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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[409]
Spiele des Zufalls.
Novelle von August Schrader.
(Schluß.)

Rasch ging Cäsar in den Hof und sah das Schild und den Klingelzug. Er gab das Zeichen und eine Magd öffnete die Thür.

„Herr Doctor Nataß?“ fragte er.

„Ist zu Hause.“

„Kann ich ihn sprechen?“

„Er sitzt bei Tische.“

„Ich werde warten.“

Die Magd führte ihn in das Wartezimmer des Arztes. Hätte er gewußt, daß der Onkel in demselben Hause wohnte! Nicht zwei Minuten hatte der geängstigte Cäsar in dem Zimmer zugebracht, als die Glocke von Neuem gezogen ward. Gleich darauf ließ die Magd eine Dame eintreten. Es war die Landdrostin. Cäsar grüßte nachlässig die Dame, die ihm sehr ungelegen kam. Der Doctor Nataß war ein vielbeschäftigter Arzt, er mußte oft die Ankommenden warten lassen, wenn er ruhig essen wollte, Und so geschah es auch heute. Es verflossen zehn Minuten, dem Harrenden eine Ewigkeit. Die Landdrostin stand auf und setzte sich wieder. Dann ging sie ungeduldig in dem kleinen Zimmer auf und ab. Aber kennt denn Cäsar seine Schwiegermutter nicht? wird der Leser fragen. Die Landdrostin war allerdings Wilhelminens Mutter, und hieraus läßt sich das Interesse erklären, das sie an der jungen Frau nahm; aber Wilhelmine hielt Frau Bertram für ihre Mutter, bei der sie erzogen war, und Cäsar lebte derselben Ansicht.

Cäsar sah durch das Fenster in den Garten; die Landdrostin setzte sich in den Sopha und betrachtete die schlanke, aristokratische Gestalt des jungen Mannes. Es verfloß eine Viertelstunde, aber immer noch erschien der Doctor nicht. Da erhob sich die ungeduldige Dame wie von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, grüßte flüchtig und verließ das Zimmer. In diesem Augenblicke bemerkte Cäsar, daß ein gesticktes Portefeuille in dem Sopha lag. Ohne Zweifel hatte es die Dame verloren; er ergriff es, und wollte ihr nacheilen. Indem er einen Blick auf das zierliche Taschenbuch warf, erkannte er die Ränder einer Anzahl Banknoten, welche die schmale Decke nicht ganz verbergen konnte. Wie gelähmt blieb Cäsar stehen; er suchte Geld, Geld allein konnte ihn retten, und hier hielt er eine Summe in der Hand, die vielleicht mehr als hinreichend war, um seine gräßliche Noth zu beseitigen. Der Gedanke einer Veruntreuung machte ihn schaudern – aber war er nicht gerettet, wenn er den Fund nur einige Tage behalten konnte? Der arme Mann zitterte am ganzen Körper, während seine Augen starr auf den Hundertthaler-Banknoten hafteten.

„Ich gebe es morgen, übermorgen zurück!“ murmelte er. „Ich bezahle den elenden Rudolphi, rette meine Freiheit, meine Ehre und bewahre Wilhelminen vor einer Gemüthserregung, die ihr leicht den Tod bringen kann.“

Hastig verbarg er das Portefeuille und trat auf die Hausflur hinaus. Es war kein Mensch zu sehen. Die Thür ließ sich von innen leicht öffnen, und in der nächsten Minute stand Cäsar auf der Straße. Er entfloh, als ob er einen Mord begangen hätte. Sein Herz nahm stärkere, heißere Blutmassen auf, als früher in irgend einem Augenblicke seines Lebens, und strömte sie mit großer Gewalt wieder aus. Die widersprechendsten Gedanken durchtobten seinen Kopf, aber einer von ihnen beherrschte alle andern – es war der an Wilhelmine. Das Gewissen war nicht mächtig genug, die Besorgnisse der Liebe zu beschwichtigen. Er irrte durch die Promenade, bis er erschöpft an einem Baume stehen bleiben mußte.

„Ob die Summe wohl hinreicht?“ fragte er sich.

Zitternd holte er das Portefeuille hervor und sah um sich, um sich zu überzeugen, daß ihn Niemand beobachtete, und prüfte den Inhalt; er bestand aus sieben Hundertthaler-Banknoten. Das war genug. Er nahm vier Stück davon, steckte sie in sein eigenes Taschenbuch, und verbarg das Portefeuille in seinem Rocke. Dann eilte er in die Stadt, suchte und fand den Advokaten. Eine Viertelstunde später war er in dem Besitze des verhängnißvollen Wechsels und einer Summe, die ihn vor Mangel schützte.

„Was mir die Menschen verweigerten, hat mir der Zufall gewährt!“ flüsterte er vor sich hin, um sich zu beruhigen. „Jene Dame hat mir gegen ihren Willen siebenhundert Thaler geliehen. Sobald ich kann, zahle ich das Kapital sammt Zinsen zurück.“

Cäsar kam in seiner Wohnung an. Wilhelmine befand sich besser, sie erwartete ihren Mann, um mit ihm das Mittagsessen einzunehmen. Sie empfing ihn mit dem zärtlichsten Kusse, den eine liebende Gattin spenden kann. Als Cäsar die reizende Frau in seinen Armen hielt, als er ihr himmlisches Lächeln sah und ihre Lippen auf den seinigen fühlte, war die Reue über das, was er gethan, völlig verschwunden; er fühlte selbst, daß er sich Vorwürfe gemacht haben würde, wenn er anders gehandelt, wenn er die Gelegenheit hätte vorübergehen lassen, durch die er sich und seine Frau unabhängig von Rudolphi gemacht. In unruhiger Hast genoß er die Speisen, er trank mehr Wein als sonst. In einer Art Betäubung setzte er sich nach Tische in den Sopha. Wilhelmine nahm ihren Platz am Fenster ein, und begann zu sticken.

[410] Bald war Cäsar in einen unruhigen Schlummer gesunken.

„Er muß krank sein!“ dachte die besorgte Gattin.

Cäsar hatte noch nie nach Tische geschlafen, aber heute hatte sich seiner nach der übergroßen Aufregung eine Abspannung bemächtigt, die dem Schlafe glich. Sein Geist fuhr fort, sich mit den stattgehabten Ereignissen zu beschäftigen.

Das Vergehen steht zu der Empfindsamkeit des Gewissens im Verhältnisse: es giebt Leute, die eine That für ein leichtes, zu entschuldigendes Vergehen halten, während dieselbe That bei andern die Ausdehnung eines Verbrechens annimmt. Zu den letzteren gehörte Cäsar. Die Stimme des Gewissens besiegte nach und nach die Sophisterei der Leidenschaft. Es erhob sich ein furchtbarer Kampf in seiner Seele.

„Nein, es ist kein Verbrechen!“ murmelte er im Schlafe.

Dann schwieg er wieder. Wilhelmine erschrak. Sie sah, wie bleich ihr Mann war, wie alle Muskeln seines Gesichts konvulsivisch zuckten.

„Ihn drückt ein Geheimniß!“ dachte sie. „Warum vertraut er mir nicht, daß ich es mit ihm theilen kann?“

„Rudolphi, Sie sind ein Elender, Sie haben mich zu einem Verbrechen getrieben!“ rief Cäsar, indem sein Gesicht den Ausdruck des Zornes annahm.

„Großer Gott!“ flüsterte Wilhelmine bestürzt, indem die Stickerei ihren Händen entsank. Dann stand sie auf und trat dem Schlafenden näher. „Sollte die Besorgniß um meine Gesundheit nicht der einzige Grund seiner Traurigkeit sein?“ fragte sie sich.

Cäsar’s hatte sich eine Art Delirium bemächtigt; er fuhr fort, laut mit sich zu sprechen.

„Noch ist es Zeit – ich kann das Portefeuille, das ich gefunden, zurückgeben – dann ist das Verbrechen von mir abgewälzt!“ murmelte er. „Heute noch, heute noch! Man kann mich erkannt haben! Soll Wilhelmine die Gattin eines Diebes sein? O Du mein Engel, die Schande wird Dich früher tödten, als die Krankheit! Ich besitze ja das Portefeuille noch – es steckt in der Brusttasche meines Oberrocks!“

Nach diesen Worten schauderte er heftig zusammen, als ob ihn ein Krampf befiele. Wilhelmine wollte ihn wecken; als sie aber sah, daß er wieder ruhig ward, unterließ sie es. Unter den geschlossenen Augenlidern des Schlafenden quollen Thränen hervor. Auch Wilhelmine begann still zu weinen bei dem Anblicke ihres armen Mannes, denn sie wußte, daß er nur aus Liebe zu ihr sich einer Verirrung schuldig machen konnte. Jetzt erinnerte sie sich der verletzenden Behandlung wieder, die sie von Rudolphi erfahren hatte; sie glaubte sich den Grund derselben erklären zu können. Es war nach ihrer Meinung nicht daran zu zweifeln, daß Elisens Gatte wußte, Cäsar hatte ein Portefeuille gefunden und behalten. Aber warum legte man auf diesen Fund ein so großes Gewicht? Enthielt das Portefeuille werthvolle Papiere?

Leise trat sie in das Schlafzimmer und untersuchte die Brusttasche des Oberrocks ihres Mannes, der auf einem Stuhle lag.

Außer drei Hundertthaler-Banknoten lagen einige kleine Papiere und eine Visitenkarte darin. Auf der Karte standen die Namen „Gottfried Christian Beck.“ Wilhelmine starrte das Blatt an. Sie erinnerte sich, daß Cäsar’s Onkel so hieß. Kein Anderer als er konnte demnach der Besitzer des Taschenbuchs sein. Aber hatte er es auch verloren? Wenn dies der Fall, so mußte er in Leipzig sein, und dies ließ sich annehmen, da sie dem Onkel einen Brief geschrieben hatte.

„Armer Cäsar,“ dachte sie, „wie es scheint, hast Du das Taschenbuch Deines Onkels gefunden, und Dein redliches Herz bereitet sich unnütze Sorgen! Aber sollte er die Karte nicht gelesen haben? Sollte er nicht wissen, wer der Eigenthümer des Portefeuilles ist?“ Neue Zweifel stiegen in ihr auf. Um diese zu beseitigen, gab es kein anderes Mittel, als Cäsar selbst zu fragen. Dann aber würde sie ihm zu erkennen gegeben haben, daß sie um ein Geheimniß wüßte, dessen Bewahrung ihm am Herzen lag. Sie kannte den Charakter ihres Mannes zu genau und vermochte die Folgen zu ermessen, die daraus entstanden, wenn sie sich als Mitwisserin dieser Verirrung zu erkennen gab. Sie beschloß, einen andern Vortheil aus diesem Zufalle zu ziehen. Nachdem sie einige Minuten überlegt, verbarg sie das Portefeuille in der Tasche ihres Kleides. Dann ging sie in das Zimmer zurück, um ihren Mann zu beobachten. Cäsar erwachte nach einer halben Stunde. Mit verstörten Blicken sah er um sich.

Nur mit Anstrengung vermochte er so viel Unbefangenheit zu erkünsteln, als nöthig war, um Wilhelminen den Zustand seines Innern zu verbergen. Die beiden Gatten blieben den ganzen Tag zu Hause. Um acht Uhr Abends ging Wilhelmine in die Küche zu der Magd.

„Ist ein Brief angekommen?“ fragte sie leise.

„Ja, gnädige Frau.“

Die Magd holte ein Couvert aus dem Küchenschrank. Wilhelnime, und Elise hatten nämlich einen Briefwechsel verabredet, der durch die Mägde besorgt wurde, um ihn den Männern geheim zu halten. Die junge Frau las:

„Theuerste Freundin!

„Der Senator Beck aus Bremen ist hier; er hat meinen Othello besucht und von ihm Erkundigungen über Ihren Mann eingezogen. Ich erinnere mich, daß Sie mir gesagt haben, der Senator sei mit Ihnen verwandt. Da mir nöthig scheint, daß Sie von diesem Umstand Kenntniß erhalten, habe ich nicht versäumt, Ihnen auf dem verabredeten Wege diese Zeilen zu senden. Mein Mann verschließt sich seit gestern in seinem Zimmer; wir hören und sehen uns nicht. Nächstens mehr von Ihrer  Elise.“

„Der Onkel ist hier, also gehört ihm das Taschenbuch mit dem Gelde!“ dachte Wilhelmine. „Wohlan, nun kann ich mein Versöhnungswerk vollbringen, und Cäsar’s Fund soll mir dabei behülflich sein.“

Cäsar war wirklich krank, er ging zeitig zu Bett. Schon früh am nächsten Morgen schickte Wilhelmine auf das Fremdenbureau, und ließ die Wohnung des Senators erfragen. Die Magd kam zurück. Auf dem Zettel war das Haus des Doctors Nataß angegeben, das, wie die junge Frau wußte, ganz in der Nähe lag.

Um neun Uhr trat Wilhelmine in das Zimmer ihres Mannes. Er stand im Schlafrocke am Fenster und sah auf die Straße hinaus. Beide Gatten grüßten sich zärtlich wie jeden Morgen. Cäsar sah bleich aus, aber er schien ruhiger zu sein.

„Was mag dort angeschlagen sein?“ fragte er, indem er durch das Fenster auf die Straße zeigte.

Wilhelmine trat zu ihm und sah hinaus. Die Vorübergehenden blieben an der gegenüberliegenden Straßenecke stehen, und lasen begierig einen großen grünen Anschlagzettel.

„Man kündigt vielleicht eine neue Oper oder ein großes Concert an.“

„Ich möchte es wohl wissen!“ murmelte Cäsar.

„Deine Neugierde ist bald zu befriedigen. Ich werde die Magd abschicken, daß sie den Zettel liest.“

Sie ging hinaus. Die Magd, eine schon bejahrte Person, stand vor dem Herde.

„Rosine, an der Ecke unserer Straße klebt ein großer Zettel, – gehe und sieh’ nach, was man ankündigt.“

„Ich habe den Zettel schon gelesen, gnädige Frau.“

„Was kündigt man an?“

„Es ist eine gestickte Brieftasche mit siebenhundert Thalern verloren gegangen.“

„Mit siebenhundert Thalern?“ fragte erschreckt die junge Frau.

Rosine hielt dieses Erschrecken für Erstaunen.

„Ja, gnädige Frau. Und hundert Thaler Belohnung hat man dem ausgesetzt, der sie auf dem Polizeibureau abliefert. Ach, wäre ich die Finderin!“ rief seufzend die alte Magd, indem sie mit dem Blasebalge das Feuer anfachte.

Die junge Frau ging in ihr Zimmer und schloß die Thür hinter sich ab. Dann holte sie das Portefeuille aus dem Kasten ihrer Toilette, öffnete es und prüfte den Inhalt. Er bestand nur aus drei Banknoten hundert Thaler. Entweder war noch ein zweites Portefeuille verloren, oder Cäsar hatte vierhundert Thaler ausgegeben. Wilhelmine glaubte das Letztere annehmen zu müssen, da ihr Mann von einem Verbrechen gesprochen hatte, wozu ihn Rudolphi gedrängt haben solle. Und was konnte ihm außerdem Sorgen bereiten, wenn die Summe noch vollständig wäre? Er hätte in diesem Falle einfach das Gefundene zurückgeben können, und die Sache wäre abgemacht gewesen. Wilhelmine hatte bis jetzt an ein ausreichendes Vermögen ihres Mannes geglaubt – diese unglückselige Angelegenheit veranlaßte sie, das Gegentheil anzunehmen.

„Er ist arm,“ dachte sie, „und nun kann ich mir Manches erklären! Ist es möglich, so soll er nie vor mir erröthen – ich werde im Geheimen handeln! Seine Gemüthsstimmung erheischt die sorgfältigste Vorsicht.“

[411] Sie ging in das Zimmer zurück. Als sie den Gatten bleich und düster vor sich hinblickend in dem Lehnstuhle sitzen sah, hätte sie in Thränen ausbrechen mögen. Die Liebe gab ihr Kraft, ein freundliches Gesicht zu zeigen. Cäsar fragte nicht, aber er sah seine Frau mit unruhig forschenden Blicken an.

„Der Zettel,“ sagte sie, „enthält eine Auktionsanzeige.“

„Nichts weiter?“

„Die Leute sind hier sehr neugierig!“

Man trank die Chokolate. Wilhelmine suchte nach einem Vorwande, um sich zu entfernen; er war bald gefunden. Sie machte eine einfache, geschmackvolle Toilette. Cäsar umarmte sie mit großer Innigkeit, hielt sie aber, gegen seine Gewohnheit, heute nicht zurück. Sie eilte durch die Straßen. An der nächsten Ecke las sie den großen Zettel. Die genaue Beschreibung des Portefeuilles beseitigte den letzten Zweifel. Sie bestieg einen Fiaker und ließ sich nach dem Leihhause fahren. Hier versetzte sie alle ihre Gold- und Schmucksachen, die sie bei sich trug. Sie forderte und erhielt auf die werthvollen Juwelen die Summe von vierhundert Thalern. Nun ließ sich Wilhelmine nach dem Hause des Doctor Nataß fahren. Eine Magd sagte ihr, daß der Senator in dem ersten Stocke wohne. Auf dem Korridor trat ihr der lange Lorenz entgegen – er trug die Reste des Frühstücks seines Herrn.

