Populäre Briefe über Musik 1

Textdaten
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Autor: Johann Christian Lobe
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Titel: Populäre Briefe über Musik. Erster Brief
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aus: Die Gartenlaube, Heft 41, S. 544–546
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Populäre Briefe über Musik.

Von J. C. Lobe.
Erster Brief.

Ohne Notenbeispiele soll ich Ihnen und allen Lesern der Gartenlaube, auch solchen, die keinerlei Art von Musikunterricht genossen, das Wesen und die Wirkung der Tonkunst so verständlich machen, daß Sie alle aus Musikliebhabern in wirkliche Kenner verwandelt werden! Eine schwere Aufgabe! Indessen sei’s versucht.

Was ist Musik?

Ich habe diese Frage an einem anderen Ort[1] so beantwortet: „Musik ist die Kunst, durch Töne das Ohr zu vergnügen, das Herz zu rühren, die Einbildungskraft mit mannigfaltigen Vorstellungen zu beleben und den Verstand in angenehme Thätigkeit zu versetzen.“

Wenn Sie an die Eindrücke denken, die Sie bisher beim Anhören von Musik empfunden haben, wird Ihnen diese Erklärung freilich vielversprechend vorkommen. Auch möchte ich mich keineswegs verbindlich machen, sie an allen nach Belieben mir vorgelegten Stücken zu bewahrheiten. Nichtsdestoweniger kann und soll die Tonkunst alle jene Wirkungen hervorbringen, und hat sie durch manches herrliche Werk hervorgebracht, wie ich Ihnen zu zeigen hoffe.

Nur müssen Sie ein wenig Geduld mitbringen und sich zuerst einiges von den Elementen der Musik sagen lassen. Das Zurückgehen zu der Betrachtung derselben ist auch gerade in unserer Zeit wichtiger als Sie vielleicht glauben, und nicht blos für Laien, sondern auch für manchen Künstler. Denn daß recht renommirte der letztern sich zuweilen gar nicht mehr daran zu erinnern scheinen, was die musikalischen Elemente eigentlich zu bedeuten haben, wozu sie dienen, warum sie verwendet werden, davon sollen Sie ergötzliche Pröbchen erhalten. Lassen Sie daher das Blatt nicht etwa gleich erschreckt aus der Hand fallen, wenn ich vom Ei anfange oder wenigstens von

Schall, Ton und Klang.

Sie werden schwerlich eine Viertelstunde Ihres Lebens wachend hinbringen können, ohne irgend etwas zu hören, denn überall in der Natur wird Hörbares erzeugt. Alles Hörbare nennt man im Allgemeinen Schall. Die Lehre vom Schall (Akustik), früher nur ein karges Kapitel in der Physik, ist jetzt zu einer bedeutenden Wissenschaft für sich erhoben und ausgebildet. Leider aber nehmen noch wenige Musiker Notiz davon. Manche sogenannte „Genialität“ der Virtuosen und Componisten würde unterbleiben, wenn sie die unwandelbaren Naturgesetze des Schalls und menschlichen Ohres kennten! Ich gebe Ihnen einige Andeutungen aus diesem unsichtbaren Wunderreiche. Sie werden bald merken, warum.

Alles Schallende wird durch Schwingungen (Vibrationen) elastischer Körper erzeugt. Diese Schwingungen theilen sich der Luft mit, bewirken Schallwellen, welche an das Ohr schlagen. Wie wunderbar kunstvoll dieses kleine Werkzeug eingerichtet und berechnet ist, um alles in sein Bereich kommendes Hörbare auffassen und dem Geiste und Gemüthe des Menschen zur Kenntnis bringen zu können, haben Sie bereits aus des Prof. Bock früheren Aufsatz in der Gartenlaube erfahren. Wie unendlich verschieden aber sind die Schalle, und welche unendlich verschiedene Wirkungen bringen sie auf uns hervor.

