Die Gartenlaube (1855)/Heft 34
[443]
No. 34. | 1855. |
(Fortsetzung.)
„Was ist das?“ fragte Philipp.
„Ich finde nichts darin!“ gab Josephine mit ihrem reizenden Lächeln zur Antwort. „Die gute Frau, die ihren Mann beherrscht, weil sie ihm ein großes Vermögen zugebracht hat, wird wieder einmal von Grillen geplagt. Man kann eine solche Ehe nur bedauern.“
„Sollte nicht ein Geheimniß zum Grunde liegen?“
„Mir ist keins bekannt geworden. Meine soeben ausgesprochene Vermuthung wird wohl die richtige sein. Die kleine capriciöse Frau hat eine zweite Soirée nicht zu erwarten. Die Sache ist zu unbedeutend, als daß wir uns länger damit beschäftigen sollten. Wie steht es, Philipp, mit der Familie von Bornstedt? Hast Du Dich dem armen Manne entdeckt, wie Du mir gestern versprochen?“
„Ich fand ihn nicht zu Hause.“
„O, säume nicht, lieber Freund! Du hast doch die Summe, die Du für das verkaufte Gut erhalten, nicht angegriffen? Wenn dies ist, so sage es mir, ich werde aus meinen Ersparnissen das Fehlende decken. Man soll nicht sagen, daß wir auch nur einen Thaler unrechtmäßig besitzen. Ich wiederhole es: lieber arm, als unredlich reich!“
Josephine hatte so dringend gesprochen, als ob in dem längern Zögern ein großer Verlust läge. Was konnte darauf ankommen, ob heute oder morgen die Uebergabe stattfände, da Vater und Tochter vor der Hand sorgenfrei leben konnten? Der Argwohn Philipp’s war einmal erwacht, und wie die Glut unter der Asche wuchs er still und unmerklich fort. Jedes Ereigniß gab ihm neue Nahrung, und der Brief des Banquiers, den Josephine lächelnd angenommen, erfüllte ihn mit einer schmerzlichen Besorgniß. Da fühlte er plötzlich den schönen Arm Josephine’s, der seinen Nacken umschlang.
„Mein Gott, Philipp, was ist Dir?“ fragte sie zärtlich, und indem sie mit ihren weißen Zähnen seine Wange berührte. „Du bist in ein so tiefes Brüten versunken, daß mir angst wird.“
„Die Annäherung an die arme Familie ist für mich eine schwere Aufgabe. Ich sinne nach, wie ich mich ihr auf eine Weise entledige, die so wenig als möglich meinen verstorbenen Vater compromittirt.“
„An diesen wichtigen Punkt haben wir noch nicht einmal gedacht! Philipp, wie liebe und achte ich Dich!“ rief sie bewegt. „Wir wollen zusammen überlegen, wie Du ein Vergehen Deines Vaters ausgleichst, ohne es anzuerkennen. Fast möchte ich Dir zürnen!“ fügte sie mit einer schmollenden Miene und in einem derselben entsprechenden Tone hinzu, daß dem armen Philipp wunderbar um’s Herz ward.
„Warum, Josephine?“
„Ich habe bei Deinem Eintritte schon bemerkt, daß Dir etwas auf der Seele lag. Anstatt daß Du es Deiner Gattin mittheilst, muß sie es ganz zufällig erfahren. Du hast ein Geheimniß vor mir gehabt, vor mir, die ich Dir Alles mittheile. Bin ich nicht auch die Tochter Deines Vaters?“
Sie konnte nicht fortfahren, denn Meta trat wieder ein. Sie trug wiederum einen Brief in der Hand.
„Vom Herrn Doctor B.,“ sagte die Zofe, indem sie das Papier überreichte. Dann entfernte sie sich wieder.
Philipp erinnerte sich, den Namen des Absenders auf der Liste der Gäste gesehen zu haben. Mit ängstlicher Spannung beobachtete er die lesende Josephine. Der Ernst ihrer wunderbar schönen Züge verwandelte sich in ein ironisches Lächeln.