„Ich möchte den Herrn Senator Beck aus Bremen sprechen!“ sagte Wilhelmine, nachdem sie den alten Diener gegrüßt hatte.

Lorenz sah die reizende junge Frau mit großen Augen an.

„Meinen Herrn?“ fragte er verwundert.

„Den Herrn Senator Gottfried Christian Beck aus Bremen.“

„Ganz recht. Wen habe ich die Ehre anzumelden?“

„Eine Dame, die ihn in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen hat.“

„Nichts weiter?“

„Ich glaube, es wird genügen, um mir Zutritt zu verschaffen.“

Lorenz setzte seinen großen Präsentirteller auf einen Tisch, und ging in das Zimmer. Der Senator hatte bereits Toilette gemacht, denn er wollte ausgehen.

„Eine junge Dame, sagst Du?“ fragte er verwundert.


„Und dabei ist sie so schön, wie ich noch selten eine gesehen habe.“

„Wie ist sie gekleidet?“

„Sehr elegant, Herr Senator. Ich glaube, man darf sie nicht abweisen.“

„Hm! So mag sie eintreten!“

Lorenz ordnete mit geübten Fingern die Cravatte seines Herrn, und bürstete mit einer kleinen Haarbürste, die er aus der Tasche gezogen, die dünnen Haare des dicken Senators, daß sie fest und glatt an den Schläfen lagen.

„Was denkst Du, Lorenz?“

„Ich würde an unsern Neffen denken, Herr Senator, wenn die Dame nicht so mädchenhaft aussähe.“

„Aber ich habe hier keine Bekanntschaften –“

„Nun, wir werden ja sehen.“

Der alte Diener öffnete die Thür und bat Wilhelminen, einzutreten. Im nächsten Augenblicke stand die junge Frau vor dem Senator. Erröthend grüßte sie den Onkel ihres Mannes durch eine graziöse Verneigung. Der Senator dankte mit der Würde eines Senators.

„Mein Herr, Sie haben ein Portefeuille mit siebenhundert Thalern verloren?“ fragte Wilhelmine.

„Wie, ich?“

„Herr Gottfried Christian Beck.“

„Sie kennen meinen vollständigen Namen, mein Fräulein.“

Madame wagte der Senator nicht zu sagen. Wilhelmine ließ sich nicht beirren; sie glaubte an eine Ausflucht des alten Herrn, der ihr jovial genug dazu erschien.

„Verzeihung, mein Herr, dann muß ich mich geirrt haben.“

„Ohne Zweifel. Aber aus welchem Grunde glauben Sie, daß ich ein Portefeuille verloren habe?“

„Weil eine Visitenkarte mit Ihrem Namen darin liegt. Hier ist die Karte.“ Der Senator nahm das kleine vergilbte Blatt.

„Wahrhaftig!“ murmelte er erstaunt, nachdem er die veraltete Schrift gelesen. Dann betrachtete er schweigend einige Augenblicke das Blatt. Plötzlich spiegelte sich in seinem Gesichte eine angenehme Ueberraschung ab.

„Mein Fräulein,“ sagte er hastig, „kann ich das Portefeuille sehen?“

Wilhelmine überreichte es. Die Hand des Senators zitterte ein wenig, nachdem er einen Blick auf die in Perlen gestickten Buchstaben des Deckels geworfen hatte.

„Sie sind der Besitzer nicht?“ fragte die verwunderte Wilhelmine.

Der Senator antwortete nicht; er öffnete das Buch und holte den Inhalt heraus. Die Banknoten legte er auf den Tisch. Die beiden andern, wie Briefe aussehenden Papiere öffnete und las er. Wilhelmine hatte sie aus Discretion unberührt gelassen. Die Lectüre erregte in dem Lesenden eine große Bewegung, und Wilhelmine, die ihn erstaunt beobachtete, glaubte zu bemerken, daß seine Augen feucht wurden.

„Mein Gott,“ murmelte er, „das ist ein wunderbarer Zufall! Mein Fräulein, wo haben Sie dieses Buch gefunden?“

„In der Straße – nicht weit von Ihrer Wohnung.“

„Wann?“

„Gestern Abend. Diesen Morgen fordern große Anschlagzettel den Finder auf, es auf dem Polizeibureau gegen eine Belohnung abzuliefern. Ich zog es vor, die Andeutung dieser Karte zu benützen – –“

„Und Sie haben Recht gethan, denn andernfalls hätten Sie mich eines Vergnügens beraubt, das ich mit mehr als dieser Summe – er deutete auf die Banknoten – zu bezahlen geneigt bin. O, ich bitte, nehmen Sie das Ganze.“

Wilhelmine trat erröthend zurück.

„Verzeihung, mein Herr – Sie sagten, daß Sie nicht der Eigenthümer seien –“

„Es ist wahr!“ antwortete der Senator, sich fassend. „Aber ich ersuche Sie, mich den Finder sein zu lassen. Bestimmen Sie selbst den Lohn für diese Gefälligkeit. Daß dieses Portefeuille dem rechtmäßigen Eigenthümer wieder zugestellt werde, brauche ich wohl nicht zu versichern. Ich bürge Ihnen mit meinem Ehrenworte dafür.“

Die junge Frau konnte sich zwar den Zusammenhang aller dieser Umstände nicht erklären, aber sie ging ohne Zögern auf den Vorschlag des Senators ein, zumal da sie den Hauptzweck erreicht hatte.

„Mein Herr,“ sagte sie, „darf ich mir einen Finderlohn erbitten?“

Der Senator verneigte sich.

„So erlauben Sie mir, daß ich mir diesen Abend eine Quittung über die richtige Ablieferung des Portefeuilles hole.“

„Mißtrauen Sie mir?“

„Nein, mein Herr; aber ich bedarf ihrer zu meiner eigenen Beruhigung.“

„Und darf ich wissen, wer mir die Ehre erzeigt –“

Wilhelmine verneigte sich, und verließ das Zimmer, ohne zu antworten.

„Das ist ein reizendes, aber stolzes Geschöpf!“ dachte der Senator. „Ich habe immer geglaubt, daß der Eigennutz eine Hauptschwäche der Frauen ist – hier finde ich die erste Ausnahme. Wie Schade, daß ich nicht fünfunddreißig Jahre jünger bin!“

Er hüllte sich in seinen Pelz, und verließ, von Lorenz gefolgt, das Haus, nachdem er das Portefeuille zu sich gesteckt hatte. Sein erster Weg war der auf das Polizeiburau, um nähere Erkundigungen über das Portefeuille einzuziehen. Man nannte ihm eine Frau von Jasper und bezeichnete ihm das Haus, in dem sie wohnte.




VIII.

Die Landdrostin hatte so eben mit Susannens Hülfe ihre Toilette beendet; sie stand vor dem Spiegel und legte ein wenig Roth auf die verblühten Wangen. Da ward leise an die Thür geklopft. Die Dame schloß rasch ihr Schminkkästchen und rief mit lauter Stimme „herein!“ Der Senator erschien auf der Schwelle; hinter ihm zeigte sich die lange Gestalt des alten Lorenz. Die Landdrostin fuhr entsetzt zurück, als sie die Gruppe der beiden ihr verhaßt gewordenen Männer sah. Aber auch das Gesicht des Senators verlängerte sich ein wenig bei dem Erblicken der alten [412] Dame, deren Feind er durch das tückische Spiel des Zufalls geworden war.

„Frau von Jasper?“ sagte der Senator, indem er sich verbeugte.

„Ich bin Frau von Jasper!“

Der Herr schloß dem Diener die Thür vor der Nase. Dann trat er der Bewohnerin des Zimmers näher, und sah sie einen Augenblick schweigend an. Frau von Jasper verlor ihre Fassung.

„Mein Herr,“ rief sie, „Ihre Kühnheit artet in Insolenz aus! Bin ich denn in meinem Zimmer nicht mehr sicher vor Ihnen? Giebt es denn kein Mittel, mir Ruhe vor Ihnen zu schaffen? Was wollen Sie?“

„Meine Pflicht als ehrlicher Mann erfüllen – hier ist Ihr Taschenbuch, das ein Zufall, und diesmal ein guter Zufall, in meine Hände gerathen ließ. Nehmen Sie!“

„Das ist wahrlich ein seltsamer Zufall!“ flüsterte überrascht die Landdrostin. „Ich habe dem Finder einen Lohn zugesichert – –“

„Ich leiste nicht darauf Verzicht!“ sagte lächelnd der Senator. „Noch mehr, gnädige Frau: ich habe ihn mir bereits genommen. Prüfen Sie gefälligst das Taschenbuch.“

„Das ist mir lieb!“ rief die alte Dame, indem sie das Buch öffnete. „Jeden Dienst, den man mir leistet, pflege ich zu bezahlen. Aber die Summe ist ja vollzählig? Eine Visitenkarte und zwei Briefchen fehlen – –“

„Diese drei Dinge, gnädige Frau, betrachte ich als den Finderlohn.“

Beide sahen sich einander forschend an. Die Landdrostin gerieth in peinliche Verlegenheit; der Senator lächelte.

„Aber haben die Briefe einigen Werth für Sie,“ fuhr er fort, „so bin ich bereit, sie Ihnen zurückzugeben.“

„Mein Herr, wenn Sie nicht die Absicht haben, Ihren Spott fortzusetzen, so begreife ich nicht, was für ein Interesse Sie leiten kann – –“

„Ich werde Ihnen Aufklärung geben, gnädige Frau! Wenn ein Mann in seinem Leben, und zwar in seinen Jugendjahren, nur zwei Liebesbriefe geschrieben hat, so muß es ihm gewiß von großem Interesse sein, wenn er im Alter diese Briefe, die Ergüsse einer romantischen Schwärmerei, zu Gesichte bekommt. In diesem Falle stehe ich. Ich war drei- oder vierundzwanzig Jahre alt, als ich diese Briefe an die reizende Blandine Witt richtete. Heute finde ich sie in dem Portefeuille der Frau von Jasper. Der Zufall, gnädige Frau, war uns auf der Reise ein tückischer Kobold – jetzt macht er seine Tücke dadurch wieder gut, daß er uns sagt, wer wir uns einander einst waren – denn, bei Gott, ohne diesen Zufall würden wir uns nicht erkannt haben. Wir sind ja seit unserer Trennung um fünfundzwanzig Jahre älter geworden.“

Die Entrüstung der Landdrostin war einer freudigen Überraschung gewichen. Mit bewegter Stimme flüsterte sie: „Demnach wären Sie –?“

Der Senator ergriff ihre Hand, drückte einen zarten Kuß darauf, und antwortete: „Gottfried Beck, einst als junger Commis der glühendste Verehrer der reizenden Blandine.“

„Und Sie haben mich auf der Reise wirklich nicht erkannt?“

„Ich würde sonst früher die Hand geküßt haben, ohne die ich bis zu diesem Augenblicke Garçon geblieben bin.“

Frau von Jasper verneigte sich tief, indem sie flüsterte: „Und ich bin seit einem Jahre Wittwe. Ihre Briefe, Herr Beck, sind mir in den einsamen Stunden meines Wittwenstandes die theuerste Erinnerung gewesen. Wie oft habe ich schmerzlich den Zufall bedauert, der uns trennte. Herr von Jasper war kein Mann für mich – –“

De mortuis nil nisi bene!“ rief der Senator. „Der gute Landdrost ruhe in Frieden!“

„In diesen Wunsch stimme ich von Herzen ein!“ fügte lächelnd die alte Dame hinzu.

Beide setzten sich in den Sopha. Nun folgte ein Austausch von Mittheilungen, die wir übergehen, da sie nicht unbedingt zu unserer Geschichte gehören. Nur das dürfen wir nicht verschweigen, daß Blandine, jetzt Frau von Jasper, einst eine bildschöne Tänzerin gewesen, die neben Pepita de Oliva mit Ruhm bestehen konnte. Gottfried, ein hübscher, blühender Commis, wenn auch ein wenig klein, hatte sich ihrer Gunst im hohen Grade zu erfreuen gehabt, war aber, trotz seiner glühenden Liebe, von dem reichen Herrn von Jasper, der später Landdrost wurde, überflügelt. Der gute Gottfried hatte zu lange mit dem Heirathsantrage gezögert. Zwar hatte er sich stets mit einer Art Wehmuth der ersten Jugendliebe erinnert; aber der Grund, den er seinem Junggesellenthume Frau von Jasper gegenüber untergelegt, war eine Lüge, eine Höflichkeitsphrase gewesen.

Blandine hatte den Zweck ihrer Reise erzählt; Gottfried den seinigen. Beide sahen sich erstaunt an, als sich herausstellte, daß der Neffe des Senators die Tochter der Landdrostin entführt und geheirathet hatte.

„Ist Cäsar wirklich von Adel?“ fragte die erstaunte Dame:

„Sein Vater erhielt den Adel, als er zum Legationsrathe ernannt wurde; es kann Niemand seinen Rang anfechten.“

„So kann Cäsar als Edelmann die Erbschaft seiner Frau antreten. Ach, wäre er nur nicht Spieler, wäre Wilhelmine nicht krank!“

„Ueberzeugen wir uns!“

„Aber wie?“

„Der gerade Weg ist stets der beste – wir wenden uns an die jungen Leute selbst, anstatt auf das Urtheil Anderer zu hören. Mein Wagen steht noch vor der Thür; Sie haben Toilette gemacht – säumen wir nicht, die Sache in’s Klare zu bringen.“

Einige Minuten später trat die Landdrostin am Arme des Senators auf den Corridor. Lorenz und Susanne sahen ihre Herrschaft mit großen Augen an.

„Oeffne den Wagen, Lorenz! Dann bleibst Du hier, bis wir zurückkommen!“ befahl der Senator. „Dem Kutscher sage, daß er uns nach Cäsar’s Wohnung fahre, die Du kennst.“

So geschah es. Der Wagen fuhr ab, und bald zog der Senator die Glocke an Cäsar’s Thür. Gottfried ließ sich von der Magd das Zimmer seines Neffen bezeichnen. Dann trat er, Blandine am Arme führend, ohne Umstände ein. Die beiden jungen Gatten saßen im Sopha; überrascht erhoben sie sich. Aber mehr noch waren die Eintretenden überrascht: der Senator erkannte die reizende Finderin des Portefeuilles und die Landdrostin erkannte den interessanten jungen Mann, den sie bei dem Doctor gesehen und im Verdachte gehabt hatte, ihr Portefeuille gefunden zu haben. Wir fügen noch hinzu, daß sie vergebens bei dem Doctor geforscht, der, wie wir wissen, Cäsar nicht gesehen hatte. Alle waren so überrascht, daß sie vergaßen, zu grüßen. Endlich reichte der Onkel dem Neffen die Hand.

„Cäsar,“ sagte er lächelnd, „stelle mich Deiner liebenswürdigen Gattin vor.“

Aber Cäsar hörte nicht, er starrte die Landdrostin an.

„Madame,“ stammelte er, „Sie haben ein Portefeuille verloren?“

„Zu meinem Glücke!“ antwortete freundlich die Landdrostin. „Es befindet sich bereits wieder in meinen Händen.“

„Genügt Ihnen diese Quittung?“ fragte der Senator, indem er Wilhelminen die Hand küßte.

Die junge Frau verneigte sich.

„Wenn Madame die Eigenthümerin ist“ – flüsterte sie.

„Dafür bürge ich!“ rief der Senator. „Fordern Sie noch immer keinen Lohn?“

„Erwirken Sie mir die Verzeihung meines Mannes –“

„Weshalb zürnt er Ihnen?“ fragte verwundert der Onkel.

„Daß ich ihn des Glückes beraubt habe, seinen Fund in Person zu überreichen; aber ich wollte den Onkel kennen lernen und versöhnen, da ich die Schuld zu tragen glaube – –“

„Madame,“ unterbrach sie der joviale Alte, „sagen Sie meinem Neffen, er sei ein Narr! Soll ich ihm böse sein, weil er eine liebenswürdige Frau besitzt? Hätte ich den Muth gehabt, eine Entführung zu unternehmen, ich wäre vielleicht heute ein glücklicher Ehemann. Frau von Jasper wird die Güte haben, dies zu bestätigen.“

Statt zu antworten, trat die Landdrostin zu Wilhelmine, ergriff bewegt ihre Hände und küßte sie.

