Populäre Briefe über Musik 3

Textdaten
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Autor: Johann Christian Lobe
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Titel: Populäre Briefe über Musik
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aus: Die Gartenlaube, Heft 16, S. 218–219
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Poesie. Kunst. Lied.
Dieser Beitrag erschien als Nr. 3 in der Reihe Populäre Briefe über Musik
Nr. 2 Populäre Briefe über Musik 2 siehe Heft 49 des Vorjahres
Nr. 4 Populäre Briefe über Musik 4 folgt in Heft 32.
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[218]
Populäre Briefe über Musik.
Von J. C. Lobe.
Dritter Brief. Poesie. Kunst. Lied.

Sie wissen, daß die alten Griechen unter Musik alle schönen Künste verstanden, vorzugsweise aber Poesie und Tonkunst. Die letzteren zwei Künste erscheinen auch bei den Neueren oft verbunden, in der ganzen Gesangsmusik nämlich. Es ist daher wegen des leichteren Verständnissen meiner künftigen musikalischen Briefe nöthig, hier erst einen über Poesie und Kunst überhaupt einzuschieben.

Was ist Poesie?

Diese Frage hat einen Anschein von großer Lächerlichkeit. Welcher nur einigermaßen gebildete Mensch könnte zählen, wieviele Male in seinem Leben er dieses Wort aussprechen gehört und selbst ausgesprochen hat! Hieraus sollte man schließen dürfen, daß Jedermann wüßte, was Poesie sei!

Es kommt indessen nicht selten vor, daß von zwei Gebildeten der eine dasselbe Werk für „poetisch,“ der andere für „nicht poetisch“ erklärt. Aus solchen entgegengesetzten Urtheilen scheint also wieder hervorzugehen, daß der Begriff „Poesie“ noch zweifelhaft ist.

Wendet man sich um Belehrung darüber an diejenigen, von welchen sie am sichersten zu erwarten sein sollte, an die Kunstphilosophen, so lacht man nicht über die Frage, sondern oft über die Antworten.

Ich will Ihnen nur zwei Pröbchen geben.

Einer sagt: „Poesie ist die Indifferenz des sub- und objektiven Pols!“ Das nennen die Philosophen eine gelehrte Definition. Man versteht sie zwar nicht, aber eben darum ist sie philosophisch.

Einem Anderen zufolge ist Poesie: „die Kunst, selige Inseln voll Schönheit, Harmonie und Zweckmäßigkeit, voll schöner, großer und begeisternder Ideen, voll zarter, tiefer und heiliger Gefühle aus dem Ocean der Menschenbrust durch den Zauberstab den metrisch gebundenen und doch freien Wortes mit Schöpferkraft an’s Sonnenlicht emporzuheben, und bei ihrem Anblick eine ganze Welt in süßes, ungewohntes Staunen zu versetzen.

Nehmen Sie aus dieser Definition die Worte „heilige Gefühle,“ halten Sie dieselben an das Lied von Goethe: „Stirbt der Fuchs, so gilt der Balg,“ und sagen Sie mir, ob darin „heilige Gefühle“ geschildert sind.

Mit Erklärungen solchen Genres könnte ich mehrere Spalten der Gartenlaube anfüllen. Sie haben aber an den gegebenen hoffentlich genug, um klar zu sehen, wie dunkel die Sache noch ist.

Wir wollen sie als Ungelehrte untersuchen.

Das Wort „Poesie“ ist griechischen Ursprungs und heißt zu deutsch: Machen.

Mit diesem Ausdrucke ist nichts anzufangen. Was wird nicht alles in der Welt gemacht!

Nehmen wir anstatt des griechischen Worts „Poesie,“ das deutsche Wort „Dichtung,“ so präsentirt sich uns ein deutlicherer Begriff. Wir wissen alsdann, daß Dinge gemeint sind, die vom Dichter rein erfunden oder nach vorhandenen Erscheinungen geschildert und uns vermittelst der Rede mitgetheilt werden. Allein nicht jede Rede gehört zur Dichtkunst. Letztere wählt vorzugsweise bildliche Ausdrücke, Gleichnisse u. s. w., weil diese anschaulichere Vorstellungen hervorrufen, die Einbildungskraft in ein lebhafteres Spiel versetzen, als abstrakte (abgezogene) Begriffe thun. Die dichterische Rede ist ferner kunstreicher geordnet als die gewöhnliche (prosaische), damit sie wohllautender in’s Gehör falle. Sie schreitet taktartig, rhythmisch, in regelmäßigem Wechsel langer und kurzer Silben, in abgemessenen Versen und Strophen (gebundener Rede) dahin. Zwar giebt es auch eine dichterische oder poetische Prosa, diese wird aber in neuerer Zeit kaum noch angewendet, und wohl mit Recht. Denn was in der gebundenen Rede einen besonderen Reiz hat, die blühende, bilderreiche Sprache, erscheint in Prosa meistentheils als Schwulst und Bombast.

