte unter Anderm, daß Friedrich der Einzige, als er um dem Tage nach der Schlacht bei Roßbach hier durchkam und ihn der Stadtrath mit einer Rede empfangen wollte, geäußert habe: „Etwas zu essen ist mir jetzt lieber, als die schönste Rede.“ Auch über Napoleon’s Aufenthalt in Freiburg – in der Nacht vom 21. zum 22. Oktober 1813 – theilte er uns viele interessante Einzelheiten mit. Bei Erwähnung des „deutschen Empfangs,“ der dem Kaiser bei dieser Gelegenheit bereitet worden sein soll, zeigte er eine Art von Wuth. Der Baron de Fain erzählt nämlich in seinem Manuscript de l’an 1813 in Bezug auf diesen Empfang Folgendes:

„Am 21. October 1813 wird der Zug auf der freiburger Straße fortgesetzt, die berüchtigten Ebenen von Roßbach rechts und die ruhmvollen Hügel von Auerstädt links liegen lassend. Man denke sich Napoleon’s Erstaunen, als er in Freiburg beim Eintritt in die für ihn in Bereitschaft gesetzte Wohnung[WS 1] eine Anzahl junger weißgekleideter Mädchen mit Kränzen in den Haaren und Blumen auf seinen Weg streuend, vorfindet! – – Die Unschicklichkeit eines solchen deutschen Empfanges entlockte dem Kaiser ein Lächeln.“

„Diese ganze Geschichte,“ sagte Jahn, indem er mit den Zähnen knirschte, „ist eine gemeine Unwahrheit! Ehrenwerthe Greise, welche damals Bonaparten hier mit zu empfangen hatten, sollen Euch morgen früh bestätigen, daß der welsche Buchschreiber seine Erzählung nur ersonnen hat, um uns Deutschen bei der sogenannten großen Nation lächerlich zu machen.

„Um mit etwas Erquicklichem zu schließen,“ begann er nach einer Pause wieder, „will ich Euch aus diesem vergilbten Stück der schlesischen Zeitung Folgendes vorlesen:

„Bei Errichtung des freiwilligen Jägerdetaschements des Leibgrenadierbataillons zu Breslau 1813 wurde ein Herr von Boden, der diesen Namen als westphälischer Unterthan angenommen hatte, zum Feldwebel gewählt. Während den Waffenstillstandes avancirte er zum Offizier. Als die Brigade, in der wir standen, nach der Schlacht bei Leipzig das französische Heer bei Freiburg an der Unstrut erreichte, entspann sich auf dem sehr coupirten Terrain ein Gefecht, welches uns viele Opfer kostete. In einer Schlucht, welche von zwei französischen Geschützen mit Kartätschenfeuer bestrichen wurde, wo wir den französischen Tirailleurs nur einige Schritte entfernt gegenüber standen, kam es weder zum Weichen noch zum Vorrücken. Da stürzte der Lieutenant von Boden, den Säbel in der Hand, sich kühn auf die feindlichen Tirailleurs, sank aber auch in dem Augenblick von einer Kugel durch die Brust gebohrt, in meine Arme zurück und mit Hülfe von einigen Grenadieren trug ich ihn auf Gewehren aus der Schußlinie und übergab ihn einem Wundarzte. Der tödtlich Verwundete war – Herr von Bodelschwingh-Bellmede, welcher,“ setzte Jahn hinzu, „gegenwärtig Geheimer Staats- und Kabinetsminister ist. Und nun zu Bett; – gute Nacht!“

Als ich am andern Morgen früh vier Uhr aufstand, fand ich unsern greisen Wirth bereits in voller Thätigkeit. Studirte er etwa? Behüte! Ich fand ihn, wie er – angethan mit einer leinenen Jacke und mit Beinkleidern von demselben Stoffe – eine riesige „Radehacke“ schwang.

„Dies ist,“ äußerte er, „seit geraumer Zeit meine gewöhnliche Morgenarbeit und wird es auch so lange bleiben, bis über diesen Bergabhang ein anständiger Weg zu meinem Hause führt.“

(Schluß folgt.)




[440]
Blätter und Blüthen.

Zur Naturgeschichte des Lachses. Als wir – erzählt ein in Irland reisender Sportsman – längs der Ruine von Bunnown Castle hingingen, trafen wir auf mehrere Wasserfälle. Einer von ihnen zog besonders unsere Aufmerksamkeit auf sich, indem wir dort viele Lachse springen sahen. Wir amüsirten uns hier länger als eine Stunde damit, die Fische zu beobachten, wenn sie über den Fall sprangen.

