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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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Quelle: commons
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[313]
Mesmer in Wien.
Von L. Mühlbach.
(Fortsetzung.)

„Nenne Dich nicht mit so unwürdigem Namen, Meister,“ bat Therese schmerzlich.

„Sie nennen mich ja Alle so, warum also soll ich es nicht auch thun?“ rief Mesmer lachend.

„Sie nennen Dich jetzt noch so, aber heute schon werden sie Dich, wie ich, als ihren Herrn und Meister begrüßen. Heute noch werden sie zur Erkenntniß kommen, heute noch werden sie zu Deinen Füßen niedersinken und weinend und innerlich zerknirscht, Dich um Vergebung flehen, daß sie so lange an Dir zweifelten, so lange im Irrthum befangen waren.“

,O, mein Kind, wie wenig kennst Du die Welt!“ rief Mesmer schmerzlich. „Die Menschen verzeihen niemals denen, welche sie eines Irrthums überführten, und für empfangene Wohlthaten pflegen sie sich durch Verleumdung und Verdächtigung zu rächen.“

„O, wenn es so ist, Meister, so lasse mir meine Blindheit! Begehre nicht, daß ich Diejenigen sehen soll, welche Deine Feinde sind, oder gieb meinen Augen die Kraft eines Dolches, damit ich die Unwürdigen durchbohre, gieb –“

Sie stockte, und sank ächzend in die Kissen des Sopha’s zurück. Mesmer hatte seine Hand gegen sie ausgestreckt und die Spitzen seiner Finger berührten fast ihre Stirn.

„Du bist aufgeregt,“ sagte er, „schlafe!“

„Nein,“ murmelte sie, „nein, ich will nicht schlafen!“

„Ich will es!“ sagte Mesmer gebieterisch, und die Spitze seines Vorderfingers berührte leise ihre Stirn.

Therese seufzte tief auf, ihr Haupt sank zurück, und die schweren und ruhigen Athemzüge, welche aus ihrer Brust hervorgingen, bezeugten es, daß sie Mesmer’s Befehl erfüllt hatte, daß sie eingeschlafen war.

Nun neigte sich Mesmer über sie und begann seine Manipulationen. Er näherte sich ihren halbgeöffneten Lippen, und auch seinen Mund öffnend, hauchte er ihren Athem ein und strömte seinen Athem in ihren Mund zurück, den jetzt ein Lächeln unaussprechlicher Wonne umzitterte. Dann erhob er seine beiden Hände und mit den Spitzen seiner Finger der Schlafenden Scheitel berührend, ließ er seine beiden Hände einen Halbkreis durch die Luft beschreiben und dann auf der Brust Thereseus sich wieder vereinigen, um dann in leiser Schwingung wieder empor zu steigen zu ihrer Stirn. So auf und ab in gleichmäßigen Wellenlinien bewegten sich seine Hände, und immer tiefer ward der Schlaf der Blinden, und immer wieder neigte sich Mesmer zu ihren Lippen, um ihren Athem zu trinken und ihr den seinen einzuhauchen.

Und jetzt öffnete sich die Thür und Theresens Mutter erschien auf der Schwelle.

„Die Eingeladenen sind Alle versammelt,“ sagte sie feierlich.

Mesmer nickte gravitätisch. „Wir sind bereit!“ auwortete er.

„Mein Gott, Sie sagen das, und doch schläft Therese?“ rief Frau von Paradies verwundert.

„Ich werde sie wecken, wenn es Zeit ist. Wo ist meine Glasharmonika?“

„Im Salon, wie Sie angeordnet hatten!“

„So lassen Sie uns dahin gehen, und von dorther Therese rufen!“



II.
Der erste Tag des Lichts.

In dem Salon des Herrn von Paradies war die Elite der wiener Gesellschaft versammelt. Die Aristokraten, die Wissenschaft, die Kunst und die Industrie war hier vertreten, ja selbst die Kaiserin, wie gesagt, hatte einen ihrer Kammerherren gesendet, um ihr Bericht zu erstatten über die merkwürdige Operation, die der neue Wunderdoktor heute an der „Pensionärin der Kaiserin“ vornehmen wollte. Aber auch aus dem niedern Bürgerstande, sogar aus den untersten Schichten des Volkes waren auf ausdrückliches Begehr Mesmer’s einige Bevorzugte eingeladen worden; die Bewohner der Paläste wie der Hütten sollten Zeuge sein des Triumphes der neuen Wissenschaft über die alte, des Triumphes des thierischen Magnetismus über die Satzungen der bisherigen Arzneikunde.

Ein geheimnißvolles Halbdunkel herrschte in dem Saale, denn auf Mesmer’s Anordnung waren die grünen Vorhänge der Fenster heruntergelassen. Ringsum im Saale waren Stühle aufgestellt, die mehrfach gereiht in einem Halbkreise die Estrade umgaben, die sich da in der Mitte des Saales befand. Auf dieser Estrade stand ein Divan, einige Stühle und ein Tisch, auf welchem man einen verschlossenen Kasten bemerkte.

Auf diesen Kasten waren die neugierigen, fragenden Blicke der Versammlung gerichtet, und selbst Herr Professor Barth konnte sich trotz seines stolzen, ironischen Lächelns, seiner olympischen Haltung und seines hoheitsvollen Wesens, eines Anflugs von Neugierde nicht erwehren, und wandte seine stolzen Blicke immer wieder zu dem Kasten hin.

[314] „Sie werden sehen, Herr Kollege“ sprach er, sich zu seinem Nachbar neigend, „er wird uns Allen ein X für ein U gemacht haben. Er wird die Gelegenheit benutzen, um vor einer glänzenden Gesellschaft seine erste Augenoperation zu machen, um auf diese Weise schnell einen Ruf zu erwerben. Der Kasten wird seine Instrumente enthalten! Sie werden sehen, im entscheidenden Moment wird er eine Lanzette aus jenem Kasten nehmen, und sie damit operiren.“

„Das heißt, operiren wollen, Herr Kollege,“ sagte Doktor Ingenhaus bedächtig. „Diese Blinde zu operiren, ist unmöglich, wie Ew. Hochwohlgeboren ja selbst zu allererst erkannt haben. Wie soll man operiren, wo nicht zu operiren ist? Das Messer und die Lanzette können doch den erstorbenen Sehnerven ihrer Augen nicht neue Thätigkeit verleihen?“

„Wenn er eine Lanzette nimmt, um ihr damit in die Augen zu bohren, werde ich ihn verhindern!“ rief der Professor mit drohender Stimme. „Man soll es in meiner Gegenwart nicht wagen dürfen, die Wissenschaft zu verhöhnen und die gesunde Vernunft Lügen zu strafen. Ich werde genau Acht geben, und wehe dem Betrüger, wenn ich ihn erwische.“

„Aber der Kasten enthält gewiß keine chirurgischen Instrumente,“ flüsterte der zweite Nachbar des Professor Barth. „Ich denke, ich weiß, was darin ist.“

„Nun, was ist darin, Herr Pater Hell?“ fragten die beiden Herren mit lebhafter Neugier.

„Ein Planet wird darin sein, meine Herren,“ rief der berühmte Astronom. „Sie wissen ja, der Wunderdoctor hat nicht genug an Euren Apotheken, er pfuscht mir in meinen Himmel hinein, und will sich aus meinen Fixsternen und Planeten Arzneien und Latwergen brauen, mit denen er seine Patienten heilt. Hoffe indeß, daß er sich da in seinem Kasten einen Planeten mitgebracht hat, den noch Niemand kennt, und den er daher ungestraft sich vom Himmel herunter langen konnte. Wehe ihm aber, wenn ich heute Abend auf meiner Warte einen meiner Sterne vermisse! Ich werde dann sogleich die Polizei requiriren, und den Monsieur Mesmer als einen frechen Dieb einstecken lassen.“

Die Herren lachten fröhlich über den sarkastischen Scherz des Astronomen, wurden aber in ihrer Fröhlichkeit durch das Eintreten Mesmer’s unterbrochen, der, dem Ruf der Frau von Paradies folgend, jetzt in den Saal trat.

Ohne die Versammlung eines Blickes, eines Grußes zu würdigen, durchschritt Mesmer den leeren Raum und trat auf die Estrade. Sein Antlitz war bleich, aber ernst und energisch, und wie er jetzt, neben dem Tisch stehend, seine großen blauen Augen mit einem langsamen Blick über die Gesellschaft hingleiten ließ, fühlte Jedermann, daß in der Seele dieses Mannes kein Zweifel und keine Unruhe, sondern nur festes, unwandelbares Vertrauen wohne.

Jetzt öffnete Mesmer den Kasten. Ein athemloses Schweigen herrschte in der Gesellschaft, alle diese leuchtenden, fragenden, gierigen Blicke waren unverwandt auf den Doctor gerichtet.

Er schien das nicht zu fühlen. Mit vollkommener Gelassenheit nahm er einen Stuhl und setzte sich nieder. Nun legte er seine Hände in den geöffneten Kasten, dessen Rückseite dem Publikum zugekehrt war.

„Jetzt wird er die Instrumente heraus nehmen,“ murmelte Professor Barth seinem Nachbar zu; aber noch ehe dieser Zeit fand zu einer Erwiederung, erschallte ein Ton von so wunderbarer, seltsamer Gewalt, daß selbst der gelehrte Professor sein Herz davon erbeben fühlte. Und jetzt ein neuer Ton, noch mächtiger anschwellend, noch langsamer in geisterhaftem Geflüster verklingend, und nun reihte sich Ton an Ton, nun durchrauschte den Saal die wunderbarste, nervenerschütterndste Musik. Und alle Gesichter erbleichten, und von den fremdartigen, seltsamen Klängen fühlte sich jedes Herz bewegt, und wie verzückt hingen Aller Augen an diesem Zauberer, der seinem Kasten so merkwürdige, herrliche Musik zu entlocken vermochte.

„Ach, sehen Sie da, Herr Professor,“ flüsterte der Pater Hell, „Sie haben sich nur im Pronomen geirrt. Der Mann hat in seinem Kasten nicht Instrumente, sondern nur ein Instrument.“

„Ja, wahrhaftig,“ flüsterte Professor Barth, „der Planet, den Sie prophezeihten, hat sich in eine Glasharmonika verwandelt.“

„Und die Lanzette, die er führt, ist ein Fischbeinstab mit einem Pfropfen daran,“ sagte Doctor Ingenhaus achselzuckend.

Mesmer spielte weiter; immer lauter, immer machtvoller durchrauschten die Töne den Saal, mit immer sehnsuchtsvollerer Gewalt schienen sie einen unsichtbaren Geist beschwören zu wollen, daß er erscheine.

Und jetzt nahte da durch das Vorgemach eine weiße Gestalt. Sie schwebte näher heran, ihre Füße schienen den Boden nicht zu berühren, man hörte sie nicht, man sah sie nur nahen. Jetzt stand sie auf der Schwelle der Thür. Da blieb sie stehen, angewurzelt, unbeweglich, denn Mesmer streckte abwehrend eine Hand gegen sie aus und bannte sie an diese Stelle.

Aller Augen wandten sich jetzt auf diese Gestalt hin, auf diese „Braut des Tages,“ die da in dem Schmucke ihres bräutlichen Festes sich nahte. Noch waren ihre Augen verhüllt von einer dicken Binde, noch gehörte diese rührende, zarte Gestalt dem Gott des Schweigens und der Finsterniß an, aber sie stand schon auf der Schwelle einer neuen Welt, und das selige Lächeln, welches ihre Lippen umspielte, schien diese Welt mit einem ersten Liebeshauch zu begrüßen.

Athemlose Stille herrschte in dem Saal, langsam nur und leise ließ sich dann und wann ein sanft anschwellender Harmonikaton vernehmen; dann wieder ward Alles still, feierlich, geheimnißvoll.

Da ließ Mesmer die Hand, welche er gegen Therese ausgestreckt hatte, sinken; bald jedoch legte er sie wieder auf die Tasten, und nun durchrauschte der volle Strom der Melodien aufs Neue den Saal.

Therese bewegte sich, sie schritt vorwärts. Lauter, mächtiger erschallte die Musik.

Im Saal ward jetzt das tiefe Schweigen hier und da durch lautes Schluchzen, durch halblaut gemurmelte Gebete unterbrochen. Jedermann fühlte die Bedeutung dieses Momentes und ließ sich von demselben hinreißen. Auf einmal entstand eine Bewegung; einige Damen waren ohnmächtig geworden; ihre zart besaiteten Nerven waren überwältigt worden von dem Eindruck dieser Stunde und dieser Musik[1].

Aber Niemand kümmerte sich um sie, Niemand wollte seinen Platz verlassen, um die Ohnmächtigen aus dem Saal zu führen. Man vergaß ihrer und schaute nur in athemloser Erwartung auf Mesmer und Therese hin.

Er spielte immer fort, aber das Haupt halb rückwärts gewandt, heftete er seine großen flammenden Blicke mit einem gebieterischen Ausdruck auf Therese.

Sie fühlte diesen Blick und erbebte unter demselben. Mit raschem Schritten näherte sie sich jetzt, wie getragen von unsichtbaren Genien schwebte das junge, lächelnde Mädchen mit den verhüllten Augen zu der Estrade hin, und stand jetzt auf derselben, dicht neben Mesmer.

Er deutete mit einem einzigen kurzen Wink seines Fingers auf den Divan hin. Sofort wandte sich Therese von Mesmer ab und ging zu dem Divan, auf dem sie sich niederließ.