Das Reich der Dichtung ist unermeßlich. Denn nicht allein was geschehen ist, auch was niemals geschehen kann, wird ihr vorzubringen erlaubt. Die Werke der Dichtkunst werden gewöhnlich in vier verschiedene Hauptklassen eingetheilt: in dramatische, epische, didaktische und lyrische.

Das dramatische Werk stellt Thaten, Charaktere, Triebfedern, Gefühle der Menschen in einer als gegenwärtig geschehenden Handlung vor. Das epische schildert dieselben Dinge in erzählender Form. Didaktische Gedichte tragen eine Lehre vor. Lyrische endlich schildern das Gefühlsleben, die Leiden und Freuden des Herzens. Alles, was dem Gefühlsleben angehört, ist des musikalischen Ausdrucks fähig. Daher das Wort „Lyrisch,“ welchen von „Lyra“ abstammt, einem uralten Instrumente, womit die Griechen ihre Gesänge begleiteten.

Zur lyrischen Dichtung nun gehört das Lied. Sein Inhalt ist ein Einzelgefühl. Es unterscheidet sich dadurch z. B. von der Arie, welche mehrere, verschiedene, wechselnde Gemüthsstimmungen vorüberführt. Es behandelt keine großen Leidenschaften, sondern meist mäßige Gefühle. Vers- und Strophenarten sind einfach, nicht künstlich verschlungen; die Verse endigen in der Regel mit Reimen.

Warum haben Gedichte diese Form? Die Natur weiß davon nichts. Der Mensch spricht seine Gedanken und Gefühle in der Wirklichkeit nicht in Versen und Reimen aus.

Diese Frage führt uns auf einen Punkt, der seit Jahrhunderten bis in unsere Zeit herein noch gäng und gäbe, nichts destoweniger aber falsch ist.

Fragen Sie: Was bedeutet das Wort „Aesthetik?“ so erhalten Sie von überall her die Antwort: „Die Lehre vom Schönen“. Fragen Sie: „Was ist Kunst?“ so heißt es: „Die Darstellung des Schönen.“ Dennoch ist diese Antwort nur zur Hälfte eine Wahrheit, zur andern Hälfte eine Lüge. Sie ist eine Lüge in Bezug auf den Stoff der Darstellung; sie ist eine Wahrheit in Bezug auf die Darstellung des Stoffs. Stoff der Darstellung, und Darstellung des Stoffs sind zwei verschiedene Dinge. Denken Sie sich eine Madonna, das ist ein schöner Gegenstand; denken Sie sich eine alte Hexe, das ist ein häßlicher Gegenstand. Agathe und Aennchen im Freischütz sind liebenswürdige Wesen, Kaspar und Samuel abscheuliche. Die Liebe Maxens zu Agathe ist ein angenehmes Gefühl, Kaspar’s böse Gedanken gegen Max bekunden schlechte Gefühle.

Nun finden Sie aber nicht blos Vergnügen beim Anblick einer gemalten Madonna, sondern auch bei dem Anblick einer gemalten alten Hexe; nicht blos wenn Sie den Ausdruck von Maxens Liebe, sondern auch Kaspar’s Racheausbruch vernehmen.

Was bewirkt denn dieses Vergnügen bei künstlerischer Darstellung von Gegenständen, welche in der Wirklichkeit unangenehm oder gehässig erscheinen? Nichts anderes kann es sein, als die erkannte Wahrheit. Wenn die Madonna, die schön sein soll, häßlich, die Hexe, welche alt und häßlich sein soll, schön vorgestellt ist, so finden wir beide Bilder unwahr. Wenn Kaspar, nachdem er Max in die verderbliche Wolfsschlucht gelockt, sich plötzlich anders besänne und sagte: „Guter Max, mache geschwind, daß Du wieder fortkommst, denn wenn Du mir Kugeln gießen hilfst, bist Du und ist Agathe für Dich verloren,“ so würde diese plötzliche Sinnesänderung, obwohl sie an sich eine schöne Empfindung ist, uns doch mißfallen, weil sie nach der Anlage dieses Charakters ganz und gar nicht wahr sein kann.