Wenn der Fluß mit der Fluth der hineintretenden See zu steigen anfing, so nahmen die Lachse die Gelegenheit wahr, es zu versuchen, über den kleinen Wall zu kommen, über den das Wasser fiel. Es war amüsant mit anzusehen, wie die jungen Salmen sich in der Berechnung der zu nehmenden Richtung irrten, aus dem Wasser gerade in die Höhe sprangen, und natürlich auf denselben Fleck wieder hinein fielen. Die ältern und klügern Fische, die ohne Zweifel schon früher oberhalb gewesen waren, verfuhren anders. Sie schossen stets nach dem Kamme des Falls, in einer Linie mit dem Bogen, welchen die fallende Wassermasse bildete, und hielten sich dann einige Secunden, indem sie sich im Strome zusammenkrümmten. In dieser sehr schwierigen Stellung können sie allein mit ihren Brust- und Bauchflossen auf das Wasser wirken, denn die Kraft ihres starken Schwanzes, durch welchen sie sich von dem Grunde erheben, ist nun verloren, da er sich in der Luft befindet.

Dessen ungeachtet gelang es vielen, oben in das Wasser zu tauchen und den Fluß hinauf zu schwimmen; aber den meisten mißglückte es und nach tapferm Kampf fielen sie in das ruhige Wasser unterhalb des Falles zurück. Seevögel folgen ihnen oftmals aus der See dahin und richten große Verwüstungen an. Man sieht sie häufig aus dem Schaum an diesen Orten auftauchen mit einem sich in ihrem Schnabel windenden Salmen.

Es ist dies eine bemerkenswerthe Eigenheit im Instinkt des Salms, daß er aus unbekannten Fernen und Tiefen stets wieder nach den Flüssen zurückkehrt, wo er zur Welt gekommen ist. Sie mögen wohl durch ungestümes Wetter oder durch einen sie verfolgenden Feind manchmal gezwungen werden, in die Mündung eines fremden Flusses einzulaufen, gleich wie ein Schiff durch einen Sturm in einen feindlichen Hafen getrieben wird, aber die größte Menge findet den Weg zu dem heimathlichen Wasser.

Nichts kann interessanter sein, als die Manöver der Salmen während der Laichzeit zu beobachten. In meinen jüngern Jahren habe ich mich oft Stunden lang damit amüsirt, im Schatten einen Felsens oder Baumes liegend, die Liebschaften der Salmonidae und die zarten und anmuthigen Liebeserklärungen der Männchen zu beobachten, wenn sie auf der Freite waren.

Mit bewundernswerthem Instinkt wählen diese Thiere nie einen Fluß, der austrocknen könnte, denn es ist nothwendig, daß das Bette für die Eier sich auf dem Grunde eines mäßig tiefen, fließenden Wassers befindet.

Ist der Platz gewählt, so machen sich beide Fische daran, ein geeignetes Nest für die Eier auszugraben. Das Weibchen beginnt gewöhnlich die Arbeit, da sie wahrscheinlich als Hausherrin handelt und den Platz für das Bette zu bestimmen hat. Sie ist von dem Männchen leicht durch ihr matronenmäßiges Aeußere zu unterscheiden, da jenes überdies an dem merkwürdig gekrümmten Sporn zu erkennen ist, der aus der Mitte der Unterkiefer hervorsteht.

Das Weibchen also, in sonderbarer Analogie mit dem Vogelweibchen, fängt sein Nest an, indem es mit seinem Leib und Schwanz sich in den Sand wühlt und manchmal einen widerspenstigen Kiesel mit der Nase aus dem Wege räumt. Der männliche Fisch hält während dieser ganzen Zeit in der unmittelbaren Nachbarschaft seines Weibes Wache; und obwohl die Natur ihm die Fähigkeit versagt hat, es mit einer Serenade nach Art der Männchen der Vögel zu unterhalten, so ist unser Lachsen-Salm doch nicht weniger zärtlich bemüht, die Heimlichkeit seiner Ehehälfte zu beschützen, indem er in einem Kreise um sie herumschwimmt, um zu verhindern, daß fremde Eindringlinge sie nicht in ihrem interessanten Geschäfte stören. Hat die Fischdame lange genug gearbeitet, was ungefähr eine halbe Stunde sein mag, dann ruht sie ein wenig aus, der aufmerksame Gatte nimmt ihren Platz ein und fährt fort zu graben; dann schwimmt sie um ihn herum und bewacht ihn ihrerseits.