„Sie ist gut abgerichtet,“ murmelte Herr Professor Barth. „Das ist natürlich eine verabredete und einstudirte Scene.“

„Wenn man mit einer Glasharmonika Blinde sehend machen kann,“ flüsterte Doctor Ingenhaus, „so verbrenne ich morgen meine Bücher und werde wandernder Musikant.“

„Wenn man mit dem Winken seiner Hand Planeten citiren kann,“ sagte Pater Hell, „so zerschlage ich heute noch meine Gläser und werde Famulus von Mesmer. Es scheint in der That, als ob –“

Die Harmonika verstummte und machte dem leisen Gespräch der gelehrten Herren ein Ende.

Mesmer stand auf, und seine hohe muskelkräftige Gestalt emporgerichtet, näherte er sich Theresen. Sie erbebte und lehnte, schwer athmend, ihr Haupt zurück in die Kissen. Mesmer erhob seine Hand und beschrieb über ihrem Haupte langsam einige Kreise durch die Luft.

„Es brennt und bohrt in meinen Augen wie glühende Dolche,“ murmelte Therese.

Jetzt richtete er die Spitzen seiner Finger gerade gegen ihre Augen und berührte mit denselben die Binde.

„Nimm die Binde ab und sieh!“ rief Mesmer mit gebieterischer Stimme.

[315] Therese hob hastig ihre Hände empor und riß die Binde von ihren Augen fort.

Eine athemlose Stille herrschte in dem Saal, alle Herzen klopften angstvoll, mit glühender Neugierde waren alle Blicke auf dieses bleiche, junge Mädchen gerichtet, das da mit weit geöffneten Augen auf der Estrade stand und starr und unverwandt auf Mesmer hinschaute, der unbeweglich ihr gegenüber stand.

Jetzt hob Therese die Hand empor und deutete auf Mesmer hin. „Wie,“ rief sie mit einem Ausdruck tiefen Entsetzens, „ist das das Bild eines Menschen?“[2] Mesmer antwortete nicht, er nickte nur mit dem Kopfe; seine Arme auf die Hüften stützend, ließ er seinen Körper allerlei schwankende Bewegungen machen.

Therese stieß einen Schrei aus und fuhr zurück. „Das ist fürchterlich zu sehen!“ rief sie entsetzt. „Dies Menschenbild wird über mir zusammenstürzen. Wo ist Mesmer, zeigt mir Mesmer!“

„Ich bin es,“ sagte Mesmer, sich ihr nähernd.

Sie zuckte zusammen und betrachtete ihn lange mit prüfenden trüben Blicken. „Ich glaubte, ein Menschenantlitz sei strahlend wie das Glück,“ sagte sie, „und dies Gesicht, dünkt mich, sieht aus wie der verkörperte Schmerz. Sehen alle Menschen so aus? Wo ist meine Mutter?“

Frau von Paradies hatte nur auf den Ruf ihrer Tochter gewartet. Sie kam mit ausgebreiteten Annen, ihr Antlitz überströmt von Freudenthränen zu ihr herangeeilt.

Aber Therese warf sich nicht in ihre Arme, sie stieß einen Schrei aus, und verhüllte sich mit beiden Händen das Gesicht.

„Therese, mein geliebtes Kind,“ rief ihre Mutter zärtlich, „sieh mich an, schau in meine Augen und erkenne darin die Liebe einer Mutter.“

„Ja, das ist die Stimme meiner Mutter,“ rief Therese freudig, indem sie ihre Hände wieder von ihrem Antlitz gleiten ließ. Ihre Mutter stand neben ihr und schaute sie lächelnd an.

„Du, Du bist meine Mutter?“ flüsterte Therese. „Ja, ja, ich erkenne Dich, ich kenne diese Augen, sie sehen aus wie eine verklärte Thräne der Liebe! O, Mutter, laß mich Dich anschauen und zu Deinen Augen beten!“

Frau von Paradies neigte ihr Haupt vorwärts, um ihre Tochter zu küssen, aber wieder fuhr Therese mit einem Aufschrei des Entsetzens zurück und verhüllte ihr Gesicht.

„Weshalb drohst Du mir so fürchterlich?“ fragte sie angstvoll. „Geh zurück, Du wirst mir mit dem entsetzlichen Ding die Augen ausbohren.“

„Womit, Therese?“ fragte ihre Mutter erstaunt. „Sieh mich an und sage mir, was Dich in meinem Antlitz erschreckt!“

„Blicken Sie empor und schauen Sie Ihre Mutter an, Therese,“ befahl Mesmer.

Sie gehorchte dieser Stimme, welche ihr Herz erbeben machte, und ließ ihre Hände von ihrem Antlitz gleiten.

„Nun sage mir, was Dich erschreckt hat,“ bat Frau von Paradies.

Therese hob ihre Hand empor und deutete schüchtern auf die Nase ihrer Mutter.

„Das da,“ sagte sie, „was ist das?“

„Das ist meine Nase,“ rief ihre Mutter lächelnd, und durch den ganzen Saal hörte man jetzt das melodische Rauschen eines frohen Lachens.

„Diese Nasen sind fürchterlich in dem Menschengesicht,“ rief Therese entsetzt. „Es kommt mir vor, als wenn sie mir entgegen drohten und mir meine Augen ausstechen wollten*.“

„Ich will Ihnen das Bild eines drohenden Menschen zeigen, Therese,“ rief Mesmer, indem er eine solche Stellung annahm, und mit geballten Fäusten, mit blitzenden Augen, mit fest aufeinander gepreßten Lippen zu ihr heranschritt.

Therese brach zusammen und stürzte auf ihre Knie nieder. „Sie werden mich tödten,“ schrie sie entsetzt.

Diese Scene, zugleich so einfach und so dramatisch, machte auf alle Anwesenden einen überzeugenden Eindruck. Selbst der gelehrte Professor Barth ließ sich hinreißen von der Gewalt des Momentes.

„Bei Gott, das ist keine Täuschung, sie kann sehen,“ rief er.

„Wenn das Herr Professor Barth sagt, so wird wohl Niemand es mehr zu bestreiten wagen,“ gegenredete Mesmer, laut genug, um von Jedermann im Saal verstanden zu werden.

Der Professor runzelte finster seine Stirn und gab sich das Ansehen, die Worte Mesmer’s gar nicht gehört zu haben. Er bereute schon, was er gesagt, und hätte, trotz seines bekannten Geizes, jedes seiner Worte mit einigen Ducaten zurückkaufen mögen. Aber es war zu spät, alle Anwesenden hatten sie vernommen, und Jeder flüsterte es froh dem Andern zu: „Auch Professor Barth ist jetzt überzeugt. Auch er gesteht zu, daß Therese sehen kann. Mesmer ist in Wahrheit ein Wunderdoktor!“

Therese indeß hatte jetzt auch ihren Vater und ihre nächsten Verwandten begrüßt. Aber sie, welche während ihrer Blindheit immer ein so zärtliches, liebevolles Wesen gegen alle ihre Angehörigen gezeigt, hatte jetzt gegen sie Alle ein kaltes, fast zurückstoßendes Benehmen.

„Ich wußte es wohl,“ seufzte sie traurig, „ich wußte es, daß das Sehen mich nicht glücklicher machen könnte. Ich sah Euch Alle mit meinem Herzen und ich liebte Euch! Jetzt, wo ich Euch sehe mit meinen Augen, bebt mein Herz zurück und entsetzt sich vor all’ den traurigen Geheimnissen, die mir Eure Gesichter verrathen. Ach, ich glaube, um die Menschen recht lieben zu können, muß man blind sein! Aber,“ fuhr sie lebhafter fort, „weshalb entzieht Ihr mir Bello, meinen Liebling. O, laßt mich meinen treuen Hund sehen, er ist so lange mein Führer in meiner Blindheit gewesen, laßt mich ihn sehen!“

Bello, der große schwarze Bernhardinerhund, hatte längst an der verschlossenen Thür eines Nebengemaches, die Nähe seiner Herrin witternd, laut gebellt und gewinselt.

Frau von Paradies eilte jetzt hin, die Thür zu öffnen, und sofort stürzte der Hund mit langen Sätzen zu Theresen hin, um zu ihren Füßen niederzukauern und ihre Hände zu lecken.

Therese neigte sich lächelnd zu ihm nieder und hob seinen Kopf empor. Das kluge Thier, als errathe es den Wunsch seiner Herrin, legte seinen Kopf auf ihre Knie und schaute mit seinen großen, dunklen Augen klug und verständig zu ihr empor.

Therese streichelte sanft sein glänzendes schwarzes Fell. „Dieser Hund,“ sagte sie sinnend, „dieser Hund gefällt mir weit besser als ein Mensch. Es liegt so viel Güte und Wahrheit in seinen Augen, und sein Hundekopf erschreckt mich lange nicht so sehr als ein Menschenangesicht[3].“

„Ich denke, wir könnten uns jetzt von dannen begeben,“ brummte Professor Barth, „das Schauspiel ist zu Ende, und jetzt werden die lieben Verwandten und Freunde nichts Eiligeres zu thun haben, als dem Autor und der ersten Liebhaberin zu applaudiren. Ich sehe für mich keine Verpflichtung ein, dabei zu sein!“

„Ich auch nicht,“ stimmte Doctor Ingenhaus bei, indem er sich anschickte seinen Herrn Collegen zu begleiten. „Ueberdies fühle ich mich etwas verwirrt im Kopfe von all’ den Gedanken, die dieser verteufelte Doctor darin zerbröckelt hat. Lassen Sie uns gehen!“

„Nehmen Sie mich mit,“ sagte Pater Hell, ihnen folgend. „Ich muß wirklich nachsehen, ob der Zauberer keinen Planeten vom Himmel gestohlen hat, mit dessen Hülfe er dieses Wunder hier zu Stande gebracht!“

Die drei Herren durchschritten gravitätisch, und ohne sich zu verabschieden, den Saal, um sich hinweg zu begeben. An der Thür trafen sie den Grafen von Langermann, den Kammerherrn der Kaiserin.

„Ah, Sie machen es wie ich, meine Herren,“ redete der Graf sie an, „Sie enteilen dem Zaubersaal, um die Wunder, die Sie erschaut, Ihren Freunden mitzutheilen. Ganz Wien wird heute und morgen von nichts Anderem sprechen als von der glücklichen Heilung der schönen Therese von Paradies. Niemand wird jetzt mehr zweifeln können, da unser berühmter Professor Barth selber die glückliche Heilung constatirt hat. Ich werde mich beeilen, das der Kaiserin mitzutheilen, und Ihro Majestät wird sehr erfreut sein, ihren Schützling genesen zu wissen.“

„Sie können der Kaiserin auf alle Fälle mittheilen, daß wir eben eine sehr gut gespielte Theaterscene erlebt haben, Herr Graf,“ sagte Professor Barth verdrießlich.

„Eine Theaterscene?“ fragte der Graf verwundert. „Aber die Heilung des blinden Mädchens ist indeß doch eine Wahrheit, und Sie selber haben das vorhin bestätigt!“

[316] „Ein flüchtig hingeworfenes Wort, das man halb aus Höflichkeit, halb aus Uebereilung äußert, ist noch keine Bestätigung,“ rief der Professor Barth ärgerlich. „Man sagt Manches im Salon, was man in seiner Studirstube nicht zu rechtfertigen unternähme.“

„Auch bedarf ein solcher Fall der reiflichen Erwägung,“ sprach Doctor Ingenhaus bedächtig. „Es ist unmöglich, in einem Tage über ein Factum von so ernster Bedeutung zu entscheiden.“

„Aber, meine Herren,“ rief der Graf lachend, „das Factum steht mindestens fest, daß das Fräulein von Paradies nicht mehr blind ist, und daß Mesmer sie ohne Instrumente und Arzneien, blos durch das Auflegen seiner Hand curirt hat! Ich eile, der Kaiserin diese Nachricht zu bringen!“

Er grüßte die Herren mit einer flüchtigen Verbeugung und eilte von dannen.

„Da geht er hin,“ murrte Professor Barth, „thut, als ob er eine wunderbare Freudennachricht in der Burg als Herold zu verkünden habe. Im Hofcirkel wird man heute natürlich nur von dem Wunderdoctor Mesmer zu sprechen wissen.“

„Und wir? Was werden wir thun?“ fragte Pater Hell, mit seinen kleinen listigen Augen die beiden Freunde anblinzelnd.

„Ja, sagen Sie, Herr Kollege, was werden wir thun?“ fragte Doctor Ingenhaus.

Professor Barth antwortete nicht. Er schritt mit gravitätischer Ruhe die Treppe hinab und über den Flur der Hausthür zu. Erst als sie auf der Straße angelangt waren und sich einige Schritte von dem Hause der Wunder entfernt hatten, blieb Professor Barth stehen und legte seine Hände schwer und gewichtig auf die Schultern seiner beiden Freunde.

„Was wir thun werden, meine Herren und Freunde?“ fragte er langsam.