Nun fällt Einem freilich die Frage ein: wo ist die Wahrheit im Faust, wenn der Pudel hinter dem Ofen riesig anschwillt und Mephisto daraus hervortritt? Oder wenn er mit Faust auf dem Mantel durch das Fenster hinaus fliegt? Ist der Teufel selbst eine Wahrheit? Und welche Wahrheiten liegen in der ganzen Musik, in einer Symphonie zum Beispiel?

Was die letztere Kunst betrifft, so werden wir später davon zu reden haben. Für jetzt wollen wir bei der Wahrheit in der Dichtkunst stehen bleiben und sagen: diese ist nicht immer eine der Wirklichkeit entnommene, sondern zuweilen nur eine blos angenommene oder vorausgesetzte. Daß es einen Teufel gebe, der mit höheren Kräften als Menschen sie besitzen begabt sei, nimmt der Dichter an, und wir lassen’s uns gefallen. Innerhalb [219] dieser angenommenen Natur muß dann aber alles, was der Teufel thut, denkt und fühlt, zu einander stimmen. Benähme er sich in einer Scene edel, oder lief er z. B. bei dem nächtlichen Ritt am Galgen vorbei zu Fuße neben Faust her und rief keuchend: „Reite nicht so geschwind, ich komme Dir ja nicht nach!“ so fiel er mit solchen Zügen aus seiner angenommenen Natur. Was an einem Menschen natürlich, würde an ihm unnatürlich, unwahr erscheinen.

Nun wollen wir das Gesagte speciell auf das Lied anwenden. Der Gedanke: „Was ich erlitten und erlebt, habe ich in Liedern geschildert,“ kann wahr sein. Aber etwas Schönes finden wir nicht darin. Goethe drückt ihn in seinem bekannten Gedichte: „An die Günstigen,“ aus wie folgt:

„Was ich irrte, was ich strebte,
Was ich litt und was ich lebte,
Sind hier Blumen nur im Strauß;
Und das Alter wie die Jugend,
Und der Fehler wie die Tugend
Nimmt sich gut in Liedern aus.“

So dargestellt, mit den wohllautenden Versen, Gleichnissen etc. gefällt er uns, „nimmt er sich gut aus,“ wie Goethe in dem letzten Vers sagt, d. h. wird der wahre Gedanke auch schön, hat er eine poetische oder dichterische Form erhalten.

Wenn ein schlechter Kerl sagt: „Der Trunk ist meine einzige Lust auf dieser Welt,“ so ist das ein Gedanke, den ein schlechter Kerl haben kann, der in seinem Munde also wahr ist; daß es aber ein schöner Gedanke sei, wird Niemand behaupten, Jedermann ihn vielmehr für einen häßlichen erklären.

Wir hören ihn in Kaspar’s Lied im Freischütz in folgender Weise ausgedrückt:

Hier im ird’schen Jammerthal
Gäb’s doch nichts als Plack und Qual,
Trüg’ der Stock nicht Trauben;
Darum bis zum letzten Hauch
Seh’ ich auf Gott Bacchus Bauch
Meinen festen Glauben.

In dieser Form gefällt er uns, bis – auf „Bacchus Bauch“, das nicht besonders klingt. Besser hätte der Dichter gesagt: „Setz’ ich auf Gott Bacchus Schlauch.“

Der folgende Gedanke, zu einem verkannten Freunde gesprochen:

„Alle Welt verläßt Dich, ich aber bleibe Dir treu“ ist an sich edel und gut, und mag in Prosa ausgesprochen sich lesen lassen. Nun denken Sie sich diese Gesinnung in folgender Weise ausgedrückt:

„Wenn Dich alle Männer und Weiber
Und Schöpse von Kindern verkennen und
Verachten, so
Bin ich doch wirklich nicht
Solcher Art, und ich
Bleibe Dir treu, darauf kannst Du Dich verlassen.“

So erscheint der an sich edle Gedanke durch die gemeinen Ausdrücke, die unsymmetrischen Verse, kurz die miserable Form, läppisch, lächerlich, unschön.

Die folgenden Verse haben eine gefällige Form:

„Des Menschen Antlitz leuchtet schön,
Drum will ich jetzt spazieren gehn.“

Aber der Gedanke ist unsinnig.

