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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[297]
Mesmer in Wien.
Von L. Mühlbach.

Ganz Wien war seit einigen Wochen in einer aufgeregten Stimmung; in allen Gesellschaften, allen Café’s, allen Häusern und Restaurationen, auf allen Straßen und Plätzen sprach man von ein und demselben Gegenstand, mit leidenschaftlicher Heftigkeit die Wahrheit dessen, was man erzählte, vertheidigend, oder sie bestreitend. Dieser Gegenstand waren die wunderbaren, unerhörten Kuren des schwäbischen Arztes Franz Anton Mesmer, der sich seit einiger Zeit in Wien niedergelassen hatte, Kuren, welche allen Erfahrungen der Wissenschaft spotteten, und sich jedem Urtheil der Vernunft und Erkenntniß zu entziehen schienen. Denn Mesmer heilte seine Kranken nicht, wie die andern Aerzte, mit Medicinen und Latwergen, mit Aderlässen und Umschlägen, er verordnete ihnen keine Bäder und künstliche, nach lateinischen Recepten gemischte Getränke, sondern er kurirte seine Patienten einfach durch das Auflegen seiner Hand, durch das Anblicken seiner großen, dunkelblauen Augen; er beschwichtigte ihre Fieberphantasien mit dem zornigen Schütteln seines Hauptes, oder machte die stummen Kranken reden von wunderbaren Gesichten und entzückenden Träumen, indem er ihre Stirn anhauchte, oder mit den Spitzen seiner Finger leise und in gleichmäßigen Schwingungen über ihr Antlitz und ihre Brust auf und nieder fuhr.

Seine Hände und sein Auge, das war die Apotheke, aus denen Mesmer seine Heilmittel schöpfte, mit denen er seine Kranken kurirte.

Kein Wunder also, daß ihn die Aerzte einen Charlatan, die Apotheker einen verdammungswürdigen Quacksalber nannten! Kein Wunder, daß das Volk, welches so leicht geneigt ist, das Wunderbare zu verehren, und an das Uebersinnliche zu glauben, selbst wenn es an Schwindelei anstreift, Mesmer verehrte und an ihn glaubte, wie es an alle Wunder überhaupt glaubt.

Weshalb sollte nicht Mesmer so gut mit seiner Hand Wunder thun können, als es Moses mit seinem Stabe gethan, indem er dem dürren Felsen Wasser entlockte? Weshalb sollte das Anblicken seiner Augen nicht eben solche belebende Kraft ausüben können, als es einst die Augen der Apostel gethan, die mit ihrem bloßen Anschauen Todte erweckten und Stumme reden machten? Mesmer war auch ein Apostel! Der Apostel einer neuen Lehre! Er verwies die leidende Menschheit auf den Himmel, auf die Sonne und die Planeten und sagte ihnen, daß vom Himmel allein ihre Krankheiten kämen, daß der Himmel allein sie zu heilen vermöchte!

Der Einfluß der Planeten, sagte er ihnen, mache die Menschen krank oder gesund, der Strahl der Sonne übe auf sie eine magnetische Kraft. Nicht die künstlichen Heilmittel und Medicamente könnten ihnen Genesung bringen, sondern einzig und allein diese magnetische Kraft, welche die Natur in das Eisen und den Stahl gebannt, und welche sie in ihrem höchsten, geheimnißvollen Wirken auch einigen wenigen bevorzugten Menschen mitgetheilt.

Und das Volk glaubte an ihn, und die Kranken und Leidenden eilten zu ihm, um unter der sanften Berührung seiner Hand, unter dem Anschauen seiner mächtigen Augen ihrer Schmerzen ledig zu werden.

Aber jemehr Glauben Mesmer bei den Laien fand, desto mehr empörten sich gegen ihn die Aerzte. Jede neue Heilung brachte ihm neue Segnungen von den Genesenen, neue Angriffe von den Aerzten ein. Die Aerzte, welche einst Paracelsus in Salzburg von dem Felsen herniedergestürzt, weil er eine neue Lehre in die Wissenschaft gebracht, weil er gesprochen von den geheimnißvollen Kräften, welche in der Erde und in den Planeten schlummern, die Aerzte konnten jetzt zwar Mesmer, der dieselbe Lehre predigte, nicht heimlich ermorden, aber sie konnten ihn verfolgen mit ihrem Haß, sie konnten ihn hinstellen als einen Betrüger und Charlatan, sie konnten mit schlagenden Deduktionen es beweisen, daß diese ganze neue Lehre von Mesmer eine schamlose Lüge, ein lächerlicher Unsinn sei, nur erfunden, um die Menschen zu hintergehen, um das Geld aus ihren Taschen zu locken, und sich zu bereichern auf Kosten ihrer Leichtgläubigkeit.

Diejenigen, welche nichts anerkennen wollten, wozu ihnen die Vernunft nicht den Schlüssel lieferte, stimmten natürlich mit ein in das Hohngelächter und die Angriffe der Aerzte.

Diejenigen, welchen eine gläubige Seele inne wohnte, welche so gut an die Mysterien der Natur, wie an die Mysterien der Kirche glaubten, nannten Mesmer einen Wunderarzt, den Gott auf die Welt gesendet, daß er den Leidenden helfe, und der Lehre der Wissenschaft die Lehre der Natur gegenüber stelle.

So bestand Wien endlich nur aus zwei Parteien, aus Freunden oder Feinden Mesmer’s, die sich gegenseitig mit der größten Heftigkeit bekämpften, und einander der Lüge und der Verhüllung der Wahrheit beschuldigten. Die Freunde erzählten mit staunendem Entzücken die wunderbaren Kuren, die Mesmer täglich an den von andern Aerzten als „unheilbar“ zurückgewiesenen Kranken durch das bloße Auflegen seiner Hand bewirkt hatte, die Feinde erklärten alle diese Kuren für Betrügereien, welche Mesmer mit bezahlten Individuen, mit abgerichteten Helfershelfern ausführe.

Und diese Streitigkeiten, wie gesagt, bewegten sich durch alle Schichten der Gesellschaft, selbst der Kaiserhof nahm Theil an [298] ihnen, selbst Maria Theresia ließ sich täglich Bericht erstatten über die neuen Kuren, welche Mesmer in einem Zeitraume von wenigen Tagen an Schwerleidenden bewirkt hatte, und wenn ihre beiden Leibärzte van Swieten und Störk in allem stürmischen Zorn sie beschworen, diesem Unwesen ein Ende zu machen, und dem „Betrüger und Charlatan“ sein ferneres Treiben und Practiciren zu untersagen, so wiegte die Kaiserin sinnend ihr Haupt, und erwiederte die Anschuldigungen der gelehrten Herren mit einem festen und entschiedenen „Nein!“

„Wollen’s abwarten,“ sagte sie, „was der Mann thut und zu Stande bringt. Seine Kurarten sind nicht gefährlich, weil er den Leuten nichts eingiebt, und mit dem Auflegen seiner Hand wird er sie nimmer vergiften können, wie es mancher Arzt schon mit einer übel gewählten Arznei gethan, mit dem Anblicken seiner Augen wird er sie nicht tödten, während es wohl schon passirt ist, daß andere Aerzte mit, Aderlässen und Blutentziehungen ihre Kranken getödtet haben. Laßt mir also den Mann in Ruhe, denn so lange er nichts Böses thut, soll er unangefochten hier in Wien bleiben und seine Kunst ausüben dürfen! Hat sich ja jetzt selber eine Probe auferlegt, die beweisen muß, ob er ein Betrüger ist oder ein Mann Gottes. Wenn er meine kleine Schutzbefohlene, das blinde Fräulein von Paradies, sehend macht, dann werde ich an ihn glauben, und ihn einen Wundermann nennen, und wehe dann Euch Allen, wenn Ihr es noch ferner wagt, ihn zu lästern. Ich werde dem Mesmer mehr glauben, als all’ Eurer Gelahrtheit, denn wer die Blinden sehend macht, ist in Wahrheit der Arzt Gottes! Seid also ruhig und wartet es ab, ob es dem Mesmer gelingt, das blinde Fräulein Therese von Paradies wieder sehend zu machen.“

Das also war es, worauf jetzt alle Welt gespannt war, das war es, was alle Gemüther beschäftigte: die Kur, welche Mesmer mit dem Fräulein von Paradies begonnen und, von der er behauptet, daß sie zu einer Heilung führen werde.

Ganz Wien kannte dieses junge blinde Mädchen. Ganz Wien wußte, daß sie in ihrem zweiten Lebensjahre, in Folge zurückgetretener Masern, erblindet sei, und daß seitdem die Nacht, welche sie umgab, niemals durch einen Lichtstrahl unterbrochen worden. Ganz Wien liebte dieses junge Mädchen, in dessen Seele die allmächtige und allgütige Natur ein anderes, als das Licht der Sonne aufleuchten ließ, dem sie als Ersatz für ihre blinden Augen die Weihe der Kunst verliehen, dem sie es gegeben, Gott zu schauen nicht in der Natur, aber in der Musik. Wenn Therese von Paradies am Klavier saß, wenn ihre Hände mit schwindelnder Schnelligkeit über die Tasten hinglitten oder ihnen langsame volle Accorde entlockten, wenn sie mit ruhigster Sicherheit die schwierigsten Concertstücke spielte, welche die größten Virtuosen jener Zeit nur nach langer Uebung, nach langem Einprägen der Noten erlernt, von denen Therese aber sich nur zwei Mal die Noten vorlesen ließ, um sie alsdann ohne Anstoß spielen zu können, wenn sie, eine vollendete Virtuosin, öffentliche Concerte gab, in denen sie das Publikum entzückte durch so wundervolles Spiel, dann hätte Niemand glauben sollen, daß dieses reizende junge Mädchen mit den großen glänzenden Augen doch eine Blinde sei. Es leuchtete so viel Geist und Gefühl von diesem reinen, unschuldigen Angesicht, ihre Züge waren von einer so wunderbaren Beweglichkeit, ihre Augen schienen, wenn sie lachte, aufzublitzen in Freude, sie schienen umdüstert und traurig, wenn sie ernst war. Und dennoch war Therese von Paradies wirklich blind; aber es leuchtete eine glühende Seele von diesem Angesicht, und diese Seele war es, welche ihren Augen das Licht gab, das die Natur ihnen versagt hatte.




I.
Therese von Paradies.

Therese von Paradies war in ihrem Zimmer; ihre Mutter war bei ihr, und mit Hülfe derselben hatte die Kammerjungser eben den Anzug ihrer jungen Herrin vollendet. Therese war heute in einer besonders gewählten und glänzenden Toilette, und sie selber schien große Freude an derselben zu haben.

„Sage mir, Mutter,“ fragte sie jetzt, nachdem ihr Anzug vollendet war, „sage mir, von welchem Stoff ist doch dies Kleid, das so wunderbar weich und glatt ist, wie ein Menschenangesicht und sich so dem Körper anschmiegt, wie eine schöne Melodie der Seele?“

„Es ist Atlas, mein Kind,“ sagte ihre Mutter lächelnd.

„Und die Farbe?“

„Weiß!“

„Weiß!“ wiederholte sie sinnend. „Ihr nennt das die Farbe ohne Farbe. Wie wunderbar das sein muß, wie entsetzlich! Eine Farbe ohne Farbe! Ah, mir schaudert, wenn ich denke, daß ich die jetzt auch kennen lernen soll!“

„Dir schaudert?“ fragte Frau von Paradies lächelnd. „Freuen solltest Du Dich, diese schöne Gotteswelt mit all’ ihrer Herrlichkeit und ihren Wundern kennen zu lernen!“

„Freuen!“ sagte sie kopfschüttelnd. „Wie kann ich das? Ich werde in eine neue Welt treten, in eine Welt, die mich entsetzen wird mit ihrem fremdartigen und unerhörten Wesen. Jetzt kenne ich Euch Alle mit meiner Seele, jetzt leuchten Eure Angesichter in wunderbarer Herrlichkeit in meinem Herzen, aber wenn ich Euch sehe, werdet Ihr mir fremd sein, und nur an Euren Stimmen werde ich Euch wiedererkennen können, nur an dem Ton Eurer Seele! Ach Mutter, Mutter! Warum wollt Ihr mir meine Blindheit nehmen? Sie war so voll seligen Schauens! Ich war so glücklich in ihr!“

„Thörichtes Kind,“ sagte ihre Mutter, „Du wirst noch viel glücklicher werden, wenn Du sehen kannst. Es ist wirklich kindisch, und albern, um das sich zu ängstigen, was, wenn es sich erfüllt, doch für Dich ein unaussprechliches Glück ist!“

„Und warum nennst Du das albern?“ fragte sie. „Geht nicht die Braut am Tage ihrer Hochzeit auch ihrem Glücke entgegen, und bangt sie nicht vor seligem Weh, und klopft nicht ihr Herz auch zum Zerspringen, und schaudert nicht ihre Seele in süßem Erschrecken? Nun, ich bin heute auch eine Braut, eine Braut des Lichtes, und ich erwarte meinen Bräutigam, den Tag!“

„Aber wer weiß, ob er kommen wird,“ seufzte ihre Mutter.

„Er wird kommen,“ sagte sie zuversichtlich. „Ich habe das gestern gefühlt, als Mesmer die Binde zum ersten Mal seit meiner Kur von meinen Augen nahm. Es war nur einen Moment, aber ich sah etwas wie einen Blitzstrahl, es fuhr mir wie ein schneidendes Schwert durch meine Augen, und ich stürzte besinnungslos zusammen.“

„Thörichtes Kind, es war nur ein Strahl des Tageslichtes, ein erster Blick Deines Bräutigams!“

„Dann werde ich sein volles Anschauen nimmer ertragen können,“ rief Therese bebend. „Aber, sage mir, Mutter, bin ich denn seiner auch werth? Habt Ihr mich schön geputzt, daß mein Bräutigam Freude an mir haben wird?“

„Gewiß, Therese, Du bist geschmückt wie eine Braut, und wie es sich geziemt, an dem Tage, an welchem eine junge Dame zum ersten Mal in die Gesellschaft tritt. Denn wir werden heute große Gesellschaft haben. Ganz Wien möchte dabei sein, wenn die Binde von Deinen Augen genommen wird. Selbst die Kaiserin hat den Besuch eines ihrer Kammerherren ansagen lassen, damit der ihr sogleich vermelden kaun, ob ihr Schützling wirklich sehen kann, und auch die beiden Leibärzte der Kaiserin, die Herren van Swieten und von Störk werden kommen, das Unerhörte zu schauen, und Fürstinnen und Fürsten, Gräfinnen und Grafen, Minister und Generale werden in Menge da sein. Gewiß, es ist für Dich ein Ehrentag, und deshalb habe ich Dich festlich geschmückt.“

„Ist auch mein Haar recht schön frisirt?“ fragte Therese, indem sie ihre beiden Hände erhob und sie prüfend über ihren hohen Kopfputz hingleiten ließ.

„Gewiß, wir haben Deine Lieblingsfrisur genommen, à la Matignon, und die Pepi hat einen wahren Wunderbau gemacht, die Frisur ist fast drei Viertel Elle hoch, und oben darauf schwebt eine ungeheuere Puffhaube mit langen himmelblauen Flatterbändern.“

„Ja, es ist wirklich sehr hoch, ich kann das Ende mit meinen Händen nicht erreichen,“ rief Therese lächelnd. „Ach, es muß wundervoll aussehen. Aber ich will Dich noch etwas fragen,“ fuhr sie dann ernsthaft fort, und ich bitte und beschwöre Dich, antworte mir die Wahrheit! Versprich mir, daß Du es thun willst.“

„Ich verspreche es Dir!“

„Nun dann, so sage mir, wie ist mein Aussehen? Bin ich so, daß ich den Menschen gefallen kann? Bis jetzt sind die Menschen gut und freundlich mit mir gewesen, weil sie Mitleid mit [299] mir hatten, um meines Unglücks willen begegneten sie mir mit Wohlwollen. Aber werden sie mir das nun auch thun, um meiner selbst willen? Werde ich im Stande sein, mir ihre Gunst zu erhalten? Sage mir, o, ich beschwöre Dich, sage mir, bin ich hübsch genug, daß die Menschen ihre Freude an mir haben können?“

„Ja, Du bist hübsch, Therese,“ sagte ihre Mutter lächelnd. „Du bist eine schöne, schlanke und volle Gestalt, das Oval Deines Gesichtes ist von einer reizenden Lieblichkeit, Deine Züge sind edel und regelmäßig, Deine Stirn ist hoch und mächtig, und wenn erst in Deinen großen dunklen Augen der Strahl des Lichtes aufleuchten wird, dann wirst Du ein schönes Mädchen sein!“

„Ich danke Dir, meine Mutter, ich danke Dir!“ rief Therese freudejauchzend, indem sie die Mutter fest in ihre Arme schloß und ihren Mund mit Küssen bedeckte. Die Mutter machte sich sanft aus ihren Armen los.

„Jetzt muß ich eilen, die nöthigen Vorbereitungen zu treffen,“ sagte sie. „In zwei Stunden schon soll die Operation gemacht werden, und vorher werden sich alle Verwandte, Freunde und die andern vornehmen Gäste bei mir im Salon versammeln. Ich muß also eilen. Alles einzurichten und selber Toilette zu machen. Ich werde Dir die Kammerjungfer rufen, daß sie bei Dir bleibe!“

„Nein, rufe sie nicht,“ rief Therese lebhaft. „Ich bedarf der Einsamkeit und Stille. Auch ich muß mich vorbereiten, muß zu der wunderbaren Stunde meine Seele sammeln und meine Gedanken ordnen, muß allein sein mit meinem Gott, muß zu ihm sprechen in meiner Sprache!“

Sie begleitete ihre Mutter bis zu dem anstoßenden Gemach, und nahm von ihr mit einem herzlichen Kuß Abschied.