„Auch der Doctor B. schreibt ab!“ sagte sie kalt und ruhig. „Er bezieht sich auf das Unwohlsein der Madame F., und da er durch den Banquier eingeführt werde, könne er aus Rücksichten mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern nicht erscheinen.
Philipp fand, daß auch dieser Brief kurz und frostig abgefaßt war.
„Ich wundere mich nicht darüber,“ meinte die junge Frau. „Der Doctor ist zwar ein Mann der Wissenschaft, aber er macht dem Manne des Geldes, oder eigentlich seiner Frau, die Reverenz. Es sollte mich auch nicht wundern, wenn nun ein Geladener, der zu dem Doctor in Beziehung steht, ein ähnliches Billet folgen ließe. Nimm die Liste, Philipp, und streiche die Personen.“
Es ergab sich, daß diese beiden Familien die Hälfte der geladenen Gäste ausmachte. Bald kam ein drittes Billet an. Madame X. meldete, daß sie einen unerwarteten Besuch erhalten habe.
„Wer bleibt uns noch?“ fragte Josephine in großer Heiterkeit.
„Zwei Gäste.“
„Nenne sie.“
Philipp las aus der Liste! „Fräulein Bartels.“
„Eine Klavierspielerin, die wird nicht ausbleiben!“ lachte Josephine.
„Fräulein Canzona.“
„Eine Sängerin, die ich zur Unterhaltung der Gäste geladen hatte. Lieber Freund, schreibe den beiden Damen ein Absagebillet und lege einer jeden zwei Louisd’or bei – die Gesellschaft wird nicht stattfinden. Wir bleiben allein, speisen zusammen und unterhalten uns, so lange es uns gefällt. Während Du das kleine Geschäft besorgst, mache ich meine Toilette.“
[444] Heiter und unbefangen drückte sie einen Kuß auf seinen Mund und verschwand in dem Nebenzimmer.
Philipp besorgte mit beklommener Brust das ihm aufgetragene Geschäft. Jeder Andere würde die Dinge milder beurtheilt haben; er aber, dessen Verdacht einmal erregt war, zerbrach sich den Kopf darüber, ob Josephine nicht Veranlassung zu diesen Briefen gegeben haben könne. „Warum verheimlicht sie ihre zweite Heirath?“ fragte er sich. „Warum will sie immer noch für eine Wittwe gehalten sein?“ – Wie schwankend erschienen ihm die angegebenen Gründe, wenn er seine rasche Verheirathung und alles das bedachte, was sich seit gestern zugetragen hatte. Im Stillen segnete er die Hindernisse, die ihn von der Ueberlieferung seines Vermögens abgehalten hatten. Der Besuch des blonden jungen Mannes, den sie verschwieg, gewann eine furchtbare Bedeutung.
Bald erschien Josephine in einer einfachen, geschmackvollen Toilette. Seufzend betrachtete Philipp das reizende Geschöpf, das entweder der reinste Engel oder der boshafteste Dämon sein mußte. Sein Lebensglück hing von der Entscheidung dieser Frage ab, und er beschloß, mit großer Vorsicht die Lösung derselben zu suchen. Als er sich entfernte, hatte Josephine keine Ahnung von seinem Seelenzustande; sie erinnerte ihn heiter und unbefangen an den bevorstehenden Abend, und entließ ihn mit einem innigen Kusse. Er hatte nicht den Muth, ein Wort des Mißtrauens zu äußern.
Wäre Philipp eine Viertelstunde später gegangen, so hätte er einen Fiaker vor Josephine’s Wohnung halten gesehen, aus dem ein stattlicher Mann vielleicht von fünfzig Jahren stieg. Trotzdem er elegante Civilkleider trug, so ließ sich dennoch die Militairperson erkennen. Der volle gestutzte Bart über der Oberlippe war braun, das Haupthaar hingegen begann schon zu bleichen. Er sah aufmerksam nach der Hausnummer, dann, als er sie richtig befunden, stieg er die Treppe hinan. An der Thür las er die Namen: Josephine Lindsor.