In der That, ihr ganzes Verfahren ist sehr geeignet, das moralische Interesse zu erregen, und ich könnte hinzufügen, daß die gegenseitige Pünktlichkeit und Zuneigung, mit welcher diese Arbeit elterlicher Fürsorge von dem schweigsamen Paar betrieben wird, aller Nachahmung von Seiten warmblütiger Ehemänner und Frauen werth ist.

Das Bett für die Eier ist ein Graben, 4 bis 5 Fuß Länge und beinahe 11/2 Fuß Breite und Tiefe. Bald nachdem der Roggen und die Milch durch die Fische niedergelegt sind, beginnen sie abwechselnd die Arbeit, dieselben mit dem Sand zu bedecken, den sie vorher mit so viel Mühe ausgegraben haben, und dies schien mir verhältnißmäßig leichte Arbeit zu sein.

Beide Fische bleiben gewöhnlich während des ganzen ersten Tages in der Nähe des Nestes, sind aber weder am nächsten Morgen noch im Laufe des folgenden Tages zu sehen. Das Eierbette, wenn es vollendet ist, sieht aus wie das neugemachte Grab eines Kindes, ehe der Rasen darauf gelegt ist.

Der Zustand der alten Fische nach dem Laichen ist wahrhaft kläglich. Sie sind dann so schwach und mager, daß sie kaum dem Strome widerstehen können, und suchen gewöhnlich in irgend einem tiefen Loche Einsamkeit, wo sie ruhig bleiben und wieder einigermaßen zu Kräften kommen. – Durch die Abgezehrtheit des Körpers erscheint der Kopf unverhältnißmäßig groß und als ob er zu einem andern Fisch gehöre. Sie bleiben während des ganzen Winters schwach und starr und ihre Körperbeschaffenheit ist nicht besser, wie bei andern Thieren im Winter. Das Fleisch ist weiß oder vielmehr schmutzig gelb, geschmacklos und ungesund. Fangen sie sich unter diesen Umständen an einer Angel, so sind sie ganz passiv und hülflos und lassen sich fast ohne Widerstand an’s Ufer ziehen.

Beim Beginn des Frühlings gehen sie den Fluß hernieder und suchen gleich andern Kränklichen im Seebad die Wiederherstellung ihrer Gesundheit. Salmen in dem oben erwähnten Zustande sind nicht allein nicht nahrhaft, sondern selbst in gewissem Grade ungesund oder gar giftig.




Galton, in seinem jüngst erschienenen „Bericht eines Forschers im tropischen Südafrika“ erzählt, daß er einst einen Führer engagirt habe, dem die Nase halb fehlte.

„Diesen Mann,“ schreibt Galton, „hatte nämlich, während er auf dem Rücken schlafend lag, eine Hyäne bei der Nase gefaßt – sehr unangenehm und eine schöne Geschichte, Kinder damit zu schrecken. Ich konnte sie kaum glauben, bis ein Fall sich ereignete, der eben wie gerufen kam. Eine alte Buschmannsfrau, die unter einigen Stöcken und Rohrbüschen, die sie nach Art ihres Volkes zusammengebunden, vor dem Winde geschützt, ihr Lager aufgeschlagen hatte, schlief, dicht um das Feuer zusammengewickelt liegend und ihre magern Füße in das Freie ausstreckend; da kam eine am frühen Morgen nach Beute umhergehende Hyäne, faßte sie bei der Hacke und zog ihren Körper halb aus der Hütte heraus. Ihr Geheul erschreckte die Hyäne, daß sie los ließ, und die Frau hinkte am nächsten Morgen zu uns, um Pflaster und Bandagen zu bekommen. In der darauf folgenden Nacht schlief die Frau auf dieselbe Art wie zuvor, und die Hyäne kam eben so wieder und zog die Frau wie am vorhergehenden Abend an der Hacke. Das arme Wesen befand sich in einem betrübten Zustande, und ich und einer meiner Leute blieben die nächste Nacht auf, um das Thier zu erwarten. Ich kauerte im Schatten ihres Hauses, mein Begleiter deckte einen Seitenpfad und die Frau nahm ihre Hütte als Lockmittel ein. Es war eine großartige Idee, ein wildes Thier mit einer alten Frau anzulocken. Die Hyäne kam längs des Seitenpfades, schlich sich wieder bis an die Frau heran, und war eben im Begriff, ihr Manöver zu wiederholen, als unsere Büchsen knallten und sie todt niederstreckten.“