Die Blinde war jetzt allein, aber sie durchschritt das Gemach mit vollkommener Sicherheit und ging gerade zu ihrem Instrument hin, das immer geöffnet war.

„Ich will spielen,“ sagte sie leise, „ich will ihn rufen mit meinen Tönen. Er muß es fühlen, und er wird kommen.“

Sie ließ sich auf das Tabouret vor ihrem Flügel niedergleiten und begann zu spielen. Eine wunderbare Musik war es, welche ihre Finger den Tasten entlockten, es war die Verkündigung einer Seele, welche jauchzt und klagt, betet und weint, liebt und verzweifelt. Bald schien diese Musik wie ein Hymnus der Freude aufzurauschen, bald flüsterte und seufzte es aus ihr wie eine tiefe Schmerzensklage, dann wieder schwoll sie empor zu heitern, sonnigen Melodien, und alle Schmerzen und Dissonanzen schienen sich aufzulösen in einem seligen Strom von Harmonie.

Auf einmal durchflog ein Zittern ihre ganze Gestalt, und eine Purpurglut schoß über ihr Antlitz hin. Ihre Hände sanken von den Tasten nieder, ihr Haupt neigte sich auf die Brust, aus der schwere, angstvolle Athemzüge hervorquollen. Wie von einer unsichtbaren Gewalt getrieben, erhob sie sich dann von ihrem Sessel und richtete sich gerade und steif empor, dann mit einer schnellen Bewegung schritt sie von dem Instrument weg bis in die Mitte des Zimmers hinein. Aber hier wieder blieb sie wie festgewurzelt stehen, und ihre beiden Hände krampfhaft auf ihr Herz drückend, flüsterte sie athemlos: „Er kommt! O, ich fühl’s, er kommt! Jetzt, jetzt steigt er die Treppe herauf, jetzt schreitet er über den Flur, jetzt, o, jetzt legt er die Hand auf die Thür, ,d – –“

Die Worte erstarben auf ihren bebenden Lippen, der Athem kam fieberhaft schnell und ächzend aus ihrem wogenden Busen hervor, ihr ganzes Wesen war in Aufruhr und Bewegung.

In diesem Moment öffnete sich die Thür ihres Zimmers leise, so leise, daß auch das schärfste Ohr es kaum zu hören vermochte. Aber Therese hörte es doch. Ein Schrei des Entzückens tönte von ihren Lippen, sie streckte die Arme aus, sie wollte vorwärts stürzen, aber ihre Füße waren wie eingewurzelt, und so mit ausgebreiteten Armen, mit vorgebeugtem Haupt blieb sie stehen. Sie hatte mit ihrem Herzen die Gestalt gesehen, welche da drüben auf der Schwelle der Thür erschienen war. Diese Gestalt war die eines Mannes von kaum vierzig Jahren[1], von stolzem, imposantem Aeußern, von schönen einnehmenden Zügen. Seine großen blauen Augen, in denen ein wunderbaren Leuchten war, ruhten mit einem gebieterischen festen Ausdruck auf dem jungen blinden Mädchen, das im innersten Mark ihres Lebens seinen flammenden Blick empfand und unter ihm erzitterte. Den rechten Arm hielt er ausgestreckt gegen sie gerichtet, anfangs steif und ohne ihn zu regen, dann aber senkte er ihn tiefer hinab und deutete mit dem Finger auf den Fußboden, gerade auf die Stelle hin, wo Therese stand.

Sofort sank die Blinde auf ihre Knie nieder. Ein triumphirendes Lächeln flog durch das ernste Antlitz des Mannes, er hob den Arm wieder empor und winkte mit der Hand.

Die Blinde sprang sofort von ihren Knien empor, ein Freudenruf tönte von ihren Lippen; als hätte sie gesehen, daß er ihr die Arme jetzt ausbreitete, sprang sie vorwärts, stürzte sie, ohne zu schwanken und zu irren, geradeaus in seine Arme und lehnte ihr Haupt an seine Brust.

„Mesmer! Mein Freund! Mein Arzt, mein Erlöser!“ flüsterte sie leise.

„Ich bin’s,“ sagte er mit voller melodischer Stimme. „Ihr Herz hat mich gesehen und erkannt, Therese! Bald sollen es auch Ihre Augen!“

Er führte sie zu dem Divan und ließ sie sanft auf demselben niedergleiten. Dann streckte er zwei Mal seine Fingerspitzen gegen sie aus, und sofort flog ein Zittern durch ihre Gestalt.

„Sie sind heute sehr erregt, Therese,“ sagte er mit leisem, mißbilligendem Ton.

„Ich bin es, weil Sie es sind, mein Freund,“ flüsterte die Blinde. „Ihr Antlitz glüht, Ihre Pulse schlagen, Ihre Augen schießen Blitze, welche eine Welt zerschmettern möchten.“

„Eine Welt der Lüge, der Unwissenheit und der Bosheit,“ rief er mächtig. „Ja, Therese, die will ich heute zerschmettern mit meinen Blicken und mit meiner Hand! Und eine neue Welt will ich dafür aufrichten, eine Welt des Rechtwissens aber des Schauens, des Uebernatürlichen und doch so Natürlichen! O, Therese, wird mir es gelingen? Wird meine Hand die Kraft haben, Ihre Augen zu erlösen, wird mein Geist so mächtig herrschen über dem Ihren, daß er ihm befehlen kann, aus Ihren Augen hervorzublitzen und zu schauen? Werden Sie mir gehorsam sein mit Ihrer Seele und Ihrem Körper?“

„Mit meiner Seele gewiß,“ hauchte sie leise, „denn meine Seele gehört Ihnen einzig und unbedingt, ob mit meinem Körper, weiß ich nicht.“

„Die Seele muß dem Körper gebieten!“ sagte Mesmer streng.

„Sie will es!“ sagte Therese flehend. „O, zürnen Sie nicht, wenn sie es nicht kann!“

„Sie zweifeln, Therese?“ fragte Mesmer, und seine Augen bohrten sich wie zwei Dolche in ihr Angesicht.

„O, Ihre Augen thun mir weh,“ ächzte sie, indem sie ihr Antlitz mit ihren Händen bedeckte, als wolle sie es schützen vor seinen Blicken.

Mesmer schlug seine Augen nieder und wiederholte sanft: „Sie zweifeln, Therese?“

„Ich zweifle, weil ich fühle, daß Sie zweifeln,“ sagte sie ausathmend. „Aber wenn es nun auch wäre, mein Freund? Wenn Ihr großer erhabener Geist nur meiner Seele, nicht meinem Körper gebieten könnte? Was thut das? Ich werde deshalb nicht unglücklich sein, ich werde mich nicht beklagen! Ich sehne mich nicht nach dem Licht da außen, denn das Licht ist in mir! Mein Herz sieht Sie, was thut es also, wenn auch meine Augen Sie nicht zu sehen vermögen! Nein, glauben Sie mir, ich zittere und bange der neuen Welt entgegen, und mir ist, als müßte ich mich vor ihr verbergen in der tiefsten Einsamkeit. meiner Blindheit. O, mein Freund, mein Herr und mein Meister, wenn irgend Zweifel in Ihnen sind, wenn das Werk mißlingen könnte, so versuchen Sie es nicht! Ich bin glücklich und zufrieden, denn ich trage eine Welt in mir und bedarf keine Welt außer mir!“

„Nein!“ rief Mesmer, „das Werk ist begonnen, es muß vollbracht werden. Und es soll und muß gelingen! Es handelt sich jetzt nicht mehr darum, Therese, ob Sie wünschen, sehend zu werden oder blind zu bleiben. Sie müssen sehend werden oder Alles, was ich gewollt, gedacht und erstrebt habe, stürzt in Trümmern über mir zusammen und zerschmettert mein Leben nicht allein, sondern auch meinen Namen und meine Ehre! Der heutige Tag ist der Tag der Entscheidung! Heute wird Mesmer seinen Feinden, und seinen Freunden beweisen, daß er die Wahrheit gesprochen, daß der thierische Magnetismus, den die Aerzte verspotten, den die Wissenschaft verleugnet, weil sie ihn noch nicht kennen, den die Laien für Zauberei oder Betrug halten, daß der thierische [300] Magnetismus die göttliche Heilkraft ist, welche den Menschen mit der Natur und dem Himmel verbindet, daß dieser wechselweise Einfluß unter den Himmelskörpern, der Erde und allen belebten Wesen, den die dummen klugen Menschen ableugnen wollen, wirklich existirt. Nein, Therese, ich werde Sie heilen mittelst der magnetischen Kraft, welche uns Beide einander vereint, uns Beide zugleich dem Himmel verbindet!“

„Heilen Sie mich, mein Herr und mein Meister,“ rief die Blinde begeistert, „ich nehme von Ihnen das Licht an, und Sie sollen durch mich ein neues Licht ausstrahlen über die ganze Welt!“

Er legte sanft die Hand auf ihr Haupt und sah sie mit leuchtenden Blicken an. „Du glaubst also an mich, Therese?“ fragte er. „Nicht wahr, Du glaubst?“

„Ich glaube an Dich, verstehe Dich,“ sagte sie leise. „Ich werde sehend werden, ich weiß es, ich fühle es! Und dann wird Niemand mehr zweifeln dürfen. Die Binde, die von meinen Augen fällt, wird auch abfallen müssen von den Augen Deiner Feinde, von den Augen der Wissenschaft und der Gelehrsamkeit. Sie werden sehen, daß es eine Kraft giebt, welche sie nicht kannten und nicht ahnten, eine Kraft der Natur, welche ohne menschliches Zuthun das verrichtet, was die Arzneikunde bisher der Kunst oder der Natur zugeschrieben hat!“

„O, Du sprichst meine Gedanken aus, Therese,“ rief Mesmer zärtlich, „Du siehst in meine Seele hinein, und findest auf Deinen Lippen meine Worte wieder! Du weißt also auch, daß ich die Wahrheit sage! Es giebt einen thierischen Magnetismus, eine übersinnliche Kraft, welche besser als alle Arzneien im Stande ist, den Menschen Gesundheit und Heilung zu bringen. Mögen die Aerzte darüber lachen, eines Tages werden sie doch erkennen müssen, daß ich die Wahrheit gesprochen. Die Aerzte sind Reisende, welche, einmal von der rechten Straße abgekommen, sich immer tiefer verirren, weil sie, statt umzukehren und sich zurecht zu finden, beständig gerade forteilen!“[2] „Aber Sie werden ihnen die rechte Straße zeigen, mein Meister,“ rief Therese begeistert, „Sie werden die Verirrten zurückführen auf die rechte Straße, und der Dank der zukünftigen Geschlechter wird Ihnen dafür lohnen!“

„Wenn der Undank des gegenwärtigen Geschlechtes es dazu kommen läßt,“ sagte Mesmer wehmüthig. „Es ist schwer, in dem Labyrinth des Wissens und des Glaubens sich zurecht zu finden. Ich weiß das, denn auch ich war lange Zeit ein Verirrter in diesem Labyrinth, aber ich sehnte mich nach der Befreiung, nach der Erkenntniß! Ein verzehrendes Feuer füllte meine ganze Seele! Ich suchte die Wahrheit nicht mehr voll zärtlicher Neigung, sondern voll der äußersten Unruhe. Ich floh in die entlegensten Wälder, die tiefste Einöde. Da fühlte ich mich näher der Natur. In der heftigsten Bewegung glaubte ich zuweilen, daß mein von ihren vergeblichen Lockungen ermüdetes Herz die Natur wild von sich stieße, und mit zürnender Stimme rief ich ihr zu: O Natur, was willst du von mir? Lasse ab von mir! Laß mich weiter ziehen in meiner Dunkelheit, wenn du mir doch das Licht nicht zeigen willst! – Dann wieder glaubte ich sie zärtlich zu umarmen, und beschwor sie mit der glühendsten Ungeduld doch endlich meine Wünsche zu erfüllen. Ein Glück für mich, daß in der Stille der Wälder nur die Bäume die Zeugen meiner Heftigkeit waren, denn die Menschen würden mich für wahnsinnig gehalten haben!“

„Ich nicht, Meister,“ rief Therese glühend. „Ich hätte bei Ihnen sein mögen, und ich hätte Sie verstanden!“

Mesmer drückte ihr zärtlich die Hand und fuhr fort: „Alle übrigen Beschäftigungen wurden mir verhaßt, jeder Augenblick, den ich ihnen widmete, schien mir ein an der Wahrheit begangener Diebstahl zu sein! Ich bereute sogar die Zeit, die ich bedurfte, um Ausdrücke für meine Gedanken zu finden. Ich fand, daß wir jeden Gedanken unmittelbar ohne langes Nachsinnen in die Sprache einzukleiden pflegen, die uns die bekannteste ist. Und da faßte ich den seltsamen Entschluß, mich von dieser Sclaverei loszumachen. Drei Monate dachte ich ohne Worte! Als sich dies tiefe Nachdenken endete, sah ich mich voll Erstaunen um! Meine Sinne betrogen mich nicht mehr wie vorher. Alle Gegenstände hatten für mich eine neue Gestalt, und mit einem nie gefühlten Entzücken ward ich mir bewußt, daß ich die Wahrheit, die ich so lange gesucht, endlich gefunden hatte! Es kam wieder Ruhe in meine Seele, denn sie hatte die Wahrheit erkannt, und sie entfernte sich nicht mehr von meiner Erkenntniß. Freilich stand mir nun noch ein schwerer Kampf mit den Meinungen der Menschen bevor, aber das schreckte mich nicht. Vielmehr fühlte ich die Nothwendigkeit, die Unzahl der Hindernisse dadurch zu vergrößern, daß ich’s mir als die heiligste Pflicht auferlegte, der Menschheit das unschätzbare, meinen Händen anvertraute Gut in seiner vollen Reinheit so unverfälscht, als ich es von der Natur erhalten hatte, zu überliefern, und nur da helfend einzuschreiten, wo ich meiner selber gewiß war. Viel habe ich gelitten von dem Unverstand und der Bosheit der Menschen, am Meisten von dem Neid und dem Hohne der Aerzte, welche in ihrem Hochmuth lieber blind bleiben, als sich von Andern ein Licht anzünden lassen wollen! [3] Aber der Tag ist gekommen, an dem ich sie zur Erkenntniß zwingen will! Heute sollen sie erkennen müssen, daß all’ ihr Wissen Stückwerk ist, und daß die Natur mit ihren heiligsten Offenbarungen ihnen bis hierher verschlossen war. O, Therese, Du bist das Evangelium meiner neuen Religion, welche Gottes und der Natur überschwellend voll ist! Verkünde ihnen, mein Kind, die neue, die heilige Religion! Schlage Deine Augen auf und lasse sie in ihrem hellen Stern die allewige Urkraft der Sterne und Planeten erkennen, die sie zu leugnen gewagt!“

„Ich will es, Meister, ich will es,“ rief Therese begeistert, „ich will den Ungläubigen und Zweifelnden Dein Evangelium verkünden und wider ihren Willen sollen sie glauben müssen! Ja, mein Herr und mein Meister! Die Stunde der Erkenntniß ist gekommen, und meine sehenden Augen sollen alle die Andern überzeugen, daß auch sie blind waren. Komm, Meister, nimm die Binde von meinem Angesicht, das Licht wird mich nicht mehr blenden, ich werde nicht mehr wie gestern ohnmächtig vor seinem Strahl zusammensinken! O, laß mich sehen, laß mich Dich sehen!“

Sie fuhr mit beiden Händen zu ihrem Haupte empor, um sich die Binde abzunehmen, aber Mesmer hielt sie zurück.

„Nein,“ sagte er, „noch nicht! Im Beisein aller meiner Feinde, die sich indeß Deine Freunde nennen, muß es geschehen, nicht eher!“

„Aber sie werden schon im Salon unserer warten! Hörst Du nicht, Meister, wie die Wagen vor unsere Thür rollen. Hörst Du nicht, wie sie die Treppe heraufsteigen! O, sie werden Alle schon da sein! Komm also, laß uns gehen!“

„Noch nicht, Therese, denn wenn alle diejenigen da sind, die ich erwarte, wird man, wie ich es erbeten habe, uns benachrichtigen.“

„Wen erwartest Du denn, Meister?“

„Meine Feinde, Therese! Und ich sage Dir, sie werden kommen! Der Professor Barth wird kommen, um den Charlatan zu sehen, der die Vermessenheit hat, durch eine unsichtbare Kraft zu heilen, was er, der berühmte Staarstecher nur vermöge seiner Pincette und seiner Messer vermag. Doctor Ingenhaus, mein erbitterter Gegner, wird da sein, um zu sehen, welche infernalische Künste der Charlatan anwendet, der schon mehr als hundert Kranke geheilt hat, die seine Gelahrtheit für unheilbar erklärt hatte; Pater Gall wird da sein, um zu sehen, ob die Gegenwart eines großen Astronomen mich nicht schrecken wird, oder ob der Charlatan wirklich den Muth, hat, selbst in Gegenwart Pater Gall’s, der es doch besser weiß, zu behaupten, daß die Planeten da oben im Zusammenhang stehen mit den Menschen und Einfluß haben auf ihr Sein und Denken. Ja, ja, sie werden Alle kommen, nicht um sich überzeugen zu lassen, sondern um zu triumphiren! Denn nach ihrer Meinung ist es keinem Zweifel unterworfen, daß der Charlatan heute vernichtet ihnen gegenüberstehen wird!“

(Fortsetzung folgt.)
[301]
Wüsten-Bilder.
I.
Die Sahara und das Kameel.