„Ich bin am Ziele!“ murmelte er lächelnd. „Das ist der Name der Engländerin.“
Er zog seinen Oberrock aus, so daß er im schwarzen Fracke erschien. Auf der weißen, gestickten Atlasweste erglänzte ein Uhrgehänge von schwerem Golde. Auf dem Busenstreifen flimmerte ein Diamant. Nachdem er das Zeichen mit der Glocke gegeben, öffnete Meta die Thür.
„Madame Lindsor?“
„Sie befindet sich in ihrem Zimmer. Wen habe ich die Ehre anzumelden?“
Der Fremde überreichte eine Karte, mit der sich die Kammerfrau entfernte. Gleich darauf kam sie zurück und führte den Besuch in das Empfangszimmer. Mit prüfenden Blicken betrachtete er das Meublement. Wie festgebannt blieb er vor einem Oelgemälde stehen, das Josephinen vorstellte.
„Wenn dies ihr Bild wäre!“ flüsterte er überrascht. „Bei meiner Ehre, das sind die Züge eines Engels! Hat der Maler nicht geschmeichelt, so muß ich bekennen, daß ich nie ein reizenderes Frauenantlitz sah. Süperb, süperb, bei meiner Ehre!“
Jetzt trat Josephine ein. Hatte den Fremden das Portrait schon in Entzücken versetzt, so erfüllte der Anblick des Originals ihn mit einer Begeisterung, daß er fast die üblichen Formen der Begrüßung vergaß. Die junge Frau schien den Eindruck, den sie ausübte, mit großem Wohlgefallen zu bemerken. Sie verneigte sich lächelnd, indem sie verschämt flüsterte:
„Der Herr Major von Wildau bereitet mir eine Ueberraschung, auf die ich seit Wochen schon nicht mehr gerechnet habe!“
Der Angeredete vergaß jetzt vor Schrecken die schuldige Verbeugung.
„Wie,“ fragte er, „sollte ich das Unglück haben, zu spät zu kommen?“
„Sie sehen mich in diesem Augenblicke zum ersten Male, mein Herr – und schon sprechen Sie von einem Unglücke, wenn der muthmaßliche Zweck Ihres Besuchs ein verfehlter sein sollte. So schmeichelhaft dies für mich ist, so muß ich es dennoch für ein Kompliment halten –“
„Das ich Ihnen aus voller Seele zolle, Madame!“ sagte der Major, indem er ihre Hand ergriff, und mit dem Anstande eines Cavaliers einen Kuß darauf drückte. „Wir kennen Beide den Zweck unserer Zusammenkunft – wenn das erste Erblicken meiner Person nur einen halb so günstigen Eindruck auf Sie ausgeübt, wie jenes Portrait auf mich, so bedarf es nur noch der Besprechung von Nebenumständen, und wir sind am Ziele.“
Josephine erröthete, und entzog sanft ihre Hand der des Majors, der sie in der seinigen fest zu halten suchte.
„Verzeihung, mein Herr,“ sagte sie, „es ist mir unmöglich, sofort eine so wichtige Erklärung abzugeben. Ich bitte, nehmen Sie Platz!“
Beide saßen aus dem Sopha.
„Madame,“ begann der Major, „Freimüthigkeit ist von jeher eine der Tugenden gewesen, die ich am Höchsten achte, und deshalb habe ich mich bestrebt, sie stets zu üben. Erlauben Sie mir, daß ich auch Ihnen gegenüber, wo es sich um eine wichtige Angelegenheit handelt, frei und offen sage, was ich fühle und denke.“
„Ich bitte darum, mein Herr, denn Sie haben dasselbe von mir zu erwarten.“
„Gut; bevor ich jedoch beginne, muß ich wissen, ob mein freimüthiges Bekenntniß am rechten Orte ist.“
„Was heißt das?“
Der Major ergriff abermals ihre Hand und flüsterte mit einem zärtlichen Lächeln:
„Sollte ich das Unglück gehabt haben, bei meinem ersten Erscheinen keinen günstigen Eindruck auf Sie ausgeübt zu haben, so wären alle weiteren Erörterungen unnütz.“
Josephine erröthete.