„Der Herr Senator hat Recht!“ flüsterte sie dann unter Thränen. „Der Entführer hat die Verzeihung des Onkels – ich bringe der Entführten die Verzeihung der Mutter.“

Cäsar stand wie träumend da; er begriff Nichts von den Dingen, die sich vor seinen Augen ereigneten. Wie durch einen Schleier sah er, daß die Landdrostin sich ihm näherte.

[413]

General Walker.


„Wir haben uns in dem Vorzimmer des Doctors gesehen, Herr von Beck.“

„Ganz recht, ich wollte ihn wegen meiner Frau befragen.“

„Halten Sie Wilhelmine wirklich für krank?“

„Sehen Sie denn nicht, wie bleich sie ist? Man muß sie länger beobachten, um ihren Gesundheitszustand zu begreifen.“

Während dieser Zeit hatte Wilhelmine mit dem Onkel leise geflüstert.

„Er ist Hypochonder,“ murmelte der Alte; „wir werden ihn bald heilen. Cäsar, ich habe mit Dir zu reden,“ rief er; „aber nicht in diesem Boudoir, sondern in Deinem Zimmer.“

Onkel und Neffe entfernten sich. Die beiden Frauen waren allein.

„Mein liebes Kind,“ begann die Landdrostin, „ich benutze diesen Augenblick, um mit Ihnen von Ihrer Mutter zu sprechen. So lange Sie denken können, befanden Sie sich bei Madame Bertram. Diese Frau aber war nicht Ihre Mutter, sondern nur Ihre Erzieherin. Vor einiger Zeit schrieb Ihr Mann an seine vermeintliche Schwiegermutter, und zeigte ihr an, daß Sie krank seien. Diese Nachricht erfüllte Ihre wirkliche Mutter mit um so größerm Schmerze, da sie durch den Tod Ihres Vaters erst jetzt im Stande ist, Ihnen ihre ganze Liebe zu widmen. Staunen Sie nicht darüber, denn Ihr Vater war der seltsamste Mensch der Erde – er setzte Zweifel in die Treue seiner Gattin und verstieß seine beiden Töchter. Aus Liebe zu ihren Kindern willigte sie in diese Trennung, denn sie war das einzige Mittel, den halb wahnsinnigen Herrn von Jasper abzuhalten, sein Vermögen einem Seitenverwandten zu vermachen. Wilhelmine, Ihre Mutter war nur vorsichtig, nicht hartherzig – hätte sie Ihren Aufenthalt früher gewußt, sie würde früher gekommen sein, um Ihnen zu sagen, daß sie Ihnen ein großes Vermögen gerettet hat! Ich bin die Universalerbin des Herrn von Jasper, und die Welt kann nun erfahren, daß Sie – meine Tochter sind!“

Die junge Frau sank weinend in die ausgebreitetnn Arme der Landdrostin; Secunden verflossen, ehe sie eines Wortes mächtig war. Dann flüsterte sie hastig: „Sie sagten, ich habe noch eine Schwester?“

„Sie ist um drei Jahre älter, als Du. Leider kenne ich ihren Aufenthalt nicht, ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt. Mein Bruder, ein armer Schauspieler, ist seit langer Zeit mit ihr verschwunden.“

„Wie hieß Ihr Bruder?“ fragte Wilhelmine zitternd.

„Alexander Witt!“

„Alexander Witt war der Pflegevater meiner Freundin Elise – sie hat mir oft von dem armen Schauspieler erzählt, der sie gebildet hat. Ach, und ich wußte nicht, daß er der Bruder meiner Mutter, und daß Elise Rudolphi meine Schwester ist.“

„Meine älteste Tochter heißt Elise!“

„Sie ist die Gattin eines reichen Mannes.“

Nachdem der erste Erguß mütterlicher und kindlicher Liebe vorüber war, stellten die beiden Frauen ruhige Erörterungen an, und es unterlag keinem Zweifel mehr, daß Elise und Wilhelmine die Kinder der Landdrostin waren. Das Erstaunen Cäsar’s läßt sich nicht beschreiben.

„O über den Zufall!“ rief lächelnd der Senator. „Demnach hat Herr Rudolphi seinen eigenen Schwager verleumdet!“

„Aus Eifersucht!“ rief Wilhelmine. „Er mißtrauet Elisen –“

„Wie Herr von Jasper seiner Frau!“ fügte die Landdrostin hinzu.

Eine Stunde später hatte Wilhelmine ihrer Freundin und Schwester das Geheimniß mitgetheilt. Noch befanden sich Beide unter dem ersten Eindrucke dieser frohen Entdeckung, als Bernhard eintrat. Er trug einen Brief in der Hand, den ihm der Senator geschrieben hatte. Als er die beiden Frauen sah, die sich weinend umschlungen hielten, blieb er an der Thüre stehen. Wilhelmine näherte sich ihm, ergriff seine Hand, und sagte:

[414] „Sie haben mich aus Liebe zu meiner Schwester beleidigt – ich verzeihe Ihnen, ohne daß Sie mich darum bitten.“

Dann führte sie ihn zu Elisen, die ruhig an ihrem Platze geblieben war.

„Elise,“ sagte er, „Cäsar’s Onkel giebt mir in diesem Briefe eine Aufklärung, die mich mein Unrecht gegen Dich vollkommen einsehen läßt. Wilhelminens Gatte fehlte aus Liebe zu seiner Frau –“

„Und Du, Bernhard, aus Liebe zu mir!“ rief Elise, indem sie aufstand und sich an seine Brust warf. „Du siehst Dein Unrecht ein, darum schweigen wir von der Vergangenheit.“

„Aber der Scheidungsproceß?“ fragte Bernhard.

„War Project, und wird auch wohl Project bleiben!“

Ein glänzendes Abendessen vereinigte alle Personen unserer Erzählung in dem Salon Bernhard Rudolphi’s. Selbst der lange Lorenz und Susanne speisten mit den Domestiken. Die Landdrostin schilderte mit geläufiger Zunge die Leiden ihrer Ehe.

„Nehmen Sie ein Beispiel daran, meine Herren,“ schloß sie; „der Zufall fügt nicht immer eine glückliche Lösung der Dinge.“ Cäsar drückte Wilhelminens Hand und flüsterte:

„Du hast mich vor mir selbst gerettet! Hätte ich mich früher Dir offen anvertraut!“

Bernhard küßte seine Gattin; dann sagte er ihr leise in’s Ohr: „Ich werde mich hüten, in die Fußtapfen des Landdrosts zu treten!“

„Blandine,“ flüsterte der Senator, „es ist schade, daß wir nicht fünfundzwanzig Jahre jünger sind!“

„Der Zufall, mein Freund, bewirkt viel; aber eine solche Umwandlung vermag er nicht hervorzubringen. Freuen wir uns der Erinnerung, und verjüngen wir uns in unsern Kindern!“

Acht Tage später saßen Gottfried und Blandine friedlich in einem Coupé erster Klasse; sie fuhren nach Braunschweig zurück.

„Rauchen Sie!“ sagte lächelnd die Landdrostin.

„Und Sie?“

„Ich werde über die Spiele des Zufalls nachdenken.“




General Walker und die Filibusters in Central-Amerika.
(Mit dem Portrait Walker’s.)

Die Welt ist um einen Herrscher reicher geworden, zwar nicht mehr auf ungewöhnlichem, aber doch auch zugleich eigenthümlichem Wege. Ein ehemaliger göttinger Student, Walker, General Walker, Dictator Walker, hat ein Land erobert und anderer Leute Länder ebenfalls so gut wie unterworfen. Mindestens ist er absoluter Herrscher über die Republik Nicaragua, und als solcher von der Regierung der vereinigten Staaten von Nordamerika anerkannt worden. Wir wissen, daß dieser Umstand allein eine wichtige Rolle in dem drohenden Kriege zwischen Amerika und England spielt. Ein solcher Krieg könnte leicht zur welthistorischen Tragödie werden, wofür wir Alle theuer bezahlen müßten. Aber auch abgesehen davon, ist Walker’s Eroberungszug mit einer Heerde „Filibusters“ geschichtlich interessant genug und ein merkwürdiger Ausfluß unserer modernen Civilisation überhaupt. Zwar nahmen auch von jeher andere Herren, die Länder erobern wollten, die Leute dazu, wo und wie sie dieselben eben kriegen konnten und schlugen damit zu, so derb und erbarmungslos, als in ihren Kräften stand; aber die Filibusters sind eine so charakteristische Produktion unserer Zeit, daß man sie nicht mit den geworbenen, gekauften, gestohlenen und geraubten Truppen früherer Eroberer und Potentaten vergleichen kann. Die Filibusters sind Freiwillige, Freiwillige aller Nationen, ein kosmopolitischer Auswurf und Sauerteig aus allen Ländern, Völkern und Farben zusammengeworfen und in Gährung übergehend. Wir wissen von den Chemikern, daß es verschiedene Gährungen giebt, faule, weinige, zersetzende, tödtende, belebende und producirende. Es hängt von der Geschichte und den Leitern derselben ab, ob solche Gährungen in menschlichen Angelegenheiten tödten oder beleben. Man sieht also, daß Walker schon deshalb eine wichtige Person ist. Wer ist er? Und was heißt das eigentlich: Filibusters?

Sie selbst halten sich an folgenden Stammbaum ihres Namens. Bald nach Entdeckung Florida’s durch die Franzosen überfielen Spanier eine Befestigung derselben an der Küste und metzelten die ganze Besatzung nieder. Die Franzosen machten „Wurst wieder Wurst“ und schlachteten deshalb die Spanier ein. Ihre Rache-Expedition fuhr am Kap Finisterre ab, dessen Namen sie nicht recht verstanden haben mochten, so daß sie es in ihrem Berichte Finibuster und ihre überall her zusammengerafften Leute Finibusters nannten, woraus später Filibusters wurden. Doch das ist Nebensache. Filibusters sind jetzt Leute, die sich rücksichtslos und ohne Moralitäts- und Maturitätszeugnisse, ohne Tauf- und Pockenimpfungsschein, sogar ohne Paß und polizeiliche Reiseroute aus allen Gegenden, Ständen, Völkern und Racen zusammenfinden, um sich irgendwie mit gemeinschaftlichen Kräften durch die Welt hindurchzuschlagen. Ihre Richtung, ihr Erfolg, ihre Tugenden oder Schandthaten hängen wesentlich von ihrem Räuberhauptmann ab, der den ausgeworfenen, des Vaterlandes, der Freunde und Verwandten und sonstiger sittlicher und persönlicher Beziehungen beraubten Individuen erst wieder Farbe, Bestimmung, Charakter, Eigenthum, „Vaterland“ und Stellung geben soll und will. Ohne Concentration unter einem Führer und Fürsten landstreichern sie in aller Welt umher, Zigeuner der Civilisation, und suchen in polizeiwidriger Freiheit, im Kampfe mit Polizei, Gesetz und Paßvisitatoren, im Gebrauch starker, gesunder Glieder und rebellischer Grundsätze Ersatz für die ihnen versagten Güter von „Häuslichkeit, Bürgerwohl und Familienglück.“ So lange sie leben, finden sie irgendwie Lebensmittel, und wenn sie sterben, machen sie sich auch nicht viel daraus, da einem ein solches Unglück nicht zum zweiten Male passiren kann. Sie nomadisiren und zigeunern am häufigsten und liebsten da umher, wo das Auge der Polizei durch Busch und Wald, Wüste und Wildniß beschränkt wird, im Innern Amerika’s, in Californien, unter den Hinterwäldlern, um die Säume von Städten, und sind immer gleich bei der Hand, wenn etwas unternommen werden soll, wozu ein weites Gewissen, starke, gesunde Glieder, Trotz gegen Polizei, Moral und Gesetzbuch gehören. So handeln sie gelegentlich mit verbotenen Einfuhrartikeln, mit geschmuggelten Cigarren, mit Sklaven und sonstigen Dingen, wozu Courage gehört und die deshalb auch einen guten Profit abwerfen.

Walker ist ein geborner Amerikaner aus Tenessee, wohin seine schottischen Vorfahren ausgewandert waren. Seine Eltern bestimmten ihn zur Jurisprudenz und ließen ihn durch Europa reisen und in Göttingen studiren. Er lernte Deutsch, Französisch, Spanisch, Italienisch zu seinem Englisch, und konnte deshalb gleich mit jedem Rekruten, der sich einfand, so zu sagen „Deutsch“ reden. Das machte ihn den Repräsentanten jeder Nation gleich von vorn herein populär. Von Göttingen ging er nach Paris, um dort Medicin zu studiren. „Drüben“ hielt er sich eine Zeit lang in New-Orleans auf und schrieb Broschüren und für Zeitungen. Doch hielt er’s auch da nicht lange aus. Um seinem unruhigen Blute und Streben neue Nahrung zu geben, machte er die Heldenreise von New-Orleans nach San Franzisko über Land, über tausend Meilen Wüste und Wildniß, schrieb dort wieder für Zeitungen und etablirte sich bald darauf in Marysville als Jurist.

Da aber „Recht und Gesetz“ oft nur Gewalt in Form der List, in Papier-Paragraphen gewickelte Waffe ist, entschied sich Walker bald für Gebrauch derselben ohne Papier. Er ging unter die „Rebellion“ der Einwohner von Sonora in Unter-Californien gegen Santa Anna, den republikanischen Tyrannen von Mexiko. Er schlug und verlor als Kommandant einer Insurgenten-Abtheilung mehrere Schlachten und zog sich aus seiner zerstreuten Armee nach San Franzisko zurück. Hier bereitete er seinen Filibuster-Zug gegen Central-Amerika vor, das nach seiner Meinung (in welche die Amerikaner stolz einstimmen) aus den Händen fauler, stolzer, verkommener Spanier dem Fleiße, der Intelligenz und dem Unternehmungsgeiste der „anglosächsischen Race“ übergeben und gewonnen werden müsse. So segelte er am 5. Mai 1855 mit einer kleinen Schaar Amerikaner, Deutscher, Irländer, Italiener, [415] Juden, Polen und Franzosen von San Franzisko nach Nicaragua ab, um der gegen ihre spanische Obrigkeit rebellirenden Bevölkerung zu Hülfe zu kommen. Er eroberte die Hauptstadt von Nicaragua, Granada, nannte sich General Walker, setzte den alten Präsidenten ab und dafür Don Patricio Rivas ein und schloß mit der abgesetzten Regierung Frieden, deren Kommandant Corval sich ihm auslieferte. Dies hielt den neuen Herrn, jetzt Generalissimus aller Truppen von Nicaragua nicht ab, den besiegten Feind erschießen zu lassen, eine Praxis, die er gegen alle spätern Kriegsgefangenen, z. B. die von Costa Rica, schonungslos ausüben ließ.

Auch unter seiner eigenen Armee war von Gnade keine Rede. Mehrere Deutsche erhob er durch höhere Stellen, Andere auch durch den Strang.

Nach Unterdrückung des legitimen Aufstandes der Costa Ricaner gegen Walker (die unterlagen trotz der geheimen Unterstützung von Seiten der palmerston-clarendon’schen Diplomatie) war und blieb er bis jetzt Herrscher in Nicaragua. Die amerikanische Regierung, anfangs zögernd, ihn anzuerkennen, nahm endlich den von Walker nach Washington geschickten Gesandten an und somit auch die walker’sche Regierung als eine „bestehende“.

„Wir erkennen alle Regierungen an,“ sagte Präsident Pierce, „ohne nach der Art ihrer Entstehung zu fragen, sobald solche Regierungen de facto von dem Volke der betreffenden Regierung anerkannt wurden.“

Nordamerika ist Walker’s Magazin für Central Amerika, das über ein Kleines zu den „vereinigten Staaten“ gehören mag. Und das ist keine Kleinigkeit. Die fünf central-amerikanischen Republiken Guatemala mit 850,000), San Salvador mit 395,000, Honduras mit 350,000, Nicaragua mit 300,000 und Costa Rica mit 125,000, zusammen mit 2,020,000 Seelen sind zwar mit dieser dünnen, faulen Bevölkerung noch nicht viel werth, aber innerhalb der 155,000 englischen Quadratmeilen ihres Bodens schwelgt ein Reichthum der Natur in der Hoffnung auf Erlösung und Verbrauch und Genuß durch Menschen, der fabelhaft klingt und für 100 Millionen Menschen mehr als hinreichend sein mag. Kostbare Hölzer und Mineralien, Antilopen, Bergkühe, Affen, Racoon’s, schwarze Tiger, Tigerkatzen und unzählige andere Thiere und Schätze schlummern und verwildern jetzt über die üppigsten, wärmsten Menschenöden hin.