„Ja, sagen Sie uns,“ sprach Doctor Ingenhaus, „ist es möglich, daß dieser Mann über uns den Sieg davon getragen hat? Daß er, den wir so lange als einen Charlatan verhöhnt und verspottet haben, jetzt zu Stande gebracht, blos mit seiner Hand, was unser berühmter Augenoperateur mit der Lanzette in seiner Hand nicht zu Stande zu bringen vermochte?“

„Dürfen wir es dulden,“ fragte Pater Hell düster, „daß dieser Mensch mit einem kühnen Handgriff alle Gesetze der Wissenschaft und der Erfahrung umstößt, und uns eine ganz neue, lächerliche Lehre an Stelle Dessen setzen will, was seit Jahrhunderten und Jahrtausenden her in der Wissenschaft erkannt und erforscht war? Wagte er es nicht, zu behaupten, daß er sich seinen thierischen Magnetismus von den Sternen herunter geholt habe? Hat er nicht die Keckheit, zu sagen, was noch kein Astronom der ganzen Welt entdeckt hat, daß nämlich die Planeten einen direkten Einfluß haben auf die Welt und die Menschen?“

„Und endlich,“ sagte Doktor Ingenhaus ingrimmig, „endlich ist er nicht mir, der ich es zur Aufgabe meines ganzen Lebens gemacht habe, Nervenkranke zu behandeln und zu kuriren, mit der frechen Behauptung entgegengetreten, daß nur der thierische Magnetismus die Nervenkrankheiten zu heilen vermöge? Und laufen nicht seitdem alle meine Kranken wie wahnsinnig und toll mir aus der Kur fort, und rennen zu diesem Charlatan hin, der ihnen Heilung verspricht durch das Auflegen seiner Hand? Er ist auf diese Weise Arzt und Apotheker in einer Person, und die wahnsinnigen Menschen zahlen ihm für seine eigene Person das Honorar, was sie sonst zwischen uns und dem Apotheker theilten.“

„Er ruinirt die Astronomie, die Medicin und die Pharmacie, wenn er den Sieg über uns erlangt,“ sagte Professor Barth feierlich. „Ueber uns, das heißt über die Wissenschaft, denn wir vertreten die Wissenschaft, an welche dieser freche Mensch Hand anzulegen wagt. Die Wissenschaft würde in Trümmern zusammensinken, wenn wir diesem Mesmer gewähren ließen. Wir selbst würden durch ihn bei Seite gedrängt und in den Staub getreten, während er triumphirend an uns vorübereilte den höchsten Ehren zu. Schon verkündet der Kammerherr der Kaiserin bei Hofe das Wunder, was er erschaut, und in wenigen Stunden wird ganz Wien entzückt sein über die wunderbare Mähr, die es empfängt. Wenn wir nicht unsere Maßregeln nehmen, ist die Wissenschaft zu Grunde gerichtet, sind unsere Lehrstühle umgeworfen, ist unsere Praxis vernichtet.“

„Wir müssen also unsere Vorkehrungen treffen!“ riefen die beiden Herren schnell. „Sagen Sie also, was sollen wir thun?“

„Einfach die Scene, die wir erlebt haben, für das ausgeben, was sie ist, für ein Theaterstückchen,“ sagte Professor Barth gelassen. „Therese von Paradies ist blind und bleibt blind, und was wir da heute gesehen, war eine einstudirte Farce, weiter nichts!“

„Aber unglücklicher Weise, verehrter Freund, haben Sie uns dies Auskunftsmittel durch den liebenswürdigen Enthusiasmus unmöglich gemacht, mit dem Sie die Blinde laut und öffentlich für geheilt und für sehend erklärten.“

„Sie haben also nicht den Ton der Ironie bemerkt, mit dem ich diese unglücklichen Worte sprach? Ich wollte den Charlatan verhöhnen, weiter nichts! Der Mensch nahm für Wahrheit, was nur Spott war!“

„Und alle Anwesenden haben es unglücklicher Weise auch so gemacht,“ seufzte Pater Hell. „Man wird Ihren Versicherungen leider hinterher schwerlich glauben!“

„Man wird es nicht heute und nicht morgen, aber vielleicht übermorgen,“ erwiederte der Professor stolz. „Wenn wir Aerzte und Männer der Wissenschaft in einer festen Phalanx auftreten gegen diesen Mann, wird es uns schon gelingen, ihn zu besiegen. Wenn wir es nicht thun, ruinirt er uns Alle. Es ist also Pflicht der Selbsterhaltung, ihn zu bekämpfen und als einen Charlatan zu brandmarken. Das sei unsere Aufgabe, und sie zu lösen, muß unser heiliges Bestreben sein! Therese von Paradies ist eine Blinde, und es ist im Interesse der Wissenschaft nothwendig, daß sie es bleibt. Man wird schon Mittel finden, es zu beweisen, daß sie es auch ist, und daß die guten, leichtgläubigen Wiener sich wieder einmal einen Bären haben aufbinden lassen. Kommen Sie, wir wollen daheim in meinem Studirzimmer das Nähere verabreden!“

Während die drei Widersacher Mesmer’s solche unheilvolle Pläne brüteten, waren die Freunde und Bekannten, die in dem Salon des Herrn von Paradies versammelt waren, noch immer damit beschäftigt, sich Theresen vorzustellen, und die Genesene mit herzlichen Glückwünschen zu begrüßen.

Therese saß bleich und unbeweglich auf dem Divan und starrte die fremden Gesichter mit einem traurigen Lächeln an, und schauderte, wenn man ihr sagte: das da ist die Freundin, welche Du so sehr liebst; das ist der Freund, der Dir sonst durch seine lustigen Geschichten die Zeit verkürzte!

Sie schloß dann die Augen und sagte flehend: „Sprecht zu mir, damit ich Euch wiedererkenne, und mich so ganz allmälig an Euer fremdes Angesicht gewöhne. Sprecht jetzt zu mir, damit meine Augen durch mein Herz lernen, Euch lieb zu gewinnen!“

Auf einmal aber, als eben wieder eine ihrer Freundinnen ihr vorgestellt ward, brach Therese in ein lautes Lachen aus.

„Was trägt denn die für ein lächerliches Ding da über ihrem Haupt?“ fragte sie.

„Nun,“ antwortete ihre Mutter, „das ist ja die Frisur, die Du so sehr liebst. Das ist ein Kopfputz à la Magtignon!“

Therese fuhr entsetzt mit beiden Händen zu ihrem eigenen Haupt empor. „Ja,“ sagte sie traurig, „so unnatürlich, steif und häßlich steigt da auch bei mir das lächerliche Ding in die Höhe. Ich will niemals wieder so frisirt werden, Mutter!“

„Aber mein Kind, diese Frisur ist jetzt die neueste Mode, und Du wirst Dich wohl darein fügen, sie zu tragen, denn was Mode ist, ist schön!“

„Ich werde mich nicht darein fügen,“ sagte Therese, langsam ihr Haupt schüttelnd. „Jetzt, da ich sehen kann, werde ich nicht so sehr fragen, was Mode, sondern was kleidsam, hübsch und natürlich ist. Aber jetzt, da ich Menschen und Thiere kennen gelernt habe, jetzt laßt mich auch die Natur und den Himmel kennen lernen. Mein Arzt, der mir das Licht gegeben, soll mir jetzt auch den Himmel geben. O, Mesmer, führen Sie mich zu Gott, zur Natur und zum Himmel!“

„Kommen Sie, Therese, wir wollen es versuchen, ob Sie den Anblick des Lichtes schon zu ertragen vermögen,“ sprach Mesmer, indem er sanft ihren Arm in den seinen schob, und sie von der Estrade herunter hob.

Aber seltsam, Therese, welche sonst in ihrer Blindheit frei und leicht durch alle Zimmer des elterlichen Hauses ihren Weg fand, ohne nur einmal anzustoßen oder sich zu verirren, bewegte sich jetzt nur schwankend, und mit kleinen, furchtsamen Schritten vorwärts.

(Fortsetzung folgt.)
[317]
Weimar und seine Dichter

Seit das kleine Athen durch seine Dichter, Künstler, Philosophen und Staatsmänner ganz Griechenland überstrahlte, hat sich nur einmal wieder ein gleich glänzender Kreis von hervorragenden Geistern zusammengefunden – im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts in dem kleinen Weimar (das man darum Ilm-Athen nennt). Weimar mit seinen engen, stillen Gassen und seinen wenn auch alten, so doch characterlosen Häusern sah damals, und sieht zum Theil noch jetzt aus, als sei es an das Schloß mit dem großen Parke angebaut worden, der sich an der einen Seite bis zu dem Lustschlosse Belvedère mit einem andern Parke und auf der andern mit dem Schlosse Tieffurt, ebenfalls mit einem Parke, fortsetzt. Es leben noch Personen, die sich erinnern, daß der weimarische Hirt mit lauten Horntönen täglich zur bestimmten Stunde die Rinder und Schweine der Bürger zusammenrief und zur Weide trieb, und als Goethe in dem Städtchen (1775) erschien, enthielt es in den kaum 700 Häusern etwa 7000 Einwohner, die sich um nichts weniger kümmerten, als um Literatur und Kunst, und sich durch Bildung so wenig auszeichneten, als ihre Straßen durch Beleuchtung, in denen man, bei nächtlicher Finsterniß, jeden Augenblick Gefahr lief, die Beine zu brechen. Und doch sagte Goethe einmal: „Ich habe fünfzig Jahre hier gelebt und obwohl ich viel herumgekommen, kehrte ich doch stets gern nach Weimar zurück.“ Diese anhängliche Liebe zu der kleinen Stadt theilten Alle mit ihm, die das Glück hatten, sich eine Zeit lang dort aufhalten zu können, und sie erklärt sich zum Theil durch die Reize der Umgebung, vorzugsweise aber durch das Thun und Wollen der herzoglichen Familie, die drei der ausgezeichnetsten Persönlichkeiten in sich vereinigte.

Einsiedel Frau v. Kalb. Die Brüder v. Humboldt. Schiller.  Wieland. Schwestern von Lengefeld. Herzog Karl August. Goethe.
u. Seckendorf.  (Frau v. Schiller. Frau v. Wolzogen.) 
Musäus.  Herder.  Kotzebue. Kuebel. 
 Herzogin Amalie.  Herzogin Louise.

Voran steht die verwittwete Herzogin Amalie, die Nichte Friedrichs des Großen, dem sie auch geistig verwandt war, während sie in ihrem braunschweigischen Blute den leichten Sinn und die Liebe zum Vergnügen geerbt hatte. Im achtzehnten Jahre verwittwet, mußte sie die Regierung des Landes und die Erziehung ihrer beiden Söhne übernehmen. Sie liebte Literatur und Kunst und schützte deren Pfleger. Sie componirte, malte und las die alten griechischen Dichter in der Ursprache. Sie setzte sich über alle Etikette hinaus und fuhr selbst einmal von Tieffurt mit sieben Freunden auf einem Heuwagen ab. Unterwegs wurden sie von einem Gewitter überrascht. Sie zog Wieland’s dicken Rock an und erschien so in ihrer Residenz. In ihren Briefen an Goethe’s Mutter herrscht die liebenswürdigste Herzlichkeit. Sie nennt dieselbe „Mutter“ und unterschreibt sich einfach: „Behalten Sie mir lieb und denken Sie fleißig an Ihre Freundin Amalie.“ Als Erzieher und Lehrer für ihre Söhne wählte sie Wieland – und dieser Schritt der Herzogin Amalie wurde von der allergrößten Bedeutung, denn mit ihm beginnt die große Zeit Weimars, und ohne ihn wäre weder Goethe noch Schiller noch Herder da erschienen.

[318] Karl August, Amaliens Sohn und Wieland’s Zögling, von dem Friedrich der Große schon sagte, von allen Prinzen, die er gesehen, verspreche er das Meiste, wurde vollständig, was er zu werden versprochen. Mit den kleinsten Mitteln hat er unter allen Fürsten Deutschlands das Größte gethan. Leicht ist es für jeden Fürsten, Männer von Talent um sich zu sammeln; schwer aber, sie bei sich zu behalten und die volle Entwickelung ihrer Talente zu fördern. Karl August besaß den rechten Blick, den Genius zu erkennen; er hatte den Willen, die Ausgezeichnetsten seiner Nation um sich zu sammeln, und verstand die Kunst, sie bei sich zu halten. Seine Thätigkeit ruhte nie; jeden Augenblick hatte er das Wohl seines Landes im Auge; in einer Stunde las er in einem Werke über Philosophie, Geschichte oder Kunst, in der nächsten suchte er eine neue Erfindung erproben zu lassen etc. „Er schritt immer weiter vor,“ sagt Goethe, und dabei war wohl Niemand in ganz Deutschland so einfach als er, sein Freund Goethe etwa ausgenommen, mit dem er überhaupt vieles gemein hatte, als wären sie wirklich Brüder. Von väterlicher Seite hatten Beide wenigstens thüringisches Blut in ihren Adern, und ihre Mütter, Amalie und Frau Aja, waren einander in Charakter und Temperament nahe verwandt. Am liebsten befand er sich unter Soldaten oder unter vier Augen mit seinem Dichter, dem er einmal von Gotha aus nach Jena schrieb: „Ich sehne mich, mit Dir die Sonne auf- und untergehen zu sehen; denn hier sieht man sie vor Höflingen nicht, die ihre „„Fischpflicht““ mit fürchterlicher Pünktlichkeit verrichten.“

Von seiner Gemahlin, der schönen Herzogin Louise, spricht Niemand ohne die höchste Verehrung. In ihrer verständigen Ruhe, mit ihrer immer gleichen Anmuth mäßigte sie die wohl zuweilen aufbrausende Heftigkeit Karl Augusts, und „mit sanft überredender Bitte führte sie stets den Scepter der Sitte.“ Sie und die Königin Louise von Preußen ragen in der neuen deutschen Geschichte groß hervor: sie traten Napoleon, dem damaligen allmächtigen Gebieter, entgegen und nöthigten ihn Beide zu Bewunderung.