„Ich würde Sie wahrlich nicht veranlaßt haben,“ flüsterte sie gesenkten Blicks, „mir Eröffnungen zu machen, wenn sie für mich nicht von großem Interesse wären.“
„Wahrhaftig?“
„Ich versichere es bei meiner Frauenehre!“
„Nun, so versichere ich als Soldat und Edelmann, daß mir in der Welt nichts wünschenswerther erscheint, als Ihnen mein ganzes künftiges Leben zu widmen.“
Die junge Frau nahm diese Versicherung mit einer stummen Verneigung an.
„Nun, so kann ich beginnen!“ rief der entzückte Major. „Ich bin neunundvierzig Jahre alt, erfreue mich einer kernfesten Gesundheit, und besitze in Pommern ein Rittergut, das mir einen Reinertrag von jährlich zwölftausend Thalern liefert. Sie sehen, es ist alles vorhanden, was ein anständiger Haushalt erfordert. Vor fünf Jahren verließ ich den Dienst in der königlichen Armee, weil mir meine zu große Offenheit unter den höhern Vorgesetzten Feinde zugezogen hatte. Von jener Zeit an verwalte ich mein Gut selbst, und ich bereue, daß ich nicht schon früher auf diesen klugen Gedanken gekommen bin. In mir sehen Sie den einzigen Wildau, und außer einem erzliederlichen Vetter von mütterlicher Seite besitze ich keine Verwandte. Wenn ich nun so mein herrliches Gut betrachtete, wenn ich den Segen sah, der sich täglich mehrte, so stieg in mir der Gedanke auf: für wen schaffst du denn eigentlich? Wer genießt denn wohl die Früchte deines Schweißes, die je größer werden, je länger du arbeitest? Ah, dachte ich, wie schön muß das sein, wenn du die Gewißheit hast, du sammelst für deine eigenen Kinder, du kannst ruhig sterben ohne zu fürchten, dein Werk geräth in unwürdige Hände. Da dachte ich zum ersten Mal an’s Heirathen. Bei meinem abgeschiedenen Leben hatte ich wenig Bekannte, und bei ihnen klopfte ich als Freier an. Den Aeltern war der reiche Rittergutsbesitzer schon recht; aber den zarten Fräulein – wie rümpften sie die Nase bei meiner Offenheit, die sie Grobheit nannten! Sie fühlten sich selbst beleidigt, als sie erfuhren, daß ich mich nur deshalb verheirathen wolle, um mir Erben zu erzeugen. Eine wollte aus reiner Liebe heirathen und geheirathet sein; die andere erklärte geradezu, daß sie zu gut sei, um ihr Leben an das eines Bauern zu ketten. Da wählte ich einen Weg, auf dem einer meiner Bekannten zu dem glücklichsten Ziele gelangt ist. Ich ließ ein Heirathsgesuch in die Zeitungen rücken und empfing poste restante die Antworten der betreffenden Damen. Es erfolgten drei, aber ich bekenne offen, daß ich in Madame Lindsor die Lebensgefährtin gefunden habe, wie ich sie mir nur immer wünschen mag.“
„Sie sind ein Edelmann, Herr Major, und ich bin von bürgerlicher Geburt.“
„In dem letzten Briefe, Madame, haben Sie mir bereits Ihre Verhältnisse mitgetheilt; ich habe sie erwogen, und würde jetzt, nachdem ich das Glück gehabt, Sie zu sehen, jede Standesrücksicht unbeachtet lassen, wenn ich sie anders noch hegte.“
„Konnte ich auch einen solchen Erfolg nicht voraussehen,“ antwortete Josephine lächelnd, „so beantworte ich Ihr Gesuch dennoch aus dem Grunde, weil die in Ihrer Offerte angegebenen [445] Eigenschaften diejenigen sind, die mein zweiter Mann besitzen muß. Die zweite Wahl ist ungleich schwerer zu treffen als die erste, weil der Verstand die entscheidende Stimme hat. So mancher junge und reiche Bewerber hat sich mir vorgestellt –“