Nach Humboldt giebt ein Acker von Pisang-Palmen in Central-Amerika an Masse eben so viel Speise (was von nährendem Stoff wohl zu unterscheiden ist), als bei uns 133 Acker Weizen liefern. Das Land vereinigt in üppiger Fülle fast alle Pflanzen und Früchte gemäßigter und heißer Zonen. Die centralamerikanischen Territorien können, wenn einst kultivirt und bevölkert, alle alte und neue Welt doppelt mit Kolonial-Produkten und sonst allen möglichen Gütern versehen.

Was den Mann betrifft, der angefangen hat, diese Paradiese der „geldmachenden“ Race aufzuschließen, so können wir ihn nicht nach unserm Katechismus und Landrecht abthun, schon deshalb nicht, weil wir, wie auch die Nürnberger, Keinen hängen, den wir nicht vorher gekriegt haben. Warten wir, bis er selbst einen Katechismus gemacht. Das thun ja die Eroberer immer, selbst sehr loyale und christliche, wie die Engländer in Indien, die Franzosen in Algier und da wo der Pfeffer wächst und die Transportirten sterben. Bis jetzt begnügen wir uns, ihn mal anzusehen, wie er im Frühlinge vorigen Jahres von Herrn Wance in San Franzisko photographirt und danach copirt und in Holz geschnitten ward. Hat er nicht etwas Lord Byron’sches und Napoleon’sches dazu? Schmale, harte, gepreßte Lippen, blaues aber grausames, strenges Auge, straffe, erbarmungslose Züge. Ganz der Mann, um entweder Andere zu erschießen oder erschossen zu werden. Sollte er einst ein großer Mann, vielleicht gar eine Majestät geworden sein, welche himmlische Züge werden dann die Hochzeitsschreiber in dieser Physiognomie finden! Fehlt es doch jetzt schon nicht an Republikanern in Amerika, die mit Bewunderung von seiner „geheimnißvoll anziehenden, gewinnenden, zarten Persönlichkeit“ singen, von „lichten, blauen Augen und gedankenvollem Ausdruck.“ Er wird immer schöner und geistreicher und tugendhafter werden, je mehr er todtschießt und an Macht gewinnt.

Einen Herrscher, der durch viel schlimmere Mittel zur Macht kam, und Anfangs in der englischen Presse wie das scheußlichste Geschöpf der Erde behandelt ward, fand man nach und nach immer erträglicher, endlich einen Abgott in ihm und in den Portraits, die von ihm gegeben wurden, wurde er immer schöner, jünger, unschuldiger, tugendhafter, majestätischer, bis sie eine Zeit lang nicht anders von ihm sprachen, als in den Staub geworfen vor einem gottgesandten Erlöser und Retter. Es darf uns also weiter nicht geniren, wenn der vor Kurzem noch unter dem Titel: „Hauptmann einer abgerissenen und zusammengeflickten Lumpenbande“ figurirende Walker mit zunehmender Macht auch an Titeln und Orden zunehmen sollte und Palmerston, der gegen ihn geheimnißvoll Waffen lieferte, dessen Gesandten mit der Versicherung empfing, daß es ihm zur höchsten Ehre gereiche, im Namen Englands die Versicherung vorzüglicher Hochachtung und treuer Freundschaft aussprechen zu können. Alles schon dagewesen, sagt Ben-Akiba.




Das Haus- und Zimmerturnen.

Der Mensch ist, genau betrachtet, zur Zeit doch noch ein recht närrischer Kerl, voller komischer Rücksichts- und Schicklichkeitsansichten, zusammengesetzt aus Vorurtheilen, Aberglauben und Unglauben, mit unbesiegbarer und leichtsinniger Liebe zur Ruhe und Bequemlichkeit, das allgemeine Beste der Menschheit immer nur wollend, aber wegen des eifrigen Strebens nach eigenem Wohlbefinden nicht energisch fördernd. Kurz ein Geschöpf, was in der Zukunft noch ganz anders werden muß, wenn es seine, ihm vermöge seiner Organisation zugehörige Stellung in der Natur ordentlich ausfüllen will. Recht deutlich zeigt sich dieser jetzige Menschencharakter auch, wenn auf das Turnen (in zweckmäßigen und, bei unserer jetzigen Civilisation ganz unentbehrlichen Körperbewegungen bestehend) die Rede kommt und dieses zur Erhaltung und Erreichung der Gesundheit anempfohlen wird. Was für Gründe werden da nicht von den Meisten hervorgesucht, um sich oder die Ihrigen davon loszumachen, obschon sie das Turnen nur vom Höhrensagen kennen. Es macht garstige starke Hände, dicke Knöchel und eine plumpe Figur, behaupten die Mütter von Töchtern; – die gehörige Aufsicht über unsere Kinder fehlt auf dem Turnplatze und unsere Kinder sind lebhaft (d. h. ungezogen); – das Turnen schickt sich für uns Frauen nicht; – meine vielen Geschäfte gestatten mir nicht zu turnen; – ich bin schon zu alt und steif dazu; – warum soll ich denn noch turnen, ich bin ja gesund; – die Gesellschaft auf dem Turnplatze gefällt mir nicht, sie ist zu gemischt; – ich habe früher einmal geturnt, aber es bekam mir nicht; – man muß sich ja schämen, wenn man die Uebungen nicht so gut wie die Andern machen kann; – es könnte ein falsches Licht auf mich fallen, wenn ich den Turnplatz besuchte, das Turnen ist doch immer noch mißliebig u. s. f.

Alle diese Ausflüchte sind hohle Redensarten und Lügen, um theils die Faulheit, theils die Eitelkeit und Furcht zu bemänteln. So viel Zeit kann gewiß Jeder erübrigen, um wöchentlich einige Mal zweckmäßige und seiner Gesundheit dienliche Turnübungen vorzunehmen, da doch zum Biertrinken, Kartenspiel, Thee- und Kaffeeklatsch u. s. f. immer genug Zeit gefunden wird. Was aber das Alter und Geschlecht betrifft, so ist das Turnen, wenn es nur dem Körper richtig angepaßt wird, ebenso für den Greis, wie für Mädchen und Frau vortheilhaft. Es macht übrigens auch, sobald es nicht einseitig betrieben wird, den Körper nicht unschön oder plump, sondern schön, erhält jung und schafft dem Gesunden eine dauerhaftere Gesundheit auch noch für seine spätere Lebenszeit. Wem das Turnen schlecht bekommt, der trieb dasselbe falsch; der Ehrgeiz beim Turnen darf nur nicht zu Gesundheitswidrigkeiten verführen; alte Herren müssen nicht Herkulese und Springinsfelde werden wollen, Matronen nicht Backfische (so heißen bei uns zu Lande die Mädchen, welche zwischen Schulmädchen und Jungfrau [416] mitten inne stehen), ausgemergelte knickbeinige Wüstlinge nicht stramme Burschen u. s. f. – Ueber die Vortheile des Turnens und über die Vorsichtsmaßregeln dabei s. Gartenlaube 1855. Nr. 7.).

Um nun Denen, die einen Turnplatz nicht besuchen wollen oder können, doch die Vortheile des Turnens auf etwas bequemere, aber jedenfalls nicht ganz so zweckmäßige und unterhaltende Weise wie auf einem Turnplätze zu Theil werden zu sehen, rathen Wir hiermit das Haus- und Zimmerturnen an, was recht gut ebenso vom Einzelnen, wie von einer ganzen Familie, ebenso im Thé und Café gymnastique von Damen, wie bei Spiel- und andern Kränzchen von Herren vorgenommen werden kann. – Hierbei ist, meines Erachtens, zuvörderst und hauptsächlich auf solche Bewegungen Rücksicht zu nehmen, welche die zur Ernährung (zum Stoffwechsel oder Leben) unseres Körpers unentbehrlichsten Processe, wie den Blutlauf, das Athmen und die Verdauung, kurz die Thätigkeit der Organe in der Brust- und Bauchhöhle, fördern. Denn Störungen in diesen Organen und in deren Thätigkeit sind es, welche den allermeisten Leiden zu Grunde liegen und bei unserer jetzigen Lebensweise so sehr leicht zu Stande kommen. Auf die genannten Organe (die glücklicher Weise von einer Menge willkürlich zu gebrauchender Muskeln umgeben sind) und Lebens-Processe können aber bestimmte Bewegungen ebensowohl unmittelbar, physikalisch (durch Druck der thätigen Muskeln auf die Ernährungsorgane und Blutgefäße), wie mittelbar, durch die Nerven (mittels Ueberstrahlung, Reflex oder Sympathie zwischen den Nerven der thätigen Muskeln und denen der Ernährungsorgane), bethätigend einwirken. Nur glaube man ja nicht etwa was die meisten gymnastischen Heilkünstler, welche womöglich für jede einzelne Beschwerde einen bestimmten Bewegungs-Hokuspokus erdacht haben, sich einbilden, daß nämlich durch die Zusammenziehung dieses oder jenes Muskels eine ganz besondere Wirkung auf dieses oder jenes innere Organ ausgeübt werden könne. Die Wirkung fast aller Bewegungen ist, wenn man von der Kräftigung der thätigen Muskeln absieht, immer nur eine mehr allgemeine und die dem Stoffwechsel dienenden Processe fördernde, höchstens können die Zusammenziehungen gewisser Muskelgruppen den einen oder den andern Proceß vorzugsweise und in höherem Grade bethätigen, als den andern.

Damit nun beim Hausturnen den meisten willkürlichen Muskeln (s. Gartenlaube 1856. Nr. 18.) ihr Recht werde, sollte man zunächst alle, in allen (wenigstens größern) Gelenken möglichen Bewegungen ausführen. Dies könnte so geschehen, daß entweder blos in einem Gelenke auf einmal oder in mehreren Gelenken gleichzeitig Bewegungen gemacht werden; in letzterem Falle könnten auch die Bewegungen in verschiedenen Gelenken verschiedene sein (z. B. Beugen des rechten Armes und Strecken des linken Fußes gleichzeitig u. s. f.).

Die einfachsten Bewegungen (Freiübungen im Stehen), welche in den einzelnen Gelenken der verschiedenen Körperabtheilungen, und wenn sie nützen sollen, mit allmälig steigender Kraft und Dauer ausgeführt werden müssen, sind folgende: der Kopf ist vor- und abwärts zu neigen (beugen), rückwärts zu ziehen (strecken), seitwärts zu beugen, in einem Halbkreise zu drehen und auf dem Halse zu kreisen (d. i. einen Kreis beschreiben); – die Wirbelsäule muß vorwärts, rückwärts und seitwärts gebeugt und gedreht werden; – das Becken läßt sich auf den Köpfen der feststehenden Oberschenkel nach vorn, hinten und seitwärts bewegen, sowie etwas nach den Seiten drehen; – die Achsel kann vor-, hinter-, auf- und abwärts gezogen werden; – der Oberarm ist (im Achselgelenke) nach vorn und hinten zu heben, vom Rumpfe ab- und an denselben anzuziehen, nach aus- und einwärts zu rollen und zu kreisen; – der Vorderarm läßt sich (im Ellenbogengelenke) nur beugen und strecken; – die Hand kann (im Handgelenke) nach ihrem Rücken hin (gestreckt), nach der Hohlhand zu (gebeugt), nach dem Daumenrande (abgezogen) und kleinen Fingerrande (angezogen) bewegt werden, zugleich aber auch (durch das Rollgelenk des Vorderarmes) nach aus- und einwärts gedreht, sowie gekreist werden; – die Finger lassen sich im Mittelhand-Fingergelenke beugen und strecken, an- und abziehen, und kreisen; in den einzelnen Fingergelenken aber nur beugen und strecken; – der Oberschenkel ist (im Hüftgelenke) zu beugen, strecken, an- und abzuziehen, ein- und auswärts zu rollen, und zu kreisen; – dem Unterschenkel ist (im Kniegelenke) fast nur Beugung und Streckung gestattet; – der Fuß kann (im Fußgelenke) gebeugt und gestreckt, an- und abgezogen, sowie gekreist werden. – Während und zwischen diesen Bewegungen ist der Athmungsproceß, gleichzeitig aber auch der Blutlauf im Unterleibe, so wie mittelbar die ganze Circulation des Blutes, durch tiefe, langsame und kräftige Ein- und Ausathmungsbewegungen zu unterstützen; natürlich muß auch auf eine gute (gerade, straffe und schöne, nicht steife) Haltung des ganzen Körpers dabei gehörig geachtet werden.

Was nun die Bewegungen betrifft, die vorzugsweise auf die Bauch- und Brustorgane einwirken, so würden für die ersteren besonders das Rumpfbeugen und Rumpfstrecken, überhaupt die Rumpfübungen und diejenigen Bewegungen von Vortheil sein, welche mit Zusammenziehungen der Bauchmuskeln (die sich durch Straff- und Hartwerden der Bauchwand zu erkennen geben) verbunden sind. Der Brust dagegen sagen außer den Athembewegungen, hauptsächlich die Schulter- und Oberarmübungen zu, demnach solche Bewegungen, welche zur Erweiterung der Brusthöhle und Kräftigung der Athmungsmuskeln beitragen. – Um nun aber Abwechselung und allmälige Steigerung an Kraft und Geschicklichkeit in die Turnübungen zu bringen, werden dieselben auch als Freiübungen im Liegen, Gehen und Laufen, Hüpfen und Springen, sowie mit Handgeräthen (Stäben, Schwungseil, Kautschukstränge, Hanteln) und an Geräthschaften (an Leiter, Reck und Barren) ausgeführt. – Auf diese Uebungen nur im Allgemeinen aufmerksam zu machen, sowie dem Leser, zumal wenn er eine sitzende Lebensweise führt und mit seinem Unterleibe uneins ist, die beiden für das Haus- und Zimmerturnen empfehlenswerten Schriften zu bezeichnen, nämlich: „Schreber’s ärztliche Zimmer-Gymnastik“ und „Kloss’s weibliche Hausgymnastik“, ist der Zweck dieses Aufsatzes.
Bock. 




Eine Begebenheit aus Beranger’s Leben.

Es ist wohl als allgemein bekannt anzunehmen, daß der Dichter Beranger in Paris, der liebliche Chansonnier, dessen Lieder in Frankreich in Aller Munde klingen, nie reich war. Er hat in Tagen, wo ihn hohe Gunst mit Wohlthaten überschütten wollte, mit der edelsten Uneigennützigkeit seine Freiheit gewahrt, und abgewiesen, was ihm geboten wurde. Seinen Bedürfnissen entsprach sein bescheidenes Einkommen jederzeit, und immer hatte er noch übrig, um reichlicher als solche, die in Fülle hätten geben können, die Nothleidenden im Stillen zu unterstützen. So ist manche Thräne von dem edeln Dichter getrocknet worden, ohne daß die, die sie geweint, die Hand der helfenden Liebe kannten, und wenn je von Einem, so galt von ihm selbst, was er in einem seiner Chansons sagt:

„Er bringt die Freude in der Armen Hütte“
„Und schützt vor Langeweile den Palast.“

Es war im Spätherbste des Jahres 1827, als eines Tages Beranger in einem Kaffeehause der Vorstadt Saint Germain in Paris, bei einer Tasse Kaffee saß, sein kurzes irdenes Pfeiflein, wie es die Franzosen lieben, rauchte, und in einem Zeitungsblatte las. Jeden Tag, um dieselbe Stunde, pflegte er da einzusprechen. Die Wirthin kannte ihn wohl, und viele der Gäste auch, aber man ehrte zu sehr den allgemein geliebten Dichter, um ihn zu belästigen. Das würde ihn auch sicher vertrieben haben, und die Wirthin mochte guten Grund haben, das nicht zu wünschen, da Mancher unter den Gästen nur darum ihr Kaffeehaus besuchte, weil er Beranger dort zu sehen hoffen durfte.

Gerade, als Beranger sein Pfeiflein gezündet hatte, tritt ein schönes Kind von etwa dreizehn Jahren schüchtern herein und spricht leise mit der Wirthin. Der wohlklingende Ton der Stimme des Kindes macht Beranger aufmerksam. Er blickt über sein Zeitungsblatt weg nach dem Kinde und hört schärfer hin, weil des Kindes Stimme durch Weinen unterbrochen wird. Jetzt sieht er, [417] wie dicke Thränen, Perlen gleich, über des Kindes bleiche Wangen rollen, und bemerkt, daß sein Anzug, zwar reinlich, aber höchst dürftig ist. Sie erzählt der Wirthin, wie ihre arme Mutter, monatelang krank, die Miethe ihres Zimmers nicht habe zahlen können, und wie nun der hartherzige Vermiether sie aus dem Hause getrieben habe, aber all’ ihre Habseligkeiten behalte, um sich zu entschädigen. Das Kind erzählte sein Leid so rührend, so wahr, so ergreifend, daß in Beranger’s Auge eine Thräne trat. Er legte still sein Zeitungsblatt aus der Hand, leerte seine Tasse, legte seine Pfeife sorgfältig in das Etui, nahm seinen Hut und entfernte sich unbemerkt. Die Wirthin beschenkte das Kind und versprach selbst nachzusehen, und das Kind entfernte sich langsam, die Thränen trocknend, die es der Welt nicht zeigen mochte. Beranger erwartete es unten auf der Straße, folgte ihm von Ferne und trat sogleich hinter ihm zu der armen Wittwe, die händeringend in dem engen Stübchen des Portiers stand, umgeben von ihren weinenden Kindern.