Hegel nannte das Meer die „Brücke der Völker.“ Die Wüste, der versengte, verbrannte Ocean, gähnt und glüht als deren Kluft. Auf dem lebendigen, wogenden Meere sind die Verbindungsmittel hölzerne und eiserne, todte Mechanismen, auf dem glühenden todten Meere der Wüste ist das „Schiff“ derselben lebendig und der Urquell und die Bedingungen alles Lebens, aller Verbindungen, aller Kultur der Wüstenvölker seit Jahrtausenden. Das Kameel ist nicht nur bildlich „das Schiff der Wüste“, sondern auch wirklich. Es [302] ist noch viel mehr nicht nur das Schiff, sondern auch Wasser und Wind und Dampfmaschine und Schaufelrad dazu. Das Kameel, auf den Universitäten deutscher Länder ein Schimpfwort, trägt unter Völkern, welche die Bewohnerzahl Deutschlands auf mehr als fünfzehn Mal größeren Strecken übertreffen, die süßesten, geachtetsten Namen. Es ist in der Andacht der Wüstenvölker nach dem großen Allah und seinem Propheten die heiligste Größe. „Es ist uns ein Kind geboren!“ rufen der wilde Tuarik und die Ziegen weidende Tibbuserin, wenn eine Kameelmutter ein Junges geworfen. Es ist nicht blos Schiff und Segel auf den glühenden Stein- und Sand-Oceanen, nicht blos das Lebenswasser der „Hügel und Tiefen und Ebenen des Durstes,“ nicht blos Familienmitglied des Wüstenbe- und Anwohners, sondern auch zugleich Pferd und Wagen, Armee, Haus und Hof, Dach und Fach, Factotum unter Menschen, die in ungezählten Millionen über unbewohnbare und bewohnte Strecken und Ausdehnungen von mindestens der doppelten Größe Europa’s, von Timbuctu bis Mecca, von den Kawaramündungen des Golfes von Guinea bis Darfur und dem heiligen Nilthale ziehen. Es ist das Rennthier der Tropen und eins der genialsten Meisterstücke der Natur. Sein geographischer Wirkungskreis geht weit über die Wüste hinaus, aber der eigentliche Schau- und Kampfplatz seines heroischen Lebens ist die Sahara, die wir uns deshalb als Grund und Boden des Bildes näher ansehen müssen.

Die Sahara (von Humboldt aus der Urbezeichnung „das Zaharah“ genannt), die Königin aller Wüsten, breitet sich unter dem Wendekreis des Krebses vom atlantischen Meere über die ganze breite Seite von Nordafrika bis zum Nil und dem lachenden Hügel- und Oasenlande Sudan zwischen 161/2 und 321/2 der Breitengrade über mehr als 118,000 geographische Geviertmeilen aus, übertrifft also Deutschland an Größe beinahe zehn-, und das ganze mittelländische Meer dreimal, ohne sich damit zu begnügen, denn sie dehnt sich hier und da noch verrätherisch in Sandbänken und Untiefen unter dem Wasser hin weit in das Weltmeer aus, und unterhält so noch mit dem, was sie war, Verbindungen. Sie war einst Meeresbett und senkt sich in seinen tiefen Ebenen noch heute unter den Spiegel des lebendigen Meeres, nur hier und da unbedeutend und gegen die Mitte Afrika’s hin, dem Tsadsee, bis zu 1500 Fuß ansteigend.

Die Sahara ist dem Araber im Allgemeinen „Zahara bila ma“ d. h. „der Ocean ohne Wasser.“ Die Sandebenen nennt er Sahel, und mit „Zabarah“ allein bezeichnet er den glühenden, fest gebrannten Steinboden, die entsetzlichste Qual der Karavanen.

Aber es lachen auch Inseln aus diesem ausgebrannten Meere, die bekannten Oasen, welche, wenn sie Glut und Tod, Sand und Gestein so weit überwunden haben, daß sie ganzen Stämmen und ihren Heerden von Schafen, Ziegen, Hühnern u. s. w. hinreichende Nahrung geben, „Wadi“heißen. Man kennt bis jetzt achtzehn solcher vollkommenen Wadi’s und noch sechzehn andere in der Bildung begriffene, die allmälig immer mehr Humus, Feuchtigkeit anziehende Vegetation, und so mit Glut und Tod kämpfend immer mehr Lebensfähigkeit um sich herum bilden und so wirklich einen stillen, mächtigen Heldenkampf der Naturlebenskraft gegen das Meer des Todes darstellen. Wer weiß, wie viele Jahrtausende lang die glühende Sonne einst die Meereswogen der Sahara kochte, um sie zu verdampfen! Wer weiß, wie lange sie jetzt kämpfen muß, um diesen dem Meere abgerungenen Boden mit Leben und blühender Erdrinde zu überziehen! Aber so lange dauert’s nicht, als ersterer Krieg. Die Kultur und Nothwendigkeit kommt der Natur zu Hülfe. Man hat schon natürliche artesische Brunnen unter der heißen Stein- und Sandglut entdeckt und die fünf künstlichen, welche Mehemet Ali in dem libyschen Theile der Sahara und die Franzosen zwischen Biscara und Turgurt graben ließen, werden seitdem durch Natur und Kunst allmälig vermehrt. Kann man aber erst mit Sicherheit auf dem Dampfschiff der Wüste, dem Kameele, von einer Quelle zur andern kommen, wie wir von einem Hotel in’s andere, dann hat auch die Wüste ihre größten Schrecken verloren. Die quellenden Oasen und Wadi’s dehnen sich desto schneller aus, je größer sie werden, und so wird sich einst das Wort des Propheten erfüllen:

„Die Wüste wird jubeln und blühen wie die Rose.“

Jetzt spiegeln sich freilich diese Bilder der Zukunft vorläufig noch in Tantalusqualen schärfenden Truggestalten der Fata Morgana, von dem Araber und Berber „Durst der Gazelle“ genannt. Und wirkliche Höhen der Furcht und des Entsetzens (da bergauf die Hoffnung auf Wasser immer mehr schwindet) bezeichnet er als „Hügel des Durstes“. Für die Felsen der nubischen Wüste hat er blos den Namen „Mut“ (Tod). Wie alle Schrecknisse der Wüste aus dem Mangel an Wasser entspringen, bezeichnet man auch unendlich viel Dinge darin durch das Verhältniß zum Durst, zum Mangel oder der Quelle des Wassers. Nach den Namen für das Kameel klingt dem Sahara-Schiffer nichts so süß als die grüne, lachende, quellende „Wadi.“ Aber wenn er statt einer Wadi plötzlich ein offenes Thal des Todes, einen unbedeckten Kirchhof in unzähligen Gerippen von Menschen und Kameelen vor sich grinzen sieht? Man fand schon solche offene Kirchhöfe von mehr als hundert Skeletten neben einander. Und im Jahre 1805 kam eine ganze Karavane von 1800 Kameelen und 2000 Menschen auf dem Zuge von Tafilet nach Timbuktu vor Durst um. Ueber hundert Meilen dehnten sich die ausgedörrten Skelette aus, die immer dichter wurden und endlich einen entsetzlichen, dichten Schluß mit den ausgetrockneten Mumien und abgemagerten Gebeinen der Tüchtigsten und Tapfersten bildeten. Gegen eine solche Tragödie auf dem Meere ohne Wasser werden selbst die Scenen des Menschenschlachtens auf dem Wassermeere, das eine Zahl aus dem Schiffbruch geretteter Matrosen Wochen lang ohne Wasser auf dem Wasser umhertreibt, welche daher das Blut des Opfers trinken, das vom Loose getroffen ward, werden selbst solche Scenen, deren Wirklichkeit die furchtbarste Fieberphantasie übertrifft, blaß und klein.

Es giebt viele mit Leben bedeckte Oasen in der Wüste, aber noch mehr unbedeckte Kirchhöfe, obgleich die tödtlichen Wogen und Fluthen des Sandes manche solche Leichenfelder einhüllten oder auch Kameele und Reiter lebendig begruben. Aber die ungeheuere Ausdehnung der Wüste ist sich durchaus nicht gleich in ihrem Tode und ihrer Tödtlichkeit. Im Gegentheil leben in ihr die schärfsten Gegensätze von malerischer, quellender Fülle und formloser, dürrer Verdurstung. Sie zerfällt in zwei, durch einen fruchtbaren Gürtel geschiedene Theile, den östlichen oder die libysche Wüste, und den westlichen, der auch im Ganzen und Großen Sahel genannt wird.

Ersterer ist der minder furchtbare, weil er mindestens nicht mit lebendiger Begrabung unter Samum- und Sandfluthen droht. Aber die unendlichen Ausdehnungen des harten, nackten Kalksteins, ohne Erhebung und Senkung auf viele Hunderte von Meilen, wo die armseligste Spur eines Mooses ein Ereigniß ist, von dem man Tage lang spricht, wo man eine „von Sonnenglut lebende Eidechse“, die helläugig über den heißen Estrichboden gleitet, mit dem herzlichsten „Mash - Allah!“ betend begrüßt, und dem binnen Jahren einmal entdeckten, vereinsamt im vereinsamten „Baum des Wassers“ (der Dattelpalme) auszirpenden Vogel selbst von dem mitleidlosen Beduinen eine Hand voll Körner zum Dank für die Herzensfreude seines Tones gestreut wird, diese furchtbaren Schrecken des ewigen Einerlei in rothglühend herab- und rothglühend heraufzitternder Luft, gegen welche man sich dicht in Wolle packt, sind nur im Vergleich zu den Tod und Verderben wälzenden, lebendig begrabenden Sand- und Samumstürmen des „Sahel“ mit einem „Minder“ zu bezeichnen, und dies auch nur für den ausgetrockneten, sehnigen Beduinen und Berber mit einem Herzen von Stein, wie der Boden unter ihm, und mit einer Haut, die durch Gewohnheit gleichsam feuerfest geworden, und vor allen Dingen mit dem – Kameele.

Je näher man in westlicher Richtung dem Sahel kommt, desto kleiner werden die ebenen Kalktafeln. Der Reiter oder die Karavane begrüßt hoch auf dem Rücken seines eiliger zuschreitenden Thieres schon aus der Ferne kleinere, über den Boden verstreute, runde Steinchen. Denn bald kommen nun Klüfte und Ritzen, in welchen verkümmerte Gesträuche sich angstvoll gegen die Sonnenglut verkriechen. Aber auch blendende, heiße Eisflächen sind manchmal ganze Tagereisen lang aus den Klüften hervorgequollen, das aus dem ehemaligen Oceane abgedampfte Seesalz, das in krystallinischer, durchsichtiger Unendlichkeit den Boden bedeckt. Doch endlich werden die Klüfte tiefer und tiefer und plötzlich hört man unsichtbare Quellen süßen Wassers durch die geborstene Erde sickern. Die Quellen werden endlich sichtbar in Grashalmen, Reis- und Durrafeldern, Datteln und Zwergpalmen und lustig umherspringenden Ziegenheerden. Die scheue graziöse Gazelle flieht flink in die Weite, nachdem sie den nahenden Wanderer mit klugen, klaren [303] Augen angestaunt, und Strauße, die seltsamen Schnellläufer der Wüste, durchkreuzen ihren Pfad. Oben schwebt wieder der Adler, und unten im Dickicht der Kluft lauert der Löwe, um des Nachts einer Gazelle am Wasser aufzulauern oder unter Schafen und Ziegen seine Wahl zu treffen, während die im Schlafe gestörten Hühner mit dem Hahne einen Lärm krähen und krächzen, den Niemand weniger vertragen kann, als der sogenannte „Wüstenkönig“, obgleich er sich nie in die eigentliche Wüste verliert, sondern in den Verstecken der Oasen und Wadi’s hübsch häuslich hält.

Der verhältnißmäßig fruchtbare Gürtel, welcher den ungeheuern Continent der Sahara durchzieht, allerdings mit leb-, baum- und wasserlosen Lücken, in denen zwanzig deutsche Fürstenthümer auf einmal verdursten und versengen könnten, aus einem urbaren Thon bestehend, hier und da mit Quellen, Oasen, Menschen, Vieh, Feldern und Dattelwäldern, läuft, so weit man bis jetzt etwas Bestimmteres darüber sagen kann, jenseits Tripolis, des Golfs von Sidra und des ausgedehnten steinigen Tafellandes von 1400 bis 2000 Fuß Höhe, der Hamada, durch das Land Fezzan zwischen den Routen, auf welchen Barth und Vogel das blühende Innere Afrika’s mit dem Auge des Tsadsees erreichten, und gewissermaßen als Grenze zwischen den beiden Hauptvölkern der Wüste, den weidenden, gutmüthigen Tibbu’s und den wilden, räuberischen Tuariks mit einem blühenden Oasenlande auf der Westseite: Air oder Asben mit verschiedenen üppigen Wadi’s, hier voller Löwen und Strauße, dort voller graziösen Giraffen und zahmen Heerden. Dann folgen nach der Richtung der Tsadseestaaten hin wieder kleine Specialwüsten, hin und wieder mit einer schmachtenden Distel im glühenden Boden, einer verdorrten, aber noch duftenden Thymianstaude, einer dornigen Mimosa, halb begraben, halb geschützt durch Sandkegel, die hier im sprühenden Laufe aufgehalten wurden, willkommene Futter für die ausgedörrten, matt schwankenden Kamrele, die oft gierig zuschreitend vor der Labung den Kopf traurig und wehmüthig zur Seite wenden. Das einladende Grün erwies sich als Senna oder Koloquinte, vor denen selbst der ausgetrocknete Gaumen des anspruchlosesten Thieres zurückschreckt. Der große, weite, leichte, flinke Schritt des edlen Thieres wird schwankender und matter. Die Zunge hängt verdorrt, wie geräuchert. Der fette Höker ist zu einem kleinen, schlappen Säckchen ausgezehrt. Es wird niedersinken und mit leisem Stöhnen und wehmüthigem Blick auf den sonst steinernen mitleidenden Herrn verschmachten, wie Tausende vor ihm. Doch nein! Plötzlich erheben sie den niederhängenden Kopf freudig hoch in die Luft. Sie wittern zuerst das Paradies von Central Afrika, die Tsadseeländer. Erst zeigen sich einzelne duftige Gräser. Der todtmüde Schritt des Kameels wird lebendig. Es folgen Gebüsche, vor der Sonne hinter Felsen und Steinblöcke versteckt. Am Horizonte winkt die ätherische Palme auf. Die glühende Luft duftet. Das Wasser und die Wiesen und die Bäume senden den Verschmachtenden kühlende, feuchte Lüftchen entgegen. Endlich, endlich, nach Wochen, nach Monaten, nach fünf bis sechs Monaten der Glut und Oede, des Steines und Sandes quillt und strahlt dicht vor ihnen, wie vom Zauberstabe aus dem Sande geschlagen, die üppigste tropische Pflanzenwelt in ihrem gloriosesten, paradiesischen Glanze. Dazwischen hindurch lacht das leuchtende Auge des Tsadsees, besäet mit den grünen Inseln der schönen, ritterlichen, räuberischen Bidduma’s. Ringsherum nisten weidende Völker und dehnen sich die Reiche stolzer Sultans von Bornu, der Fellatah’s, von Kanem, Bagirmi, Adamaua und wie sie sonst heißen mögen, mit stolzer Streitsucht und lebhafter Betheiligung an der Schifffahrt der Wüste. Ihre Flotten sind Kameele, die in unzähligen Richtungen über tödtliche Strecken hinweg Völker verbinden und so das lebendige Pulsadersystem Afrika’s bilden.

Die Kameel-Handelsflotte Afrika’s karavant auf drei großen Hauptstraßen, an welche sich eine Menge kleinere anzweigen, 1) zwischen Marokko, Tunis und Tripolis und der geheimnißvollen Perle der westlichen Sahara: Timbuktu; 2) zwischen Fezzan (Murzuk) und den Tsadseestaaten, besonders Sudan; 3) zwischen Sudan, Darfur und Egypten. Die erste mit fünf verschiedenen Routen ist die weiteste, großartigste und kühnste, die je menschlicher Heroismus über Erde oder Wasser zog. Sie kämpft jedesmal mit durchschnittlich 2000 Kameelen und entsprechender Zahl von Menschen, etwa ein halbes Jahr lang mit dem Tode des Verdurstens und Ertrinkens in wüthenden, giftsturmgepeitschten Sandwogen. Die Handelsartikel sind besonders Salz und Datteln, deren süße Säfte die brennende Wüste erquicken, sodann Alles, was Egypten, Abyssinien, Syrien, Persien, Arabien, die nordafrikanischen und centralafrikanischen Völker brauchen und zum Austausch bringen. Die genannten Länder liegen als große Inseln auf und an den Wasser-Oceanen Afrika’s und Asiens, und sind durch kein Verbindungsmittel mit einander in Berührung zu bringen, als durch das Kameel. Dieses ist daher nicht nur Träger aller Lasten und Güter des Lebens der Wüstenvölker, sondern auch aller Kultur von den ältesten, vorgeschichtlichen Zeiten bis zu dem neuesten Ausfluge, den Vogel vielleicht jetzt eben unternehmen mag.

„Alles, was ist, ist vernünftig,“ sagt Hegel, obgleich wir mit unserer gelehrten und rohen Unvernunft dies in den wenigsten Fällen einsehen, vor Allem zunächst nicht in dem Ausspruche Hegel’s selbst, da sich nicht so leicht Jemand die Mühe giebt, das scharfe, philosophische „ist“ zu begreifen. Aber wenn ein Beweis überzeugend ist, so findet man ihn in dem Wunderthiere, das den Wüstenbewohnern Flotte, Eisenbahn, Dampfschiff, Omnibus, Haus und Hof, Kleider und Schuh, getreuer Nachbar, melkende Kuh und alles Andere, was wir aus tausend Quellen beziehen, in einem Gusse, in einer einzigen, der großartigsten und genialsten Naturcomposition ist.