„O, ich glaube Ihnen, Madame!“
„Aber es war keiner unter ihnen, den mein Verstand billigte. Ich behaupte, daß ein in dieser Beziehung begangener Fehler nie wieder gut zu machen ist.“
„Ganz meine Ansicht!“
„Man muß an das reifere Alter denken.“
„Ganz recht!“
„Gegenseitige Achtung bildet die Basis einer glücklichen Ehe.“
„Ganz mein Grundsatz!“
„Und eine innige Freundschaft wird durch Runzeln und weiße Haare nicht beeinträchtigt.“
„Madame, das Schicksal hat zwei Menschen zusammengeführt, die für einander bestimmt sind!“ rief feurig der Major. „Ich biete Ihnen Herz, Hand und Vermögen an!“
„Ich würde eine Unredlichkeit begehen, wollte ich Sie in diesem Augenblicke durch ein Versprechen binden.“
„Wie?“
„Der Mann, dem ich für immer angehöre, darf mich nicht oberflächlich beurtheilen, er soll mich nach einer nähern Kenntniß schätzen und achten. Ich müßte jetzt schon in Ihren Augen verlieren, wollte ich durch Ihren mir so außerordentlich schmeichelhaften Eifer gewinnen.“
„Wohlan, ich bleibe eine Zeit lang in Leipzig, und wenn ich abreise, glaube ich die Gewißheit mit mir nehmen zu können, daß mir mein Heirathsgesuch eine schätzenswerthe und liebenswürdige Gattin verschafft hat.“
Der Major von Wildau hatte Josephinen ein ziemlich getreues Bild von seiner Person entworfen, und wenn er ihr den eigentlichen Grund seiner beabsichtigten Heirath verschwiegen, so glaubte er dadurch nur eine List auszuüben, um sich desto sicherer in den Besitz der Frau zu setzen, in die er sich während der kurzen Unterredung bis über die Ohren verliebt hatte. Madame Lindsor bezeichnete ihm nun die Stunden, in denen sie für ihn zu sprechen sei. Es war genau die Zeit, die Philipp zu seinen Arbeiten zu verwenden pflegte. Sie bat ihn, das angeknüpfte Verhältniß sehr geheim zu halten und bei seinen Besuchen sehr vorsichtig zu sein, damit sie der Medisance nicht preisgegeben würde, wenn er sich nach näherer Bekanntschaft bewogen finden sollte, zurückzutreten. Der Major, ein in seinen Entschlüssen rascher und consequenter Mann, sagte zwar nicht, daß er einen Rücktritt kaum für möglich halte, aber er dachte es. Ueber die Vermögensverhältnisse weigerte er sich zu verhandeln, da er der Mann sei, seiner Frau eine Subsistenz zu sichern. Er ging, und miethete sich in seinem Hotel ein Zimmer auf vier Wochen.
Kaum hatte Meta die Thür hinter ihm verschlossen, als sie zu ihrer Herrin eilte.
„War das der bewußte Heirathskandidat, Madame?“ fragte sie lachend.
„Ja, Meta!“
Er drückte mir einen Louisd’or in die Hand, als er schied. Seine Hand zitterte und sein Gesicht glühete vor Aufregung. Das sind Zeichen, die auf das Gelingen Ihres Plans schließen lassen.“
„Und dennoch glaube ich,“ sagte Josephine lächelnd, „daß dem Manne schwer beizukommen sein wird.“
„Sie sind schon Siegerin, Madame.“
„Gott gebe es, denn die Folgen einer Niederlage würden nicht wieder auszugleichen sein. Sei klug und verschwiegen, Meta, Du kannst Dich meiner Dankbarkeit versichert halten.“
„Ich werde meine Rolle schon spielen, Madame!“
Am Abend kam Philipp. Er schützte eine leichte Unpäßlichkeit vor, um seinen Gemüthszustand zu verbergen. Die junge Frau war ganz Aufmerksamkeit, ganz Zärtlichkeit und Bedauern. Sie sprach unverholen ihren Unmuth darüber aus, daß es ihr nicht vergönnt sei, ihm stets ihre Pflege widmen zu können.