Denken Sie z. B. an das ohrzerreißende Knirschen und Rasseln eines Lastwagens auf dem harten Steinpflaster und an den schmelzenden Gesang der Nachtigall! Die Hauptursache dieser verschiedenen Wirkungen liegt in der verschiedenen Art der Schwingungen. Es ist entweder regelmäßige oder unregelmäßige. Jene folgen in gleicher, diese in ungleicher Weise aufeinander. Die ungleich aufeinander folgenden bringen dem Ohr nur Geräusch, und des Geräusches wegen suchen gebildete Menschen die Musik nicht auf. Nichtsdestoweniger können Sie zuweilen Tonstücke hören, die kaum mehr als Geräusch zu nennen sind; und doch, sollte man es für möglich halten, giebt es Leute, die von solcher Musik entzückt zu werden behaupten, und sie für eine höhere Kunstoffenbarung ausgeben. Ein Blick in das ABC der Akustik könnte ihnen diesen Irrthum benehmen.

Wir, die wir von der Musik vergnügt sein wollen, halten uns an die regelmäßigen Schwingungen. Das nächste Merkmal an denselben ist ihre Unterscheidbarkeit (Meßbarkeit) nach Höhe und Tiefe. In dieser Beziehung nennen wir ihr Hörprodukt Ton.

Je langsamer die Schallweilen aufeinander folgen, desto tiefer ist der Ton, je schneller, desto höher. Sie können freilich auch so langsam oder schnell aufeinander folgen, daß ihr Erzeugniß für uns nicht mehr faßbar ist. Die Akustiker sagen, was unter funfzehn Schwingungen und über 30,000 in einer Sekunde gehe, könne das menschliche Ohr nicht mehr hören.

Die Anzahl der in der Musik gebräuchlichen Töne beläuft sich etwa auf hundert und zwanzig. Das Pianoforte der Neuzeit enthält ihrer in sechs Octaven 72. Es sind genug, um die wunderherrlichsten Wirkungen auf Herz und Geist der gebildeten Menschheit hervorzubringen, wenn sie mit Kunstverstand gebraucht und mit Kunstverstand vernommen werden.

Eine große Mannigfaltigkeit gewinnt die Erscheinung der Töne durch die verschiedenen Tonwerkzeuge. Denken Sie sich denselben Ton, angegeben von einer Singstimme oder einer Violine, Flöte, Oboe, Trompete, einem Horn u. s. w. Hier erscheint er sanft, dort gellend, hier dünn, dort dick u. s. w. Jedesmal hat er einen andern Charakter. Diesen Unterschied in dem Charakter des Tons nennt man Klang (Timbre). Sie werden oft hören, „dieser Sänger hat einen schönen Ton.“ Das ist falsch, es muß heißen: „Die Töne dieses Sängers haben einen schönen Klang.“ Die Ursachen des verschiedenen Klanges eines und desselben Tones auf verschiedenen Tonwerkzeugen sind noch nicht vollständig ergründet. Soviel weiß man, daß entweder die Construktion der Instrumente oder die Spieler derselben darauf Einfluß haben. Den schlechten Klang eines alten Klaviers vermag selbst Liszt’s Zauberhand nicht umzuändern, denn da sind Bauart, dünner Saitenbezug, schwacher Resonnanzboden schuld daran. Dagegen schützt uns die herrlichste Geige von Amati oder Stradivario nicht vor ohrzerreißenden Klängen, wenn ein Anfänger seine Uebungen darauf kratzt, gewöhnlich bei geöffneten Fenstern! (beiläufig gesagt: wenn Sie bei Musikübungen geöffnete Fenster erblicken, so sagen Sie nur getrost: da drinnen steckt ein eitler Narr oder eine eitle Närrin!)