Zum Erquickungsapparat. Mein Apparat ist viel billiger und einfacher, als der in Nr. 28. beschriebene. Ich nehme ein Glas (ein Topf und jeder andere Apparat, der Wasser halten kann, thut’s auch), schütte etwas Wasser hinein, gewöhnliches Wasser, und während ich ein Theelöffelchen voll von meiner Mischung hineinrühre, trink’ ich zugleich mit Lust den schäumendsten Champagner, bei welchem sich Kopf und Kasse wohler befinden, als im Dienste Cliquots und anderer Götzen. Meine Mischung besteht aus acht Theilen doppelkohlensaurem Natron und fünf Theilen Weinsteinsäure. Sie geben im Augenblicke der Mischung mit dem Wasser den lustigsten, erquickendsten Champagnerschaum, so daß besondere Apparate, Pfropfung, Vorsicht, Warten, Mühe und Kosten gespart werden. Mir kostet so ein Glas Champagner (mindestens so viel als drei Spitzgläser voll) einen kleinen, rothen Pfenning, wenn ich viel nehme und recht viel Schaum und Gesprudel haben will, unter alltäglichen Verhältnissen weniger. Es kosten hier nämlich (in London) 16 Loth doppelkohlensaures Natron und 10 Loth Weinsteinsäure zusammen 10 Pence, also noch nicht 10 Silbergroschen. Aus dieser Mischung mach’ ich stets gegen 150 Gläser Champagner, die Kopf und Kasse nicht angreifen und doch allerhand hypochondrische und Verdauungsbeschwerden-Teufel mit Nachdruck austreiben, ohne daß ich mich weiter drum zu bekümmern brauche. Man muß aber die Ingredienzen zu meinem Brausepulver nicht in der Apotheke, sondern vom Droguisten ein Bischen im Großen kaufen, wenn man’s so billig haben will, wie ich.
B. 

Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig ist erschienen:

Der Mensch im Spiegel der Natur.
Ein Volksbuch
von
E. A. Roßmäßler.
Mit vielen eingedruckten Holzschnitten. – Zweite Auflage. – 5 Bände, broch. à 11/2 Thlr.

Aus der Fremde Nr. 32 enthält:

Städtebilder. I. Chicago. – Ein Stück Seefahrt. – Briefe von Cuba. I. – Aus allen Reichen: Lenau über Amerika. – Eine persische Caravane. – Allerlei Neues.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Viele Seekrebse tragen ihre Augen auf hohlen Stangen. Wenn diese Stange eine Röhre und das Auge eine entsprechende Linse ist, kann man folgern, daß sie durch ein Perspektiv oder Teleskop Alles vergrößert, außerdem sehr weit und sogar um die Ecke sehen können. Der Birgus, eine Eremitenkrabbe, klettert sehr oft aus seinem Elemente bis in die höchsten Bäume hinauf, um deren Früchte zu verspeisen.
  2. Nach der unglücklichen Schlacht bei Jena war bekanntlich auch der über dem brandenburger Thore zu Berlin angebrachte Siegeswagen von dem übermüthigen Feinde mit nach Paris genommen worden. Im Jahr 1811 betrachtet nun Jahn eines Tages dieses seines Schmuckes beraubte Thor mit ärgerem Ingrimm, denn je. Ein junger Turner seines Gefolges scheint mit ihm dies Gefühl zu theilen. „Was dachtest Du, als Du eben da hinauf schautest?“ fragt er den Knaben, und als dieser verlegen antwortet: „Nichts!“ gibt Jahn ihm eine derbe Maulschelle, indem er losdonnert: „Du sollst Dir aber etwas denken und zwar das: die Franzosen haben unsere Victoria geraubt, aber wir wollen sie uns schon einmal wieder holen!“ –
    Anmerk. des Verf.
  3. Gegenwärtig der Rittersitz Zscheiplitz.
    Anmerk. des Verf.
  4. Den 18. Oktober 1813.
    Anmerk. des Verf.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Fußnote fehlt. Es handelte sich um die Wohnung des protestantischen Pastors.