Mit einer herzgewinnenden Freundlichkeit tritt er zu der Trostlosen, beruhigt sie und bittet den Portier, ihr den Aufenthalt in seinem Stübchen nur so lange zu gewähren, bis er wiederkommen würde. Als ihm dies zugesagt war, entfernte er sich eilig. Ein Lohnkutscher brachte ihn zu seiner Wohnung. Nach kurzem Aufenthalte fuhr er weiter, und hielt an einem großen Gebäude an, in dem viele Arbeiterfamilien in der Miethe wohnten, wie sie in Paris so häufig gefunden werden. Es hielt ihm nicht schwer, eine Wohnung zu miethen, welche gleich bezogen werden konnte, und als dies Geschäft beendigt war, fuhr er wieder nach der Straße zurück, wo angstvollen Herzens die Unglücklichen seiner Rückkehr harrten. Wie freudig hoben sich die Herzen als er lächelnden Antlitzes in das Stübchen des Portiers trat und ihnen verkündete, er werde sie bald wieder in eine bequeme Wohnung geleiten. Ohne sich aber eine Erholung zu gönnen, eilte er zur Wohnung des Hausvermiethers, die eine Stiege höher lag. Hier zahlte er den dreimonatlichen Miethbetrag der armen Wittwe, und nöthigte dadurch den hartherzigen Menschen, die geringfügigen Besitzthümer und Mobilien der armen Wittwe herauszugeben. Sie wurden aufgeladen und nach der nicht sehr entfernten Wohnung gebracht. Dem Lastwagen folgte der Fiaker, in dem Beranger mit seinen Schützlingen saß. Die Einrichtung war bald vollendet. Beranger setzte sich nun ganz gemüthlich zu der Familie und ließ sich deren Geschichte erzählen und ihre Verhältnisse auseinandersetzen. Da vernahm er denn, daß ihr Gatte und Vater ein nahmhafter Kupferstecher gewesen war, seine Familie zwar kümmerlich, aber mit unermüdetem Fleiße ernährt hatte, leider aber ihr früh entrissen worden war. Die Mutter hatte dann durch Nähen und Sticken so viel verdient, daß sie mit den Kindern nicht Noth litt, bis ihre Erkrankung aber auch diese Hülfsquelle zuletzt verstopft hatte, und nun denn der breite Strom maßlosen Elendes über sie hereinbrach, dessen Gewalt die Unterstützungen der mitleidigen Wirthin des Kaffeehauses allein brach, so viel sie vermochte.

Beranger blickte da in ein Familienleben voll Noth und Entbehrung, voll aufopfernder Liebe und Treue; er blickte in gute Herzen, die so offen vor ihm lagen und die ihm die Gewähr leisteten, seine Wohlthaten seien nicht weggeworfen, seine Fürsorge gälte guten Menschen. Nun lag seinem Herzen aber auch ein weites Feld des Wirkens offen. Das älteste der Kinder war ein Knabe von vierzehn Jahren, für den eine Laufbahn zu eröffnen war, denn damit war’s hohe Zeit. Beranger’s herzgewinnendes, zutrauliches Wesen führte ihn schnell zu seinem Ziele. Er vernahm des Knaben Wünsche ohne Hehl. Begabt mit besonderm Talente, wünschte er des Vaters Kunst zu erlernen; ja, er hatte schon mit den Werkzeugen desselben Versuche gemacht, die er Beranger zeigte, und die in diesem die Ueberzeugung begründeten, der Beruf des Knaben zur Kunst sei entschieden. Er sann nach und sagte dann, er wolle sehen, ob nicht Etwas für den hoffnungsvollen Knaben zu thun sei. Der Mutter drückte er noch eine Rolle von hundert Francs in die Hand und eilte dann, unter den Segnungen der Glücklichen hinweg, doch nicht ohne vorher eine dreimonatliche Miethe im Voraus dem Hauseigenthümer zu bezahlen.

Jeder andere Gedanke lag dem edlen Dichter jetzt fern. Seine ganze Seele erfüllte die Lage der unglücklichen Familie eines geachteten Künstlers. Darum begab er sich zu einem ihm nahebefreundeten Maler, mit dem er in Berathung trat über den für den Knaben zu suchenden Meister. Der Maler wußte Rath und schon am andern Morgen konnte er den glücklichen Knaben in das Atelier eines tüchtigen Kupferstechers bringen, dem er für das Lehrgeld durch seinen Freund, den Maler, Bürgschaft leistete, ohne daß er seinen Namen erfahren hätte.

Vergebens bemühte sich indessen die Wittwe, den Namen des Wohlthäters zu erforschen. Wie er unerwartet wie ein Meteor aufgetaucht war, so verschwand er auch, ohne daß sie ihn wiedersah. Dennoch empfing sie Beweise genug, welche dafür sprachen, daß er ihrer gedenke und fortwährend ihre Lage mit demselben wohlwollenden Herzen überwache, wie es am ersten Tage geschehen war.

Die Wirthin des Cafs’s war an jenem Mittage so von der Noth der Familie ergriffen, daß sie die Entfernung Beranger’s gar nicht wahrgenommen, ja nicht einmal die entfernteste Ahnung davon hatte, wie mächtig die Schilderung des Kindes ihn ergriffen. Als das Kind mit seinen Gaben weggegangen war, erzählte sie mit all’ der Volubililät der Zunge einer lebhaften Pariserin ihren Gästen die Härte des Vermiethers und das traurige Geschick der unglücklichen Familie. Die Gemüther erhitzten sich, man sprach über das Loos der zahlreichen Familien solcher Künstler, die, trotz ihrer Leistungen, es doch nicht dazu bringen könnten, für ihre Familie nachhaltig zu sorgen; über die Herzlosigkeit wuchernder Vermiether und über alle diese Verhältnisse, welche der wunde, nie heilende Fleck großer Städte sind; aber wie auch das Alles besprochen, mit zahlreichen Beispielen belegt wurde – es blieb bei dem Besprechen und keine Hand regte sich, den Geldbeutel zu ziehen für die Unglücklichen, deren Loos ihnen so nahe gelegt war.

Die Wirthin, einst eine Jugendgespielin der unglücklichen Wittwe, hatte allein ein Herz für sie. Noch an dem Abende eilte sie selbst hin, Trost zu bringen. Wie erstaunte sie aber als sie von dem Portier vernahm, was vorgefallen war. Am meisten war sie davon betroffen, daß das Kind den Wohlthäter mitgebracht habe. Sie sann nach, wer Zeuge jenes Auftrittes gewesen, aber Keiner der Gäste, die sie kannte, glichen dem Bilde, welches freilich nur in allgemeinen und sehr flüchtigen Zügen der alte Portier entwerfen konnte, und an Beranger dachte ihre Seele nicht, ja sie erinnerte sich nicht einmal seiner Anwesenheit, weil sie zu sehr bewegt und erregt gewesen war. Sie fand ihn eben nicht heraus. Höchst unangenehm aber war es ihr, daß sie auch nicht einmal herausbringen konnte, wohin der Herr ihre Freundin und ihre Kinder gebracht, und daß sie abwarten mußte, bis sie von diesen selbst Aufschluß erhalten würde. Diese Ungewißheit, diese unbefriedigte Neugierde, dieses Unbekanntbleiben mit dem Loose der unglücklichen Jugendfreundin lasteten schwer auf der Seele der beweglichen Pariserin, und sie hätte Thränen darüber vergießen können, daß sie einige Tage vielleicht warten mußte, bis sich alle die Räthsel lös’ten.

Solche schwere Probe war ihr jedoch nicht beschieden. Schon zeitig am andern Morgen erschien das liebliche Kind wieder bei ihr. Sein Antlitz strahlte von Freude, als es zu der theuern Freundin ihrer Mutter eilte.

„Kommst Du endlich?“ rief die Wirthin dem Kinde entgegen und vergaß, daß der Wechsel des Glückes der Familie erst wenige Stunden hinter sich hatte. „Wie heißt Euer Wohlthäter? Wer ist es? Wie geht es Euch? Wo wohnt Ihr denn jetzt?“ Diese Fragen sprudelten über die Lippe der lebhaften Frau in einer Hast und Eile, daß das Kind ganz verblüfft war, und nicht wußte, auf welche derselben es zuerst antworten sollte.

Die Wirthin sah endlich wohl ein, sie müsse dem Kinde ruhiger zuhören oder ihre Fragen langsamer stellen. So fragte sie denn zuerst nach der Person des Mannes, der so aufopfernd für sie und ihre Angehörigen gesorgt.

Das Kind erröthete: „Ach,“ sagte es, „wir kennen ihn nicht. Die Mutter hat vergeblich nach seinem Namen gefragt. Lächelnd hat er geantwortet: der Name thue ja gar nichts zur Sache, ja, wenn sie nach seinem Namen forsche, so werde sie ihn zwingen, sich zurückzuziehen. Sie sehen wohl,“ sagte die Kleine, „da waren uns die Lippen geschlossen.“

„Das ist sehr fatal!“ rief die Wirthin ärgerlich aus und stampfte mit dem kleinen Fuße auf den Boden. „Muß ich da völlig im Dunkeln bleiben, wo mir so viel darauf ankäme, ihn zu [418] kennen! Aber,“ fuhr sie fort, „war er denn hier im Cafe, als Du bei mir warst? – Besinne Dich einmal!“

„Ich weiß nicht“ sagte das Kind; „allein ich vermuthe es, denn er kam mir auf dem Fuße nach.“ – „Jean! Baptist! Charles!“ rief die Wirthin den Aufwärtern.

Sie eilten herbei.

„Erinnert Ihr Euch, wer gestern Nachmittag hier war?“ – fragte sie hastig.

Aber der Besuch des Café war gerade gestern, wo die Witterung ungünstig gewesen war, ganz ungewöhnlich zahlreich; die Aufwärter hatten alle Hände voll zu thun gehabt und eine Menge fremder Gesichter war darunter gewesen. Bedenkt man, wie die Besucher eines pariser Café’s ebben und fluthen; wie selten Einer lange verweilt, so ist es entschuldbar, daß die Garçons keine Auskunft geben konnten, ja daß sie einen unscheinbar gekleideten, bescheidenen, anspruchslosen Stammgast, wie Beranger, dessen Bedeutung ihnen vielleicht nicht einmal bekannt war, ganz übersahen. Die gestrenge Herrin, die es sich einmal in’s Köpfchen gesetzt hatte den Mann zu entdecken, der so edel gehandelt, fand das indessen nicht entschuldbar und die Aufwärter mußten es hinnehmen, daß sie ihnen Leichtsinn und Unachtsamkeit auf ihre Gäste an den Hals warf. Ihr Verlangen wuchs aber nur durch die Hindernisse. Jetzt wandte sie sich wieder an das Kind, dem es unheimlich zu werden begann. Es mußte nun zusammenhängender alle die Vorfälle erzählen, was denn auch bis auf den letzten Punkt, nämlich die Unterbringung ihres Bruders bei einem Kupferstecher, geschah.

Die Wirthin schlug vor Verwunderung die Hände zusammen, aber trotzdem rieselten ein paar Thränen über ihre frische Wange, die für ihr Herz ein gültig Zeugniß ablegten. Aber auch das weichste Frauenherz kann unter solchen Umständen von der brennendsten Neugierde gequält werden, und das war hier in der That der Fall.

„Also er kommt heute früh wieder zu Euch?“ fragte die Wirthin, und sann, ob sie sich ohne Nachtheil ihrem Geschäfte auf einige Stunden entziehen könne. Sie fand indessen, daß das ganz unmöglich war, und es blieb nichts übrig, als das Kind gehörig zu instruiren. Das geschah, und die Kleine versprach Alles, was ihr die treue Freundin ihrer Mutter auftrug.

Als das Kind jedoch zu Hause ankam, war der edle Wohlthäter bereits dagewesen, hatte den Knaben mit sich zu dem Maler genommen und dieser, nicht Beranger, ihn zu dem Kupferstecher gebracht.

Das Kind war höchst unglücklich, daß es der Wirthin nicht die Auskunft bringen konnte, die sie so sehnsüchtig erwartete. Es eilte zu ihr und berichtete, wie es gekommen. Der Unwille der neugierigen Frau warf sich indessen nicht auf das Kind, das sie als unschuldig erkennen mußte, war aber im Allgemeinen groß, denn so etwas war ihr lange nicht passirt, und länger im Zweifel zu bleiben, rein unerträglich. Aber wie sollte sie nun hinter die Sache kommen? Das war die brennende Frage, die ihr den Kopf ganz wirr machte. Dieser Zustand wurde noch dadurch vermehrt und verschlimmert, daß Einer und der Andere ihrer Stammgäste, dem sie es gestern erzählt, wohl nach der Sache und Person fragte. Hier ihre Unkenntniß bekennen zu müssen, war bitter; noch bitterer, daß sie ihr Talent, hinter verborgne Dinge zu kommen, so augenfällig in Schatten gestellt sah.

Nach vielem Sinnen fiel ihr endlich ein Ausweg ein. Sie legte traurig die Hand auf des Kindes Schulter und sagte: „Amelie, würdest Du ihn erkennen, wenn Du ihn hier sähest?“

„O, unter Tausenden würde ich den lieben Mann heraus finden, der so freundlich durch seine Brille blickt!“ rief das Kind aus.

„So komm jeden Mittag um ein Uhr hierher!“ sagte sie, des Erfolges nun sicher. „Du hast nichts zu thun, als die Eintretenden zu mustern, und mir den rechten Mann zu bezeichnen, wenn Du ihn siehst.“ Das versprach das Kind, und schon am andern Tage trat Liebe und Dankbarkeit in einem Kindesherzen, in den Dienst einer geheimen Polizei, die eben auch nur von einem wirklich wohlwollenden, hier aber von brennender Neugierde erfüllten Herzen organisirt worden war.

Beranger hatte in den ersten Tagen, welche dem Ereignisse folgten, lediglich mit dem Geschicke seiner ihm theuer gewordenen Schützlinge zu thun. Er vergaß ganz seine gewohnte Lebensweise, und häufte Ausnahme auf Ausnahme von der sonst so feststehenden und gewohnten Regel. Wo er Bekannte und Befreundete hatte, von denen er erwarten durfte, sie könnten der Wittwe und ihren Kindern entsprechende Arbeit geben, da eilte er hin, und wurde mit seiner herzgewinnenden Weise ihr Fürsprecher. Er mußte meistens ihre Geschichte erzählen, ihre Lage schildern, und das forderte Zeit. So kam es denn, daß er acht bis zehn Tage das Café nicht betrat, und dadurch der liebliche Agent der errichteten Spionage so wenig zu einem Resultate gelangte, als die oberste Leiterin derselben ihr Ziel erreichte, was sie unendlich unglücklich machte. – Sie zürnte manchmal dem Kinde, weil es, wie sie meinte, den edlen Wohlthäter nicht mehr kenne, und wurde erst wieder versöhnt, wenn das liebliche Wesen unter Thränen versicherte, er sei noch nicht im Café erschienen; sie kenne ihn gewiß wieder, wenn sie ihn nur sähe. Dann zürnte sie über die Ungunst der Umstände, welche ihr so sehr entgegen war. Die Neugierde nahm aber darum nicht weniger ihre ganze Seele ein, ja sie wurde nur um so mächtiger, je mehr Schwierigkeiten ihrer Befriedigung entgegenstanden.

Nach acht Tagen endlich fiel es ihr denn doch auf, eine liebe Gestalt lange nicht gesehen zu haben, die sonst allmittäglich zu sehen war, die Beranger’s. Sollte der liebe Dichter, mit dem sie so oft traulich geplaudert, und den sie so aufrichtig verehrte, krank sein? – Dies beunruhigte sie ungemein; allein wie sollte sie es erfahren? – Sie mußte die Herkunft eines ihm Befreundeten abwarten, der ihr Auskunft geben konnte. Dieser kam endlich.