Es giebt auch Tonwerkzeuge, die, allein gehört, unangenehm klingen, mögen sie noch so gut gebaut sein und gespielt werden. Lassen Sie sich einmal die Melodie eines Strauß’schen Walzers auf dem Contrabaß allein vortragen, sein dumpfes Murxen und Brummen wird Ihnen wahrhaft komisch vorkommen! Ueber die Klänge der Ophikleïde, des Contrafagott gerathen Sie wohl auch nicht in Entzücken! Andere Instrumente klingen nur in gewissen Tonregionen angenehm, in andern schlecht. Die höchsten Töne auf der Klarinette schneiden meist wie Verzweiflungsquiekse eines gespießten Kindes in Ohr und Herz! Und nun gar große und kleine Trommel, Becken, der Häuser erschütternde Tamtam! Diese Körper geben gar keine Töne und Klänge von sich, sondern nur Schalle mit unregelmäßigen Schwingungen, d. h. Geräusch. Sie werden indessen in der Folge erfahren, unter welchen Umständen auch solche Schalle mit andern Klängen verbunden zu veredeln sind.

Wenn Sie nun zugeben, daß die allererste Bedingung der Musik ist, das Ohr zu vergnügen, so fängt Ihre Bildung zur Kennerschaft schon nach diesen wenigen Zeilen an, so wissen Sie schon jetzt, daß in der Musik keine Miß-, sondern nur Wohlklänge producirt werden sollen. Was aber Sie und alle Leser der Gartenlaube ganz natürlich finden, scheint in der That mancher Künstler nicht begriffen zu haben.

Kann das Ohr z. B. Vergnügen an der zitternden Stimme eines alten Mannes oder Weibes empfinden? Und doch geben sich in unserer Zeit viele Sänger und Sängerinnen geflissentlich Mühe, die Melodien mit zitternder Stimme vorzutragen (zu tremoliren!). Auch auf der Violine, dem Violoncell, können manche Virtuosen keinen Ton aushalten ohne mit ihrer Hand absichtlich wie schwache Greise auf der Saite zu zittern, und diese dadurch vibriren zu machen.

Woher kommt diese Thorheit?

[545] Sie hat zweierlei Ursachen. Irgend ein besonders berühmter Sänger, wer weiß vor wie vielen Jahren, konnte das Singen nicht zu rechter Zeit lassen, wollte, wie eitle Künstler oft, bis in’s höhere Alter hinein fortglänzen. Natürlich zitterte seine Stinnne zuletzt. Aber der im Alter vibrirend Singende war doch einst ein wirklich großer Künstler. Nun wissen nur ja alle:

„Wie er räuspert und wie er spuckt,
Das habt ihr ihm glücklich abgeguckt!
Aber sein Genie, ich meine sein Geist!“

Das Zittern machte dem Alten ein talentloser Narr nach, und glaubte zu sein, was jener gewesen war! Und ein Narr macht zehn! Der zweite Grund dieser widerwärtigen Vortragsweise ist an sich vernünftigerer Art. Es kann ein schmerzlicher Affekt durch kurzes Vibriren der Stimme wahrer und wirkungsvoller ausgedrückt erscheinen. Daraus folgern nun Manche, was einmal Wirkung mache, müsse sie immer machen, je mehr man also vibrire, desto mehr wirke man!

Was das Ohr von dem Vortrag der Sänger und Virtuosen verlangt, Wohlklang durchaus, verlangt es auch von allen Orchesterklängen. Nun fragen Sie sich bei Conzertaufführungen, Opern u. dergl., ob Sie stets angenehme Zusammenklänge und nicht auch zuweilen blos wüstes Geräusch hören!

Man kann einen Ton singend oder blasend so lange ohne Unterbrechung aushalten, als der Athem es erlaubt. Auf Streichinstrumenten so lange als man will. Dagegen ist er auch ganz kurz anzugeben. Und zwischen beiden äußersten Fällen sind alle Grade von Länge und Kürze zu produciren. Diese verschiedenen Erscheinungsweisen der Töne nennt man ihre Geltung.