Welch’ ein häßliches Thier. Aber lerne es nur kennen. Studire seine Seele von den Sohlen an. Sieh’ diese breiten, sehnigen Knollen und Bälle, versichert gegen Feuersgefahr des Bodens durch hornige Schwielen und durch ihre Spaltung und Breite gegen das Versinken in den Sandmeeren. Diese können sich zu grundlosen Bergen aufthürmen, mit seinen langen, sehnigen, weitausschreitenden Stelzbeinen schreitet es, schwer belastet, eben so leicht über diese Sandwogen, wie über die mit hochgerichtetem Kopfe und herrschendem Auge lange vorher erkannte Gefahr von Rissen und Klüften in dem fest gebrannten Boden von Steingut. Auf diesen Stelzen, Rudern und Schaufelrädern wird ein Körper, ein Schiffsrumpf getrieben, der in einem untern und einem obern Raume sich doppelt gegen Hunger und Durst und Hitze verproviantirt, für den gewöhnlichen Gebrauch in einem ungeheuern, mit einem Wunder von Schwanenmagen wasserreich versehenen Wanste, und für Nothfälle mit einer oder doppelten Speisekammer, dem fetten Höker, von dem besonders die „Respirationsmittel“ geliefert werden. Damit der innere Vorrath nicht zu sehr angegriffen werde, nimmt es beiläufig mit seinem für Tiefe und Höhe elastischem Giraffen- und Straußenhalse, seinem kleinen Kopfe, seinen guttaperchaharten Klappen von Lippen, seiner mit hornigen Schmielen gehärteten Zunge die stacheligsten Disteln und die holzigsten, schuhsohlenartigen Wüstenkräuter mit und zerschrotet und zermalmt sie und wiederkäut sie mit breiten, mächtigen Backzähnen so klein, daß sie jedes Atom Nahrungsstoff herausgeben müssen. Der spitze Keil der Unterlippe schiebt sich mächtig in die kleinste Ritze hinein, in welcher sich ein armseliger Versuch von Kraut und Pflanze gegen die Sonne versteckt, und hebt ihn heraus, wie der Zahnarzt den quälenden Backzahn aus der Kinnlade. Dies geschieht Alles beiläufig. Der große, kräftige, gedrungene Schiffsrumpf von Körper trägt dabei die ganze Familie des Nomaden, seine ganze Wirthschaft und sein Haus und seine Handelsartikel leicht und schnell, kaltblütig in Glut, lammfromm und gutmüthig weiter und immer weiter in die endlose Leere hinein, die Tage, Wochen, Monate lang in immer größere Oeden und Qualen führt, aber den schlanken, klugen, kleinen Kopf des Kameeles nicht in Hoffnungslosigkeit sinken läßt. Es hofft und harrt mit einem Heroismus, einer Ausdauer in die Unendlichkeit glühender Trostlosigkeit hinein, die selbst den ausgedörrten, gefühllosen Sohn der Wüste zur herzlichsten Zärtlichkeit erweicht und seine Andacht von dem großen Allah auf dieses Heldenthier überträgt.

Ein häßliches Thier! Aber blickt einmal in sein treuherziges, kluges Auge. Erleb’ alle Tage durch alle Qualen der Hölle hindurch diesen Heroismus, diese Anspruchslosigkeit, diese Sanftmuth, diese Zärtlichkeit für seine und seines Herrn Familie, wie es jämmerlich klagt und den klugen, kleinen Kopf nach allen Seiten suchend dreht, wenn es seinen Herrn vermißt, wie es sich nach dem Verluste seines Jungen trostlos in die Wüste hineinstürzt, um das Verlorene zu suchen, und dann erschöpft in Schmerz und Entbehrung traurig und treuherzig zu seinem Herrn zurückkehrt, und man wird die alte Poesie des patriarchalischen Lebens, die Bibel, die Sitten und Gebräuche [304] der Wüstenvölker, ihre herrlichen Tugenden und ihre feurig aufwüthenden Leidenschaften in dem Träger und Musterbilde alles dieses Lebens begreifen lernen.

Das Kameel und der Wüstensohn sind alttestamentlich biblisch fromm, sanft, gutmüthig, häuslich, familienzärtlich, geduldige Schafe ihrer Despoten; aber das Kameel und der Wüstensohn sind furchtbar, wenn man ihrer Demuth und Anspruchslosigkeit unter der harten Schale mehr aufbürdet als sie wirklich ertragen können. Das Kameel kreischt und brüllt dann mit großen, glühenden Augen auf, peitscht seinen Peiniger mit den Vorderfüßen nieder und stampft ihn mit seinen großen, hornigen Klauen entzwei, oder es packt ihn mit den zorngeschwollenen Lippen und reißt ihm mit einem Ruck ein Glied seines Leibes aus. Bild des geknechteten, anspruchslosen, der größten Erniedrigung und Bebürdung fähigen Unterthanen, dem man doch am Ende zu viel zumuthet, und der nun die Ketten bricht und in wüthendster Zerstörungswuth Eigenthum und Leben gefährdet und Gewerbe und Handel stört. Freilich kommen solche Kameel-Revolutionen nur äußerst selten vor, denn es kann wirklich beinahe eben so viel vertragen, wie das Kameel auf unsern Universitäten und Bürgerresourcen. Wie es, kniend und seine Last empfangend, genau weiß, wie viel es tragen kann und jeden Zuviel sogleich durch deutliche Pantomimen andeutet, ist auch der Wüstensohn verständig und familienväterlich genug, ihm nicht zuviel zuzumuthen. Der Herr, in Einsamkeit und Gefahren, stets auf seine Familie und sein Kameel verwiesen, ist gegen das Kameel eben so zärtlich, wie gegen Frau und Kind.

Ein treues Bild dieser Familiarität schickte Kretschmer auf die pariser Ausstellung, wo es allgemein bewundert und in illustrirten Blättern verkleinert, allgemein zugänglich gemacht ward. Die Treue und Wahrheit in diesem Bilde veranlaßte auch uns, diese Wüstenbilder damit zu schmücken. Es veranschaulicht die gemüthlichste Situation im Leben des Arabers und Beduinen, sein Mittagsmahl in Sonnenbrüderschaft mit dem Kameele, das auch in der Regel zu allen Leckerbissen zugelassen wird. Es frißt dem Herrn gar delicat und vorsichtig aus der Hand, um ihn mit seinen hornigen Lippen nicht zu verletzen. Was ist es? Nichts Geringeres als Weizenbrot, das man theils mitnimmt, theils unterwegs bäckt. Das reguläre Mittagsbrot des Wüstenreisenden besteht aus Kameelsmilch, vier Mal Datteln, zwei Mal Weizenbrot, Rôtis, Dessert und einer Pfeife Tabak. Brennt diese, ruft er: „Kerri! Kerri! Mein Kind, mein Sohn! Mein Liebchen!“ und das Kameel kniet nieder, der Beduine kauert sich oben in dem Teller des Sattels zusammen und die Reise geht weiter ohne Weg und Steg, ohne Compaß und Richtung. Wenigstens vertraut man sehr häufig dem klugen, die Unendlichkeit der Wüste durch witternden Kameele ganz allein das Steuerruder an, in allen Fällen, wo der Herr selbst weder Rath noch Richtung weiß. Und dieses geniale Factotum und Meisterwerk der Wüste macht dieser Würde durchweg Ehre.

Von dem wirtschaftlichen, Natur-, Völker- und Menschenleben der Wüste in einer folgenden Mittheilung, in der wir besonders den wilden Tuariks einen vorsichtigen, und der braunen, schönen Ziegenhirtin bei den Tibbu’s einen zärtlichen Besuch abstatten werden.




Die Strafen der Vorzeit und Gegenwart.
I.
Einleitung. Warum, was und wie soll man strafen. Verschiedene Ansichten darüber. – Todesstrafen: Enthauptung, Galgen, Säcken, Rad, Scheiterhaufen, Lebendigbegraben, Pfählen u. s. w. – Einige Beispiele höchst abschreckender Hinrichtungen.

Man hat sich seit Langem herumgestritten, mit welchem Rechte und zu welchem Zwecke der Staat die Verbrechen bestrafe, ob in Folge, einer ihm von Gott übertragenen Gewalt oder auf Grund eines stillschweigenden Vertrags seiner Mitglieder, ob aus Nothwehr oder um der Gerechtigkeit selbst willen, ob zur Besserung, ob zur Abschreckung, ob zur Unschädlichmachung der Verbrecher. Aber es ist damit wie mit dem Streite um den Ursprung der Sünde, ob sie angeboren oder anerzogen, ob sie ein Werk Gottes oder des Teufels sei. Tappt man darüber auch noch so sehr im Finstern, so steht doch die Existenz der Sünde fest und ist ein Jeder überzeugt, daß er oder zum mindesten sein Nachbar ein Sünder sei, und fehlt es auch an mathematischen Beweisen für das Strafrecht des Staates, so wird doch Niemand im Ernste daran denken, daß auch der modernste Staat nur einen Tag die Zuchtruthe aus der Hand legen könne.

Herrscht aber volle Einstimmigkeit über die Unentbehrlichkeit der Strafe, so stimmen dagegen kaum zwei verschiedene Jahrhunderte und zwei ungleiche Breitengrade mit einander in dem Urtheile überein, was zu bestrafen sei und wie man strafen solle.

Die Japanesen bestrafen die Lüge und das Spiel um Geld, Karl der Große das Fleischessen an Fasttagen und die Unterlassung der Taufe, das mosaische Gesetz die geringste Entheiligung des Sabbaths, das Verfluchen des Vaters und der Mutter, Solon sogar den Müßiggang und die Trunkenheit mit dem Tode. Dagegen gestattet der Islam die Vielweiberei, den Griechen und Römern war es erlaubt, ihre Sklaven, den alten Deutschen, einen abgelebten Greis zu tödten. Aussetzung der Kinder war im Alterthum nur bei den Juden, Egyptern und Thebanern verboten, jetzt ist es kaum noch in China und Indien gestattet. Der Dieb hatte von Solon den Tod, von Lykurg Ruhm und Ehre zu erwarten. Das Cölibat, welches Römer und Griechen mit Schande und Strafe belegten, machte Gregor VII. den Geistlichen zum Gesetz. Der Ehebruch, welchen der spartanische Staat sanktionirte, wurde von unsern Vorfahren mit dem Scheiterhaufen bedroht, und die Lais und Aspasia der Griechen wäre von den alten Dietmarsen unter dem Geleite ihrer eigenen Verwandten lebendig unter der Erde begraben worden.

Aber auch in der Wahl der Strafen sind die Völker und Zeiten von jeher weit auseinander gegangen. Ein Wilddieb, welcher früher gehängt worden wäre, oder aus Gnaden nur Ohren und Nase eingebüßt hätte, kommt jetzt mit kurzer Gefängnißstrafe davon. Wir suchen für den Räuber die schwersten Strafen aus, die alten Germanen achteten sein Vergehen gering, denn damals hieß es:

„Rauben ist keine Schande,
Das thun die Besten im Lande.“

Die Abtreibung der Leibesfrucht, welche die Römer als eine bloße Beleidigung gegen den Ehemann rügten, wird jetzt als ein Verbrechen gegen das Leben geahndet, und der Mörder, den wir enthaupten lassen, bezahlte bei unsern Altvordern nur eine Geldbuße. Ja, gegen den Verletzer eines Grenzzeichens, der sich heut zu Tage einer kurzen Freiheitsstrafe gewärtigen müßte, verordneten alte germanische Weisthümer: „denselben soll man in die Erde graben bis an den Hals, und soll dann vier Pferde, welche des Ackerns nicht gewohnt sind, an einen Pflug, der da neu ist, spannen, und soll man damit so lange über ihn wegfahren, bis man ihm den Hals abgepflügt hat.“ Insbesondere aber bei Fleischesvergehen ist bald keine Strafe zu groß, bald keine gering genug erachtet worden.

Wenn nun kein gebildeter Mensch die Stunde für weggeworfen halten wird, die ihm von den Sitten, Gebräuchen und Gesetzen der Vorzeit Kunde bringt, so hoffe ich, wenn ich Einiges aus der Geschichte der Strafen erzähle, den Dank der Leser zu gewinnen. Die Pietät läßt uns auf Alles horchen, was wir von unsern Vorfahren vernehmen. Dasselbe auffällige Interesse, mit welchem wir eine Kriminalgeschichte lesen und einer Hinrichtung beiwohnen, knüpft sich auch an diesen Theil der Alterthumskunde, und der Erfolg wird lehren, daß auch diese wenigen Zeilen zu manchem Gedanken anzuregen vermögen.

Tout peut servir à former de peines,“ sagt Montesquieu, und in der That giebt es kaum ein wirkliches oder eingebildetes Uebel, welches nicht als Strafe benutzt worden wäre. Sehen wir doch, daß es den Römern als Strafe galt, nicht in den Schauspielen erscheinen zu dürfen, daß Spartaner zur Strafe des Rechtes beraubt wurden, ihre Ehefrau einem Andern zu leihen. Spartaner wurden zur Strafe zur Unthätigkeit verdammt und an den Stuhl geschlossen. Fasten, Weinen und Seufzen war eine gewöhnliche [305] Kirchenbuße, und Edelleuten, die sich vergangen hatten, wurde in Deutschland das Tischtuch zerschnitten und das Brot verkehrt gelegt.

Vor Allem hätte auch die schöpferische Phantasie des Dichters der göttlichen Komödie keine mannigfacheren und sinnreicheren, aber auch keine grausameren Todesstrafen ersinnen können, als die Geschichte aufzuweisen hat, und namentlich den alten Deutschen gebührt der Ruhm der Erfindung und die Schande der Anwendung der meisten und qualvollsten Todesarten. Man möchte sich mit Abscheu von der Schilderung solcher Martern abwenden, aber man lese es, um desto mehr die Milde unserer Zeiten zu segnen, und damit wir nicht immer „die gute alte Zeit“ und „früher war es doch besser“ hören müssen.

Die Todesstrafe, welche bei uns die überwiegende geworden, und welche man als die humanste anzusehen gewohnt ist, ist die Enthauptung. Schon Griechen und Römer kannten sie. Bei uns tauchte sie neben dem Galgen auf, und hat ihn zuletzt fast aller Orts verdrängt. Sie ist die adeligste aller Strafen, denn die Köpfe vieler Könige und Großen, das Blut Konradin’s und Friedrich’s von Oesterreich, Peter’s von Castilien, der Weiber Heinrich’s VIII., der Maria Stuart, Karl I., Ludwig XVI., der Antoinette und anderer gesalbter Häupter hat sie geadelt. Bei unsern Altvordern geschah sie mit Barte (Beil) und Schlegel. Der Verurtheilte legte seinen Hals auf den Block, das Beil wurde darüber gehalten und ein Schlag mit dem Schlegel darauf gethan, Könige wurden mit goldner Barte enthauptet. In England und Preußen bedient man sich noch jetzt des Beiles, während es anderwärts durch das Schwert, in Sachsen durch das Fallschwert verdrängt worden ist. Bei Militairpersonen und in Zeiten des Standrechts ersetzt die Kugel das Schwert und scheint schon bei den Römern eine Hinrichtung durch Pfeile vorgekommen zu sein.

Weniger ehrenvoll, aber um so gewöhnlicher ist von jeher die Strafe des Hängens gewesen. Von der Römerzeit her hat der Galgen in allen Theilen der Welt seine drohenden Arme ausgebreitet und noch jetzt ist er z. B. in England und Oesterreich die regelmäßige Todesstrafe. Ihm wich auch die im Alterthum gebräuchliche Strafe des Kreuzigens, denn Konstantin der Große hatte bestimmt, daß Niemand mehr der Strafe würdig sei, welche der Heiland erduldet. So einfach nun auch die Procedur des Hängens ist, so hat sie doch die Phantasie der Vorzeit mit schauerlichen Symbolen und einem unheimlichen Ritus ausgeschmückt. Man hieß es „in der Luft reiten, den Ast bauen, den dürren Baum reiten,[4] das schwarze Band tragen“ u. dgl. mehr. Nicht der erste beste Baum im Walde genügte. Laublose, verdorrte Bäume wurden dazu auserlesen. Später war die offene Heerstraße, womöglich ein Kreuzweg der Ort, wo man die Galgen errichtete und Mitternacht die Seite, nach der sie gewendet wurden. Ein schwarzes Band wurde dem armen Sünder um die Augen gebunden. Je höher man den Missethäter hing, um so schimpflicher war es; wer die Geheimnisse der Vehme verrieth, sollte sieben Fuß höher gehängt werden, als andere Leute. Ja, im Mittelalter kam es auf, daß man Hunde oder Wölfe dem armen Sünder zur Seite hing, denn Hunde und Wölfe wurden an Raubgier den Dieben gleich geachtet. So wurde noch im Jahre 1462 zu Halle ein Jude wegen Dieberei mit dem Kopfe zu unterst zwischen zwei bissigen Hunden aufgehängt. Als die vollste Genugthuung aber wurde es angesehen, wenn der Mörder über dem Grabe des Ermordeten „in der Luft reiten mußte,“ oder wenn man ihn, wie in Frankreich, gar unter dem Ermordeten begrub. Manchen Orts mußte das Amt des Henkers der jüngste Richter übernehmen, und manchem Landesherrn, wie Herzog Albrecht V. von Mecklenburg, Herzog Otto von Lüneburg, sagt man nach, daß sie Verurtheilte mit eigenen fürstlichen Händen aufgeknüpft.