„Ist unser berühmter Chansonnier krank?“ fragte sie ihn lebhaft. „Er ist seit acht bis zehn Tagen nicht hier gewesen. Zu anderer Zeit habe ich die Freude, ihn täglich hier zu begrüßen.“

„Krank?“ fragte der Angeredete zurück. „Nein! Ich sah Beranger nie gesünder, als heute; aber er hat so viel zu thun, wie die Pfanne in den jours gras!“

Mon Dieu! Was beschäftigt ihn denn so?“

„Weiß es nicht, und auf Fragen giebt er keine Antwort. Er lächelt nur, und Sie wissen, wenn er lächeln kann, da ist man im Voraus besiegt, und kann nicht weiter fragen.“

„Wohl weiß ich’s,“ sagte die niedliche Wirthin. „Aber ich möchte denn doch wissen, was der Zweck seines geheimnißvollen Thuns ist. Es muß wichtig sein, weil er darüber eine Gewohnheit vergißt, die, wie mir es scheinen wollte, eine Macht bei ihm war.“

„Nun,“ sagte lachend der Freund Beranger’s, „Sie können ruhig sein. Etwas Schlimmes ist es gewiß nicht. Vielleicht wieder ein stilles, wohlthätiges Wirken, über das er, wie immer, den undurchdringlichsten Schleier des Geheimnisses breitet. Sobald er sein Ziel erreicht hat, kommt er sicherlich wieder hierher.“

Mit diesen Worten verbeugte sich der Herr, nahm vom Präsentirteller des Garçons seine Tasse, ließ sich die Zeitung geben, und setzte sich in seiner Fensternische nieder, ohne sich weiter um die neugierige Wirthin zu bekümmern.

Die letzten Worte hatten indessen einen Funken in die Brennstoffe der Gedanken der Wirthin geworfen, der nicht erlosch. Sie sank in ihren Fauteuil und stützte den Kopf in die kleine weiße Hand. Nach einigen Minuten sprang sie auf. Ihr Antlitz leuchtete vor seliger Freude.

„Amelie!“ rief sie dem Kinde, das schnell herzueilte. „Hör’ mal, Liebe, war der Herr nicht ein ältlicher Mann?“

„Ja wohl!“

„War er nicht stark, von mittlerer Größe, breitschultrig?“

„Gewiß!“

„Trug er eine Brille, war sein Haar nicht schon etwas grau?“

„Ja, ja!“ rief das Kind.

„War er nicht einfach, vielleicht etwas nachlässig, gekleidet?“

„Auch das.“

„Erinnerst Du Dich der Farbe seines Rockes?“

„Er war, wenn ich nicht irre, grau.“

„Und wie war sein Gesichtsausdruck?“

„Ach,“ sagte das Kind, „so freundlich, so liebenswürdig und herzgewinnend, wie kaum Jemand außer ihm sein könnte!“

„Und seine Stimme?“

„Sehr wohllautend und tief.“

„Vortrefflich!“ rief die Wirthin, und rieb die kleinen Hände vor Lust. „Ich glaube, wir haben ihn!

[419] „Ach,“ sagte das Kind bittend, „Madame, bitte, bitte, sagen Sie es nicht, wenn Sie ihn kennen! Er hat es uns so strenge verboten, und wir fürchten mit Grund, sein Wohlwollen zu verscherzen.“

Sie beruhigte das Kind darüber vollkommen, und in demselben Augenblick ging die Thüre auf und Beranger trat ein. Er wollte sich zur Wirthin wenden, um sie zu begrüßen, aber ihre vor Freude strahlenden Augen machten ihn stutzig. Sein Blick fiel auf das ihm wohlbekannte Kind, und nur leicht grüßte er herüber und wandte sich schnell zu dem Freunde, der kurz vorher das Verhör über sein Ausbleiben hatte bestehen müssen.

Kaum war Beranger eingetreten, als die kleine Amelie voll Entzücken ihre Aermchen um die Wirthin schlang und halblaut ausrief: „Der ist’s, der ist’s!“

Die Wirthin küßte sie und sagte ihr in’s Ohr: „Geh’ nun zu Deiner Mutter und sage ihr, ihr Wohlthäter sei der Dichter Beranger! Komm aber morgen wieder.“

Flüchtig wie ein Reh eilte die Kleine hinweg.

Beranger blieb bei dem Freunde. Er ahnete, daß die Wirthin ihm in die Karte geblickt hatte, und vermied es daher, mit ihr in ein Gespräch zu kommen, und mit feinem Takte vermied auch sie es fortab, durch irgend ein Zeichen zu verrathen, daß sie den nun kannte, der auf eine so edle Weise die große Noth einer unglücklichen, ihr theuern Familie gehoben hatte. Das aber unterließ sie nicht, ihm zu sagen, daß sein langes Ausbleiben ihr Sorge für sein Wohlbefinden eingeflößt habe. Er dankte mit einem wahrhaft bezaubernden Lächeln, und versicherte, er werde das absichtslos Versäumte nun getreulich nachholen.

Am andern Tage kam Amelie zeitig. Auf dem Schenktisch, jedoch den Augen der Gäste verborgen, stand der beste Präsentirteller der Wirthin. Darauf lag ein Lorbeerkranz, in den Aehren geflochten waren und Rosen. Er war wunderschön! Eine kostbare Tasse stand darin und harrte des Kaffee’s. Beranger trat endlich ein und nahm wieder seinen alten Sitz in der Nähe der Wirthin ein, mit der er zu plaudern pflegte, ehe er die Zeitung nahm. Sie trat sogleich hinter den Schenktisch, goß die Tasse voll und legte einen Streifen Papier darüber. Amelie nahm die Tasse und reichte sie Beranger.

Betroffen und erröthend, wie ein junges Mädchen, nahm er den Präsentirteller aus des Kindes Händchen und las auf dem Papierstreifen:

„Er bringt die Freude in der Armen Hütte,
Und schützt vor Langeweile den Palast!“

Sein Gefühl überwältigte ihn in diesem Augenblicke. Er neigte sich tief herab und zerdrückte mit dem Tuche zwei Thränen. Dann nahm er schnell den Kranz und barg ihn auf seiner Brust, indem er den Rock zuknöpfte. Das Kind zog er an seine Brust und küßte es auf die Stirne. Der Wirthin aber reichte er die Hand und sagte: „Ich werde den Kranz aufheben, daß er einst an meiner Stirne liege, wenn ich gestorben sein werde! Nun aber noch Eins: geloben Sie mir, weder gegen mich noch gegen Andere jemals dessen zu gedenken, was Sie so zart und reich belohnt haben. Ich müßte sonst Ihr Café für immer meiden.“

„Ich gelobe es,“ sagte die Wirthin, seine Hand mit inniger Rührung drückend.


Ob die Pariserin schweigen konnte? Ich habe Ursache, es vollkommen zu bezweifeln; denn ohne sie wäre ja diese Edelthat des Dichters, dieser schöne Dank der Wirthin, nicht in’s Gebiet der Oeffentlichkeit gekommen, und darum wissen wir es ihr Alle Dank, daß sie ihr Herz wortbrüchig machte.
O. W. von Horn. 




Die kosmopolitische und Wasser-Poesie des Krystallpalastes
zu Sydenham bei London.
„Ohne Wasser ist kein Heil.“
(Sirenen im Faust.
) 

Raum und Zeit, worin unsere Heiligthümer Tausende von Meilen und Millionen von Jahren zerstreut umherliegen, haben sich, durch Dampf ohnehin schon geschwächt, sterbend zur Bildung eines „idealen Bodens“ vereinigt im Krystallpalaste zu Sydenham bei London. „Vom vorsündfluthlichen Ungeheuer bis zur neuesten Erfindung und Entdeckung, von der Mumie Egyptens bis zur Reiterstatue Friedrich’s des Großen, von den Zwerggewächsen des Nordpols bis zu den stolzen Naturgebilden des Aequators, vom erhabensten 90 Fuß hohen Gotte der Grabtempel von Thebais, dem Erhabensten, bis zum Lächerlichsten der Restauration, wo man ein Glas trübes Wasser mitten unter 11,788 Wasserstrahlen für einen Penny verkauft, ist überall nur ein Schritt.“

„Die geologische Schicht, die einst Erdoberfläche war und dann seit Tausenden von Jahrtausenden tief begraben lag, lebt hier nicht nur in einem lebendigen Adersystem von Eisen, das die Seelen vorsündfluthlicher Urwälder als Wärmeadern für die Pflanzen und als Gaslicht auferstehen läßt, sondern liegt auch in ihrer tief unterirdischen Gestaltung offen vor uns in einem Lichtmeere, das ungeschwächt durch Tausende von Fenstern (und Wänden zugleich) dringt.“

„Die geheimnißvollen Bewohner der Meerestiefe unterrichten uns in durchsichtigen Seen von ihrer Art und Weise zu leben. Landschafts- und Naturbilder beleben sich durch entsprechende Thiere und Menschen, die zusammen Reihen ethnologischer Bilder geben, wie sie die Welt noch nie sah. Mit einem Blick übersehen wir die ungeheuere Entwickelung von dem mißgestalteten Menschenräthsel der Sphinx bis zu der schönen, klaren Auflösung in der Gliedermelodie einer Venus, eines Apollo von Belvedere; mit einem Blick den Kampf der „gefrornen Musik,“ Baukunst, durch egyptische, assyrische, griechische, römische, byzantinische, gothische, maurische Bogen und Säulen nach Harmonie der Massen und melodischen Linien. Haben wir im Parke draußen, der sich in prächtigen Terrassen mit Statuen, in fabelhafter Fülle von Springbrunnen, Cascaden und Wassertempeln, kleinen Seen und Gondeln, Rosenglaslauben, wissenschaftlichen Landschaftsbildern und weiten Spaziergängen vor uns dehnt und stuft, wo hier langhalsige Plesiosaurier aus dem Wasser drohen, dort Megatherien, Ichthyosaurier, Mastoda, Labyrinthoda u. s. w. in ihrer Lebensgröße und urweltlicher Umgebung sich der Gegenwart zu freuen scheinen, indem sie die vorbeisausende Eisenbahn erschrecken, mit Tausenden aller Stände und Nationen diese Herrlichkeiten und weithintragenden Aussichten genossen, können wir mit wenigen Schritten Tausende von Meilen oder Jahren zurücklegen und in Pompeji römische, in der Alhambra maurische Kultur täglich frisch zu uns nehmen, um einige Minuten später Maschinen aller und modernster Art für die Lebensfreuden aller Völker arbeiten zu sehen, oder in Modellen neuester Erfindungen ahnen, wie schön es erst unsere Kinder und Enkel haben werden. Was englischer Associationsgeist, amerikanische Kühnheit, französische Grazie und einsamer, deutscher Geschmack mit künstlerischem Sinne Neuestes und Schönstes zu produciren wissen – hier kann man es auch gleich kaufen und so unmittelbar zur Verschönerung des eigenen Herdes in’s Leben einführen, ohne danach zu fragen, ob dadurch das Geld irgendwie „aus dem Land“ gehe.“

Diese Stellen sind aus dem Buche: „Der Krystallpalast von Sydenham, seine Kunsthallen, sein Park und seine geologische Insel. Von H. Bettziech-Beta. Mit 30 in den Text gedruckten Abbildungen.“ (Leipzig, bei J. J. Weber), abgeschrieben, weil darin der Verfasser ouverturenartig den ganzen Reichthum von Beseligung, die sich hier zusammendrängt und auf die mannigfaltigste Weise in seinem Buche kund giebt, anklingen läßt. Ich möchte wohl wissen, was sonst an dem Buche wäre. Mir selbst ist es zu schwer, den Verfasser kennen zu lernen, denn dieser bin ich selbst. Und bekanntlich ist nach Sokrates nichts schwerer, als sich selbst kennen zu lernen. Aber so viel weiß ich noch, daß ich bei mühevollster Zusammentragung und Ausarbeitung des ungeheuern Materials von Heiligthümern und Beseligungen, die sich hier unter [420] einem Dache zusammenfanden, mehr Andacht, mehr Begeisterung, mehr Beseligung gefühlt habe, als jemals in meinem Leben, mehr, wie ich wenigstens glaube, als je ein Grieche vor dem Zeus von Phidias oder der Muselmann vor dem verhangenen Grabe des Propheten, oder der Kreuzfahrer vor dem heiligen Grabe. Viele Beseligung verdankte ich freilich damals noch Illusionen und Hoffnungen, welche von den Direktoren des Krystallpalastes verkümmert, verschoben, verschachert, vermißverwaltet wurden. Der unverschämteste englische Nepotismus, der an Land und Leuten nagt, kann vielleicht mit palmerston’scher Geschicklichkeit und List endlich das Land ruiniren; aber der Krystallpalast ist zu gewaltig dazu in seiner Schönheit und in dem gesammelten Reichthume aller Heiligthümer der Menschheit. Den können sie mit aller Mißverwaltung, Verschleuderung und angestellter Dummheit von Vettern und Freunden nicht ruiniren, sie müßten ihn denn mit Pulver in die Luft sprengen. Selbst wenn er, wie es öfter hieß, untern Hammer käme (für einen Glaspalast allerdings etwas gefährlich), würde der Hammer eher brechen, als das Glück und Glas dieses kosmopolitischen Centraltempels aller menschheitlichen Heiligthümer. Ich war damals, als ich das Buch schrieb, für vieles Werdende begeistert, woraus nichts Gescheidtes geworden; aber manches damals Werdende hat auch alle Illusionen übertroffen. Niemals sind Illusionen auf eine so herrliche, das Sprüchwort Lügen strafende Weise „zu Wasser geworden,“ als die Fontainen- und Cascadenpoesie Paxton’s in und am Krystallpalaste.

Die Wassertempel und Cascaden des Krystallpalastes zu Sydenham.

Hier sprudelt noch eine 11,788strahlige Quelle von Begeisterung vor mir, die ich in dem Buche noch nicht ahnen konnte. Nur hat sie einen Fehler. Sie ist zu schön, zu reich, zu großartig. Auch wird man dabei fast immer naß und kann sich leicht erkälten. Und der Rheumatismus gehört in keiner Confession, in keiner Kulturperiode zu den Heiligthümern der Menschheit, wiewohl ein englischer Arzt nachweist, daß wenigstens die Gicht ein Privilegium geistreicher Menschen für das Alter sei.

Zu schön ist diese Wasserpoesie. Zu schön heißt weniger schön, als schön. Das Schöne hat bestimmte Maße der Symmetrie, Melodie und Formation in sich selber. Wenn diese überschritten werden, läuft der Ueberfluß feindlich und zerstörend gegen die Schönheitslinien und zieht davon ab, und träufelt hier außerdem auf die barbarischste Weise auf einen feinen Blumenflor von Damenhüten und deren Locken, die sich in diesem dichten Regenbogen-Staubregen [421] unschön ausdehnen und um die feinen Gestalten flattern wie um tragische Schauspielerinnen in Wahnsinnsscenen. Wie graziös sind dagegen die Fontainen, Cascaden und Grotten von Versailles! Kurz, die Wasserkünste vor dem Krystallpalaste sind englisch, die in Versailles französisch.

Man denke sich 11,788 Wasserstrahlen mit 100 bis 230 Fuß hohen, donnernden, sprudelnden Riesen darunter, im großen, 1200 Fuß in der Peripherie umfassenden Bassin von 1000 kleineren, lustigen, zischenden Zwergen umgeben, alle zugleich in leidenschaftlicher, fieberhaftester Arbeit, um dem Drucke von 320 dampfender Pferdekraft zu entkommen und vor Angst hoch in den blauen Himmel billionentropfig emporzufliehen und den siebenfarbigen Bogen des Friedens tausendfältig in Spielarten vom hellen Himmel unter die Blumen der Natur und des schönen Geschlechts mit herunter zu bringen. Dazwischen große und kleine Wassertempel mit goldenen und blauen Dächern mit Göttern und Göttinnen auf deren Zinnen (Merkur ängstlich auf einem Beine, als hätte er die entsetzlichste Angst vor nassen Füßen), Reihen von steinernen Vasen, von Göttern, Göttinnen und göttlichen Jungen auf dem Kopfe getragen, und aus verschiedenen Etagen, aus allen Poren und Spitzen, Dächern, Traufen und Rändern rauschend, klatschend, plätschernd, platschend, mit den Sonnenstrahlen und den regenbogigen Farbentinten dazwischen, lustigen Winden, Damen und Kindern, Blumen und Bäumen umher sich auf die tollste, übermüthigste Weise neckend. Die verschiedenen Luftzüge zwischen den tollen Wasser- und Farbengeistern haben den meisten Spaß dabei: bald von Rechts, bald von Links, bald von Vorn, bald von Hinten attakiren sie die Menschen umher mit Wellen feinsten, dichtesten Staubregens. Die Blumen der Natur nicken lächelnd darunter, als wollten sie sagen: O, das ist schön bei dieser Hitze! Und die Blumen der Kunst auf den Damenhüten senken sich traurig und fallen nicht selten mit dem Hute und dessen aufgelöster Kartoffelstärke in eine formlose, todte Masse zusammen, so kreischend die Besitzerinnen auch fliehen, so geschickt sie auch ihre kleinen, langgefranzten Sonnenschirme zum Protestiren pariren.