Nehmen wir einen Stab und schneiden ihn genau in der Mitte durch, so haben wir zwei gleiche Hälften, wird jede Hälfte wieder in der Mitte getheilt, so entstehen vier Viertel, durch weitere gleiche Theilung acht Achtel u. s. f.

Außer dieser Theilung in immer kleinere gleiche Hälften, kann der Stab auch in eine Menge ungleiche Theile zerlegt werden, in zwei Stücke, z. B. wovon das eine nur ein Viertel, das andere drei Viertel lang ist, oder in eine Hälfte und zwei Viertel, oder in eine Hälfte, ein Viertel und zwei Achtel u. s. w. Stellen Sie sich nun anstatt der Länge des ganzen Stabes einen Ton von einer gewissen Länge als einen ganzen Ton vor, und denken Sie, daß, wie der Stab durch Zerschneiden, so der Ton durch Absetzen in immer kleinere gleiche Hälften, halbe Noten, Viertel, Achtel, und ebenso in alle möglichen ungleiche Theile getheilt werden kann, so ist Ihnen der Begriff Geltung, d. h. verschiedene Zeitdauer der Töne und Noten gewiß vollkommen klar.

In der Musik hat aber die Stimme oder das Instrument sich nicht immer hören zu lassen, sie sollen zuweilen auch schweigen (pausiren). Daher giebt es auch für jede Zeitdauer eines wegbleibenden Tones Schweigezeichen (Pausen), Ganze-, Halbe-, Viertel-, Achtel-, Sechzehntel-Pausen u. s w.

In die verschiedenen Längen und Kürzen der aufeinander folgenden Töne muß aber Ordnung gebracht werden, wenn wir sie fassen sollen.

Merken Sie nun wohl auf die folgenden Worte, denn wir werden uns und Andere oft daran zu erinnern haben. Um dem Bedürfniß des menschlichen Verstandes nach Ordnung zu genügen, hat der vernünftige musikalische Kunstgeist verschiedene Mittel gesucht, gefunden und als feste, unverbrüchliche Gesetze angenommen. Das erste derselben heißt: Takt.

Der Takt theilt die mannigfaltigen Geltungen der Töne in kleine, gleiche Zeitgrenzen ein. Am Deutlichsten sehen Sie das beim Tanze. Wenn z. B. der Walzer beginnt, so macht das Tanzerpaar eine Drehung, und während derselben drei Schritte. Das ist ein Takt, eine Tanzfigur innerhalb eines bestimmten Zeitraums. Dieser erste Takt giebt das Maß für alle Takte desselben Tanzes ab. Jede folgende Drehung mit ihren drei Schritten wird genau in derselben Zeit, d. h. nach derselben Taktordnung vollführt. Während aber die Tänzerpaare ihre drei Schritte unten im Saale in jeder Drehung ganz auf die gleiche Weise ausführen, hören Sie oben in der aufgespielten Melodie möglicherweise die verschiedenartigsten Tonfiguren, Notengeltungen. In dem einen Takte wird vielleicht nur ein Ton ausgehalten, in dem andern erscheinen sechs, in dem dritten zwei, in dem vierten acht u. s. w. Je weniger Töne in einem Takte erscheinen, desto langsamer, je mehr, desto schneller werden sie ausgeführt, dergestalt, daß sie in jedem Takte zusammen stets nicht mehr und nicht weniger Zeit einnehmen, als das genommene Taktmodell oder Taktmaß bestimmt.