Um diese fürstliche Familie gruppirte sich nun der Kreis von großen Männern und interessanten Frauen, der seine Anziehungskraft heute noch nicht verloren hat. Zuerst Wieland, der gutmüthige, leicht gereizte und leicht verzeihende, der den damals noch wenig gebildeten deutschen Geschmack durch griechische Grazie und französische Leichtigkeit zu fördern suchte, und durch seinen deutschen Merkur nicht geringen Einfluß ausübte. Dann ging Goethe, der mit seinem „Werther“ und „Götz“ alle Herzen in Deutschland erobert hatte, „wie ein Stern“ in Weimar auf, – in seiner Jugend ein Mann von gewinnender Schönheit, in seinem Alter voll Majestät; mit einem Herzen, das der treuesten und aufopferndsten Liebe und Freundschaft fähig war, und mit einem Geiste, der in die Tiefen der Menschenseele wie in die Geheimnisse der Natur einzudringen vermochte; in der Jugend voll liebenswürdiger Wildheit, in dem Alter ein Weiser; zu jeder Zeit unablässig thätig als Dichter, als Kunstfreund, als Naturforscher und als hoher Beamter, ja im Stande, in einem Wirthshause in einem Dorfe eine Scene der „Iphigenie“ zu schreiben, nachdem er so eben bei einer Rekrutenaushebung beschäftiget gewesen.

Neben ihm Schiller, körperlich kränklich, steif und unbeholfen, aber immer begeistert, immer nach Höherem, nach Idealem strebend, darum die Jugend und Frauen entflammend und fortreißend, durch die Pracht seiner Bilder und den Wohllaut seiner Sprache entzückend, das Ideal eines Dichters, und als solcher mit Recht alle Zeit gefeiert, dabei aber dem großen Freunde Goethe gegenüber so tief bescheiden, daß er sich nicht scheut zu sagen: „Gegen ihn werde ich doch immer ein Lump bleiben.“

Herder, durch scharfe und gewandte Kritik Lessing vergleichbar, mit dem reinsten und geläutertsten Geschmack, und darum von dem größten und vortheilhaftesten Einflusse auf Goethe, der ihn schon als Student in Straßburg kennen und schätzen lernte, später seine Berufung nach Weimar veranlaßte und, namentlich in der frühern Zeit, ihm seine dichterischen Schöpfungen vor dem Druck zur Prüfung vorlegte. Leider war er nicht blos kritisch, sondern auch krittlich, eitel, immer unzufrieden, eifersüchtig und neidisch, namentlich gegen Goethe’s einflußreiche Freunde, wie Anfangs Merck, später Schiller.

Zu diesem Kreise gehörte, wenn auch nicht lange, der drollige Musäus, der Verfasser der trefflichen „Mährchen;“ ferner von Knebel, der mehr als berathender und dienstfertiger Freund der Dichter, denn als selbstschaffender wirkte; Kotzebue, der Lustspieldichter, der die deutsche Bühne beherrschte, aber überall gern Zwietracht säete, boshafte Bemerkungen ausstreute, und selbst über deutsche Angelegenheiten in russischem Solde Berichte lieferte; von Einsiedel, ein jovialer Lebemann, seiner Gutmüthigkeit wegen überall „Freund,“ Dichter und Musiker für’s Haus und unerschöpflicher maître de plaisir; von Seckendorf, der „Werther’s Leiden“ in’s Französische übersetzte; Bertuch, der Schatzmeister, der zugleich zuerst Industrie in den deutschen Buchhandel brachte.

Diesen stets in Weimar Weilenden schlossen sich oftmals andere für längere oder kürzere Zeit an, wie dir Brüder von Humboldt, von dem der Jüngere, der gefreirte Alexander, als der Letzte jener großen Zeit noch unter uns lebt, die Brüder Schlegel und viele Professoren aus dem benachbarten Jena, wie Fichte, Schelling, Hegel, Luden, Oken, Döbereiner, Hufeland etc.

Unter den Frauen, die in dem Dichterkreise und an dem Hofe Weimars glänzten, sind zu erwähnen die Schwestern v. Lengefeld, von denen die Jüngere Schiller’s Gattin, die ältere die seines Freundes v. Wolzogen wurde. Der letztern verdanken wir die erste gute Biographie Schiller’s, und früher schon hatte sie sich durch ihren Roman „Agnes von Lilien“, der sogar Goethe zugeschrieben wurde, bekannt gemacht. Sodann die Hofsängerin Corona Schröter, eine strahlende Schönheit, die Goethe geliebt haben und die mit Einsiedel in’s Geheim verheirathet gewesen sein soll; die excentrische Frau v. Kalb, die von Schiller, der nach ihr die Königin Elisabeth im „Don Carlos“ schuf, so leidenschaftlich geliebt wurde, wie sie erst ihn, dann Jean Paul liebte; Frau v. Stein, die am längsten das Herz Goethe’s besaß, der nicht eine Zeile schrieb, ohne sie ihr vorzulegen; die Gräfin v. Werthern, die für Karl August das war, was die Stein für Goethe, und das Original zu der reizenden Gräfin im „Wilhelm Meister“; die geistreiche, witzige, kleine buckelige v. Göchhausen, die von Jedermann geneckt, aber auch von Jedermann geliebt wurde und unter dem Namen „Thusnelda“ bekannt ist.

In Tieffurt, dem Lieblingsschlößchen Amaliens, wie in ihrer Wohnung in der Stadt, fanden sich häufig alle diese Männer und Frauen zu einer Gesellschaft zusammen, der gewiß eine ähnliche nie und nirgend gegenüber gestellt werden kann und deren Spiele und Vergnügungen sogar sehr oft von Poesie geweiht, immer aber durch Geist und Witz belebt wurden. Wie aber nichts Irdisches Bestand hat, so riß auch diesem seltenen Kreise der Tod bald Einen nach dem Andern hinweg. Am längsten wurde der Größte verschont, Goethe, der die Herzoginnen Amalie und Louise, seinen Freund Karl August, Herder, Schiller und Wieland begraben sehen mußte.

Fast aller der Gefeierten sterbliche Ueberreste ruhen nun wieder vereint auf dem Friedhofe Weimars, und ihre Grabstätten schauen auf die Stadt nieder, welche die Erinnerung an sie als nie verbleichender Glanz umgiebt. Die Nachwelt, die noch keine Ebenbürtigen begrüßen konnte, wallfahrtet nach dem „Schillerhause,“ dem „Goethehause“ etc., und Weimar schmückt sich mit Statuen seiner großen Todten. An der Kirche, in welcher Herder so beredt gesprochen, steht jetzt sein ehernes Bild und predigt Humanität und Duldsamkeit; im Park, der zum größten Theil sein Werk ist, prangt Goethe’s Jupitergestalt in Marmor und binnen wenigen Jahren werden vor dem Theater, dem beide ihre besten Kräfte widmeten, Goethe und Schiller in einer Gruppe von Rietschel’s Meisterhand sich erheben.

Das Bild, womit heute unser Blatt geziert, stellt eine Versammlung mehrerer jener Männer und Frauen im Park zu Tieffurt vor. Es ist dem bei Meinhold und Söhne in Dresden erscheinenden Prachtwerke entnommen: „Die deutsche Geschichte in Bildern, nach Originalzeichnungen deutscher Künstler“ (Text von Bülau), das viele gleich schöne Holzschnitte nach Zeichnungen von Bendemann, Ehrhardt, Steinle, Camphausen, v. Oer, M. v. Schwind, L. Richter etc. enthält und warme Empfehlung verdient.

[319]
Ein englischer Künstler.
Skizze von Karl Wartenburg.
(Schluß.)

Dies war das erste Debüt Edmund Kean’s im Drury-Lanetheater, der sich als der Dritte neben die beiden ihm vorausgegangenen großen Mimen Englands, neben den unvergleichlichen David Garrik (geb. 1716 gest. 1779) und den berühmten John Philipp Kemble (geb. 1757 gest. 1823) stellen sollte.

Wenige Tage nach jenem oben geschilderten Debüt trat er als Richard III., Othello, Macbeth auf, und errang sich durch die Darstellung dieser shakespeare’schen Charaktere einen solchen Ruhm, daß trotz aller Intriguen und Ränke, der Glanz aller übrigen nebenbuhlerischen Sterne am Theaterhimmel vor dieser neuaufgehenden Sonne erbleichte. Und kurze Zeit darauf erhielt er, der sich ein paar Monate früher glücklich pries, wenn bei der wöchentlichen Theilung der Einnahme ein bis zwei Pfund auf seinen Antheil kamen, ein Spielhonorar von 50 Pfd. Sterling für jedes Auftreten, und ein Jahr später ein Engagement mit jährlich 10,000 Pfd. oder 70,000 Thlr.! Es ist dies, beiläufig bemerkt, fast dieselbe Summe, welche Herr von Cotta für das Verlagsrecht an den sämmtlichen goethe’schen Werken zahlte. Indessen ist England nun einmal trotz aller Corruption, von der man in den londoner Correspondenzen der Zeitungen liest, und die auch zum großen Theil vorhanden sein mag, das Land, in welchem man das Talent, das Genie für seine Leistungen mit einer Großartigkeit honorirt, die alle festländischen Begriffe übersteigt. Doch wir wollen nicht blos von den enormen Einkünften Kean’s sprechen, so wunderbar fabelhaft diese Summen auch einem deutschen Ohr klingen mögen, sondern zur weiteren Charakterschilderung dieses originellen Künstlers zurückkehren. Schon eine kurze Aufzählung der rein äußeren Lebensmomente zeigt, welche seltsame Laufbahn dieser Künstler durchschritten, bevor er zu jener glänzenden Höhe gelangte.

Im fünften Jahre – er war geboren 1790 – Figurant auf demselben Theater Londons, auf welchem er neunzehn Jahre später unter einem so enthusiastischen Beifall des Publikums seine Laufbahn als größter mimischer Künstler Englands begann; im elften Jahre Kajütenjunge auf einer Handelsbrigg, mit welcher er bis nach Madeira segelte, wo er entfloh, um nach London zurückzukehren, und nun hier, als Affe verkleidet, durch Kunststücke und Burzelbäume auf dem Seil die Besucher des Bartholomäusjahrmarkts zu ergötzen; im dreizehnten Jahre Zögling der Gelehrtenschule zu Eton in Buckinghamshire und den „bellum gallicum“ und „bellum civileCäsar’s und die „ὈδύσσιαHomer’s studirend; hierauf, entflohen aus den Hörsälen der Gelehrtenschule, wo ihm die strenge Disciplin ein Gräuel war, wandernder Komödiant, und heute bald im grünen Irland, in einigen Wochen in Schottland oder lustigen Alt-England – und endlich der erste Schauspieler dieses Englands, mit welchem die vornehme und fashionable Welt Londons, vom bürgerlichen Dandy bis zum Pair und Herzog, und von der reichen Banquiersfrau der City bis zur hocharistokratischen Lady und Vicomtesse der Regent-Street und des Square-Hannover, eine wahre Abgötterei treibt! – Aber trotz dieser Vergötterung gab es wohl niemals einen Menschen, der diese vornehme, aristokratische, elegante Welt so energisch und grimmig haßte, wie Kean, gab es wohl niemals einen mit Huldigungen aller Art gefeiertern Künstler, der die Huldigungen dieser vornehmen Gesellschaft so sehr floh und mied, wie Kean, welcher seine Erholung und Amüsements in den tollen Abendgesellschaften suchte, die er, einige Zeit lang in Gemeinschaft mit Lord Byron, dem berühmten Dichter des „Childe-Harold,“ einer Anzahl gleichgesinnter Freunde und Freundinnen gab. Dieser Abneigung oder vielmehr diesem Haß Kean’s gegen die sogenannte vornehme, feine Welt lag indessen ein Motiv zu Grunde, das zu erfahren nicht ohne Interesse sein wird.

„Ihr wollt wissen,“ antwortete Kean einst einigen seiner Freunde, die ihn über den Grund dieser Abneigung befragten, „warum ich diese vornehme, hocharistokratische Gesellschaft, diese Pairs und Herzöge und edlen Lords hasse? Warum ich die Einladungen zu ihren Fêten, Gastmählern und Gesellschaften ausschlage? Ich will es Euch sagen. Weshalb laden diese vornehmen Herren unseres Gleichen ein? Um mit uns an ihrer Tafel zu paradiren, um uns ihren Gästen zu zeigen, wie man in den Menagerien ein wildes Thier, vielleicht einen Löwen oder Tiger zeigt und dabei sagen zu können: Seht, das ist der berühmte Kean, den ich Euch vorführe; gerade so, wie sie den Leuten ihre Vollblutrosse zeigen, die bei dem Wettrennen in Ascott den Preis gewannen. Und dann soll ich mich noch für diese Ehre bedanken, soll mich Seiner Lordschaft mit devoter Miene zu gütigem Wohlwollen empfehlen? Goddam! Denken diese Schwachköpfe, daß ein Mann von Talent und Genie ihnen schmeicheln soll, weil ihnen der Zufall bei der Geburt eine Baronetschaft, einen Lordstitel oder eine Pairie in die Wiege geworfen hat? – Und dann noch Eins! Ich würde in diesen feinen, fashionablen Gesellschaften, wo der sogenannte feine Ton, die Etiquette oder wie sie nun dieses Gemisch von Unsinn, Vorurtheilen, Steifheit und Albernheit nennen, herrscht, ich würde, wiederhole ich, in diesen feinen Cirkeln zu Grunde gehen. Ich bin Plebejer, aus dem Volk entsprossen, und meine Kunst und mein Talent sind plebejischer Natur. Oder glaubt Ihr, daß ich, wenn ich aus einer dieser vornehmen Coterien stammte oder mich in ihren Kreisen naturalisirt hätte, den Macbeth, den Richard, den Othello, den Shylock so darstellen könnte, wie ich diese Charaktere Euch jetzt vorführe? Dann irrt Ihr gewaltig! Diese wilde Energie, diese Leidenschaftlichkeit, die mich bei der Darstellung jener dichterischen Gestalten erfaßt und die Ihr so oft bewundert habt, beruht auf meiner plebejischen Natur, auf meiner plebejischen Kraft, die ich meiner Abstammung aus dem Volke verdanke. Meine Kunst ist demokratischen Ursprungs.“