„Was hindert uns, Josephine, die lästige Fessel zu brechen?“ fragte er. „Mir will es fast scheinen, als ob wir die Sclaven eines Vorurtheils wären.“
„Ist der Begriff von Ehre ein Vorurtheil?“ fragte sie ernst. „Philipp, Du bist von Herzen gut, aber schwanke nicht in Deinem Entschlusse. Die Welt ist einmal, wie sie ist, und wenn wir uns den Verhältnissen jetzt fügen, so sind wir dafür später in jeder Beziehung unabhängig. Ich fürchte mich nicht, mit Dir ein eingeschränktes Leben zu führen; aber ich fürchte den Reichthum, der uns nicht gebührt.“
„Nun, Josephine,“ rief Philipp, „auch ich leiste Verzicht auf ich will selbst nicht einmal hoffen, daß uns je ein rechtmäßiges Vermögen zufällt – der Versuch, meine literarischen Arbeiten zu verwerthen, ist geglückt, ich kann und will arbeiten, Josephine; aber schmälere mir nicht länger das Glück meines Herzens, zwinge mich nicht zu einem Raube an meiner Liebe! Warum wollen wir nicht gleich ein Leben beginnen, das uns im schlimmsten Falle bestimmt ist, das wir selbst erwählt haben?“
„Ach,“ seufzte die reizende Frau, „das ist auch mein innigster Wunsch, aber leider muß ich aus gebieterischen Rücksichten auf die Erfüllung desselben verzichten. Verzeihe mir, iieber Freund, daß ich in unserm eigenen Interesse mit ruhigem Verstande erwäge. Jetzt sind wir noch jung, und unsere Liebe genügt, uns glücklich zu machen. Wir haben nur für uns zu sorgen, und darben wir, so finden wir Ersatz in unserer Liebe. Aber bald schwinden diese poetischen Genüsse, unsere Empfindungen werden ruhiger, und das materielle Element des Lebens verscheucht die Poesie. Dieser Wandlung, Philipp, sind wir Alle unterworfen, sie ist ein Gesetz der Natur, dem sich kein Sterblicher entziehen kann. Es wäre eine große Unklugheit, wollten wir die Mittel unbeachtet lassen, die sich uns zur Milderung dieses bestimmt eintretenden Umstandes darbieten. Und dazu rechne ich meine Erbschaftsangelegenheit. Erfüllen sich meine Erwartungen nicht, nun, so habe ich mir später den Vorwurf nicht zu machen, daß ich etwas versäumt habe.“
„Josephine, auch diesen Grund lasse ich nicht gelten, denn er ist zu ängstlich! ich hege das feste Vertrauen, daß ich durch meine Arbeit die Sorgen verscheuche. Glaube mir, ich habe den Muth, diese Verpflichtung zu übernehmen, und Du, meine Gattin, wirst ihn aufrecht zu erhalten wissen.“
„Ja, Philipp, das wird mein Bestreben sein, weil es meine Pflicht ist. Ich weiß, wozu ich als Deine Gattin verbunden bin.“
„Und Du zögerst noch?“ fragte schmerzlich der junge Mann.
„Weil ich es ebenfalls für Pflicht erachte. Du giebst großmüthig Dein Vermögen hin –“
„Ich entbinde Dich von dieser Pflicht! Ich will ja nur Dich, Josephine, nur Dich!“
Sie schmiegte sich an ihn und flüsterte:
„Philipp, habe ich nur Pflichten gegen Dich allein zu erfüllen?“
Der junge Mann stutzte; sein Argwohn erwachte wieder, und er fragte mit leise bebender Stimme:
„Josephine, sollte es inder Welt außer mir einen Sterblichen geben, der Ansprüche – –“
„Noch nicht!“ fuhr sie leiser fort, indem sie ihren Arm um seinen Nacken schlang. „Philipp,“ flüsterte sie erröthend, und indem sie ihren rosigen Mund an seine heiße Wange legte – „wir werden bald nicht mehr allein sein! Es kommt eine Zeit, wo mir ein drittes Wesen Pflichten auferlegt, und von diesen kannst Du mich nicht entbinden.“
Zwei große Thränen rannen über ihre Wangen, und fester drückte sie den Gatten an sich, der den Sturm von wunderbaren Empfindungen in seiner Brust kaum noch verschließen konnte. Einige Augenblicke stummen, süßen Entzückens folgten. Dann sank Philipp vor ihr nieder, und bedeckte ihre kleinen Hände mit Küssen und Thränen. Es drängte ihn, seinen Argwohn zu bekennen und um Verzeihung zu bitten; aber ihm fehlte der Muth, das herrliche Wesen in diesem Augenblick zu kränken, wo sie ihm ein so süßes, beglückendes Geständniß abgelegt hatte. Alle Zweifel waren verschwunden, und Philipp gelobte sich im Stillen, das Glück zu verdienen, das ihm seine Gattin gewährte.