Eine ähnliche Symbolik, wie bei der Strafe des Stranges, zeigt sich bei der Strafe des Säckens, die namentlich Hexen und Kindesmörderinnen zu treffen pflegte. Denn auch hier haben schon die Römer und mehr noch die Deutschen oft einen Hund, einen Hahn, eine Natter und einen Affen mit der Unglücklichen in einen Sack genäht und gemeinschaftlich in das Wasser geworfen. Wie nach dem damaligen Volksglauben der Affe seine Jungen in der Umarmung erstickt, die Natter ihr Männchen bei der Begattung tödtet, Hund und Hahn ihre Jungen nicht schonen, so bildeten sie das passende Geleite der Kindesmörderin, die ihre eigene Leibesfrucht ermordet. Welch’ grauenhafte Poesie! Ja, und da sich die ganze Natur gegen das unnatürlichste aller Verbrechen empört, so hat man auch die Elende aus der ganzen Natur zu verbannen gesucht. Denn indem man sie in eine Haut einnähte und in das Wasser warf, hat man ihr Luft, Licht, Wasser und Erde gleichmäßig entzogen. So entsetzlich ernst aber dieser Gebrauch gewesen, so lächerlich wurde er, als man später den kostspieligen Affen mit einer Katze, ja, die schwer zu erlangende Natter um des Prinzipes willen mit einer gemalten Schlange vertauschte. Wer sollte nicht übrigens bei dieser Strafe an das traurige Ende der schönen Agnes Bernauer denken, welche 1435 von der Brücke in die Donau gestürzt, und da’ die Beweinenswerthe schwimmend das jenseitige Ufer erreichte, von dem Henker mit einer langen Stange so lange unter das Wasser getaucht wurde, bis ihre Seele entflohen war? Oder wem ist nicht das Schicksal des heiligen Nepomuk bekannt, welcher auf Befehl des blutdürstigen Wenzel im Jahre 1393 in Prag in der Moldau ersäuft wurde?

Allein noch weit grausamerer Todesstrafen muß ich, wenn auch mit Widerwillen, gedenken. Nicht der Tod des Missethäters, sondern die Qualen des Todes scheinen oft Endzweck der Strafe gewesen zu sein. Raubmördern, Giftmördern u. A. drohte die Strafe des Rades. Wahrscheinlich wurden in ältester Zeit wirklich Wagen über den Verurtheilten gefahren. Später begnügte man sich, demselben lebendig die einzelnen Glieder mit einem Rade oder eisernen Keulen zu zerstoßen, im günstigen Falle von oben herab, im schlimmeren Falle von unten herauf und dann den Leichnam auf das Rad zu flechten. In Frankreich wurde diese gräßliche Strafe oft nur als Körperstrafe angewendet und nicht bis zum Tode des Verbrechers fortgesetzt. Solchen Keulenschlägen erlag auch im Jahre 1762 der unschuldige siebzigjährige Jean Calas zu Toulouse, dessen Andenken drei Jahre später durch ein Urtheil des Staatsrathes wieder zu Ehren gebracht wurde.

Ehebrecherinnen, Ketzer, Zauberer, Mordbrenner wurden schon im grauen Alterthume und noch im vorigen Jahrhundert zum Scheiterhaufen verurtheilt. Auch hier kommt es vor, daß man die Missethäter in eine Ochsenhaut einnähte. Andere wurden wegen geringerer Verzeihungen blos mit entblößten Füßen an das Feuer gesetzt, die Fußsohlen der Flamme zugewendet. So saß der reiche Krösus da, bis ihn die Worte: „Solon, Solon!“ vom Feuertode erretteten. So wurde der wahnsinnige Schwärmer und „Prinz Gottes“ Quirinus Kuhlmann mit seinem Freunde Conrad Nordermann im Jahre 1689 in Moskau lebendig verbrannt.

Vestalinnen, welche das Gelübde der Keuschheit brachen, wurden von den Römern auf dem campus sceleratus (Schindanger) lebendig begraben, und ganz Rom trauerte an diesem Tage. Auch in Deutschland traf Frauen diese Strafe nicht selten. Oft ging sie in das Pfählen über, wie man z. B. Kindesmörderinnen lebendig in das Grab legte, den Leib mit Dornenhecken bedeckte, sie mit Erde beschüttete und ihnen einen eichenen Pfahl durch das Herz schlug. Auch Nothzüchtern setzte man also einen spitzen, eichenen Pfahl auf das Herz, darauf that die Geschändete den ersten, andern und dritten Schlag, die übrigen der Henker. Zu Zürich wurden noch im Jahre 1489 zwei Männer lebendig eingemauert, daß sie Sonne und Mond nicht mehr sahen und kein Luftloch war, als um die Speise hineinzureichen.

Die Römer warfen Verbrecher vom tarpejischen Felsen herab, die Lacedämonier stürzten sie in tiefe Erdspalten, die Strafe des Steinigens, das zu Tode Geißeln findet sich im Alterthume wie im Mittelalter. Tausende von Verbrechern und Tausende verfolgter Christen ließen die römischen Kaiser den wilden Thieren vorwerfen. Socrates trank den Schierlingsbecher, Seneca, dem man die Wahl der Todesart überließ, zog es vor, sich im Bade die Adern öffnen zu lassen, Plutarch gedenkt des Bestreichens mit Honig, um in brennender Sonnenhitze von den Fliegen zu Tode gepeinigt zu werden, und selbst ein Erzbischof von Cöln soll auf ähnliche Weise einen Grafen von Berg zum Tode gebracht haben.

Geistliche hat man, weil man ihnen nicht an’s Blut zu gehen wagte, lebendig verhungern lassen, die alten Deutschen haben einzelne Verbrecher von den Pferden zertreten lassen, Falschmünzer sind in Kesseln mit Oel und Wein gesotten worden und jener Betrüger, welcher sich im Jahre 1287 für den längst verstorbenen Kaiser Friedrich II. ausgegeben, wurde in Lübeck lebendig gebraten.

Doch das ist das Schrecklichste noch nicht. Die Martern, die [306] für Einzelne ersonnen worden sind, übersteigen allen Glauben, und es ist furchtbar, zu sehen, wie unter der Aegide des Gesetzes Grausamkeiten begangen worden sind, die einen indianischen Sioux beschimpfen würden. Auf dem Markte zu Gotha ward im Jahre 1567 das Blutgerüst Wilhelm von Grumbach’s, des Mörders des Bischofs von Würzburg, errichtet. Als der Henker den Delinquenten entkleidete, sprach dieser mit größter Ruhe: „Du schindest heute einen dürren Geyer.“ Der Henker antwortete damit, daß er den Uebelthäter an das Schaffot nagelte, ihm den Leib aufschnitt, ihm das Herz heraus riß und ihm mit den Worten in’s Gesicht schlug: „Siehe, Grumbach, Dein falsches Herz.“ Der Leichnam wurde in vier Theile zerschnitten. Nach ihm mußte der Kanzler Brück dieselbe Strafe erleiden.

Den 1463 hingerichteten Bürgermeister Ulrich Hölzer in Wien warf man auf der Richtstätte zu Boden und schnitt ihm den Leib auf. Als dies geschehen war, hatte er noch so viel Kraft und Besinnung, daß er den Kopf erhob und zusah, wie man ihm die Eingeweide herauszunehmen begann. Damiens, der Ludwig X. zu ermorden versucht hatte, wurde, nachdem er noch in der Nacht vor der Hinrichtung auf das Schrecklichste gefoltert worden war, am 28. März 1757 auf den Grèveplatz geschleppt. Man gab ihm zwei Glas Wein zu trinken, und hierauf begannen die Henker das scheußlichste Werk, was je Menschenhände besudelt hat.

Mit demselben Messer, das er gegen Ludwig gezückt, wurde ihm die rechte Hand durchstochen und dann dieselbe auf einem glühenden Ofen zu einem Stumpfe geröstet, wobei ihm die Haare wie eine Mähne zu Berge gestanden haben sollen. Darnach wurde er mit einem eisernen Gürtel an den Boden geschlossen und ihm das Fleisch von Brust, Armen, Schenkeln und Waden mit glühenden Schmiedezangen abgerissen, während Andere geschmolzenes Blei, heißes Oel, Wachs und Schwefel darauf gossen. Sodann brachte man vier junge Pferde und band die Stränge an die Arme und Beine des Verbrechers. Vergebens stampften die Rosse nach vier Seiten hin, es half auch nichts als man die Zahl derselben verdoppelte. Dreiviertel Stunde dauerte der Versuch, den Körper auseinander zu reißen, und gelang erst, als man die Flechsen an Armen und Beinen zerschnitt. Zuletzt wurde der noch lebende (?) Rumpf auf den Scheiterhaufen geworfen.

Der Abscheu, welchen man bei dieser Lektüre empfinden wird, ist der schönste Lohn der Männer, welche, wie Thomasius, Montesquieu, Beccaria, Sonnenfels u. A., den Boden Europa’s von solchen Giftpflanzen gesäubert haben.

Ihr Werk ist es auch, daß die früher so üblich gewesenen abscheulichen Körperstrafen, bis auf die noch jetzt nicht ganz auszurotten gewesene Prügelstrafe, so ziemlich verbannt worden sind. Statt des alten Staupenschlags und Stockschillings, des Spießruthen- und Steigriemenlaufens ist leider noch immer die Ruthe und der Korporalstock, in England die Katze, in Rußland die Knute, in Italien die Bastonnade in Thätigkeit. Dagegen fürchtet Niemand mehr das Haarabscheeren und Hautabreißen (Strafen zu Haut und Haar), das Riemenschneiden aus der Haut, das Ausstechen der Augen, das Abhauen der rechten Hand, wie beim Burgfriedensbruch und Aufpassen auf den Gassen, das Ausreißen der Zunge wie bei Gotteslästerern, das Abschneiden der Ohren und Nase wie bei Wildpretsschädigern und solchen, die sich um Gewinnes halber brauchen lassen, Jemanden auszuprügeln, das Abhauen der Finger wie bei Meineidigen, das Tauchen in’s Wasser wie bei falschen Würflern, das Wippen (tratto di corda) wie bei Fischdieben, das Entmannen wie bei stehlenden Knechten und Juden, die mit Christenfrauen Umgang hatten. (Schluß folgt.)




Ein englischer Künstler.
Skizze von Karl Wartenburg.

Die Winterabende in den Straßen Londons haben etwas Trübes, Düsteres und einen ganz anderen Charakter als die auf den lustigen, hellen Boulevards der Seinestadt. Die dicken, kalten Nebel, welche von dem dunklen Themsewasser emporsteigen, und der dichte Steinkohlendampf, der sich wie ein grauer Wolkenschleier über den flimmernden Nachthimmel mit seinem klaren, glänzenden Sternengefunkel breitet, beklemmen die Brust und erzeugen eine schwermüthige Stimmung, die sich selbst durch den Anblick der schimmernden Herrlichkeiten in den von Gasflammen prächtig erleuchteten Schaugewölben und Kaufhallen und das Betrachten des lebhaften, drängenden Menschengewühls nicht immer verscheuchen läßt. Ist Jemand traurig, einsam, verlassen, so fühlt er seine Traurigkeit, Einsamkeit und Verlassenheit nur noch lebhafter, wenn er sich in Mitten dieser Menschenmassen bewegt, die unbekümmert und theilnahmlos an ihm, dem Fremden, Unbekannten vorüberwogen und nur Blicke und Theilnahme für das Glänzende, das Berühmte haben.

Es war in der sechsten Abendstunde eines dieser trüben, nebeligen, naßkalten, englischen Winterabende, an denen man sich nur beim hellleuchtenden Kaminfeuer und dem summenden Theekessel auf dem runden Tisch behaglich fühlt, es war, wiederholen wir, in der sechsten Abendstunde des 10. Januars 1814, als sich durch die geräuschvolle Menge, welche in den Straßen unweit des Drury-Lanetheaters auf- und abwogte, ein junger, blasser, hagerer Mann von mittlerer Größe, ein großes Paquet unter dem Arme tragend, drängte. Seine Kleidung zeigte nicht eben von Wohlhabenheit; der lange nußbraune Gehrock war an den Aermeln ziemlich fadenscheinig, der Hut abgegriffen, und die vielleicht einst glänzend schwarze Atlascravatte schillerte bedeutend in’s Röthliche, nur die Manschetten und der Busenstreif waren von tadelloser, schneeiger Weiße. Allerdings konnte auch die Garderobe eines armen Teufels von Schauspieler aus der Provinz, der bis jetzt nur in kleinen Land- und Garnisonsstädten oder höchstens auf einigen obscuren, meistens von Kapitainen und Steuermännern der Kauffahrteifahrer besuchten Vorstadttheatern von London gespielt hatte, nicht von jener malerischen Eleganz sein, in der sich gewöhnlich die großen Gagenbezieher der Hauptstadtbühnen den Blicken des Publikums zeigen, denn mit einem Pfund Sterling wöchentlichen Gehalts konnte sich der arme Kunstjünger weder täglich frische Glacehandschuhe kaufen, noch, um mit der Mode fortzugehen, in der Saison zwei bis drei Mal den Schnitt seines Paletots wechseln. Und Mr. Carey, wie sich der junge Mann bis jetzt auf den Theaterzetteln der Provinzialbühnen genannt, gehörte zu jenen armen, wandernden Komödianten, die auf dem Thespiskarren durch’s Land zogen, und heute bald in einer Scheuer, morgen wieder, im günstigen Fall, in einem Gasthof zweiten oder dritten Ranges ihre Bühne aufschlugen, um dem Publikum eines irischen Landstädtchens, eines schottischen Burgfleckens oder englischen Hafenplätzchens die dramatischen Gebilde William Shakespeare’s, Sheridan’s, Knowles oder Addison’s vorzuführen. An diesem Abend aber, an welchem er mit dem Paquet unter dem Arm nach Drury-Lane eilte, war der große Augenblick gekommen, wo er, der kleine Schauspieler aus der Provinz, der sonst an einem Theaterabend den Helden einer Tragödie und den Hanswurst einer plumpen Narrenposse in Matrosengeschmack spielen mußte – nur um das liebe Leben zu fristen und um Brot für sich und seine Frau und Kinder zu erwerben – zum ersten Mal auf einem großen Theater Londons, in einer der berühmtesten Dichtungen Meister Williams, als Shylock in dem „Kaufmann von Venedig“ auftreten sollte.

Es schlug halb sieben, als der junge Schauspieler mit seinem Paquet am Drury-Lanetheater anlangte. Er blieb einen Augenblick vor dem Schauspielhaus stehen und warf einen forschenden Blick in die Vorhalle des Theatergebäudes und in den schlecht erleuchteten Corridor, der zur Kasse führte. Aber weder Shakespeare’s berühmtes Schauspiel, noch der unbekannte Name des Debütanten schienen eine große Anziehungskraft auf das Publikum von Drury-Lane ausüben zu wollen, denn sowohl in der Vorhalle als im Corridor waren nur wenige Menschen zu sehen, und ein leiser Seufzer getäuschter Erwartung rang sich bei dieser Wahrnehmung aus der Brust des jungen Schauspielers los. Eine bekannte Stimme störte ihn in seiner trüben Betrachtung.

„Schlechtes Geschäft, heute Abend, Sir,“ sprach, ihn auf die Schulter klopfend, ein aus der Thür heraustretender Mann an, der kein anderer als Mr. Smith, der Regisseur vom Drury-Lanetheater [307] war, „schlechte Auspicien für diesen Abend,“ und er deutete auf die menschenleere Theaterkasse, an welcher der Kassirer fröstelnd saß und abwechselnd mit einigen Schillingen klimperte oder die dicken blauen, rothen, gelben Billetstöße, welche vor ihm aufgethürmt lagen, durch die Finger gleiten ließ, „es sind kaum vierhundert Menschen im Parterre und den Logen. – Noch einmal Mr. Carey, sehr schlechte Auspicien das – ein Römer würde umkehren.“ Der junge Schauspieler antwortete nur durch ein Zucken mit den Schultern, welches man auf sehr verschiedene Weise deuten konnte und stieg dann mit dem Regisseur die enge, steile Treppe hinauf, die zu den Ankleidezimmern der Schauspieler und Schauspielerinnen führte. Hier begegnete ihm der Director.

Senatus non frequens, Mr. Carey,“ sagte er übellaunig zu dem Debütanten, „oder auf gut englisch ausgedrückt: es ist verdammt wenig Publikum da und wird heute bei dem Nebel und Schneeregen, der draußen niederrieselt, auch wohl nicht zahlreicher werden, als bis nach acht Uhr, wenn die ehrenwerthen Gentlemans auf Halbsold die Gallerien einnehmen.“ Und er lachte über diesen seinen Witz, wobei man, um ihn zu verstehen, wissen muß, daß es bei den londoner Theatern Sitte, nach den ersten Acten, also vielleicht gegen halb neun Uhr, das unbemitteltere Publikum um den halben Eintrittspreis auf die Gallerien zu lassen, und dieses Publikum, meinte der Director, als er von den „Gentlemans auf Halbsold“ sprach.

Mr. Carey gab ihm dieselbe Antwort, die er dem Regisseur gegeben, das heißt, er zuckte stumm mit den Schultern, und nur erst als der Director noch einmal die Besorgniß aussprach, daß heute ein sehr schlechter Abend für die Kasse werden würde, antwortete der junge Schauspieler aus der Provinz mit einem gewissen unmuthigen Stolz und blitzendem Auge: „Seien Sie unbesorgt, Sir, wenn sie heute nicht kommen, so werden sie morgen oder übermorgen kommen, um mich den Shylock oder Othello, den Hamlet oder Macbeth spielen zu sehen,“ und mit diesen Worten trat er in sein enges Ankleidezimmer, um das in dem Paquet befindliche Kostüm anzulegen; der Director aber, der sich durch die stolze, zuversichtliche Antwort etwas frappirt fühlte, murmelte zwischen den Zähnen und zu dem Regisseur gewendet: „Mr. Carey wird heute Abend um zehn Uhr sehr kleinlaut sein, wenn er statt mit Kränzen und Blumen mit faulen Eiern und Aepfeln von den Gallerien bombardirt wird, aber es ist ein altes Sprüchwort: Hochmuth kommt vor dem Fall, und dieser junge Mann scheint mir außerordentlich hochmüthig zu sein. Beliebt’s, Mr. Smith?“ Und er reichte dem Regisseur seine Schnupftabaksdose von Schildkrot.