Aus dieser Ansicht, die, so viel Wahres ihr auch zu Grunde liegen mag, doch an’s Extreme streift, entsprangen die späteren Verirrungen des berühmten Künstlers, die, wenn sie auch nicht den inneren Kern seines Charakters, der bei alledem ein edler blieb, befleckten, doch sein eminentes Talent frühzeitig zu Grunde richteten und ihm ein baldiges Ende bereiteten. Um den Gesellschaften und Soireen in den parfümirten Salons der aristokratischen Damen von Regent-Street zu entfliehen, stieg Kean in die schlechtesten Kneipen und Bierkeller Londons, in welchen er, unter einer sehr gemischten Gesellschaft von ruinirten Spielern, ausgedienten Boxern, deren Beschäftigung er leidenschaftlich liebte, sogenannten zu Grunde gegangenen und verkannten „Genies“ aus allen Zweigen der Kunst, entlassenen Offizieren und eingefleischten Zechbrüdern, seine Nächte verbrachte. Die Mitglieder einer dieser ehrenwerthen Gesellschaften, welche sich in dem „Kohlenloch“ – der Name ist schon bezeichnend – einer der obscursten und schmutzigsten Kneipen Londons ihre Stelldicheins gaben, nannten sich unter einander die „Wölfe,“ und Edmund Kean, der gefeierte Heros der englischen Schauspielkunst, in dessen Vorzimmer, als er sich einst bei einer tollen Wettfahrt den Arm ausgefallen, Pairs, Herzöge, Lords und Baronets drängten, um ihm ihr Beileid zu bezeugen, Edmund Kean, der erste Schauspieler Englands, war das Oberhaupt der Wölfe, der Stuhlmeister dieser Nachtgesellen, welche bei ihren Bacchanalien den Porter, Ale, Grog und stärksten Franzbranntwein aus ungeheueren hohen, steinernen Krügen tranken. Zuweilen hatte er bei diesen nächtlichen Gelagen einen Gefährten, es war Lord Byron, der sich unter diesen Wölfen gleichfalls behaglicher fühlte als unter den Kreisen der „respectablen Welt,“ die, um sich deshalb dafür zu rächen, den großen Dichter mit dem socialen Bann belegte und ihn gleichsam ächtete. Auch Lord Byron haßte diese ehrbare Welt Londons, wenn auch die Motive, die dem Haß des Dichters zu Grunde lagen, anderer Natur waren als die Kean’s.

Wenn man übrigens der Tradition trauen darf, so war es im „Kohlenloch“, wo jener seltsame Trink-Wettkampf zwischen Kean’s Bären und Byron’s Löwen stattfand. Dieser denkwürdige Zweikampf endete, wenn wir nicht ganz irren, mit dem Tode des Bären, nachdem dieser zwei Kannen des stärksten Franzbranntweins in einem Zug geleert, und Byrons Löwe ging aus dem Wettstreit als Sieger hervor.

Daß solche Orgien die Gesundheit Kean’s schwächten und seinen Geist zerrütteten, ist natürlich, und eine Menge barocker Einfälle, die er zum Besten gab, sind lediglich dem schädlichen [320] Einfluß dieser nächtlichen Gelage mit ihrem wilden Lärm, ihrem wüsten Treiben und ihrer Trunkenheit zuzuschreiben. So spielte er eines Abends im Drury-Lanetheater – also dem Schauplatz seines ersten großen Triumphes – die Rolle des Macbeth und das Publikum, begeistert durch sein meisterhaftes Spiel, brach in einen donnernden Beifall aus, als er in der Schlußscene des fünften Akts zu Macduff sprach:

„Ich geb’ mich nicht,
Den Staub zu küssen von dem Knaben Malcolm,
Gehetzt zu werden von des Pöbels Fluch.
Käm’ auch nach Dunsinan der Birnamwald,
Dräust Du mir auch, ein nicht vom Weib Geborner,
Doch wag’ ich noch das Letzte. Vor die Brust
Werf ich den Hünenschild. Triff, daß es schallt!
Und fahr’ zur Hölle, wer zuerst ruft: Halt!“

Aber kaum hatte er geendet, so warf er, übermannt von einem jener wunderlichen, barocken Einfälle, Schwert und Schild weg und schlug zum Erstaunen und Entsetzen des sämmtlichen vornehmen Publikums drei wilde Purzelbäume, die ihn in einem Nu bis dicht vor den Souffleurkasten brachten. Hier sprang er auf und sprach, sich mit einer merkwürdigen Geberde gegen das Parterre wendend: „Das war mein erstes Handwerk, Gentlemens, und ich glaube, wenn es so fort geht, muß ich wohl wieder zu ihm meine Zuflucht nehmen.“

Die Verblüfftheit des Publikums über diese Excentricität des berühmten Schauspielers, die selbst über alle englischen Begriffe hinausging, wird man sich leicht vorstellen können.

Ein anderes Mal spielte er die Rolle eines Husarenoffiziers und hatte als solcher eine Reitpeitsche in der Hand, mit welcher er allerlei Evolutionen ausführte. Nun kam aber eine tragische Rührscene, wo er seine Geliebte umarmen und die Reitpeitsche wegwerfen sollte. Kean aber erblickte in dem Augenblicke in einer Prosceniumsloge einen Journalisten, der, wie bekannt, Mitredakteur des ministeriellen „Couriers“, eines Organs des Lords Castlereagh, dieses unpopulärsten aller englischen Minister, war. Plötzlich geht Kean auf die Prosceniumsloge zu und spricht, mit der Reitgerte auf den Journalisten zeigend: „Dieses kleine Ruthchen hier sollte ich eigentlich wegwerfen, aber ich behalte es, um damit gelegentlich den Herrn Redakteur da zu züchtigen.“

Das Publikum war über dieses unverschämte Impromptu so erstaunt, daß Niemand sich regte und Kean ruhig abtreten konnte.

Indessen würde es den in diesen Blättern uns gestatteten Raum übersteigen, wenn wir alle die barocken Einfälle dieses excentrischen Kopfes erzählen wollten, von seinen seltsamen Liebhabereien und Vergnügungen, von den Hahnenkämpfen, Wettrennen, Boxereien und ähnlichen Dingen, die er alle leidenschaftlich liebte, von seiner Reise nach Amerika, welches ihn, wie ungefähr fünfundzwanzig Jahre später die Jenny Lind, mit ungeheurem Jubel empfing, und von seinem romantischen Zug in die kanadischen Wälder, wo er sich einem Haufen Indianer anschloß, zu deren Anführer er sich später aufwarf. – Durch eine Art Dämon zu immer neuen Excentricitäten getrieben, stürzte er sich immer tiefer in den Strudel der wildesten Vergnügungen, und er, dessen robuster Körper und eiserne Gesundheit ihm, bei sonstiger normaler Lebensweise das höchste Ziel des menschlichen Lebensalters versprachen, starb auf der Höhe des Mannesalters, dreiundvierzig Jahre alt, am 15. Mai 1833 zu Richmond. Er starb fast unter demselben socialen Interdikt, mit welchem man seinen berühmten Zeitgenossen und Gefährten der nächtlichen Gelage im „Kohlenloch“ belegt hatte, Lord Byron, der neun Jahre früher, fern von britischer Erde, zu Missolunghi, seinen Geist ausgehaucht hatte. –




Die Strafen der Vorzeit und Gegenwart.
II.

Ehrenstrafen. – Injurianten, Adelige, Offiziere, Flüchtige, Todte, Wucherer u. s. w. – Pranger, Narrenhäuschen. – Insbesondere Strafen für zänkische Frauen. – Verbannung. – Acht. – Gefängnißstrafen. – Charakteristik der frühern Strafen. – Schluß.
(Schluß.)

Derselbe Reichthum der Erfindung wie bei den Lebens- und Leibesstrafen nöthigt uns auch, bei einer dritten Klasse von Strafen, den Ehrenstrafen Bewunderung ab, und können wir uns derselben mit um so vollerem Herzen hingeben, als uns hier die schöpferische Phantasie der Alten mehr Stoff zum Lachen als zum Weinen bietet.

Die Infamie der Römer und die Athymie der Griechen zeigt uns weniger Interessantes als die Ehrenstrafen der deutschen Vorfahren. Hatte Einer den Andern beleidigt, so wurde er zum Widerruf genöthigt, mußte sich auf das „Lügenmaul“ schlagen und sprechen: „Mund, da du solches sprachest, logest du,“ und nach Befinden rückwärts aus dem Saale gehen. Eine Strafe war es, nur ein zerbrochenes Messer statt eines Degens führen zu dürfen, Stiefel ohne Sporen zu tragen, auf einem Pferde mit keinem, oder nur ein, zwei oder drei Hufeisen, ohne Sattel, mit bastnem Zaume zu reiten; Adeligen wurde das Wappen durch den Henker, Offizieren der Degen durch den Profoß zerbrochen. Der Verlust der Nationalkokarde ist noch jetzt in Preußen eine Ehrenstrafe. Flüchtige wurden in effigie gehängt oder verbrannt oder der Name an den Galgen angeschlagen, selbst die Todten traf noch die Schande des unchristlichen Begräbnisses an einem ungeweihten Ort oder gar des Eselbegräbnisses auf dem Schindanger unter dem Galgen. Barfuß und den Strick um den Hals, wurden Uebelthäter in Prozession herumgeführt. Barfuß und in härenem Gewände mußte Heinrich IV. zur Winterzeit in Canossa Buße thun, barfuß und im Hemd mußte Lothar von Sachsen vor Heinrich V. treten. Herzog Johann Friedrich von Sachsen, der sich des geächteten Grumbach angenommen, wurde in einem offnen schwarzbehangenen Wagen, einen Strohkranz auf dem Haupte, im Regenwetter in Wien herumgefahren. Eine Ehrenstrafe war es ferner namentlich für Adelige, einen Hund bis an ein Haus, eine Kirche oder die Grenze zu tragen[4]. Wucherer mußten barfuß, einen Judenhut auf dem Kopfe, einen Besen in der Hand, das Weihwasser drei Sonntage um die Kirche tragen, sich dann vor die Kirchenthür legen und die Leute über sich weggehen lassen. Die gewöhnlichste Strafe dieser Art war aber der Pranger oder Schandpfahl oder das minder schimpfliche Halseisen, in Deutschland auch die Fiedel, in Schwaben die Geige genannt, wobei oft den Delinquenten ein rother Hut oder wie Banquerouteurs eine gelbe oder grüne Mütze aufgesetzt wurde. Oefters auch wurden dieselben in das rothe Gitter und in das Narrenhäuschen gesteckt. Auch findet sich, daß man Räuber mit Pech bestrichen, in Federn gewälzt und also in Prozession herumgeführt hat. Besonders glücklich aber waren unsere Vorfahren in der Wahl der Strafen für zänkische Frauen. Oft mußten sie öffentlich die Gasse oder den Markt kehren, oft wurden sie in einem Schandkorb ausgestellt oder in’s Wasser getaucht. Oder sie wurden verdammt, große Steine, die oft einen Centner wogen, sogenannte Schand-Klapper oder Krötensteine, welche bald die Form einer Schüssel oder Flasche hatten, bald in einem steinernen Weiberkopfe mit einem Schlosse an der Zunge bestanden, um den Hals zu tragen. Hatten sich zwei Weiber auf dem Kirchhofe oder in der Kirche gezankt, so mußten sie barfuß, die Eine voran mit einem Besen in der Hand, die Andere hinterher, um die Kirche gehen. Lachte die Letztere, so mußte sie den Besen nehmen und voran marschiren. Hatte aber gar eine Frau ihren Eheherrn geschlagen, so mußte sie rückwärts, auf einem Esel sitzend und den Schwanz in der Hand haltend, durch den ganzen Ort ziehen, und hatte sich der Mann von seinem Eheweibe im Handgemenge besiegen lassen, so traf ihn die Schande mit, und er mußte selbst den Esel führen. Wurde man eines zänkischen Ehepaares ruchbar, so sparte sich auch wohl die ganze Nachbarschaft einen rechten Fastnachtsspaß auf. Den letzten Fastnachtstag oder Aschermittwoch versammelten sich alle angrenzenden Gemärker, Jung und Alt, so Lust dazu hatten, und zogen mit Trommeln, Pfeifen und fliegenden Fahnen zu Pferd und zu Fuß vor den Ort, wo sich das anstößige Paar befand, [321] schickten eine Deputation zum Schultheiß, vor dem sie die Anklage vorbrachten, und wenn dieser nach Abhörung der Zeugen die Sache in Wichtigkeit befunden, so wurde ihnen der Einzug in den Flecken gegönnt. Sie umringen nun des geschlagenen Mannes Haus, steigen auf das Dach, hauen den First ein und decken ihm ohne alle Barmherzigkeit das Dach ab. So unleidig erschien den alten Deutschen die Schmach eines Mannes, der sich von seiner Frau schlagen ließ, daß sie sich Alle für verpflichtet hielten, den Schimpf zu rächen. Ob einige von diesen Gebräuchen wohl auch heutzutage am Platze wären?