In dem ersten Beispiel sehen Sie einen wahren und angenehmen Gedanken schön dargestellt. Im zweiten erscheint eine wahre, aber häßliche Empfindung gefällig ausgedrückt, im dritten ist ein edles Gefühl in eine schlechte Form gebracht, im vierten endlich erscheint in einer schönen Form ein dummer Gedanke. Die ersten beiden Beispiele gefallen, weil Wahrheit und Schönheit vereinigt sind. Das dritte mißfällt, weil der Gedanke wahr, aber die Darstellung unschön ist. Das vierte endlich mißfällt, weil die Form schön, aber der Inhalt dumm erscheint und nicht wahr ist.

Und hiermit, denke ich, ist klar, daß die Kunst und Poesie nicht blos die Schönheit, sondern auch und zuerst die Wahrheit darstellt; daß der Stoff schön, aber auch häßlich sein kann, wenn er nur wahr ist; daß die Form aber jederzeit schön sein muß, weil ohne sie der wahrste Gedanke keinen vollbefriedigenden Kunstgenuß verschafft.

Den Stoff zu Liedern tragen alle Menschen in sich, denn jeder Mensch hat ein Herz, das Leiden und Freuden empfindet. Jeder Mensch hat auch so viel Einbildungskraft, um sich in die Zustände anderer Menschen zu versetzen, wenn er sie auch nicht selbst durchlebt hat. Wenige Sterbliche giebt es ferner, die nicht zuweilen wenigstens bedeutende Gedanken, Ansichten u. s. w. hätten. Aber wenige Menschen, verhältnißmäßig genommen, können Lieder machen. Dazu gehört Dichtungskraft und Dichtungskunst. Es giebt besonders fein und glücklich organisirte Naturen, die nicht allein von den Ereignissen, welche sie berühren, leichter, lebhafter und stärker als viele Andre erregt werden, sondern die auch, was sie einmal gesehen, in der Einbildungskraft, was sie dabei empfunden, in dem Gemüth wieder hervorrufen (reproduciren), ja selbst, was sie niemals gesehen und empfunden haben, doch durch ihre vorstellenden Kräfte in sich entstehen lassen können. Dies ist die Dichtungskraft oder das Dichtungsvermögen. Solche haben gewöhnlich auch einen besonders starken Trieb, das Geschaute und Empfundene dichterisch auszusprechen. Haben sie sich die dazu nöthigen Regeln und Gesetze durch Studium ähnlicher Produktionen erworben und sich tüchtig geübt, so besitzen sie Dichtkunst.

So vielerlei Arten von Einzelgefühlen es giebt, so vielerlei Arten von Liedgedichten sind möglich. Die allgemeinste Eintheilung derselben ist die in geistliche und weltliche oder profane. Jene nehmen ihre Stoffe allein aus den religiösen Empfindungen, diese greifen überall hin, wo Zustände und Vorgänge des weltlichen Lebens oder Erscheinungen in der äußern Natur Gefühle erzeugen. So haben wir Liebes-, Trink-, Jagdlieder u. s. w.

So viel über das Lied, als bloßes Gedicht betrachtet. Viel kann der wirkliche Dichter damit auf den empfänglichen Leser wirken. Aber Vielen auch, was sich in den geheimnißvollern, dunklern Tiefen der Seele an wunderbaren und mannigfaltigen Regungen daneben und ineinander hinschlingt, ist dem Wort zu schildern nicht vergönnt.

„Die arme Sprache!“ haben Sie gewiß oft selbst ausgerufen, wenn irgend ein warmes Gefühl Ihre Brust erregte und Sie nach Aussprache desselben drängte! Welche Worte Sie dafür auch wählen und finden mochten, sie drückten verhältnißmäßig doch nur matt, farblos, skizzenartig das aus, was Sie innerlich als sicherlich vorhanden, aber mit Worten ungreifbar, mehr dunkel ahnend, als deutlich sehend empfanden.

Hier tritt nun an die Stelle der Dichtkunst eine andere, die Tonkunst. Dieser stehen weit reichere Mittel als jener zu Gebote, die geheimnißvollen Erscheinungen des Gemüths an’s Tageslicht und zur Wirkung zu bringen.

Da ich mich nun den größten Theil meines Lebens selbst bemüht habe, die Freuden und Leiden des Herzens in Tönen zu schildern, so kann ich Ihnen, abgesehen davon, was mir darin gelungen oder nicht gelungen sein mag, über die Mittel, welche dem Tonkünstler zu Gebote stehen, und über die Verwendung derselben behufs seiner Ausdruckszwecke aus Erfahrung Auskunft geben, und daher versuchen, das Lied in musikalischer Hinsicht zu erklären. Das macht jedoch einen Brief für sich nothwendig, den Sie bald erhalten sollen.