Es klingelte – das Zeichen des Beginns der Vorstellung – und die Gardine rollte empor. Wer, der sich irgend mit der dramatischen Literatur beschäftigt, kennt nicht Shakespeare’s Kaufmann von Venedig mit der Gestalt jenes Shylock, in welchem der Dichter den ganzen wilden, fanatischen Haß der verfolgten und unterdrückten jüdischen Nation gegen ihre Unterdrücker, die Christen, zu personificiren suchte? Shylock ist ein reicher, jüdischer Geldmäkler, dem durch einen von Antonio, dem Kaufmann von Venedig, ausgestellten und am bestimmten Verfalltag nicht eingelösten Schein – Antonio hatte sich nämlich selbstschuldnerisch für ein von Shylock an einen Dritten, Bassanio, gegebenes Darlehn verbürgt – das Recht wird: aus dem Leibe des Antonio ein Pfund Fleisch zu schneiden, und der so lange auf diesem, seinem Recht besteht, bis er durch die kluge Interpretation der reizenden Porzia, welche die Maske eines gelahrten Doctor der Rechte aus Padua annimmt, dahin gebracht wird, freiwillig auf sein ihm durch den Schein gegebenes Recht zu verzichten. Dies ist, in möglichster Kürze ausgedrückt, der wesentlichste Inhalt der Fabel. Die Darstellung dieses Charakters, dieses fanatischen, rachedürstenden Juden Shylock, der zwar sein Gold und seine Edelsteine liebt, aber noch mehr die Christen haßt, war von jeher immer ein Prüfstein für die englischen Schauspieler, und in der Auffassung der Rolle wichen sie eben so von einander ab, wie die deutschen Darsteller z. B. in der Auffassung des goethe’schen Mephistopheles, den Seydelmann, Döring oder Hoppé von sehr verschiedenem Standpunkt aus auffaßten und darstellten. – Seit John Philipp Kemble jedoch, diesen großen Schauspieler Englands, war es Regel geworden, den Juden Shylock als einen alten, hageren, durch die Last der Jahre gebeugten, grauköpfigen Wucherer darzustellen, dessen Seele vor Allem nach dem gelben Metall dürstet. In dieser Maske hatte ihn der große Kemble dargestellt, und Publikum wie Acteurs beugten sich vor dieser Autorität. – Es ist in der Schauspielkunst, wie in jeder anderen; sie hat gewisse ehrwürdige Traditionen, die Niemand ungestraft verletzen darf – außer dem schöpferischen Genius, der Kraft eigener, souverainer Machtvollkommenheit, Autorität und Traditionen über den Haufen wirft und seine eigene Schöpfung dafür an ihre Stelle setzt.

An eine Coulisse gelehnt, wartete Mr. Carey indessen ruhig auf sein Stichwort. In dem Augenblicke, wo er vor die Lampen treten sollte, kam der Director, der ihn im Ankleidezimmer gesucht, um ihm noch einige gute Rathschläge für das erste Auftreten vor dem Publikum von Drury-Lane zu geben. Aber tief erschrocken, schlug er die Hände zusammen, als er das Kostüm des Debütanten erblickte. „Gerechter Himmel! Sind Sie denn des Teufels, Mr. Carey?“ rief er endlich, „eine schwarze Lockenperrücke, wie ein Doctor promotus der Universität Oxford oder Cambridge und einen Bart wie ein Moskowiter! Wissen Sie denn nicht, Mr. Carey, daß nach des großen John Philipp Kemble Schule der Shylock als alter, weißbärtiger, silberhaariger, vertrockneter Wucherer in abgeschabtem Talar erscheinen muß, während Sie –“

Aber Mr. Carey hörte schon lange nicht mehr auf den predigenden Director. Sein Stichwort war gefallen, und er stand vor den Lampen, auf den weltbedeutenden Bretern. Aber welche Verwandlung war mit Shylock vor sich gegangen? Das war nicht der alte, traditionelle, durch die Last der Jahre gekrümmte Shylock, der silberhaarige Wucherer des John Kemble, in abgeschabtem Talar und mit wildfunkelndem Auge, wenn von Gold und Zinsen gesprochen wurde sondern ein Mann in, gereiftem Mannesalter, dem das schwarze Lockenhaar noch dicht um die Stirn fiel, ein Mann in staatlichem, jüdischen Rockelor, mit glühendem, flammendem Auge, wenn er vom Erbfeind seines Stammes, von seinen und seines Volkes Bedrückern, den Christen, sprach. – Erstaunt, frappirt blickte das Publikum auf diesen Shylock, dessen äußere Erscheinung schon so ganz im Widerspruch mit der Tradition des Theaters stand, und ein leises Zischeln durchläuft das Parterre und die Logen. Doch bald verstummt es, und fast bestürzt und verblüfft saßen die Zuschauer da, als der Darsteller allmälig die wilde Energie seiner leidenschaftlichen Natur entwickelt und aus dem alten jüdischen Wucherer, der sich um Zins und Zinseszinsen müht, den unterdrückten Juden schuf, in dessen Brust glühender Haß gegen die Christen kocht, die seinen Stamm verfolgt und zertreten. Ein Schauer flog durch die Versammlung, als sie ihn mit dem Ausdruck des tiefsten, grimmigsten Hasses die Worte sprechen hörten:

„Wie sieht er einem falschen Zöllner gleich!
Ich haß’ ihn, weil er von den Christen ist;
– – – – – – – – – – – – – – – – – – –
– – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Wenn ich ihm ’mal die Hüfte rühren kann
So thu’ ich meinem alten Grolle gütlich.
Er haßt mein heilig Volk, und schilt selbst da,
Wo alle Kaufmannschaft zusammenkommt,
Mich, mein Geschäft und rechtlichen Gewinn,
Den er nur Wucher nennt. – Verflucht mein Stamm,
Wenn ich ihm je vergebe!
Wenn ich ihm je vergebe!(I. Akt. 3. Scene.)

Das Publikum schwieg. Keine Hand regte sich, still war es, wie in der Kirche, und die Zuschauer so hingerissen von der Originalität und Neuheit dieser Auffassung, daß sie Beifall zu klatschen oder zu zischen und zu pfeifen vergaßen. Am Mächtigsten aber wirkte dieses Spiel auf die Massen der untern Volksklassen, die man nach acht Uhr um den halben Preis eingelassen und die in dichter Menge auf den Gallerien standen. Mit einer gewissen, sympathetischen Bewunderung betrachteten sie diesen wilden leidenschaftlichen Schauspieler, der so ganz aus der Sphäre des herkömmlichen Conventionellen heraustrat und mit so gewaltigen Mitteln und tiefem, mächtigen Erfolg an das Gefühl, an die Leidenschaft appellirte.

Plötzlich aber löste sich der Zauber; ein donnernder Beifall brach aus allen Seiten des Hauses los, von den Gallerien, wo die Arbeiter, die einfachen, schlichten Männer des Volks standen, wie aus den Logen, wo die fashionablen Dandy’s und eleganten, vornehmen Lady’s saßen und statt der verfaulten Eier und Aepfel, von denen der Director gesprochen, fiel ein wahrer Regen von Blumen, Kränzen und Sträußern auf die Bühne und an den [308] Coulissen nieder, wo der Director, Regisseur und die übrigen Schauspieler lehnten, ganz betäubt von diesem vulkanischen Beifallsausbruch, der dem jungen Debütanten wurde. – Und als nach dem vierten Aufzug, in welchem Shylock zum letzten Male auftritt, der Vorhang fiel, brauste nur ein Ruf durch das Haus, der Ruf:

„Mr. Carey! Mr. Carey!“

Dieser aber saß ruhig in seinem Ankleidezimmer, eine schlechte Cigarre für drei Pence rauchend und ruhig das Ende der Vorstellung erwartend. Und als der Director und der Regisseur eilig die Thür des Kabinets aufrissen und ihn unter unzähligen Beglückwünschungen und Komplimenten baten, sogleich mit ihnen auf der Bühne zu erscheinen, da das Publikum stürmisch nach Mr. Carey rufe, antwortete er, sich mit einem gewissen Selbstgefühl emporrichtend: „Es giebt von heute Abend an keinen Mr. Carey mehr – Mr. Carey, der auf den Provinzialbühnen den Hanswurst und den Hamlet spielte, Mr. Carey, der zu dem londoner Bartholomäusmarkte in den Strandtavernen als Jocko im „Brasilianischen Affen“ Burzelbäume schlug und auf dem Seil seine Kunststücke produzirte, ist heute Abend gestorben, aber sagen Sie dem Publikum, daß Edmund Kean, der Darsteller des Shylock im Drury-Lanetheater sogleich erscheinen wird.“ Und Kean erschien vor dem Publikum, dessen Liebling er von diesem Abend an wurde, um sich für die ihm geschenkte Nachsicht und den gespendeten Beifall zu bedanken.

(Schluß folgt.)




Panorama vom Thüringerwalde in der am weitesten sichtbaren Ausdehnung von Ilmenau bis Eisenach (7 Meilen).
(Gezeichnet an der thüringischen Eisenbahn zwischen dem Leinekanal und Fröttstedt.)

1. Kickelhahn bei Ilmenau, 2652 F. 2. Schneekopf, 3043 F. 3. Kienberg bei Ohrdruff. 4. Herzberg. 5. Brand (beim ruhlaer Steuerhaus). 6. Ziegelberg bei Schönau. 7. Chaussee von Gotha. 8. Hohe Tanne bei weimar. Stützerbach. 9. Dörnberg. 10. Dachsberg bei Ernstroda. 11. Körnberg bei Friedrichsroda 1994 F. 12. Schauenburg bei Friedrichsroda. 13. Reinhardtsberg bei Reinhardtsbrunn. 14. Abtsberg, Schloß Reinhardtsbrunn gegenüber. 15. Simmetsberg, in der Nähe die Tanzbuche. 16. Schorn, zwischen Taberz und Reinhardtsbrunn. 17. Großer Jagdsberg bei Broterode. 18. Uebelberg (Pavillon) bei Taberz, 2200 Fuß. 19. Walterhausen mit Schloß Tenneberg. 20. Inselsberg. 21. Hübel bei Caberz. 22. Tröhberg bei Winterstein. 23. Lauchaer Holz. 24. Große Marktberg bei Ruhla. 25. Mittelberg. Ruhlaer Forst. 26. Der hohe Stillstein bei Schmalkalden. 27. Lauchaer Holz. 28. Laucha. 29. Wartburg. 30. Hörselberg, 1535 Fuß. 31. Bahnhof Fröttstedt.


Der Thüringerwald.

„Für den gefühlvollen Menschen,“ sagt Ludwig Storch in seinem Wanderbuche, „der, nach des Terenz bekanntem Ausspruche, nichts Menschliches sich fremd glaubt, hat unsere Zeit manches Schwüle, Drückende und Verletzende, vielleicht in kleinen Staaten noch mehr, wo die blau verhüllenden, poetisch verklärenden Fernen und die malerischen Perspektiven wegfallen, und die nackte Wirklichkeit grell in die Augen springt. Da übt denn ein so nahes herrliches Gebirge, wie der Thüringerwald, eine wahre Zauberheilkraft auf das verwundete, bedrängte Gemüth, und wenn man oben steht auf den sonnigen Höhen, wenn man die einsamen Gründe mit dem Waldbache durchwandert, fühlt und erlebt man die tiefe Wahrheit von unsers Schiller’s Ausspruch, daß auf den Bergen die Freiheit wohnt. Wenn mich der Unmuth über so Manches, was man nicht näher bezeichnen darf, fast erdrückte, wenn mich Kummer und Gram in tausenderlei Seelenschmerzen, an denen ich vielleicht reicher bin, als mancher Andere, heimsuchten, wenn die Gemeinheit einmal ihren Schmutz nach mir geschleudert, der für ein Dichterherz stets zum giftigen, nie fehlenden Pfeile wird, wenn ich anfing, die Eitelkeiten und Thorheiten der Menschen mit grämlichem Gesichte zu betrachten: dann eilte ich in’s Gebirge; und so oft ich auch mit trüber Seele, ja mit thränendem Auge in die Thalpforte getreten bin, stets trat ich heiter, lächelnd, zufriedenen Herzens wieder heraus.“

Und Storch hat Recht, keins der uns bekannten Gebirge übt [309] eine so wohlthuende, Herz und Gemüth stärkende Macht auf alle Menschen aus, als der Thüringerwald. –

Vom Fichtelgebirge schweift in nordwestlicher Richtung ein kleinerer Gebirgszug ab, recht mitten in das Herz Deutschlands hinein, an zwanzig geographische Meilen lang, östlich an der Saale schmal, dann schnell sich beträchtlich in die Breite ausdehnend, so daß sie über fünf geographische Meilen beträgt, dann allmälig verjüngt zulaufend, immer schmaler, bis er in eine Spitze ausläuft. Es ist dies der Thüringerwald, nicht allzuhoch, wahrhaft idyllisch, hie und da sogar romantisch, reich an entzückenden An- und Aussichten, an Naturmerkwürdigkeiten und historischen Erinnerungen. Nirgend ist das Gebirge unwirtthbar, seine Höhen sind mit Holz freundlich bestanden, ihre Wände mit malerischen Felsen geziert, seine Thäler sind saftig grün, von hellen Bächen durchtanzt; in der ganzen Erscheinung, wie in seinen einzelnen Theilen, ist es eins der schönsten Gebirge Deutschlands, ja in gewisser Beziehung das schönste. Gebahnte Wege führen durch die Thäler auf die Höhen, acht Chausseen steigen über das Joch des Gebirges, fast in allen Thälern hat sich die Menschenwelt angesiedelt, in der südöstlichen Hälfte wohnt sie auch auf den Bergen. Die angedeutete Gestalt des Gebirges gleicht einem großen grünen Blatte; mitten hindurch bis zum Ende zieht sich der Hauptgebirgsrücken als Hauptrippe, von ihm aus laufen rechts und links die Nebengebirgsrücken mit ihren Verzweigungen als Nebenrippen, und die grünen saftigen Thäler sind das grüne weiche Fleisch des Blattes. Ja, ein grünes, freundliches Blatt ist dieser Thüringerwald, entsprossen dem gewaltigen Gebirgsstamme, der seine Aeste und Zweige durch Europa ausbreitet; ein schönes, grünes Blatt ist unser Thüringer Wald, das sich Deutschland zu Schmuck und Zierde an seine treu schlagende Brust gesteckt hat. Aber es ist auch die Gestalt eines Herzes, die dieses Gebirge trägt; ein Herz, durchpulst von grünem Waldleben, voll heimlichsüßer deutscher Träume, voll stiller sentimentaler Poesie, voll Sehnsucht und Hoffnung; ein deutsches Herz ist er, das seine Adern, seine frischen klaren Quellen und Ströme dem Rheine, der Elbe und Weser zuführt. Sie gehen aus von ihm, goldglühend und prächtig, wie die vier Ströme, die von Eden ausgingen. Und auch ein Garten Eden ist der Thüringerwald, baum- und wasserreich, gras- und blumenreich, kühl und anmuthig. Wie das waldige, bergige Arkadien in der Mitte des Peloponnes lag, so liegt der Thüringerwald in der Mitte Deutschlands; er ist das deutsche Arkadien.

Und wie die Wälder und Berge schön und anmuthig, so sind die Menschen dort treu und bieder und es ist ein wahres Wort, was einst der große Karl August von Weimar aussprach, als die Rede auf die verschiedenen Nationalitäten des deutschen Vaterlandes kam, und Jeder die glänzenden Eigenschaften seiner Landsleute pries. „Möglich,“ sagte er, „daß Eure Leute mehr von der Kultur beleckt, daß sie nach einzelnen Richtungen hin durch Zufälligkeiten aller Art weiter vorwärts geschritten, aber einen so kräftigen, schönen Menschenschlag wie meine Thüringer, so treu und ehrlich und bieder und so liederreich und poetisch – den sollt Ihr mir noch suchen im ganzen deutschen Reiche.“

In überraschender Weise finden die Reize des Thüringerwaldes von Jahr zu Jahr immer mehr die verdiente Anerkennung; Hunderte von Fremden zieht er während der schönen Jahreszeit beinahe allwöchentlich mit unwiderstehlichem Zauber hin nach seinen [310] waldigen Höhen und saftigen, rauchenden Thälern. Mancher sucht mit seiner Familie auf längere oder kürzere Zeit in demselben da oder dort ein freundliches Asyl, und findet Erquickung für Körper und Geist in den duftigen Wäldern, und kehrt dann neu gestärkt für die Anstrengungen des Geschäftslebens in die Heimath zurück. Statt daß man früher ein Landhaus in der Nähe der Stadt miethete, zieht man jetzt auf vier bis sechs Wochen mit Kind und Kegel nach dem Thüringerwald, ja viele angesehene Geschäftsleute und Gelehrte aus weiter Ferne haben sich neuerdings dort angekauft, um mit jedem Sommer wiederzukehren. Viele Plätze sind im Laufe der Zeit beliebte Kurorte geworden, ohne vor andern doch eigentlich weiter kein Verdienst zu haben, als den der naturgemäßen Stärkung des Körpers durch eine kräftige Waldluft, frisches, erquickendes Quellwasser und heitern geselligen Verkehr.