Das Niederreißen und Verbrennen der Häuser kömmt aber auch auf einer weit ernsteren Seite der Geschichte vor. Die Häuser und Burgen geächteter Friedensbrecher wurden der Erde gleich gemacht oder niedergebrannt oder ein Kreuz hineingerissen. Kapitalverbrechern wurde das Dach abgetragen, das Thor verpfählt, der Brunnen mit Erde zugedeckt und der Ofen eingeschlagen. Ungerechten Richtern wurde das Haus weggebrannt, und selbst das Gras an der Stelle, wo es gestanden, ausgestochen. Ja, schon wegen Ungehorsams gegen die Obrigkeit wurde z. B. Weinwirthen die Thüre Jahr und Tag zugeschlagen, daß sie nichts verschleißen noch verzapfen konnten.

Noch einer Strafe der Vorzeit müssen wir gedenken, einer Strafe, die zunächst weder das Leben noch den Leib noch die Freiheit berührte, die aber gerade den edelsten Mann am Tiefsten in’s Herz traf. Denn sie beraubte ihn eines Gutes, dessen zu entbehren dem Menschen am Schwersten fällt, des Umgangs mit seines Gleichen. Zu allen Zeiten sind Verbrecher aus ihrem Vaterlande vertrieben worden. Coriolan, Cicero und viele andere Römer wurden verbannt, Augustus wies den Dichter Ovid nach Tomi, Domitian den Evangelisten Johannes nach Pathmos. Der Petalismus der Syrakusaner und der Ostracismus der Athenienser entfernte nicht die Verbrecher, wie ihre größten und edelsten Bürger, einen Solon, Themistokles, Aristides, Cimon, Thucidides, Alcibiades u. A. aus dem Vaterlande. Die Russen verbannen ihre Verbrecher nach Sibirien, die Engländer nach Australien, die Franzosen nach Cayenne. Selbst Preußen machte 1602 den Versuch, Missethäter nach Sibirien zu deportiren. Aber das deutsche Recht kannte ein Exil noch schrecklicher als alles dieses. Das war die Acht. Die Acht pflegte nicht nur die Landesverweisung, sondern auch den bürgerlichen Tod, Confiscation des Vermögens, Auflösung der Ehe, Verlust alles Schutzes, kurz, gänzliche Friedlosigkeit und Vogelfreiheit nach sich zu ziehen. „Wir theilen,“ hieß es in den alten Formeln, „wir theilen Deine Wirthin zur Wittwe, Deine Kinder zu Waisen, Dein Lehn dem Herrn, Dein Erb und Dein Eigen Deinen Kindern, Deinen Leib und Dein Fleisch den Thieren in den Wäldern und den Vögeln in den Lüften. Wo ein jeglicher Mann Fried’ und Geleit hat, sollst Du keins haben, und wir weisen Dich in die vier Straßen der Welt im Namen des Teufels.“ Ein Geächteter floh in die Nacht der deutschen Wälder zu den Ebern und Wölfen. Niemand durfte ihn beherbergen und speisen. Jedermann konnte ihn ungestraft erschlagen, flüchtete er in ein Haus, so wurde es angezündet. Oft stand ein hoher Preis auf seinem Kopfe. Eine solche Acht über das ganze deutsche Reich traf Heinrich den Löwen von Baiern, Pfalzgraf Otto von Wittelsbach, die Churfürsten Johann Friedrich von Sachsen, Friedrich V. von der Pfalz, Maximilian Emanuel von Baiern, und noch im Jahre 1758 drohte die Reichsacht Friedrich dem Großen von Preußen, wurde aber durch die evangelischen Landstände abgewendet. Der weltlichen Acht stehen gegenüber die Bannflüche der Päpste. Doch wie die Blitze des Jupiter in Rom oftmals nur kalte Schläge waren, so ist auch bei der weltlichen Acht die Praxis milder gewesen als die Theorie.

Wenn aber die Jetztzeit die meisten der bisher erwähnten Strafen gestrichen hat, was hat sie an ihre Stelle gesetzt? Sie hat nichts Neues erfunden, aber sie hat eine Strafart, die früher eine sehr untergeordnete Rolle spielte, zur fast ausschließlichen erhoben, so daß man die Gerechtigkeit nicht mehr mit einem Schwerte, sondern einem Schlüsselbunde abbilden sollte. Denn neben der nur noch auf wenig Fälle beschränkten Todesstrafe und einigen Ehren- und Vermögensstrafen zeigen die jetzigen Strafcodexe fast nur noch eine lange Skala von Strafübeln, welche alle eine Beschränkung der Freiheit des Verbrechers zum Zwecke haben. Vom leichten Stadt- und Hausarrest, vom Bürger- und Priestergehorsam, welcher Letztere manchen Orts die Posaune, in Stuttgart die Bibel genannt wird, erstreckt sich die lange Reihenfolge über Carcer, Gefängniß, Correktions-, Arbeits-, Stock-, Spinn-, Raspelhaus, bis zum Zuchthaus und der Festungsstrafe, und ist oft mit schwerem Festungsbau, mit Galeeren-, Karren und Bergwerksarbeit verbunden, und durch Fasten, Dunkelarrest, hartes Lager, Züchtigung, Kettentragen u. a. m. verschärft worden. Was wir dagegen in der Vorzeit von Gefängnißstrafen lesen, was uns von dem „Ohr“ des Dionys, von dem „Schatz“ der Messenier, der „Hölle“ der Athenienser, was uns von den sieben Thürmen in Constantinopel und den Bleidächern von Venedig berichtet wird, berechtigt uns zu der Annahme, daß das Gefängniß damals nicht eine Freiheits-, sondern eine Lebensstrafe, und jene Orte nicht Gefängnisse, sondern Gräber gewesen sind.

Das Portrait der Vorzeit ist gemalt und der Ausdruck der Züge schwerlich zu verkennen. Grausamkeit und Mißachtung des Menschenlebens ist die tiefe Furche, welche die Stirn verfinstert und welche wir über den Schalk um die Lippen nimmer vergessen können. Nicht der schauerliche Theaterapparat erschreckt uns mehr, mit welchem man damals das abergläubische Volk im Schach zu halten suchte, die offenen Heeresstraßen und Kreuzwege, die modrigen Felsenlöcher, die verdorrten Bäume und brennenden Häuser, die Wölfe, Hunde und Schlangen, die schwarzen Tücher und rothen Mützen, die Steine, Besen und Dornenhecken, uns schrecken die zahllosen Menschenopfer, uns schrecken die sonderbaren Eicheln, die damals auf den Bäumen wuchsen, und die lebendigen Leichen, die man ehedem zu Grabe trug. Ist auch die Angabe, nach welcher allein in der baierischen Regierung Burghausen, die damals etwa 174,000 Seelen zählte, in den Jahren 1748–1776 nicht weniger als 11,000 Menschen durch Henkershand gefallen sein sollen, auf alle Fälle übertrieben, so ist das Resultat doch grauenvoll genug, wenn nur der hundertste Theil wahr ist.

Ein buntes Kleid aus hundert Lappen war damals der Codex der Strafen. Bewunderung erweckt die Mannigfaltigkeit derselben, die vormals den Alten zu Gebote stand, aber noch größere Besorgniß die Ungleichheit, die durch sie veranlaßt wurde, um so mehr, als die Wahl der Strafe meist in der Hand des Richters lag. Wer wollte ferner leugnen, daß die Alten oft das Schwarze in der Scheibe getroffen haben, aber oft genug auch sind sie weit, weit vom Ziele abgeirrt. Oder giebt es ein schreienderes Mißverhältniß zwischen Verbrechen und Strafe, als wenn in den lübeck’schen Blutregistern zu lesen ist, daß Annete Pypers wegen Entwendung eines alten Weiberrockes lebendig begraben, ja, bloße Polizeivergehen wie Kapitalverbrechen behandelt, und z. B. in Rostock ein Weib, das von einem Fremden Häringe gekauft, zum Tode verurtheilt, und einer Frau, die schimmeliges Brot verkauft, die Hände abgehackt worden sind.

Soviel lernen wir erkennen, das Volk steht nicht am Höchsten, welches die härtesten Strafen hat, und sehen wir, wie zur Blüthezeit des Rades und Galgens gleichwohl Raub und Mord an der Tagesordnung waren, so giebt es nur eine Lösung dieses Räthseln:

„Nicht die Größe der Strafe ist der beste Damm gegen Verbrechen, sondern die Unvermeidlichkeit derselben, und Feuer und Schwert hilft weniger als eine gute Polizei.“

Doch genug. Sollte der Leser oder die Leserin die Scenen, welche ich vorüberziehen ließ, erschreckt und geängstigt haben, so will ich ihnen die trüben Bilder noch mit der Geschichte von dem Glücke des „Claus Baya“ in Stockholm verscheuchen, welcher unter Christian II. nebst vielen andern Bürgern in das Gefängniß geworfen und darin erdrosselt werden sollte, aber so ungeheuer dick war, daß man ihn in kein Gefängniß brachte und laufen ließ.




Der edle Wein.
Von Dr. H. Hirzel.

Der Wein ist die Perle unserer Getränke. Tausendstimmig sind seine guten Eigenschaften besungen und gepriesen worden, und mit Recht sagt der große Dichter:

„Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang;
Der bleibt ein Narr sein Leben lang.“

Nie wird der Weinjubel auf der Erde verstummen. So verschieden [322] in ihren Ansichten sonst die Menschen sind, hierin werden diejenigen, welche Wein trinken können und denen der Genuß desselben nicht durch Propheten oder Nichtpropheten verboten ist, gewiß Alle mit einander übereinstimmen. Man glaubt zwar, daß sich im Laufe dieses Jahrhunderts das Bier zu einem gefährlichen Nebenbuhler des Weines erhoben habe, und allerdings ist der Wein an manchen Orten durch das Bier fast ganz verdrängt worden. Zwischen Wein und Bier ist aber kein Vergleich möglich; denn jedes Getränk besitzt seine besonderen ihm eigenthümlichen Vorzüge. Der Wein zeichnet sich durch seinen Wohlgeruch, seinen erwärmenden Wohlgeschmack, seine belebenden, erfrischenden Wirkungen aus; das Bier dagegen gehört mit seinen Nahrungsstoffen mehr zu den wirklich ernährend wirkenden Getränken, obschon sein Nahrungswerth gewöhnlich sehr überschätzt wird. Das Bier kann daher nicht den Wein und der Wein nicht das Bier ersetzen. Dem Ruhme des Weines haben ganz andere Verhältnisse geschadet; nämlich eines Theiles die vielen Mantschereien, die zu allen Zeiten mit dem Weine vorgenommen wurden und als „Weinfälschung oder Weinschmiererei“ bezeichnet werden, andern Theils die Angewöhnung der Menschen, auch die aus den schlechtesten Trauben bereitete saure Brühe „Wein“ zu nennen. Wir müssen daher wohl unterscheiden zwischen dem edlen Weine, der dieses Namens würdig ist, zwischen Weinbrühe oder zu saurem Weine, den man scherzweise auch „Getränk sieht aus wie Wein“ genannt hat und zwischen dem verfälschten Weine, dem Stoffe zugemischt worden sind, die nicht in den Wein gehören und nie im edlen Weine gefunden werden. Ein verfälschter oder schlechter Wein vermag die gewünschte Fröhlichkeit nicht in uns zu erwecken, sondern versetzt uns im Gegentheil in einen höchst unbehaglichen Zustand von Kopfschmerz, Uebelkeit, Schläfrigkeit u. s. w.; er macht uns auch bei mäßigem Genusse sogenannten Katzenjammer.

Würde nur guter Wein zu billigerem Preise geschenkt – wir werden sehen, daß dies möglich ist – so könnten sich täglich Millionen von Menschen durch ein oder mehrere Gläser dieses köstlichen Trunkes erquicken, die jetzt theils freiwillig, theils gezwungen auf den Weingenuß verzichten; freiwillig, weil sie sich vor dem verfälschten Weine scheuen; gezwungen, weil ihnen die Mittel zur Beschaffung desselben fehlen.

Die Furcht vor schlechten oder verfälschten Weinen ist zur Zeit durchaus nicht grundlos; denn das Gewerbe der Weinschmiererei und Weinfälschung ist im besten Schwunge und scheint von Vielen betrieben zu werden; es mag auch sehr einträglich und bequem sein, und leider giebt es genug Menschen, denen kein Mittel zu schlecht ist, um sich zu bereichern. Solche Menschen sollte man „Geschöpf sieht aus wie Mensch“ nennen; denn sie sind ihres Namens unwürdig. Wir verdanken der gesprächigen Fama, welche zwar manche Lüge, aber auch ebenso manche Wahrheit verbreitet, viele interessante, wahre Erzählungen aus den düstern Kellerräumen, in welche man gewöhnlich kein uneingeweihtes Auge blicken läßt. Wir hören mit Erstaunen, wie aus dem schlechtesten Weine, aus Aepfelsaft und anderen mehr oder weniger reinlichen Flüssigkeiten, die edelsten Weine mit kunstvoller Hand fabricirt werden, und auffallend genug ist es, daß in die großen berühmten Weinkeller, aus welchen stets nur „gute, edle, reine Weine“ herauskommen, doch so manches Faß, voll der schlechtesten Brühe, wandert. Was wird aber aus solcher Flüssigkeit? – Die Antwort liegt auf der Hand.