Es hilft nichts: jede Flucht führt aus dem Regen in die Traufe. Tausend Sonnenschirme sind hier noch nicht ein einziger Regenschirm, wenn Wind und ein zu naher Standpunkt sich einmal zu dem Compagniegeschäft der Scylla und Charybdis gegen die umfranzten, umflorten, drei- und vierfach umfalbelten Damenflore vereinigt haben.

[422] Um eine topographische Vorstellung von dem Riesenwerke des Wasserdichters Paxton zu geben, bemerken wir, daß der Penge-Hügel, der den Krystallpalast dem Lande hoch auf seinem Rücken emporhält, sich südlich in natürlichen und künstlichen Terrassen mit Parks, Gärten, statuenbewachten Wegen und Stegen, Seen und Inseln abdacht. Die erste Hauptterrasse oben unmittelbar am Krystallpalaste hin ist eine ungeheuere, geebnete, kiesige Fläche mit Steinballustraden, Blumenvasen und einer Armee kolossaler Statuen nach unten abgegrenzt. Die Seite unmittelbar am Gebäude bildet eine unabsehbare Reihe von Nischen, aus denen kleine Cascaden plätschern. Die erste Terrasse nach unten, zu welcher drei je über 100 Fuß breite Granittreppen führen, umfaßt auf 13 Morgen Landes den italienischen Garten mit drei Hauptbasins und der Hauptfontaine, deren 1200 Fuß langer Umfang von einem Zaun sich kreuzender Wasserstrahlen eingeschlossen wird. Aus der Mitte schießt der 8 Zoll dicke Hauptstrahl 320 Fuß hoch. Um diesen herum kämpfen kleinere Fontainen durcheinander zu einem ununterbrochen steigenden und fallenden Gewoge von wolkigem Wasserstaub. Den beiden Seitentransepten des in Sonnenglut blauenden und ätherisch leuchtenden Palastes gegenüber auf derselben Terrasse, senden die beiden andern großen Fontainen zwischen schlankeren, kleineren Nymphen von Strahlen 8 Zoll dicke, lebendige Wassersäulen 100 Fuß hoch empor.

Die Hauptfontaine in der Mitte hat vor dem weiten Horizonte nach unten einen näheren Hintergrund in riesigen Rosengartenlauben von Glas und Eisen, über dessen graziöse Linien üppige Schlingpflanzen ihre grünen und blühenden Arme klammern, und zwei Gruppen von Wassertempeln, deren eine durch unsere Abbildung in ihren Umrissen anschaulich wird. Aber das Leben und Lärmen darin, das tolle Rauschen und Sprudeln und Plätschern, die Hauche und Spiele von Farbentinten, die Luft und Sonne und das duftige, beperlte, im schwersten Diamantenschmucke sich biegende Grünen und Blühen drum herum, die schönen Damen und die lustigen Kinder dazwischen, welche unter dem dichtesten Staubregen am liebsten hinlaufen und selbst noch lachen, wenn sie mit ihren kostbaren, reinen Kleidern und den kleinen runden Patschhändchen in den durchrieselten Sand hinfallen, daß die Kleidchen über sie hinwegstürzen und die kleinen, frischen, unschuldigen Waden frisch gen Himmel leuchten (und oft in aller Unschuld noch mehr) – das kann man nicht mit in Holz schneiden und durch Druckerschwärze nöthigen: „verweile doch, du bist so schön!“ Es reicht auch nicht hin, daß man es sehen muß, um’s zu glauben. Wie weit reicht denn das Auge? Mit der stärksten Bewaffnung kann es nicht um Ecken, durch Bäume und Wände, durch Berge und Granitblöcke sehen.

Der Umfang dieses riesigen Wasserdrama’s geht über alle Fassungskraft des physischen Sehens hinaus. Unten laufen die entlassenen Wassermassen nach kurzem Dienste in Katarrhakten nach der geologischen Insel zusammen, und umspülen dort die schuppigen Rücken von Ungeheuern, die vor Millionen Jahren lebten, während dieselbe 320fache Pferdekraft aus dem 570 Fuß tiefen artesischen Brunnen oben innerhalb des Gebäudes aus der riesigen Krystallfontaine auf die üppigen Blätter und Blüthen der Victoria regia und lustige Fischchen und in dem Heiligthume der üppigsten, höchsten maurischen Kultur von Granada, dem Löwenhofe der Alhambra, aus ein Dutzend Löwenrachen und im pompejanischen Hause aus der Schale einer Nymphe in den Mosaikteich des Atriums herabsprudelt. Wer könnte den Umfang, die Ausdehnung und die ununterbrochen in tausend Formen und Farben spielende, alle dreißig Morgen des Krystallpalast Gebietes durchadernde und belebende Wasserpoesie, die Heiligthümer aller Zeiten und Zonen verjüngend und erheiternd beleuchtenden irdischen Regenbogenspiele jemals wirklich mit dem physischen Auge sehen? Das geht schon deshalb nicht, weil die volle Pferdekraft dieses Ungeheuers von Wasserkunst es nur bei seltenen, feierlichen Gelegenheiten, wo man sieben Schillinge statt eines bezahlen muß, eine halbe Stunde lang aushält. Nach dieser halben Stunde des aufregendsten, erhabensten und heitersten Schauspiels und der furchtbarsten Anstrengung des Dampfwerks sterben die 11,788 Wasserstrahlen plötzlich dahin und die 100 bis 320 Fuß hohen Riesen, die eben den Himmel stürmen und die Sonne ausspritzen zu wollen schienen, stürzen zusammen, wie von einer Kugel durch’s Herz geschossen! Die Götter, Göttinnen, Nymphen, Engel und Karyatiden aller Art unter den Wasserschalen, aus den Dächern der Wassertempel und an den Säulen umher sahen plötzlich aus, als wären sie aus dem Bade gesprungen und sähen sich zitternd und bebbernd vor Kälte vergebens nach einem Handtuche zum Abtrocknen und anständiger Kleidung um. Und dazwischen stehen die frostigen eisernen Röhren, Bogen und Mündungen so kahl wie Rumpfe abgehauener Bäume und Krautköpfe. Sie, die eben noch tausendfältigsten Uebermuth sprudelten, müssen nun 231/2 Stunden warten, bis sie wieder auf ein halb Stündchen sich lustig machen können. Und die Wassertempel und ein paar tausend andere Mündungen trauern gar von einem Besuch der Königin bis zum andern, Wochen lang, ehe sie einmal wieder eine halbe Stunde aufjubeln dürfen. Das kommt von dem Zuviel auf einmal. Drei- bis fünftausend Wasserstrahlen in schönen Massen und Proportionen auf längere Dauer und mit weniger Absicht, den Leuten die Hüte zu verderben und sie mit Rheumatismus zu bedrohen, waren mehr als die alle Jubeljahre einmal losrasende Wuth von 11,788 Wasserflammen auflodernden Strohfeuers.

Aber den Krystallpalast kann nichts verderben. Ich glaube sogar, daß ihm mein Buch keinen merklichen Schaden gethan. Er ist, was das heilige Grab den Jahrhunderten der Kreuzzüge. Er wird es sein, nicht ein heiliges Grab, sondern das sich vereinigende, heilige, heiligende, erheiternde, alle Klassen und Völker zu sich einladende Mekka, Jerusalem, Zeus-Haupt, Rom und Athen des ganzen, kulturgläubigen, neuen und zukünftigen Menschengeschlechts.




Eine Frucht des Krieges in der Krim.

Am 14. Novbr. 1854 wurde bekanntlich die französische und englische Flotte im schwarzen Meere von einem furchtbaren Sturme heimgesucht, welcher den „Heinrich IV.“ an die Küste warf, mehrere Transport-Fahrzeuge zertrümmerte und fast alle andern Schiffe mehr oder minder beschädigte. Der Sturm erstreckte sich über die ganze Krim wie über das ganze schwarze Meer, während man fast gleichzeitig stürmisches Wetter in Frankreich und in dem Mittelmeere beobachtete. Die Erscheinung war demnach keine örtliche, sondern die Folge irgend eines Vorganges in der Luft, der sich über weite Flächen, vielleicht über ganz Europa, erstreckte und es wurde wünschenswerth zu ermitteln, wie eine solche Lufterschütterung hatte entstehen, sich entwickeln und verbreiten können. Der französische Kriegsminister beauftragte denn auch den Director der Sternwarte zu Paris, die erforderlichen Nachforschungen anzustellen und Leverrier erließ ein Rundschreiben an alle Meteorographen in der Welt, in welchem er sie aufforderte, ihm ihre Beobachtungen von einigen Tagen vor jenem 14. Novbr. mitzutheilen. Es gingen darauf über zweihundertundfunfzig Antworten mit namentlich den barometrischen Beobachtungen ein, die genau zu gleicher Zeit an den verschiedensten Orten gemacht worden waren und es galt nun, diese Masse von Beobachtungen zu prüfen und zu ordnen, eine Arbeit, die Liais mit glänzendem Erfolge durchgeführt hat.

Am 12. Novbr., als in Paris genau Mittag war, befand sich die Atmosphäre an verschiedenen Punkten Europa’s in sehr verschiedenem Zustande. Der Barometer stand an einigen Orten viel höher als an andern und diese Orte waren nicht unregelmäßig vertheilt. Bezeichnete man sie auf der Karte, so gaben sie eine wenig gebogene Linie, die von Norden nach Süden lief. Diese Linie ging über England unter dem 55° n. Br., durch den Kanal von Bristol nach der Spitze von Cornwall. Von hier schritt sie über den Kanal, durchschnitt die Bretagne und Frankreich und trat über Narbonne in das mittelländische Meer ein. Da verschwand sie aber nicht; man fand sie an der algierischen Küste wieder. Auf dieser langen Linie hielt sich der Barometer auf 770 Millim.; entfernte man sich von ihr nach Osten oder Westen [423] hin, so ergab sich minderer Luftdruck, der geringer wurde, je weiter man sich entfernte.

Es war demnach zuerst bewiesen, daß am 12. Novbr. Mittags der atmosphärische Druck auf der erwähnten ganzen langen Linie ein Maximum erreicht hatte. Weil nun dieser Druck von den Luftschichten über dem Barometer herrührt, so mußte die Luft an den angegebenen Punkten in jener Zeit eine größere Dicke erreicht, sich da aufgehäuft haben und eine Luftwoge bilden, die von England nach Afrika, von Norden nach Süden, lief und deren höchste Spitze oder Kamm sich genau über den Punkten befand, welche jene Linie bezeichnete. Um sich eine genaue Vorstellung von der Erscheinung zu machen, denke man sich die bewegte Fläche des Meeres und folge in Gedanken der sich fortbewegenden Linie, welche der Kamm einer Welle bildet.

Von dem Augenblicke an, den wir als Anfang der Beobachtungen angenommen haben, sinkt der Barometer auf der ganzen Bogenlinie, während er östlich von derselben allmälig steigt. Die große Luftwelle ist also nicht unbeweglich, sondern läuft weiter wie eine Welle im Meere. Um Mitternacht des 12. ist sie über den Kanal gegangen und befindet sich über Holland, Paris, Lyon. Am 13. Mittags, vierundzwanzig Stunden nachdem man sie das erste mal beobachtet hat, verliert sie sich im Mittelmeere. Ihre beiden Endpunkte scheinen sich etwas rascher zu bewegen. Am 15. treffen wir sie an den Karpathen; am 16. ist sie über das schwarze Meer gezogen und weiter können wir sie nicht verfolgen, weil es weiterhin an Beobachtungen fehlt.

Es ist damit eine gewiß höchst merkwürdige Erscheinung nachgewiesen: das Luftmeer hat seine Wellen, die regelmäßig sich fortbewegen wie die des Meeres. Die Welle, welcher wir gefolgt sind, geht über ganz Europa und braucht vier Tage, um von London in das schwarze Meer zu gelangen. Wir erkennen aber auch örtliche Ursachen, die sie aufhalten. Während sie, nach den vorliegenden Beobachtungen, vom 12. Mittags bis zum 13. Mitternachts die ebene Fläche im Norden weithin durchläuft, hält sie sich lange an den Alpen auf, weil sie dieselben nicht sogleich übersteigen kann. Sie braucht vierundzwanzig Stunden dazu. Gleichen Kampf kosten ihr die Karpathen und der Balkan.

Vor allen Dingen darf man diese Luftwellen nicht mit den Wirkungen des Windes verwechseln, welcher die Luft von einem Orte zum andern treibt, nicht mit einem Sturm, der die Atmosphäre vom Norden nach Süden wirft. Die große Luftwoge, der wir nachgingen, zog über Europa hin, während der Wind nach den verschiedensten Seiten blies und ihrem Gange kein Hinderniß entgegenstellte. Ein Jeder hat sicherlich einmal einen Knaben mit einem langen Stricke spielen sehen, den er auf den Boden legt, während er das Ende in der Hand behält. Hebt er dies und senkt es dann rasch, so läuft die Bewegung wie Schlangenringel allmälig über den ganze Strick. Gerade so läuft eine Welle.

Aus den vorliegenden Documenten ergiebt sich ferner, daß die Luftwelle überall trotz allen klimatischen Verschiedenheiten heiteres ruhiges Wetter brachte, das dem hohen Barometerstände entsprach. Und doch steht diese Ruhe mit dem Sturme, der diese Untersuchungen veranlaßte, in genauem Zusammenhange. Gehen wir vor den 12. Novbr. zurück, so finden wir, daß vom 10. zum 12. an der bezeichneten Linie der Barometer sehr tief stand, also eine Verminderung der Höhe der Atmosphäre stattfand und ihre Oberfläche eine Einsenkung oder Vertiefung zeigen mußte. Diese Vertiefung oder Höhlung war anfangs nicht sehr bedeutend. Sie bewegte sich vorwärts, wie wir den Wogenkamm vorwärts gehen sahen. Am 12. erreichte sie Oesterreich, am 13. das schwarze Meer, am 14. die Krim; dabei vertiefte sie sich mehr und mehr bis sie in der Krim ungewöhnlich tief wurde. Der Luftaufthürmung ging also eine Lufteinsenkung voraus und so ließ sich voraussehen, daß ihr eine Einsenkung auch folgen würde, ganz wie bei Wasserwellen. Und so war es, wie die Beobachtungen dargethan haben. Während man aber auf dem Meere die Wellenberge mehr als die Wellenthäler fürchtet, ist es mit der Luft umgekehrt, denn die Luftwellenberge bringen klares Wetter und Windstille, während die Luftwellenthäler Regen verbreiten, Wind und selbst Sturm erzeugen. Das Luftwellenthal, das dem großen Luftwellenberge voranging, brachte am 14. Novbr. den Sturm in der Krim und das Wellenthal, das dem Wellenberge folgte, zog am 15. und 16. mit Sturm über Frankreich.

Erinnern wir uns nun, daß die Luftwelle vier Tage brauchte, um von England nach der Krim zu kommen, während durch den Telegraphen eine Nachricht in solche Entfernung in sehr kurzer Zeit befördert werden kann, so wird sich von selbst ergeben, von welchem Nutzen die Entdeckung der im Luftmeere fortlaufenden Wellen in Verbindung mit dem Gebrauch der Telegraphen werden kann und wird.

Angenommen, es zeigte sich in Petersburg ein Orkan. Augenblicklich kann man dort bei allen russischen Observatorien anfragen, und wenige Stunden darauf wird man wissen, in einer wie langen Strecke er erscheint. Es ergiebt sich, daß er sich nach Deutschland zu wendet und man wird die Astronomen von Berlin, Wien u. s. w. benachrichtigen. Diese sind vorbereitet und können den Orkan, wenn er kommt, beobachten. Sie melden sein Erscheinen weiter nach Frankreich und England. Alle sind auf eine gewaltige Erschütterung vorbereitet und die, welche dadurch bedroht werden, können Vorsichtsmaßregeln ergreifen. Die Gefahren, auf die man vorbereitet ist, verlieren von ihrer Bedeutung. Die Telegraphen erhalten demnach in der Zukunft eine noch weit größere Wichtigkeit. Jetzt melden sie auf den Eisenbahnen, es komme ein Zug; bald werden sie warnend ganzen Ländern anzeigen, es nahe ein Sturm, und man wird Zeit haben, seinen Verwüstungen wenigstens einigermaßen vorzubeugen.




Blätter und Blüthen.