Das zweite Mittel, Ordnung in die mannigfaltigen Tongeltungen zu bringen, ist der Accent (Betonung gewisser Töne vor andern). Wenn Sie mit geschlossenen Augen auf die Schwingungen eines richtig abgewogenen Pendels an der Wanduhr achten, so können Sie in einem fort bis hundert und weiter zählen und Sie hören keine Betonung, keinen Accent, der Sie zu Abtheilungen zwänge. Aber Sie bilden sich gern eine kleine Abtheilungsordnung und ist dieselbe einmal angenommen, zählen Sie leicht nach demselben Maß die ganze Reihe der Schwingungen fort. Der Accent erscheint nicht hörbar, aber er erscheint innerlich in ihrem Gefühl. So wirkt er auch beim Musiker, in allen Fällen, wo die Töne im Takte, in ganz gleichmäßigem Stärkegrade fortklingen. Diesen Accent kann man den innern Accent nennen. Der äußere ist der, welcher hörbar, durch wirklich stärkere Betonung dargestellt wird, wie Sie z. B. beim Marschirenlernen der Rekruten bemerkt haben, wo der Exerziermeister die lange Reihe gleichmäßiger Schritte gewöhnlich durch eins, zwei, eins, zwei, markirt.

Das dritte Ordnungsmittel heißt: Tempo.

Sie wollen ein Gesellschaftstänzchen machen. Ein Strauß’scher wird auf das Klavierpult gelegt, und ein Musikkundiger aus der Gesellschaft spielt den Walzer ab. Die jungen Leute drehen sich flink danach hin. Aber ein älteres Pärchen bleibt nach. „Das geht mir zu rasch“ – sagt der betagte Tänzer galant, nur im Singular von sich sprechend – „da kommen meine alten Beine nicht mehr fort. Spielen Sie den Walzer langsamer.“ Das Langsamere oder Schnellere im Spielen derselben Noten in derselben Taktart heißt: Tempo (Zeitmaß).

Die Musik hat sehr viele spezielle Benennungen für sehr viele langsamere und schnellere Grade des Tempo, welche z. B. als „Adagio“ (langsam), „Allegro“ (munter, lebhaft), „Vivace“ (lebendig), „Presto“ (flüchtig und schnell) u. s. w. über die Taktart gesetzt werden.

Freilich sind diese Ausdrücke auch nicht eben sehr bestimmt, denn langsam, munter, lebhaft, lebendig, flüchtig, schnell u. s. w. sind immer noch ziemlich schwankende Begriffe. Unter den Musikern pflanzt sich indessen bei der Lehre durch mündliche Ueberlieferung ein Uebereinkommen fort, das grobe Verstöße gegen das Tempo nicht leicht aufkommen läßt. Nichtsdestoweniger bleiben diese Bestimmungen immer etwas unsicher, was Sie daraus schließen können, daß dem Dirigenten nicht eben selten „vergriffenes Tempo“ vorgeworfen wird, womit gesagt sein soll, daß er ein Adagio oder ein Allegro u. s. w. zu schnell oder zu langsam angegeben (genommen) und dadurch dem Charakter und der Wirkung des bezüglichen Tonstückes Eintrag gethan habe. Um das Zeitmaß ganz sicher zu bestimmen, hat der bekannte Mechaniker Mälzel einen „Metronom“ oder Zeitmesser erfunden, welcher das Tempo mit Pendelschwingungen angiebt.

Sie können sich nach dem Gesagten hoffentlich vorstellen, welchen mühsamen langjährigen Uebungen sich der Musiker unterziehen muß, um die Geschicklichkeit zu erlangen, alle die verschiedenen Tongeltungen, welche in einer Taktart vorkommen können, von einer Note an bis möglicherweise zu hundertundachtundzwanzig, in ihrer bezüglichen Langsamkeit und Schnelligkeit dem Tempo gemäß stets so genau zu berechnen und einzutheilen, daß niemals ein Ton auch nur um das Hunderttheil einer Sekunde zu bald oder zu spät an dem bestimmten Zeitmomente im Taktraume ankomme.

Daß aber kein Musiker sich etwas darauf einbilde! – Sonst erinnere ich ihn an die sogenannte russische Hornmusik!