Mit Hülfe wissenschaftlicher Forschungen sind schon viele Betrügereien entdeckt und öffentlich gebrandmarkt worden; denn eine Hauptaufgabe der gesunden Wissenschaft und wohl die schönste ist: in allgemein verständlicher Weise das Richtige und Wahre, gegenüber dem Unrichtigen und Falschen hervorzuheben und namentlich den hemmenden Vorurtheilen und nachtheiligen Sitten oder Gebräuchen der Menschen belehrend und rathend entgegen zu wirken, oder die Menschen vor Betrug und Charlatanerie zu warnen und zu schützen. Der Gelehrte, der seine Aufgabe als Glied der menschlichen Gesellschaft richtig erkannt hat, wird seine Forschungen und Kenntnisse niemals gleich einem todten Kapitale liegen lassen, sondern das Resultat derselben allen Schichten der Gesellschaft in entsprechender Weise mitzutheilen suchen, damit Alle einen Nutzen davon haben. Denn eben so gut als der Gelehrte von den Anstrengungen so vieler Menschen Nutzen zieht, durch dieselben sogar erhalten wird, muß auch er nach Kräften dazu beizutragen suchen, seinen Mitmenschen das Leben zu erleichtern. Wäre das früher schon geschehen, wie es jetzt in so erfreulicher Weise geschieht, so hätte viel Unfug und Unglück vermieden werden können. Die schlimmste Folge jener früheren Abtrennung des Gelehrtenstandes ist: eine jetzt noch deutlich erkennbare Abneigung, ja selbst ein gewisses Mißtrauen des Publikums gegen die Mittheilungen desselben. Es ist nicht schwer, hiefür Beweise zu liefern. Wäre es z. B. möglich, daß die vielen Charlatane, die mit der Macht prahlerischer, unaufhörlicher Zeitungsanzeigen wohl bekannt sind, die ungeheuren Geldsummen zur Ankündigung ihrer Geheimmittel aufzubringen vermöchten, wenn es nicht Tausende von Menschen geben würde, die sich verleiten lassen, dieselben zu kaufen? Und doch ist von den berühmtesten, kenntnißreichsten Gelehrten schon längst ein Kampf gegen solche Mittel erhoben worden, und zwar in Schriften oder Zeitungen, die Allen zugänglich sind. Allein das Publikum ist noch zu wenig daran gewöhnt, von Seiten der Gelehrten, die früher die Rolle der Pharisäer spielten, Aufschluß zu erhalten, und schenkt daher ihren Warnungen kein Gehör. Es ist deshalb wohl nicht überflüssig, darauf aufmerksam zu machen, daß sich jetzt die Verhältnisse geändert haben und immer mehr ändern werden; daß die Gelehrten jetzt mit für das allgemeine Wohl arbeiten, und daher wohl darauf Anspruch machen dürfen, daß ihren allerdings einfachen aber wahren Mittheilungen von Seiten des Publikums mehr Vertrauen geschenkt werde, als den vielversprechenden, aber meist unwahren Zeitungsanzeigen. Ich konnte diese Gedanken um so weniger unterdrücken, da auch bei der Betrachtung des Weines und seiner Verfälschung ähnliche Verhältnisse zum Vorschein kommen; und unwillkürlich drängt sich mir noch die Frage auf: wann wird endlich die dem menschlichen Verstande entsprechendere Zeit kommen, wo Sprichwörter, wie „die Welt will betrogen sein“ – „Kleppern gehört zum Handwerk“, aufhören, uns eine ironische Wahrheit zu verkünden?

Ein gedrängtes Bild über den Wein und seine Bestandtheile, mit besonderer Berücksichtigung des Weinveredelungsstreites und des Werthes der Weinveredelung, ist vielleicht manchen Lesern der Gartenlaube erwünscht und soll, wie ich hoffe, dazu beitragen, einige unrichtige Vorstellungen und allgemeine Vorurtheile zu beseitigen.


I.
Die Weintraube und ihr Saft.

Die Weintraube ist die Frucht des Weinstocks oder der Weinrebe (Vitia vinifera), deren Aussehen uns Schouw (die Erde, die Pflanzen und der Mensch, S. 182) mit folgenden treffenden Worten schildert: „Die Pflanze kennen wir Alle; wir erinnern uns des krummen unebenen Stammes, der geschlungenen Zweige, der schönen 3–5lappigen Blätter, der Ranken (dies sind Blumenstiele, auf welchen die Blüthen nicht entwickelt sind), der unansehnlichen grünen Blumen und der schönen Trauben.“ Als ursprüngliches Vaterland des Weinstocks glaubt man Mingrelien, Georgien und die angrenzenden Länder bezeichnen zu können, da er in den dortigen Wäldern überall wild wachsend gefunden wird. Die Kultur des Weinstocks ist uralt und wird bis auf das Zeitalter von Noah zurückverlegt. Dieselbe dehnte sich ganz allmälig über die wärmeren Länder der gemäßigten Zonen aus und gelangte im dritten Jahrhundert auch nach Deutschland, wo der Kaiser Probus am Rhein und in Ungarn die ersten Weinberge durch seine Soldaten anlegen ließ. Erst viel später wurde der Weinstock dann durch die Europäer nach Madeira, Teneriffa, dem Kap der guten Hoffnung, nach dem Innern von Nordamerika, z. B. Vevais am Ohio, nach dem gemäßigten Südamerika, nach Neu-Südwales in Neu-Holland u. s. w. verpflanzt. In China und Japan ist der Weinbau alt, aber unbedeutend. Die Grenze des Weinbaues liegt auf der nördlichen Halbkugel zwischen dem 51. und 52. Grad (in Nordamerika nur zwischen dem 38. und 40. Grade); auf der südlichen Halbkugel im 40. Grade (Chili). Die Erhebung des Weinbaues über der Meeresfläche ist in den verschiedenen Ländern sehr verschieden. In Würtemberg z. B. nicht über 1000, in der nördlichen Schweiz nicht bis 2000, in der südlichen Schweiz 2000, in Sicilien 3000 und im Himalayagebirge 10,000 Fuß über dem Meeresspiegel. Durch die Verschiedenheit des Erdbodens, des Klima’s, der Behandlungsweise etc. sind aus der ursprünglichen Weinpflanze viele Hunderte verschiedener Arten und Varietäten entstanden, wie dies in ähnlicher Weise auch bei den Aepfeln, Birnen und anderen Obstarten zu bemerken ist. Manche Arten der Rebe sind an einen ganz bestimmten Erdboden gebunden, gedeihen nur in einem gewissen [323] Klima und geben immerhin in verschiedenen Lagen noch einen verschiedenen, durch ein besonderes Aroma charakterisirten Wein.

Die Weintraube besteht aus vielen, mehr oder weniger eng aneinander liegenden, an Knoten zusammenhängenden Stielchen (die zusammen den sogenannten Traubenkamm, die Trester bilden) sitzenden Beeren, die rund oder länglich, verschieden groß, von weißer bis gelber, röthlicher bis schwarzblauer Färbung in den verschiedensten Schattirungen, sind. Diese Beeren schließen in einer ungleich zarten häutigen Hülle ein sehr saftreiches, feinzelliges Mark ein, in dessen Mitte mehrere kleine birnförmige harte Kerne sitzen; sie sind im unreifen Zustande undurchsichtig, hart und sehr sauer, werden aber beim Reifen, von Außen nach Innen durchscheinend, weich und süßschmeckend. Je wärmer die Temperatur, bei welcher sie reif werden, desto zarter ihre Hüllen und desto süßer ihr Geschmack.

Die einzelnen Theile der Weintraube sind: die Stiele (Trester oder Kamm), die häutigen Hüllen der Beeren, die Samen oder Weinbeerkerne und der Traubensaft nebst dem Marke der Beeren. Obschon der Wein vorzüglich nur aus dem eigentlichen Traubensafte entsteht, so gehen doch unter Umständen auch von den andern Theilen der Weintraube einzelne Bestandtheile in den Wein über.

Die Stiele oder Weinkämme sind im frischen Zustande krautig, ziemlich saftig und enthalten einen bitter und herb (adstringirend) schmeckenden Saft, dessen Hauptbestandtheil die Chemiker „Gerbsäure, Gerbstoff, Tannin“ nennen. Die Gerbsäure findet sich in mehr oder weniger großer Menge in allen höher entwickelten Pflanzen, ist daher jedenfalls für das Pflanzenleben von Bedeutung. Sie besteht aus den drei Elementen Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff, und wird am reinsten und in größter Menge in den Galläpfeln, der Eichenrinde, überhaupt der Rinde mancher Bäume angetroffen. Sie ist ein hellgelbes, geruchloses Pulver, schmeckt außerordentlich herb und zusammenziehend, löst sich in Wasser und Weingeist leicht auf, färbt sich an der Luft nach einiger Zeit braun und verändert sich, wenn sie sich in wässeriger Lösung befindet. Nur im ganz trockenen Zustande kann sie Jahre lang ohne Veränderung aufbewahrt werden. Setzt man eine Gerbsäure haltende Flüssigkeit zu einer Eisenlösung, so entsteht eine dunkelblauschwarze Flüssigkeit (die gewöhnliche Tinte). Legt man thierische Häute, die man vorher gut gereinigt hat, in eine Lösung von Gerbsäure in Wasser, so ziehen dieselben die Gerbsäure an und vereinigen sich mit ihr zu dem zähen Leder. Auch mit Eiweiß und allen eiweißähnlichen Substanzen bildet die Gerbsäure sehr zähe, der Fäulniß widerstehende, im Wasser unlösliche Verbindungen. Man kann sie daher dazu benutzen, um aus Flüssigkeiten eiweißartige Stoffe niederzuschlagen, eine Flüssigkeit von solchen Stoffen zu befreien. Diese wichtige Substanz ist also in reichlicher Menge in den Traubenkämmen enthalten und geht aus diesen, bei zu starkem Pressen der Trauben oder wenn man die Kämme mit dem Safte gähren läßt, zum Theil in den Wein über. Uebrigens läßt man die Trestern oder Traubenkämme nicht unbenutzt liegen. Entweder übergießt man sie mit Wasser, setzt Zucker zu, läßt gähren und erhält so den angenehm erfrischend schmeckenden, sehr haltbaren Tresterwein, oder man läßt die Trestern für sich allein gähren und bereitet Weingeist (Tresternbranntwein) oder Essig daraus; oder man benutzt sie zur Fütterung des Viehes, als Düngungsmittel, oder zur Pottaschenbereitung.

Die häutigen Hüllen der Beeren, die sogenannten Traubenschalen sind bei guten, völlig reifen Traubensorten sehr dünn, enthalten aber wie die Traubenkämme, Gerbsäure, und wenn sie gefärbt sind, mehr oder weniger von einem blauen Farbstoffe. Die Hüllen der weißen oder gelben Trauben sind frei von Farbstoff. Die blauen, überhaupt die gefärbten Trauben (mit Ausnahme der sogenannten Färbertrauben) enthalten die ganze Menge ihres Farbstoffes in ihren Hüllen. Der Saft, selbst der dunkelsten Beeren ist so farblos, daß er, wenn man ihn für sich allein gähren läßt, weißen Wein liefert. Aus den blauen Trauben erhält man daher nur dann „rothen Wein,“ wenn man die Trauben zerquetscht und den ausgetretenen Saft gemeinschaftlich mit den Hüllen der Gährung unterwirft. Der blaue Farbstoff wird hierbei nebst Gerbsäure aus den Schalen ausgezogen und nimmt in der Säure enthaltenden gegohrenen Flüssigkeit eine rothe Farbe an, deren Stärke und Lebhaftigkeit von der Menge der vorhandenen Säure abhängig ist. Der herbe Geschmack, durch welchen sich die rothen Weine von den weißen unterscheiden, wird durch ihren Gehalt an Gerbsäure bedingt, welche, wie wir eben gesehen haben, mit dem Farbstoffe aus den Beerenhüllen ausgezogen wird und in dem Weine verbleibt.

Die Weinbeerkerne bilden das Centrum der Beeren, enthalten ebenfalls viel Gerbsäure und ein grünlich gelbes, unangenehm ranzig riechendes und schmeckendes fettes Oel, in einer Menge von 4–5 Procent. Wahrscheinlich ist auch dieses Oel für die Weinbereitung von Wichtigkeit, indem es die Substanzen enthält, welche zur Bildung des Weingeruches Veranlassung geben. Es wird zuweilen aus den Kernen gepreßt und dann als Brennöl benutzt; auch dienen die Weinbeerkerne zum Schönen des Weines.