Manchem Leser dieser Blätter, der den Thüringerwald bereits besuchte, wird es daher von Interesse sein, ein Bild von demselben zu sehen, auf dem er sich nach seinen gemachten Touren wiederfindet; mancher, dem dies noch nicht vergönnt war, wird gern den malerischen Höhenzug einmal verfolgen und von Sehnsucht nach ihm erfüllt werden, denn kein anderes deutsches Gebirge gewährt ein solch’ weithin sich dehnendes deutliches Bild, als unser Wald, besonders von dem Punkte aus, von dem derselbe in dieser Weise sichtbar ist. Jeder, der auf der thüringer Eisenbahn zwischen Gotha und dem Bahnhofe Fröttstedt (nach Eisenach zu), wenn der Zug den Einschnitt unter dem Leinecanal passirt ist, den Wald in dieser Ausdehnung schaut, ist überrascht und entzückt von seinem Anblick. Die Strecke, die man hier übersieht, dehnt sich von der Gegend von Ilmenau bis hinter Eisenach aus, in einer Entfernung von ungefähr sieben Meilen. Die Schönheit des Gebirgszugs von hier aus gesehen, wird dadurch mit bedingt, daß der König der thüringer Berge, der Inselsberg, beinahe in der Mitte der ganzen Kette liegt, so daß sich der Zug der andern fast symmetrisch von ihm nach beiden Seiten hin in den schönsten Wellenlinien abdacht.

Es kann nicht in unserer Absicht liegen, hier alle die Schönheiten zu schildern, welche das prächtige Gebirge in seinen Höhen und Wäldern verbirgt, wer aber nur einmal auf diesen Waldwegen gewandelt, nur acht Tage lang sich an diesen idyllischen Thälern und grünen Fernsichten gelabt, der wird sich stets und immer wieder zurücksehnen nach diesen Bergen, die eine so unwiderstehliche Macht auf das Gemüth ausüben. Dürfen wir rathen, so möchten wir allen Reisenden vorschlagen, von Eisenach aus bis Ilmenau und Rudolstadt oder auch umgekehrt, das Hauptgebirge, den eigentlichen Thüringerwald, zu durchwandern, es kann ihnen dann keine der reizenden Parthien entgehen. Von dem kahlen „Horseelenberge“ bei Eisenach aus, dem Aufenthalte der Frau Venus und des Ritters Tannhäuser, besteigt man die Wartburg, die Veste der thüringischen Landgrafen, die Burg Luther’s und des Sängerstreites, um durch das schöne Annenthal nach Schloß Wilhelmshöhe, die Ruhla, den hohen Inselsberg, vielleicht seitwärts das Bad Liebenstein, die Luthersbuche, unter der der große Reformator auf seiner gezwungenen Flucht ausruhte, Reinhardtsbrunn, Schnepfenthal, die Schweizerdörfer Taberz, Kaberz und Waltershausen, vielleicht mit einem kleinen Abstecher auch Gotha zu besuchen. Dann weiter nach Elgersburg, nach dem von Goethe so oft besuchten Ilmenau, von dort über die weltberühmte Ruine Paulinzelle nach dem eben so schönen wie hochromantischen Schwarzathale, dem wildesten Theile des thüringer Gebirges bis in’s lachende Saalthal hinein. Wir lassen dabei die vielen hochromantischen Städte, wie Blankenburg, Rudolstadt, Arnstadt etc. eben so unerwähnt, wie die vielen reizenden Gründe, Schlösser, Jagdhäuser und Bergrestaurationen, die sich überall den Blicken darbieten. Eine Reise durch das Hauptgebirge nimmt im Ganzen acht bis zehn Tage in Anspruch.

Wir konnten heute nur eine flüchtige Anregung geben, hoffen aber schon in nächster Zeit einige der schönsten Punkte in Abbildung und ausführlicher Schilderung unsern Lesern vorzuführen.




Vom Büchermarkte.

Ein Blatt, welches neben der angenehmen Unterhaltung auch nützliche Belehrung im Auge hat, wie die Gartenlaube, darf, ohne einen Vorwurf auf sich zu laden, nicht unterlassen, die Aufmerksamkeit seiner Leser auf den Büchermarkt zu lenken. Wir sind bisher leider nur in einzelnen Fällen dieser Obliegenheit nachgekommen, und wenn wir es jetzt zu einer regelmäßigen Pflichterfüllung machen wollen, so fühlen wir uns dazu durch folgende Erwägung veranlaßt, ja geradezu genöthigt.

Weil wir eben unserem Blatte eine wesentlich belehrende Richtung zu geben bestrebt gewesen sind, so glauben wir nicht zu irren, wenn wir den außerordentlich großen Erfolg desselben großentheils eben diesem Bestreben zuschreiben. Ohne auch nur entfernt im Stande zu sein, uns darüber einige sichere Kenntniß zu verschaffen, in welchen Schichten der Gesellschaft die Leser unserer jährlich hinausgesendeten 2,184,000 Blätter vorzugsweise zu suchen sind, so dürfen wir doch sicher annehmen, daß ein großer Theil derselben, gewiß sogar der größere, die Blätter mehr der Belehrung als der Unterhaltung wegen liest. Für Manche mag die Lektüre der Gartenlaube die einzige Quelle der unterhaltenden Belehrung sein, die Meisten jedoch werden sich auch nach andern Quellen umsehen, wobei wir vorauszusetzen wagen, daß dazu die Gartenlaube selbst dann und wann Anregung gegeben hat. Diesen gegenüber ist es namentlich, daß wir uns zu beurtheilenden Nachrichten vom Büchermarkte veranlaßt, ja verpflichtet fühlen. Namentlich auf dem Gebiete der Naturwissenschaft erscheint eine so große Fluth von Büchern, daß Derjenige, der aus dergleichen sogenannten „populären oder Volksschriften“ erst lernen will, der also noch kein sichtendes Urtheil haben kann, rathlos darüber sein muß, wonach er greifen und was er meiden soll. Wenn wir es hier nicht vermeiden wollten, uns selbst vorzugreifen, so würden wir an guten wie an schlechten Büchern leicht nachweisen können, wie außerordentlich groß das Verlangen des Volkes gerade nach naturwissenschaftlicher Belehrung ist. Dies Verlangen ist eine Macht geworden, gegen welche von einer dadurch sich bedroht glaubenden Seite eben so heftig als vergeblich angekämpft wird. Aber dieses Verlangen wird neben den berechtigten und von unlauteren Absichten freien Befriedigern desselben auch von der Unfähigkeit und von schnöder, vor geistigem Diebstahl nicht zurückschreckender Gewinnsucht ausgebeutet.

Wenn man bedenkt, daß das Geld, welches in zwei Jahren für die zehn Auflagen eines unbeschadet der zehn Auflagen dennoch schlechten Buches in den Seckel des Verfertigers und des Verlegers gewandert ist, gewiß zum großen Theil aus mühsam erworbenen Groschen des Arbeitern besteht, so ist es ein Vergehen an diesem, dazu länger zu schweigen. Darum wollen wir nicht länger schweigen. Wir eröffnen unsere Besprechungen mit einem Buche, welchem in kürzester Zeit ein neues von demselben Verfasser zu folgen droht. Herr Professor Dr. Burmeister in Halle hat uns den nachfolgenden Artikel überlassen, obgleich er für eine andere Zeitschrift bereits gesetzt war, indem er unserer Meinung beitrat, daß nur die Gartenlaube mit ihrer großen Verbreitung der rechte Platz dafür sei, solchen Büchern mit Erfolg entgegenzutreten.

Neuestes Werk von Zimmermann.

Unter dieser Ueberschrift findet man gegenwärtig in fast allen vielgelesenen Zeitungen eine Subscriptionsaufforderung der Verlagshandlung von G. Hempel in Berlin zu einem Werke, worin dem Publikum die Resultate der gesammten Naturwissenschaften in ihrer Anwendung auf das Leben verheißen werden. Der Verleger bezieht sich dabei auf die fast unglaublichen Erfolge seines Autors, dessen früheres Werk: „Die Wunder der Urwelt,“ in ein paar Jahren zehn Auflagen erlebt haben soll; er meint, daß eine so beifällig aufgenommene Leistung die beste Empfehlung für das neue Buch desselben Verfassers sein werde.

Die deutsche Nation hat das Recht, zu erwarten, daß man sie nicht zum Besten haben wolle; daß die berechtigten Beurtheiler ihr einen guten Rath geben werden, wenn sie sich in der Lage sieht, von Marktschreiern über’s Ohr gehauen, und von Gauklern hinters Licht geführt zu werden. Deshalb und weil mich die frühere Arbeit des Herrn Zimmermann vielfach angeht, halte ich mich verpflichtet, dem Publikum die Augen zu öffnen, so lange es noch Zeit ist, und ihm zu zeigen, was es etwa von diesem „Neuesten Werke Zimmermann’s“ zu erwarten habe, wenn es ebenso beschaffen ist, wie das frühere.

Wer ist Zimmermann[5], welcher sich auf dem Titel seines Buches: „Die Wunder der Urwelt,“ Dr. W. F. A. Zimmermann nennt? – fragt ein Naturforscher den andern; – kennen Sie etwa den Mann? – hat er sich anderweitig als Gelehrter oder Beobachter bekannt gemacht? – Das ich nicht wüßte, lautet die stete Antwort, mir ist die Person gänzlich unbekannt! – Sonderbar, und ein solcher Mann beschreibt die Wunder der Urwelt! –

Aber ein Gelehrter muß er doch sein, wie könnte er sonst ein so schwieriges Unternehmen beginnen, hört man einen nebenstehenden gutmüthigen Laien äußern; – ich habe sein Buch gelesen, und es hat mir im Ganzen gefallen. –

„Kein Wunder, daß es Ihnen gefallen hat,“ entgegnet der erste Frager; „das Meiste, und namentlich das Beste dessen, was darin steht, ist aus den Werken bekannter Gelehrten abgeschrieben; theils mit Namensnennung [311] des Verfassers, theils ohne diese, mit geflissentlicher Umgehung seines Ausdrucks. Aber Sie irren sich, wenn Sie glauben, daß Zimmermann ein Gelehrter sei; er kann nicht einmal eine ordentliche Schulbildung bekommen haben, denn dann würde er die Fremdwörter richtig zu schreiben im Stande sein. Schlagen Sie gefälligst S. 169 der Wunder der Urwelt auf, wo der vorweltliche Ichthyosaurus abgehandelt wird, und sehen Sie da, wie der Verfasser dessen Namen durch Johann Ballhorn verbessert hat; er schreibt stets Ichtiosaurus, und schießt damit einen doppelten Bock. Hier hat er wenigstens nicht abgeschrieben, denn so hat noch kein deutscher Gelehrter den Namen verhunzt. Nicht besser steht es mit dem Plesiosaurus, den er Seite 168 Plessiosaurus nennt, und dem Pterodactylus, der stets nach französischem Muster Pterodactilus (S. 179. Seite 6); der Megalonyx desgleichen Megalonix (Seite 240); die Caryophyllia gar Cariophylla (Seite 299) etc. etc. lautet. Das sieht nicht so aus, als ob es ein Gelehrter geschrieben habe, besonders wenn daneben derselbe Name an andern Stellen richtig erscheint, wie z. B. der Plesiosaurus S. 6 und 177, obgleich der andere, z. B. Pterodactilus, an derselben Stelle in falscher Orthographie vorkommt. Der Abschreiber wußte offenbar nicht, welche von beiden Orthographien die richtige ist. –

Ach, das sind Nebensachen, wird man vielleicht einwenden, darauf kommt es nicht an. Aber es kommt wohl darauf an, wenn man sieht, daß auch der Inhalt ebenso fehlerhaft und so ungleich ist; je nachdem der Autor bald aus guter, bald aus schlechter Quelle geschöpft hat. Hauptsächlich aber erhalten diese Fehler Bedeutung, wenn man findet, daß Alles, was dem Verfasser etwa als seine eigne Erfindung angehören möchte, ganz mißrathen und unrichtig ist.

Da steht z. B. S. 4 ein großes Bild, das Verfasser sein Eigenthum nennen kann, denn in der Zusammenstellung, wie hier, findet man es nirgend wieder. Mylodon robustus, eine schlechte Copie von Owen’s schöner Figur, lehnt aufrecht an einem Sigillarienstamm, dem oben ein dünner horizontaler Ast entwächst. Dazu giebt es kein Original; diesen Stamm und seinen Zweig hat H. Zimmermann selbst erfunden. Aber er hat bei der Wahl desselben sich gröblich vergriffen. Die Sigillaria gehört der Steinkohlenformation an, also der primären Epoche; der Mylodon ist ein Diluvialthier, also jünger als die tertiäre Periode. Toller konnte man es nicht machen, um seine Unwissenheit zu verrathen. Hätte Jemand Hrn. Zimmermann Das, was er selbst uns vorlegt, als seine Leistung nur nachgesagt, so würde Jedermann, der hört, Hr. Zimmermann habe ein Buch über die Wunder der Urwelt geschrieben, annehmen müssen, daß es die allergröbste Verläumdung sei. Denn es ist unglaublich, zu sagen, Jemand, der über Wunder der Urwelt schreibt, könne noch die älteste und die jüngste Periode in einen Topf werfen, in eine bildliche Darstellung verschmelzen wollen. So etwas ist nie dagewesen, und wird schwerlich jemals wieder vorkommen.

Man glaube aber ja nicht, daß das der einzige Fall der Art in Hrn. Zimmermann’s Buch sei; o nein, es giebt mehrere, ganz gleichstehende Schnitzer, wenn auch in anderer Sphäre. Seite 214 sind zwei Figuren von Krebsen gegeben, von denen die linke ein Kunstprodukt ist, die rechte unserm Flußkrebs im Kleinen ähnelt. Dabei heißt es im Text wie folgt: „Welch’ ein Unterschied ist zwischen den ältesten krebsartigen Thieren, den „Terebrateln (soll wohl heißen Trilobiten) und den hier vorliegenden, welche „denen der Gegenwart so vollständig gleichgestaltet sind,“ etc. Die Figur links kann alles Mögliche sein, aber einen lebenden Krebs der Gegenwart stellt sie nicht vor. Die Terebrateln sind Mollusken, keine Krebse; sie, die eine so wichtige Rolle als Leitmuscheln fast aller Formationen spielen, scheint H. Zimmermann kaum zu kennen; sie kommen in seinem Buche außerdem S. 307 beiläufig als Muscheln vor, während er sie doch an dieser Stelle zu den Krebsen gebracht hat. Je toller, je besser, Hr. Zimmermann; Sie machen es dem Leser leicht, Sie zu erkennen, Sie stellen sich ganz ohne Scheu in ihrer völligen Unwissenheit zur Schau. Da ist es denn wohl überflüssig, daran zu erinnern, daß Seite 12 eine Ophiure vorstellt und nicht wie Sie S. 134 sagen, eine Asterias. –

Obgleich eigentlich schon genug gesagt ist, um den Autor der Wunder der Urwelt in seiner wahren Gestalt zu zeigen, so möchte es doch besser sein, noch etwas weiter zu gehen, und darzuthun, wie einleitungsweise geäußert wurde, daß alles Gute und Brauchbare des Buches in Abschriften oder Nachbildung fremder Arbeiten besteht, und das Ganze durch und durch ein Plagiat ist, welches nur stellenweis von der Unwissenheit des Abschreibers bis zum Unkenntlichwerden entstellt wurde. Hierbei beschränke ich mich darauf, den Antheil zu reclamiren, welchen ich selbst an Hrn. Zimmermann’s Wundern der Urwelt habe; die übrigen Herren, denen er seine Seiten verdankt, mögen ein Gleiches thun, dann wird Hr. Zimmermann bis auf’s Hemde ausgezogen worden sein. Ich werde ihm nur einige seiner Prunkgewänder direct abzufordern haben, darf indessen behaupten, daß er, ohne meine „Geschichte der Schöpfung“ zur Grundlage zu haben, sein Buch schwerlich in Angriff genommen hätte; denn eigentlich ist dasselbe nur eine mit meinem Material aufgesetzte, sehr verdünnte, und durch allerlei andere Bettelbrocken veranstaltete Wassersuppe.

Die erste Umschreibung begegnet uns S. 54. Wer dieselbe liest, wird die unverkennbarste Uebereinstimmung mit den ersten Seiten meiner Geschichte der Schöpfung bald finden; eine förmliche Abschrift ist es aber nicht, der Verf. hat einige Gemeinplätze hinzugethan, z. B. Zeile 9 von unten die „Zeitungsnachrichten,“ und dadurch sich sein Eigenthumsrecht gewahrt. In dieser umschreibenden Weise, bald mehr, bald minder nach eigner verflachender Manier überarbeitet, geht es fort bis S. 65, wo förmliche Abschriften deutlicher werden, so z. B. der zweite Absatz, welcher im Original bei mir S. 325 (5. Aufl.) zu lesen ist. Nicht anders ist die Entwickelung der Thierformen S. 74 u. flgd. ein vollständiges Plagiat; die Vergleichung mit meiner Darstellung S. 313 flgd. zeigt es deutlich.