Ein Giftmordproceß. Dem palmer’schen Giftmordproceß reiht sich neuerdings ein ähnlicher Fall in Frankreich an, welcher vor dem Assisenhofe des Seinedepartements verhandelt wurde und durch die persönliche Lage der beiden Angeklagten, sowie durch die nahe Verwandtschaft derselben mit ihren Opfern großes Interesse erweckte. Wir entnehmen zunächst der Anklageakte Folgendes:

Am 13. Jan. d. J. verspürten der Landmann Belin und dessen Sohn, Darmand Belin, Beide zu Courcelles-sous-Thoix wohnhaft, nach ihrer Mahlzeit alle Spuren einer Vergiftung; doch wurde durch schnelle Hülfe dem Fortschreiten des Uebels gewehrt. Joseph Belin täuschte sich indessen über die Ursachen desselben nicht. Das Stück Schweinefleisch, womit die Suppe, die ihn wie seinen Sohn krank gemacht hatte, gekocht war, hatte ihm einige Tage zuvor seine Schwägerin, Clementine Geoffroy, gegeben. Gegen diese machte er die Anklage anhängig, daß sie ihn und seinen Sohn zu vergiften versucht habe, um ihr Vermögen durch Erbschaft an sich zu bringen und sich so zur Bestreitung ihrer Bedürfnisse die Mittel zu verschaffen, die ihr bisher gefehlt hatten. Die öffentliche Meinung sprach sich gegen die Angeklagte aus, und die durch die gerichtliche Untersuchung erhobenen Thatsachen gaben bald jenen beschuldigenden Gerüchten den Charakter der Wahrscheinlichkeit. Die Geoffroy räumte ein, ihrem Schwager ein Stück Schweinefleisch gegeben zu haben, und die Experimente, welche man an der mit diesem Fleische gekochten Bouillon vornahm, führten zu dem Resultate, daß dieselbe eine ziemliche Menge Arseniksäure enthielt. Da nichts zu der Annahme berechtigte, daß dieses Gift durch irgend einen Zufall, oder durch eine freiwillige Handlung in das Fleisch gekommrn sei, so ward man in der Ansicht bestärkt, daß es von der Geoffroy hineingethan worden sei. Die Haltung dieser Frau mußte sie vollends compromittiren.

Sie suchte den Verdacht auf Darmand Belin, der doch, wie sein Vater, von der Suppe gegessen und krank davon geworden war, zu lenken, indem sie behauptete, Beide hätten in übelm Einvernehmen mit einander gelebt, weil der Vater in eine Verheirathung des Sohnes nicht habe willigen und demselben keinen Militärvertreter habe verschaffen wollen; eine Behauptung, die nicht blos durch die Proteste der beiden Belin, sondern auch durch die Aussagen von Zeugen, welche die Verhältnisse derselben genau kannten, widerlegt wurde. Auch war die Geoffroy auf die Kunde von dem Erkranken ihrer Verwandten sogleich in deren Haus geeilt, unter dem Vorwande, sie zu pflegen, und hier war eine Nachbarin, die ebenfalls herbeigeeilt war, erstaunt, die Geoffroy einen Schrank öffnen und darin etwas suchen zu sehen. Wie die Nachbarin glaubte, war es der Rest des vergifteten Fleisches, den die Geoffroy beseitigen wollte. Denn auf ihr Fragen schloß die Geoffroy den Schrank zu, ohne eine Antwort zu geben und später stieß sie gegen jene Frau die Drohung aus, daß sie dieselbe beim Gerichte als die Urheberin des Verbrechens anzeigen werde. Endlich sagte der Ehemann der Geoffroy, der als ihr Mitschuldiger angeklagt ist, am Abende vor der Verhaftung seiner Frau zu dieser: „Ich bin ein verlorener Mann; verrathe mich nicht.“

Während so die Voruntersuchung gegen die Eheleute Geoffroy schwere Indicien in Betreff des wider die beiden Belin’s unternommenen Giftmordversuchs [424] herausstellte, enthüllte sie noch eine Reihe anderer Verbrechen, die mit einer Beharrlichkeit und Kaltblütigkeit verübt worden waren, wie sie glücklicherweise nur selten in den Annalen der Kriminaljustiz aufgezeichnet sind. Honoré und Julie Nollent, Vater und Mutter der Geoffroy, und Isalie Belin, geborene Nollent, Schwester der Angeklagten, starben am 4. Jan. 1847, 21. Febr. 1848 und 18. Juli 1851, und zwar, wie die von der Justiz zu Rathe gezogene Wissenschaft bewies, an Gift.

Man erinnerte sich nun im Laufe der Untersuchung, daß Honoré Nollent nach einer nur dreitägigen Krankheit, welche mit Kolik und Erbrechen begonnen, unter den heftigsten Schmerzen verschieden sei. Seine Leiche ward daher ausgegraben und die chemische Analyse des Rumpfs und des Gehirns führte zur Entdeckung von Arseniksäure. Die Angst des damals noch nicht verhafteten Geoffroy, als er vernahm, daß die Leiche seines Schwiegervaters untersucht werden solle, ließ dies Resultat vorhersehen. Er sagte u. A. dem Todtengräber, daß er ihm 50 Francs geben wolle, wenn er den Grund und Boden so umwühlen würde, daß das Gericht das Grab des Nollent nicht finden könne. Auch gestand Geoffroy in der Trunkenheit seiner Mutter sein Verbrechen und behauptete, von seiner Frau dazu veranlaßt worden zu sein.

In der gleichfalls wieder ausgegrabenen Leiche der Ehefrau Nollent fand sich ebenfalls Arsenik vor. Diese war an demselben Tage, wo ihr Mann erkrankte, unwohl geworden, doch hatte ihr Leiden nicht sofort den Tod zur Folge, welcher vielmehr erst, wie oben bemerkt, im Februar des folgenden Jahres stattfand. Die Geoffroy besuchte während der letzten Monate der Krankheit ihrer Mutter diese häufig und reichte ihr mehrmals, wie eine zärtliche Tochter, Arznei, welche von der Frau Nollent indeß stets nur mit Widerstreben genommen wurde. Geoffroy, welcher verpflichtet war, seine Schwiegermutter mit Essen und Trinken zu versehen, schickte ihr ein Faß Obstwein, dessen Geschmack so abscheulich war, daß man nichts davon genießen konnte. Die Symptome, welche die Krankheit der Frau den Joseph Belin zeigte, sind die einer allmäligen Vergiftung, und die chemische Analyse fand in den Ueberresten dieser Frau die augenscheinlichsten Spuren von Arsenik.

Diese verschiedenen Verbrechen konnten kaum jemand Anderem zugeschrieben werden, als den beiden Geoffroy’s. Der Vater Nollent hatte seinen beiden Töchtern, der Geoffroy und der Belin, noch bei seinem Lebzeiten sein Besitzthum abgetreten: jede hatte ein Haus nebst Länderei bekommen; dabei war aber die Geoffroy verpflichtet, ihre Eltern in ihr Haus aufzunehmen und zu verpflegen, und es war zugleich ausgemacht worden, daß, wenn zwischen den Eltern und den Eheleuten Geoffroy Streit entstehen sollte, Letztere auf Verlangen der Erstern das Haus verlassen sollten. Die Eltern waren den Eheleuten Geoffroy zur Last geworden und daher entstand der verbrecherische Vorsatz, sich ihrer durch Gift zu entledigen und in den an keine Bedingung mehr geknüpften Besitz ihres Hauses und ihrer Ländereien sich zu setzen. Nachdem dieser Vorsatz ausgeführt und der gewünschte Vortheil erreicht war, ohne daß Strafe dem Verbrechen gefolgt war, warf die Geoffroy die habgierigen Blicke auch auf die Schwester, welche die Eltern zu gleichen Theilen mitbeerbt hatte. Ein neues Opfer fiel. Aber auch dieses genügte noch nicht: das Erbtheil der Schwester ging auf deren Mann und Sohn über und deshalb wurde der Versuch gemacht, auch diese mit Arsenik aus dem Wege zu schaffen. Die Dosis Gift, welche diesen Beiden beigebracht wurde, war nach Aussage Derer, welche die Sache untersucht hatten, so groß, daß 50 Personen damit hätten umgebracht werden können, und daß die Rettung der Unglücklichen nur als eine Art Wunder betrachtet werden muß.

Vier Monate läugneten die Angeklagten hartnäckig alle Schuld der ihnen zur Last gelegten Verbrechen; endlich aber gestanden sie, der Gewalt der sich häufenden Indicien weichend, ein, die Eheleute Nollent vergiftet und den Versuch gemacht zu haben, die beiden Belin auf gleiche Weise aus dem Wege zu räumen. Die Vergiftung der Ehefrau Belin einzugestehen weigerten sie sich hartnäckig. Aus ihren Aussagen ging hervor, daß zwischen Beiden das Verbrechen verabredet, von Geoffroy der Arsenik – „das weiße Pulver, womit man reich wird“, wie der Angeklagte zu seiner Frau sagte, – gekauft und von der Geoffroy den Opfern beigebracht worden war.

Die Beschuldigten nahmen nun zwar vor den Geschworenen diese ihre früheren Geständnisse zurück, wurden aber gleichwohl „schuldig“ befunden, ihre Eltern vergiftet und den Versuch, die beiden Belin zu tödten, gemacht zu haben. Hinsichtlich der Ehefrau Belin lautete der Spruch auf „nichtschuldig“. Der Gerichtshof verurtheilte die Angeklagten zur Todesstrafe und zwar die Geoffroy, welche ihre eigenen Eltern umgebracht, zu geschärfter Todesstrafe.

Dieser Tage sind die beiden entsetzlichen Giftmischer in Amiens hingerichtet worden, die Geoffroy wurde mit gebundenen entblößten Füßen und mit dem ihr Haupt verhüllenden Schleier der Vatermörder zum Schaffot gebracht.




Saubere Burschen. Unter dem Titel: „Enthüllungen aus Bad Homburg“ ist jetzt ein Büchlein erschienen, worin die Nichtswürdigkeiten der dortigen Spielhölle in pikanter Weise aufgedeckt werden. Von den Croupiers werden darin unter Andern auch folgende ganz saubere Stückchen erzählt:

Es gab einen Croupier, der den Boden seiner Tabaksdose mit einem Klebstoff bestrichen hatte. So oft er harmlos sein Faites le jeu, Messieurs! rief, stellte er gleich harmlos die Dose auf irgend einen vereinzelten Louisd’or. – Kaum war das Spiel gemacht, so nahm unser Mann mit gleicher Harmlosigkeit und seliger Ruhe eine Prise Tabak und steckte die Dose mit dem Louisd’or in seine Tasche.

Ein anderer alter Croupier, der weniger Haare als Leidenschaften hatte und mit einer Art von Verzweiflung jeden Morgen Einige fallen, Andere groß werden sah – hatte 5000 Franken Gehalt. –

Wie armselig wenig Geld! Wahrlich nur der Obol eines Monats, wie er sich einen gewünscht hätte, einer Nacht, wie er solche oft sich träumte. Weil er nun endlich einsah, daß das Geld nicht zu ihm kam, so ging er zum Gelde.

Er umschnürte seine Hüften mit einem Gürtel über dem Hemde und versteckte die Hälfte seiner Ohren unter einem sehr steifen Vatermörder.

Auf solche Weise für das Mysterium geweiht, setzte er sich auf seinen Croupierplatz …

Von Zeit zu Zeit empfand er alsdann das Bedürfniß, seine Vatermörder um den Hals wieder zurecht zu schieben, ein bei den unbequemen Vatermördern bekanntlich sehr natürliches und häufiges Bedürfniß.

Aber die Hand, welche das Hinterhaupt streichelte, hatte auch stets einen Louisd’or, den sie zwischen Haut und Hemd hinabgleiten ließ, der dann auch am Leib so tief hinabgleitete, bis er am Gürtel Widerstand fand und in irgend einem Winkel sich verkroch. Hier erwartete er in voller Sicherheit die kleinen Kameraden, welche während des ganzen Tages auf dem von ihm eingeschlagenen Wege folgten.

War nun der alte Croupier Nachts in sein Kämmerlein zurückgekommen und zog er sein Hemd aus, so glich er in der That oft dem Papa Jupiter in dem Augenblicke, als dieser die Danae verführte.

Dieses Geschäftchen ging so gut, daß unser Mann seinen Gürtel bald abnutzte und einen neuen kaufen mußte.

Aber die Herren Bankverwalter sprächen kopfschüttelnd: Zum Teufel! Wozu hat sich Vater R. einen Gürtel gekauft? Die guten Herren grübelten von Frage zu Frage so lange nach, bis sie endlich zu der rechten Antwort kamen, wonach der Croupier der Spielbank und dem Glücke Lebewohl sagen mußte.

Es gibt noch ein Croupiermittelchen, welches in größerem Style angewendet worden. Der Erfinder davon war bisher nicht zu entdecken, was in unserem Jahrhundert um so seltsamer klingt, da man gewöhnlich sechs Erfinder für jede Erfindung kennt.

Ein Croupier hatte genau nach der Größe und Dicke der Tausendfrankenrollen (50 Napoleon oder Louisd’or), Rollen von Blei gemacht, solche mit demselben blauen Papier umgeben und mit demselben Siegel roth gesiegelt – Alles so täuschend, daß ein Unterschied nicht zu erkennen war. Mit großer Gewandtheit vertauschte er seine Rollen mit denen der Bank, schob diese in die Tasche, sah unbefangen über die Tafel hin, und verbarg einen allenfallsigen Anfall von Besorgniß hinter einem fanatischen: Rien ne vas plus!

Diese Verwechselung von Geldrollen verursachte einem armen Amerikaner großen Verdruß, der einige dieser falschen Geldrollen im Spiel gewonnen, diese dann unbefangen ausgegeben hatte und deshalb einige Tage als Betrüger im Gefängniß zubringen mußte, bis sich die Sache aufklärte.




Ein guter Geschäftsmann. Die Wotjäken scheinen die prächtigsten Naturanlagen zum Geschäftsmann zu haben, und es dürfte vielleicht manchen der zu Hunderten auftauchenden Kredit- und andern ähnlichen Gesellschaften mit dem Nachweis eines solchen vortrefflichen Exemplars gedient sein. Diese Herren Wotjäken gehören zur Familie der uralischen Völker und wohnen an beiden Ufern der Wjätka. Der Wotjäke gehört zu der Klasse des menschlichen Geschlechts, die sich vor Geiz selber auffrißt. In seiner übersimpeln Häuslichkeit findet er alle Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse, die er sich zu gestatten erlaubt, und es geschieht gewiß nicht oft, daß er in einen Laden geht, um seinem Weibe oder seiner Tochter ein Halstuch oder dergleichen zu kaufen. Sollte er auch 100 Pud Mehl auf einmal und zu den besten Preisen in der Stadt verkauft haben, er wird sich zehnmal besinnen, ob er seinen Kindern eine Semmel für zwei Kopeken mitbringen soll. Ein solcher Wotjäke nun erschien mit seinem blinden Vater bei einem Arzte und wollte diesem geholfen haben. Es entspann sich folgende Unterredung: „Väterchen, ich habe erfahren, daß Du Augen machst. Da ist mein blinder Vater. Kannst Du ihm Augen machen?“ Der Arzt untersucht den Kranken und erklärt, daß das Uebel heilbar sei. „Was nimmst Du dann aber für’s Augenmachen’?“ fragt der Wotjäke.

„Kannst Du mir zehn Rubel dafür geben?“ erwiedert der Arzt. „Nein, Väterchen, das ist zu viel! Nimm sechs Rubel.“ „Gut, ich will mich mit sechs Rubel begnügen.“ „Und machst Du für sechs Rubel beide Augen?“ „Beide, das versteht sich.“ „Gut,“ sagt nun der Wotjäke, der sein Ziel erreicht hat, „so gebe ich Dir drei Rubel, Väterchen; mache ihm nur ein Auge; er ist alt, er hat an einem Auge wohl auch genug.“
P.




Notiz. Vielfachen, selbst aus weiter Ferne (z. B. aus Warschau und Sta Croce bei Triest) an mich ergangenen Anfragen über Einrichtung von Seewasser-Aquarien, diene durch die Gartenlaube, (durch welche allein die Veranlassung gegeben gewesen sein kann) zur Erwiederung, daß ich über Seewasser-Aquarien keine Erfahrung besitze, also auch darüber keinen zuverlässigen Rath ertheilen kann. An Küstenorten wird wohl überall in der Nähe naturwissenschaftlicher Rath zu haben sein, in Triest z. B. durch meinen verehrten Freund den berühmten Algenforscher Dr. Biasoletto.
E. A. Roßmäßler.

Eine Dame in den vierziger Jahren, mit allen häuslichen Angelegenheiten wohl vertraut, sucht eine Stelle als Wirthschafterin bei einem alten Herrn oder einer Dame. Die Suchende sieht bei einem etwaigen Engagement weniger auf hohes Honorar als auf anständige, freundliche Behandlung. Die Verlagshandlung der Gartenlaube giebt auf frankirte Anfragen gern weitere Auskunft.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.