Der Traubensaft endlich, der zwischen dem schwammigen Marke der Beeren sitzt, ist für die Weingewinnung natürlich der wichtigste Theil. Er ist im frisch gepreßten Zustande trübe, gelblich, schmeckt angenehm süß und wird „Most“ genannt. – Er besteht aus Wasser (70–80 Procent), in welchem hauptsächlich folgende Stoffe aufgelöst vorkommen: mehrere Säuren, Zucker, Eiweißkörper, Gallertsubstanzen und Gummi, etwas Fett und verschiedene mineralische, namentlich phosphorsaure Salze. – Von den Säuren sind im Traubensafte mit Bestimmtheit die Weinsteinsäure oder Weinsäure, die Traubensäure und die Aepfelsäure nachgewiesen worden. Einige wollen auch Citronensäure darin gefunden haben. Die Weinsteinsäure fehlt dem Safte reifer Weintrauben niemals, ist also einer der charakteristischen Bestandtheile desselben und findet sich darin theils frei, theils verbunden mit Kali und Kalk. Sie ist eine sehr starke organische (das heißt, aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff bestehende) Säure, schmeckt rein und angenehm sauer, kann aber in ihrer Lösung leicht eine allmälige Zersetzung erleiden. Die Traubensäure ist der Weinsteinsäure chemisch ganz gleich, unterscheidet sich von dieser nur durch etwas andere Eigenschaften, so z. B. durch ihre schwerere Löslichkeit in Wasser, und dadurch, daß sie mit Kalk ein viel unlöslicheres Salz bildet. Sie kommt nur zuweilen im Traubensafte vor und scheint dann die Weinsteinsäure darin zu vertreten. Am Häufigsten findet man sie in dem Saft der in den heißeren Ländern gereiften Weintrauben. Die Aepfelsäure ist in großer Menge in dem Safte der unreifen Weintrauben vorhanden, verschwindet aber während des Reifens fast ganz oder vollständig, und scheint in der Beere in Weinsteinsäure, vielleicht auch in Zucker verwandelt zu werden. Der Gehalt des Traubensaftes an Säure ist sehr verschieden; doch zeigt er sich sehr bedeutend, so lange die Trauben noch nicht ganz reif sind, und nimmt dann erst in den letzten Tagen des Reifens auffallend schnell ab, woraus hervorgeht, daß es rathsam ist, die Trauben möglichst reif werden zu lassen, bevor man mit der Lese beginnt. Wir werden nachher sehen, daß der Gehalt des Traubensaftes an Säuren von größtem Einflüsse auf den daraus entstehenden Wein ist, und daß nicht nur ein Uebermaaß, sondern auch ein Mangel an Säure in dem Safte von Nachtheil ist. Es ist daher für Jeden, der sich praktisch mit der Weinbereitung beschäftigt und eines günstigen Resultates sicher sein will, unumgänglich nothwendig, den Säuregehalt im frischen Traubensafte bestimmen zu können, was um so leichter ist, als man hierzu ein sehr einfaches Instrument eingerichtet hat, welches wir, um hier nicht zu weitläufig werden zu müssen, in einem besonderen Nachtrage zu unserer Betrachtung beschreiben werden. Nur so viel bemerken wir hier, daß ein Most in je 1000 Theilen nicht viel mehr und nicht viel weniger als 7 Theile freie Säuren enthalten darf. – Der Zucker des Traubensaftes wird Traubenzucker oder Krümelzucker genannt. Derselbe ist chemisch etwas anders zusammengesetzt und besitzt andere Eigenschaften als der gewöhnliche Zucker, den man aus dem Zuckerrohr, den Runkelrüben, dem Schafte der Palmblüthen, dem Zuckerahorn, der Zuckerhirse und anderen Pflanzen abscheiden kann. Der Traubenzucker enthält wie die meisten, die Pflanzen bildenden Stoffe, die drei Elemente, Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff, die auch den gewöhnlichen Zucker zusammensetzen, nur sind Wasserstoff und Sauerstoff in dem ersteren in etwas größerer Menge, als in dem letzteren vorhanden. Der Traubenzucker ist schwieriger in Wasser löslich, besitzt keinen so süßen Geschmack und bildet keine so großen Krystalle, wie der gewöhnliche Zucker; er findet sich im Pflanzenreiche, besonders in vielen Früchten häufig, bildet einen Hauptbestandtheil des Bienenhonigs, wird zuweilen bei krankhaften Zuständen (Harnruhr) im Harne der Menschen in großer Menge aufgefunden und dann Harnzucker genannt, und kann [324] auch künstlich aus manchen anderen Stoffen abgeschieden oder dargestellt werden, namentlich aus gewöhnlichem Zucker, Stärkemehl, Stärkegummi und Holzsubstanz (Cellulose), weshalb man ihn auch zuweilen Stärkezucker oder Holzzucker nennt. Kocht man z. B. Stärkemehl oder Stärkemehl-haltige Substanzen (Kartoffeln, Eicheln, Kastanien, Mais, Reis etc.) mit verdünnter Schwefelsäure, so entsteht nach einiger Zeit ein immer dünner werdender Brei. Das Stärkemehl, welches erst einen Kleister bildete, verschwindet, verwandelt sich erst in sogenannten Stärkegummi (der klebrige Stoff des Bieres, auch Dextrin genannt), und zuletzt in Stärke- oder Traubenzucker. Man entfernt aus der Flüssigkeit durch Kreide die Schwefelsäure, durch Kohle die Farbstoffe und anderen Unreinigkeiten, und erhält dann beim Einkochen der Flüssigkeit den festen Traubenzucker. Eine ganz gleiche Veränderung erleidet das Stärkemehl, wenn man dasselbe mit gekeimter Gerste (Malz) bis beinahe zum Sieden erwärmt, ein Verfahren, dessen man sich in der Bierbrauerei und Branntweinbrennerei bedient, um die Stärke theils nur in Stärkegummi (beim Biere), theils ganz in Traubenzucker (beim Branntwein) umzuwandeln. Der Trauben- oder Stärkezucker zeichnet sich besonders dadurch aus, daß er, wenn man etwas Hefe zu seiner verdünnten wässerigen Lösung setzt, sehr rasch in die sogenannte Gährung übergeht und hierbei unmittelbar zu Weingeist (Alkohol) und Kohlensäure zerfällt; daher muß man, z. B. bei der Branntweinbrennerei, das Stärkemehl des Getreides oder der zu brennenden Kartoffeln erst durch den sogenannten Maischproceß vollständig in Traubenzucker überführen, bevor man durch Zusatz von Hefe die Gährung hervorrufen kann. Auch der gewöhnliche Zucker ist wie die Stärke keiner directen Gährung fähig, sondern verwandelt sich, wenn man seine Lösung mit Hefe versetzt, erst in Traubenzucker, bevor er gährt. Aus je zwei Pfund Traubenzucker bildet sich bei der Gährung ungefähr ein Pfund Weingeist. Hieraus ergiebt sich die große Wichtigkeit des Zuckergehaltes im Moste, denn von diesem hängt die Stärke des sich bildenden Weines ab. Bei der Weinbildung verschwindet entweder fast aller oder ein großer Theil des Zuckers und zersetzt sich zu Kohlensäure, welche entweicht und das Schäumen des gährenden Saftes bedingt, und zu Weingeist, welcher in der Flüssigkeit bleibt und derselben die berauschenden Wirkungen, die sogenannte Kraft, das Feuer und die Haltbarkeit giebt. Der intelligente Weinbauer bestimmt daher auch den Zuckergehalt seines Mostes, und vermag daraus sogleich die Stärke des zu gewinnenden Weines zu berechnen und darnach die Behandlung des Mostes einzurichten. Das Instrument zur Zuckerbestimmung soll ebenfalls im Nachtrage erläutert werden. Der Saft reifer Weintrauben enthält je nach der Traubenart 13–30 Procent Zucker, der Saft unreifer dagegen nur 6 –12 Procente. Ueberhaupt haben alle Untersuchungen einstimmig gezeigt, daß sich der Zucker hauptsächlich nur während der letzten Periode des Reifens der Weintraube erzeugt, und in dieser dann in dem Verhältnisse zunimmt, als die Säure abnimmt, also ein neuer Beweis, wie nothwendig es ist, die Trauben möglichst reif werden zu lassen. Wird bei der Weinbildung fast aller Zucker des Mostes in Weingeist verwandelt, so erhält man einen sogenannten sauren oder trockenen Wein, wird dagegen nur ein Theil des vorhandenen Zuckers zersetzt, so entsteht ein süßer oder Liqueurwein. – Ebenfalls wichtige Bestandtheile des Mostes sind die Eiweißkörper. Diese finden sich zwar nur in sehr geringer Menge wirklich aufgelöst in dem Safte der Trauben. Mulder konnte nur 1/51/3Theil davon in 100 Theilen des klaren Saftes auffinden; dagegen sind sie in größerer Menge in dem zarten Marke enthalten, welches nebst dem Safte die Traubenbeere erfüllt. Mulder fand in 100 Theilen dieses Markes 14 Theile derselben. Wahrscheinlich kommen mehrere verschiedene Eiweißkörperchen vor und nach den bisherigen zuverlässigen Untersuchungen hat es sich gezeigt, daß das Mark hauptsächlich Eiweiß, der Saft eine ähnliche Substanz, den sogenannten Pflanzenleim enthält, der sich durch seine Löslichkeit in kochendem Weingeist von dem Eiweiß unterscheidet. Die Eiweißkörper gehören zu der merkwürdigen Klasse von Stoffen, die in allen lebenden (d. h. Nahrung zu ihrem Fortbestehen brauchenden) Wesen aufgefunden werden. Sie besitzen von allen chemischen Verbindungen die complicirteste Zusammensetzung und finden sich als die am höchsten entwickelten Materiegruppen überall da, wo wir die Keime zu neuem Leben erblicken. Wir können beobachten, wie sie die Veranlassung zur Entstehung lebender Gebilde werden, indem sie sich mit andern complicirt zusammengesetzten Körpern, mit Fett, Gummi etc. in Beziehung setzen. Wir nennen sie daher mit Recht die „Träger des Lebens und Wachsthums.“ Allein obgleich die Eiweißkörper den Anstoß dazu geben, daß sich todte Gruppen von Materie zu etwas Lebendem ordnen, so sind sie doch selbst wieder die unbeständigsten Verbindungen und zersetzen sich sogar im lebenden Organismus fortwährend, so daß derselbe, wenn er sich lebend erhalten will, gezwungen ist, in demselben Verhältnisse Stoffe als Nahrung aufzunehmen, um sie zur Neubildung der sich zersetzenden zu verwenden. Vermag dies ein lebendes Wesen nicht zu thun, oder erhält es keine genügende Menge von Nahrungsstoffen, so ist sein Verfall unvermeidlich und die Eiweißkörper sind alsdann die ersten Bestandtheile desselben, welche in einfachere Stoffe zerfallen und diese rückgängige Bewegung auch auf die beständigeren Bestandtheile übertragen, diese ebenfalls zur raschen Zersetzung hinreißen. Viele chemische Verbindungen sind für sich sehr beständig; sowie man sie aber mit kleinen Mengen von Eiweißkörpern in Berührung bringt, so werden sie durch dieselben sehr bald in Bewegung, in eine sogenannte Gährung versetzt, wobei sie in neue einfachere Verbindungen zerfallen. Da die in Zersetzung begriffenen Eiweißstoffe, wie hieraus hervorgeht, andere Körper zur Zersetzung (Gährung) anzuregen vermögen, so hat man sie Gährungserreger oder Fermente genannt. Eine solche revolutionäre Rolle spielen nun auch die mit den andern Stoffen aus den Weintrauben und dem Marke derselben gepreßten Eiweißstoffe in dem frischen Traubensafte. Sie fangen an, sie zu zersetzen, treten mit dem Zucker und den andern Bestandtheilen des Saftes in Beziehung und geben unter Mitwirkung von Luft und genügender Wärme zunächst zur Bildung der kleinen Hefepflänzchen und später zur Zersetzung (Gährung) des Zuckers Veranlassung, bringen mit einem Worte den Traubensaft in die Bewegung, durch welche er in Wein übergeht, und müssen dann, wenn der entstandene Wein Bestand haben soll, möglichst entfernt werden, da sie sonst eine vollständige Zerstörung selbst des Weins zu veranlassen im Stande sind. In jedem Traubensafte findet man so viel Eiweißstoffe, daß diese mehr als hinreichend sind, um den Zucker des Saftes zur Gährung zu bringen. Der Saft unreifer Trauben ist reicher daran, als der Saft von völlig reifen. Daher sind auch die aus schlechten sauren Trauben gewonnenen Weine weniger haltbar, als die aus gut gereiften Trauben dargestellten. – Weniger wichtig als die bis dahin betrachteten Theile des Traubensaftes sind die sogenannten Gallertsubstanzen, welchen man eher einen nachtheiligen als einen günstigen Einfluß auf die Weinbildung zuschreiben muß, welche aber während der Gährung des Traubensaftes fast vollständig aus der Flüssigkeit verschwinden, ohne daß man sich genügende Rechenschaft über die aus ihnen entstehenden Produkte zu geben vermag. Zu den Gallertstoffen rechnen wir hier das sogenannte Pektin, ein Stoff, der besonders im Marke der Trauben enthalten ist, ferner das Gummi oder den Pflanzenschleim, welches in ziemlicher Menge im Traubensafte vorkömmt und zur Bildung der Hefe während der Gährung mit verwendet und somit aus der Flüssigkeit entfernt wird. – Ein nicht bestimmt nachgewiesener Bestandtheil des Traubensaftes ist etwas Fett, doch kann dieses auch in den Wein gelangen, wenn man den Saft mit den Weinbeerkernen gähren läßt, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Bestandtheile des Fettes sich während der Gährung trennen und sich bei der Bildung der riechenden Stoffe des Weines mit betheiligen. Uebrigens scheinen einige Traubensorten entweder in ihrem Safte oder in ihren Beerenhüllen, bei völliger Reife, eine kleine Menge eines fertig gebildeten Riechstoffes zu enthalten. – Endlich finden sich im Traubensafte verschiedene Salze und mineralische Bestandtheile, von welchen aber ein großer Theil während der Gährung niedergeschlagen wird. Der Traubensaft enthält vorzüglich saures weinsteinsaures Kali, sogenannten Weinstein oder Cremor tartari, ferner weinsteinsaure Kalkerde und von rein mineralischen Stoffen: schwefelsaures Kali, schwefelsauren Kalk, phosphorsaure Verbindungen, Chlornatrium, Chlorcalcium, Spuren von salpetersauren Salzen; von Magnesia, Eisen, Mangan und Kieselsäure. Wichtig für die Weinbildung sind nur die vorhandenen weinsteinsauren oder traubensauren Salze, während die anderen kaum von Bedeutung sein können.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Es geschah sehr häufig, daß Damen, ja, sogar auch Herren in Ohnmacht fielen, wenn Mesmer auf der Glasharmonika spielte. Siehe Justinus Kerner. S. 42.
  2. Theresens eigene Worte. Siehe Justinus Kerner. S. 63.
  3. Theresens eigene Worte. Siehe Justinus Kerner. S. 63.
  4. Daher das Sprüchwort: Hunde nach Bautzen (d. i. die Grenze) tragen.