Wir überlassen es Herrn Cotta, sein unbestreitbares Eigenthumsrecht am folgenden Kapitel S. 83 flgd. zu reclamiren, und machen nur im Vorbeigehen darauf aufmerksam, daß die Darstellung der Braunkohlenformation S. 123 flgd. so viele Analogie mit derselben in unserer Geschichte der Schöpfung zeigt, daß es nicht gut möglich ist, sie für blos zufällige zu erklären. Im folgenden Kapitel S. 130 flgd. von den Thieren der Vorwelt, hat sich der Verf. sichtbar bemüht, mein Material möglichst selbstständig zu verwenden, und es ist nicht zu leugnen, daß ihm das in ziemlichem Grade gelungen zu sein scheint. Obgleich der ganze Gedankengang mein Eigenthum ist, so hält es doch schwer, Stellen nachzuweisen, die Verf. direct abgeschrieben hat; die Darstellung ist so zusammengedrängt, daß nur Derjenige die Umschreibung bemerkt, welcher die Eigenthümlichkeit meiner Anschauungsweise der thierischen Formen kennt, und weiß, daß eine analoge bei andern zoologischen Schriftstellern nicht vorkommt. Man kann nicht leugnen, Herr Zimmermann hat sich einige Gewandtheit in dem Ummodeln des geistigen Eigenthums Anderer erworben, die nur Folge einer langen, vieljährigen Uebung und Beschäftigung damit sein kann. Er weiß mit Geschick zu freibeutern, und dadurch sich als Voleur unkenntlich zu machen. –

Indessen fehlt es nicht an Stellen, welche dem Kundigen bald die Augen öffnen und zeigen, daß es durchaus nur Uebung und Gewohnheit in dieser Beschäftigung ist, welche ihn mit einiger Sicherheit leitet; nicht eignes Urtheil oder eine richtige Kenntniß der Dinge selbst. Wenn man Seite 155 die Vergleichung des Crinoideensternes mit der Blüthenscheide von Calla aethiopica, und darin Pystill statt Pistill geschrieben sieht, so weiß man gleich, wie der Mann beschaffen sein muß, der das schreiben konnte. Auf der folgenden Seite 156 wird mir die Ehre angethan, das erste Mal bei Namen genannt zu werden; Verfasser citirt eine kleine Stelle von drei Zeilen aus meinen geologischen Bildern, und macht so dem Publikum weiß, daß er nur an diesem Orte sich auf mich stütze. Ich thue ihm indeß Unrecht, wenn ich behaupte, er habe Alles von mir; Seite 158 führt er den Archegosaurus an, und erläutert seinen Bau durch den halben Querschnitt eines Labyrinthodontenzahnes, wobei gesagt wird, daß die Frösche keine Zähne haben. Das Alles ist bei mir nicht zu finden, obgleich Anklänge davon vorkommen; der Verfasser hat durch Auslassungen ein Kauderwelsch geschaffen, das der kundige Gelehrte zwar entziffern könnte, das aber so, wie es dort lautet, eben nichts weiter als Unsinn ist.

Das geht nun so fort im folgenden Kapitel durch die sekundäre Epoche, welche Verf. S. 164 als „Formation“ anspricht, und hier kommen die vielen belehrenden orthographischen Schnitzer vor, deren wir einleitungsweise gedachten; der Ichtiosaurus, Plessiosaurus, Pterodactilus, zum Theil vermengt mit herrlichen sachlichen Irrthümern, wie z. B. Seite 180, wo der Mystriosaurus als ein 40 Fuß langes Krokodil mit handartigen Tatzen auftritt, während doch gerade diese Gattung viel kleinere Vorderpfoten hat, als die lebenden Krokodile, und, soweit bekannt, nicht über 20 Fuß lang war. Das Iguanodon nimmt sich daneben als „Raubritter des Meeres“ curios aus; der arme Schelm muß sich viel gefallen lassen; er hat schwerlich jemals im Meere gesessen, und wenn er ein „Raubritter“ war, so trieb er sein Handwerk wenigstens als ehrlicher Mann mit Geschick, denn die Natur hatte ihn dazu gestempelt; nicht als Pfuscher, gleich einem Plagiarius. –

Woher Verf. die wunderbare Polypenfigur S. 188 genommen, weiß ich nicht; vergriffen aber hat er sich damit; denn so hat nie und nimmer ein Polyp ausgesehen, das kann ich versichern. – Die Figuren der folgenden Seite sind aus R. Wagner’s, Icones zootomicae und genügend für ihren Zweck copirt; eben daher stammen auch die meisten der spätern Bilder bis zu den Foraminiferen, welche einen ähnlichen obscuren Ursprung, wie das Bild S. 188, verrathen. – Seite 212 ist wieder einmal mein Name eingestreut, und die folgende Seite durch einen starken Druck- oder Schreibfehler entstellt; Hylaea orbyniana soll wohl Hyalaea D’Orbignyana heißen; denn auf eine Hyalaea läßt sich die unkenntliche Figur allenfalls deuten. Wie toll es der Abschreiber treibt, zeigt wieder S. 216 recht deutlich; hier steht vier Zeilen von einander „Licopodien“ und „Lycopodiaceen,“ gleich als ob das verschiedene Dinge wären.

Mancherlei Unrichtiges wird auch von den großen Säugethieren der Diluvialepoche berichtet, und fast auf jeder Seite kommt in der Beschreibung ein oder der andere Fehler vor. Daß die Didelphys als die zwei Mal gebärenden vom Verf. angesprochen werden, mag er vertreten, es scheint das seine eigne Erfindung zu sein; das Thier heißt so, weil es eine doppelte Gebärmutter (Uterus) zu haben scheint, nicht weil es seine Jungen zwei Mal gebiert. Paläontherium muß Paläotherium, und Anaplotherium sprachrichtig Anoplotherium lauten. Selbst in der Geschichte ist unser Verfasser nicht bewandert, er nennt die Cimbern S. 231 Cymbern. S. 235 wird das Mastodon 30 Fuß lang gemacht, auf Koch’s Interpolation sich stützend; ja Seite 237 kommt gar ein ähnliches Thier von 60 Fuß Länge in Aussicht! – Wie gut, wenn man nicht viel weiß; wie vortrefflich kann man in dem Fall aufschneiden, und Leichtgläubige in Erstaunen setzen. Die Unwissenheit des Verf. erscheint wieder S. 252 recht grell; hier bildet er einen Haifischzahn als den von Zeuglodon, einem Säugethiere, ab; die Hauptsache, worauf es beim Säugethier ankommt, die beiden Wurzeln, fehlen. Unser Autor scheint in einer etwas trüben Quelle gefischt zu haben, wie die ganze Behandlung der urweltlichen Säugethiere, welche im Styl an die S. 233 citirte Petrefactenkunde von Quenstedt erinnert, darthut.

Es genügt das Bisherige wohl, um zu beweisen, war ich behauptet habe, daß Herr Zimmermann nicht blos ein Plagiarius ist, sondern auch gar kein Gelehrter. Die Kapitel, welche von der Gegenwart handeln, sind nicht aus meiner Geschichte der Schöpfung erborgt, sondern aus andern Werken, deren Inhalt ich nicht genau genug kenne, um den Ursprung jedes Plagiats belegen zu können; ich selbst trete erst S. 463 wieder in die Scene, und hier, wo mich Verfasser wörtlich abschreibt, ist er auch ehrlich genug, mich zu nennen, gleich als ob ich übrigens nicht bei ihm betheiligt wäre. Wie viel er hier abgeschrieben hat, sagt er wohlweißlich nicht; es sind ziemlich 3 Seiten, das was vorhergeht und nachfolgt, hat wieder mehr [312] den Charakter einer Umschreibung. Uebrigens ist das Material nicht ohne Geschmack entlehnt; die Zusammenstellung der Erdbebenphänomene liest sich gar nicht schlecht, und ist eine der bessern Partien des Buches. Auch das frühere geographische Kapitel über Bergzüge und Ausbreitung der Vulkane verräth eine gewandtere Behandlung; der Verfasser versteht offenbar etwas mehr von der Geographie, als von der Geologie und Paläontologie. Daß ihm auch die Geognosie sehr fern liegt, beweist schließlich das letzte Kapitel höchst schlagend; ein so wichtiger, so interessanter Gegenstand, wie die Lagerstätte der Erze, konnte kaum dürftiger abgehandelt werden, als es hier auf 3 Seiten geschehen ist. Hier fehlt es doch nicht an Quellen, aus denen Brauchbares zu schöpfen war! Gewiß fürchtete Verf. sich, einen weitern Extract zu geben; er wußte wohl, wo ihn der Schuh drückt, und zog es vor, sich weiter nicht zu verrathen. –

Das ist also das Buch, welches der deutschen Nation so lieb geworden, daß es binnen ein paar Jahren 10 Auflagen erlebt haben soll! Armes deutsches Volk, was kannst du doch Alles ertragen; was mußt du nicht blos ertragen, sondern was legst du dir auch noch selber auf. Zehn Auflagen von Zimmermann, das ist erdrückend; laß es damit gut sein, nimm keine mehr hin, und du wirst besser, klüger und unterrichteter bleiben, als wenn du das Alles für wahr hältst, und dir aneignest, was Herr Dr. W. F. A. Zimmermann dir vorsetzt. Mir aber, der ich dir auch ein Gericht hoffentlich anderer Art aufgetragen habe, lege es nicht als Eigennutz aus, wenn ich dir das meines Nachfolgers widerrathe; bedenke, daß ich nur mich selbst schütze, wenn ich dir das meines Nachfolgers widerrathe; bedenke, daß ich nur mich selbst schütze, wenn ich dir sage, Herr Zimmermann sei als Lehrer für dich nicht würdig, und du thätest besser, gar nichts zu lesen, als das zu lesen, was er schreibt, oder vielmehr in bunter halb verstandener und halb verdorbener Umschreibung aus andern Werken abschreibt. Geh’ lieber an die Quellen, und übe dich, sie zu verstehen, wenn es dir anfangs auch etwas schwierig werden sollte. Bedenke: „Im Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brot essen,“ und geistige Nahrung ist auch Brot! –
Burmeister. 




Blätter und Blüthen.

Der Ursprung der chinesischen Revolution. Es ist eine altbekannte Thatsache, daß in China stets die ersten Jahre einer neuen Regierung Aufruhr mit sich bringen, und so war denn auch Niemand verwundert, als im Jahre 1850 nach dem Tode Toukuang’s, nach dem Regierungsantritt des vierten Sohnes, Inschu, welcher das folgende Jahr seiner Regierung, das im März 1851 begann, Hiensong, das Jahr reich an Regen zu nennen befahl, die Unruhen in Kuangsi ausbrachen.

Ueber den eigentlichen Anlaß zu diesen Unruhen ist noch nichts Zuverlässiges ermittelt; doch war es nach allgemein umlaufender Meinung folgender:

Ein Zug von fünf- bis sechshundert Opiumhändlern reiste von Yün-Nan nach Kanton. Durch eine Uberschwemmung aufgehalten, fingen sie an, Geldmangel zu leiden, und mußten zum Borgen ihre Zuflucht nehmen. In dem Bezirke wohnten zwei Brüder, Namens Tschang, die als sehr reich bekannt waren, und an diese wandten sich die Schleichhändler, um von ihnen eine Summe von 600 Taels (1 Tael etwa 3 Thlr.) zu entlehnen. Nun hätten wohl die Brüder einige gegründete Bedenken haben sollen, sich mit den Schleichhändlern einzulassen, obwohl sie wußten, daß diese pünktlich in der Wiederbezahlung ihrer Schulden waren. Allein das Begehren war, das wußten sie wohl, so gut wie ein Befehl für sie, und so gaben sie denn die 600 Taels her. Das gab nun einem in der Nähe wohnenden Kleinmandarin, der längst nach dem Vermögen der Brüder gierig gewesen, willkommenen Anlaß, diese Geldgier zu befriedigen. Er ließ die beiden Brüder in Haft nehmen, obgleich er wohl wußte, daß sie mit den Schleichhändlern nicht in Mitgenossenschaft standen, sondern denselben nur nothgedrungen Geld geliehen hatten; ließ sie grausam schlagen und in den Kerker werfen.

Diese Ungerechtigkeit erregte großes Aufsehen, und da die beiden Brüder Tschang viel Freunde, selbst unter den Gerichtspersonen hatten, so kam einer von diesen auf den Gedanken, den Kaufleuten nachzueilen, und sie um Beistand zu bitten in einem Unglück, das sie, wenn auch ohne Wissen und Willen, verursacht hatten. Die Kaufleute, empört über das Verfahren des Kleinmandarins, ließen 100 Mann zur Bewachung ihres Opiums zurück und schlugen mit den Uebrigen den Rückweg ein, um ihren Wohlthäter in Freiheit zu setzen. Der Mandarin gab aber ihren Vorstellungen kein Gehör, überließ sich vielmehr in seiner Unklugheit dem heftigsten Zorn und gab so Veranlassung zu einem Auftritt, der ihm zunächst selbst das Leben kostete. Das Gerichtshaus wurde geplündert, die Pagoden zerstört und viele andere Gewaltthätigkeiten verübt.

Als die Opiumhändler, nachdem die erste Hitze gedämpft war, kaltblütig über ihr Verfahren nachsannen, fühlten sie, daß nur in einer offenen Empörung noch die Möglichkeit einer Rettung für sie lag. Den Gebrüdern Tschang blieb gleichfalls kein anderer Ausweg übrig, und die Gefangenen, die eben erst ihre Freiheit erhalten hatten, dürsteten ebenfalls nach Rache und Zerstörung. So gesellten sich denn alle Jene, welche bei dieser Geschichte irgendwie betheiligt gewesen waren, zu den Opiumhändlern, und die Empörung war organisirt.

Mit der Schnelle des Blitzes wuchs diese Empörung heran; alle Landstreicher der Umgegend, die zahlreichen Mitglieder der geheimen Gesellschaften, und alle Jene, die durch Plündern ihr zerrütteten Vermögen wieder herzustellen hofften, boten dem Aufstande ihre Kräfte an. Alle verpflichteten sich durch einen Eid, die Waffen nicht niederzulegen, bis ihre Unterdrücker, die Mandarinen, vertrieben sein würden. Man stellte ihnen einige schlechte Truppen entgegen, die sich fast ohne Gegenwehr schlagen ließen. Die zahlreichen Bundesgenossen, unter dem Namen der „Gesellschaft des Himmels und der Erde“ (Tien-ti-huy) bekannt, boten ein zum Kampfe und besonders zum Plündern vollkommen bereites Heer dar. Der Anführer des Aufstandes, der den Titel eines Kaisers sich beilegte, zu Nanking seinen Sitz aufschlug, und der schon längst eins der einflußreichsten Mitglieder des Tien-ti-huy gewesen war, ergriff ungesäumt die gute Gelegenheit. Er schwang sich an die Spitze der ansehnlichen Truppen, welche der Aufruhr ihm zur Verfügung stellte, ließ seine Obermacht durch seine Parteigänger anerkennen und zeigte sich der chinesischen Nation als einen ihr vom Himmel zugesandten Befreier. Er erklärte öffentlich, sein Streben gehe dahin, den tatarischen Herrscherstamm zu verdrängen, um einer einheimischen Herrscherfamilie den Platz einzuräumen; so verkündigte er in den Proclamationen, mit denen er das Land übersäete, hinzufügend, daß er selbst die ausgezeichnete Ehre habe, von der alten Min-Familie abzustammen.

Den zeitherigen Verlauf des Aufstandes, sein ersten massenhaftes Ausbreiten, seine Siege und Niederlagen, haben unsere Leser aus den Zeitungen kennen gelernt. Noch ist keine Entscheidung in diesem Kampfe zu Stande gekommen. Wie diese aber auch ausfallen möge, das Reich der Mitte, mag es von Hienfong oder Tien-te regiert werden, wird künftig im Innern wie nach Außen nach ganz andern Verhältnissen auftreten.


In meinem Verlage erscheint seit Neujahr:

Aus der Fremde.
Wochenschrift für Natur- und Menschenkunde der außereuropäischen Welt.
Von
A. Diezmann.
Wöchentlich ein Bogen mit oder ohne Illustrationen. Preis vierteljährlich 16 Ngr.

Diese neue rasch beliebt gewordene Zeitschrift erscheint in den Familien des Vaterlandes wie ein Weitgereister in der Heimath. Wer hörte einen solchen nicht gern erzählen von seinen Wanderungen? Sie ist die erste, die es versucht, das große Publikum über die Natur und die Menschen jenseits Europa zu unterhalten, und fügt selbst Illustrationen bei. Sie vermeidet alles Trockene und Langweilige, bringt „aus der Fremde“ stets Neues, vermehrt die Kenntnisse ihrer Leser durch Unterhaltung und wird deshalb für Jedermann von Interesse sein.

Alle Buchhandlungen und Postämter nehmen Bestellungen an.
Leipzig, 1. Juni 1856.
Ernst Keil. 

„Aus der Fremde“ Nr. 23 enthält:

Das Leben in der Wüste. – Die Amerikaner in Japan. (Zweiter Artikel.) – Zeitungsmahnungen. – Wie man in den amerikanischen Städten die Abende verbringt. – Aus allen Reichen: Eine schreckliche Reise. – William Walker. – Schlesinger.


Für die Abgebrannten in Eibenstock ist ferner eingegangen:

E. H. W. in R. 1 Thlr. – Frau Josefine Kablik in Hohenelbe 10 fl. (6 Thlr. 22 Ngr.) – E. Br. in Sangerhausen 1 Thlr.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Mesmer war geboren den 23. Mai 1734 in Iznang unweit Constanz.
  2. Mesmer’s eigene Worte. Siehe Franz Anton Mesmer aus Schwaben. Von Dr. Justinus Kerner. S. 58.
  3. Alle diese Reden enthalten Mesmer’s eigene Worte. Siehe Justinus Kerner. S. 60.
  4. Daher auch die Redensart:„auf keinen grünen Zweig“, d. h. an den Galgen kommen.
  5. Vollmer, auch Morvell genannt; Verfasser schlechter Romane u. s. w. Anmerk. d. Red.