„Begreifst Du mich nun?“ fragte sie verschämt, und sich zu ihm hinneigend.
„Ich folge Dir blindlings!“ rief der berauschte Philipp. „Bin ich schwach, so bin ich es aus Liebe zu Dir, darum sorge für mich und – –“
„Unser Kind!“ flüsterte sie ihm ganz leise in das Ohr.
Es war spät, als Philipp seine Wohnung betrat. Er konnte nicht schlafen, sein Glück beschäftigte ihn zu sehr, und im Angesichte desselben schämte er sich seiner Eifersucht. Er wollte keinen Verdacht hegen, denn er sagte sich, daß der Verdacht gegen eine Frau ein Verbrechen an der Liebe sei. Und sie war ja seine Gattin. [446] Nachdem er eine Stunde auf und abgegangen war, erschloß er seinen Secretär, legte Papiere in ein Portefeuille zusammen, und suchte mit dem festen Vorsatze sein Bett, morgen die Angelegenheiten mit dem Herrn von Bornstedt zu Ende zu bringen. Es erschien ihm selbst als keine schwere Aufgabe, dem alten Manne unumwunden die Motive seiner Handlung darzulegen. Philipp schlief endlich ein, um von dem Glücke zu träumen, das er von der Zukunft zu erwarten berechtigt war.
Gegen Mittag des nächsten Tages, ehe Philipp zu Josephinen ging, zog er die Klingel an des Magisters Thür. Elias öffnete, wie gewöhnlich. Auf Befragen antwortete er, daß Herr von Bornstedt zwar zu Hause, aber nicht allein sei.
„Wer ist bei ihm?“
„Der blonde junge Mann, der Ihnen neulich auf der Treppe begegnete. Ich glaube, er wartet auf Fräulein Anna, die mit meiner Frau ausgegangen ist, um Material zur Arbeit einzukaufen.“
„Auf Fräulein von Bornstedt wartet er?“ fragte Philipp, dem es lieb war einigen Aufschluß über ihn zu erlangen.
Der kleine Mann nickte lächelnd mit dem Kopfe. dann forderte er Philipp auf, einen Augenblick in das Zimmer zu treten.
„Sie meinen es gut mit der Familie, ich weiß es,“ begann Elias, „und deshalb hätte ich Ihnen gern eine bessere Nachricht in Bezug auf das Fräulein mitgetheilt.“
„Was wollen Sie sagen?“ fragte Philipp verwundert.