Denken Sie sich eine Anzahl von vielleicht vierzig schmalen Röhren, die, wie Orgelpfeifen von verschiedener Länge geformt sind und der Reihe nach auf Tafeln liegen. Vor dem Mundloch jeder Pfeife steht ein ganz schlicht aussehender russischer – Leibeigene. Plötzlich, auf ein gegebenes Zeichen ihres Dirigenten, führten diese Leute, – ich war Augen- und Ohrenzeuge davon – die Ouverture zu Mozart’s „Figaro“ vollstimmig, wohlklingend, und mit einer Exaktität in Takt und Tempo aus, daß mir vor Erstaunen der Verstand still stand und vor Rührung die Augen übergingen! Denn bedenken Sie nur, daß jeder Bläser nur einen Ton angeben kann! Nur wenn der eine Ton für den bezüglichen Mann ankommt, bückt sich dieser an das Mundloch seiner Pfeife, um sie zum Ertönen zu bringen. Könnte ich Ihnen doch begreiflich [546] machen, welch’ eine unerhörte Aufmerksamkeit und Blitzgewandtheit des Bläsers dazu gehört, seinen Ton bald lang, bald kurz, bald schnell hintereinander, bald nach langem Pausiren erst, stets im strengsten Takt und Tempo und stets an der rechten Stelle des Taktes, d. h. bald am Anfang, bald in der Mitte, bald am Ende desselben, im Fluge zu erhaschen und auch gleich auf’s allerpräciseste zum Erklingen zu bringen! Und durch welches Mittel wird dieses Ideal von Zusammenspiel erreicht? Beim Einüben, wird erzählt, steht hinter jedem Mann ein anderer schon geschulter Russe mit der – Knute. Kommt des Lehrlings Ton, und er läßt ihn vorbeischlüpfen, oder faßt ihn nicht auf’s Bestimmteste, so erhält er einen Hieb, und diesen stets aus derselben Tonart, aus dem ff!

Takt, Accent und Tempo nennt man mit einem Allgemeinnamen Rhythmus (Eintheilung des Hörbaren in geordnete Verhältnisse).

Wir werden dazu durch einen uns angebornen, oder, wie ein gewisser Herr Professor will, angewöhnten Ordnungssinn getrieben. Das Ordnungslose, wo es uns entgegentritt, im Geistigen wie im Materiellen, im Räumlichen wie im Zeitlichen, mißfällt uns.

Wenn Sie bei einem Walzer ein Paar bemerken, das Takt und Tempo regelmäßig zu befolgen nicht Sinn oder Geschick hat, bald mit seiner Drehung eher, bald später als der Takt fertig wird, wenn es aus dem regelmäßigen Kreis der Tänzer herausquirlt und irrlichterirt, so lachen Sie darüber, wenn Sie ein Humorist, oder ärgern sich darüber, wenn Sie ein Griesgram sind. Auf jeden Fall nennen Sie diese Tanzweise eine ungeschickte und denken: die sollten das Tanzen hübsch bleiben lassen.

Hört man Virtuosen oder Sänger spielen oder singen, wie jenes ungeschickte Paar tanzt – „Nun, das wird doch ein Künstler nicht thun,“ fallen Sie ein.

Merken Sie nur auf, in Concerten u. s. w.

Das Lächerliche ist, daß diese abgeschmackte Vortragsweise von Manchem für eine ganz besonders kunstwürdige gehalten wird!

Die Natur eines Affekts kann nämlich wohl einmal ein Tempo rubato (geraubtes Zeitmaß) rechtfertigen, weil dadurch die Wahrheit des Ausdrucks gesteigert wird. Die nun eine solche Wirkung bemerken, aber ihren Grund nicht begriffen haben, denken, je öfter und auffallender das geschähe, desto gefühlvoller müsse der Vortrag werden. Die Laien in der Musik mögen applaudiren! Von den Kennern, wozu nun in diesem Punkte schon alle Leser der Gartenlaube gehören, werden diese Ueberkünstler ausgelacht.


  1. Katechismus der Musik. Leipz. bei J. J. Weber.