„Zunächst muß ich eine irrige Ansicht berichtigen. Ich sagte Ihnen, daß ich Gründe hätte zu glauben, jener blonde Herr sei der Liebhaber der Madame Lindsor.“
„So sagten Sie.“
„Er ist es nicht.“
„Und das wissen Sie genau?“
„Urtheilen Sie selbst. Gestern Abend, es war schon dunkel, komme ich aus der Druckerei. Ich bleibe unten auf der stockfinstern Hausflur stehen, um meinen kleinen Wachsstock anzuzünden, damit ich die steilen Treppen besser ersteigen kann. Während ich nach der Zündholzbüchse in meiner Tasche suche, treten auf einmal zwei Gestalten von der Straße herein. Ich bin Menschenbeobachter, lieber Herr, und lasse nicht gern eine Gelegenheit vorbeigehen, die mich belehren kann. So drücke ich mich in einen Winkel und lausche. Gleich an den ersten Worten erkannte ich unsern jungen Mann, und an dem folgenden Fräulein Anna. Das war eine Zärtlichkeit, ein Herzen und ein Küssen, wie ich es in einer Novelle nicht besser beschreiben kann. Für mich als Novellisten war dies eine kostbare Studie. Ach, seufzte Anna, hätten wir nur unser Vermögen noch, Du solltest nicht um elenden Lohn bei einem Advokaten schreiben, lieber Bernhard! – Was würdest Du thun, fragte Bernhard, wenn Dein Vater plötzlich sein ganzes Vermögen wieder erhielte? – Dann würde ich Dir gestatten, um meine Hand anzuhalten. – Wahrhaftig, Anna, Du verschmähst in diesem Falle den armen Schreiber nicht? – Ich würde ihm meine ganze Mitgift zur Verfügung stellen; so aber muß ich noch eine Zeit lang warten, denn es macht dem Vater Kummer, wenn er sieht, daß er meine Wünsche nicht erfüllen kann. – Anna, sagte Bernhard, warte noch einige Tage, und man bringt Deinem Vater das ihm gestohlene Vermögen in das Haus.“
„Wie!“ rief der erstaunte Philipp, „das sagte jener Mensch?“
„Ich habe es deutlich gehört; mir ist keine Silbe entgangen. Der junge Mann scheint mir ein großer Schwärmer zu sein, daß er von Dingen spricht, die in das Gebiet der Fabel gehören. Und so nahm es auch Anna, denn sie rieth ihrem Geliebten, sich eine einträglichere Stelle zu suchen. Dann schieden sie mit dem Versprechen, sich diesen Abend wiederzusehen. Das Fräulein sprang die Treppe hinauf, und ich folgte einige Augenblicke später nach.“
Dem armen Philipp wirbelte der Kopf. Jener Bernhard, dem er den Weg zu Josephine gezeigt, verrieth ein Geheimniß, das nur er und seine Gattin wußten. Was sollte er von ihrer Großmuth denken? Warum stachelte sie seine Ehre an und trieb ihn, das Vergehen seines Vaters auszugleichen? Er wollte keinen Verdacht hegen, und dennoch drängte er sich ihm gewaltsam auf.
„Sie sind traurig, lieber Herr“, unterbrach Elias sein Nachsinnen. „Ach ja, es ist Schade, daß Anna sich schon so weit eingelassen hat, es wäre eine Frau für Sie gewesen. Ich hätte sie Ihnen von Herzen gewünscht. Wüßte ich nur ein Mittel,“ sagte Elias halb in Gedanken und indem er sich mit der Hand die Stirn rieb, „Sie schadlos zu halten, ich hätte Sie so gern zum Helden meiner Novelle gehabt. Da habe ich schon an Madame Lindsor gedacht, die eine junge, reiche und schöne Wittwe ist – aber das geht auch nicht, die hat ebenfalls schon ihren Theil. Die Geschichte hat sich seit gestern so verwirrt, daß ich den ganzen Plan noch einmal umarbeiten muß.“
„Was sprechen Sie von Madame Lindsor?“ fragte Philipp, der Alles für einen Traum hielt.
Der Magister fuhr erschreckt zurück als er Philipp’s aufgeregte Züge sah.
„Ich kenne die Dame nicht, ich habe nur von ihr gehört, daß sie eine ausgezeichnete Frau ist, die sich nächstens mit einem steinreichen, schon ziemlich bejahrten Herrn verheirathen wird“, sagte Elias.
Der junge Mann sah den alten verschrobenen Novellenschreiber mitleidig lächelnd an.
„Sie haben sich wieder tief in die Romantik versenkt, Herr Magister,“ sagte er. „Wollen Sie denn durchaus, daß Madame Lindsor sich wieder verheirathen soll? Sie verwechseln Fiction mit Wahrheit dergestalt, daß man versucht wäre zu glauben –“
„Ach ja, mir schwindelt auch mitunter der Kopf! Indeß bei dieser Arbeit wird meine erschöpfte Phantasie kräftig unterstützt. Madame Lindsor wird sich im Ernste verheirathen. Ja, wir Poeten kommen hinter seltsame Geheimnisse! Dann und wann kündige ich im hiesigen Tageblatte an, daß ich poetische und prosaische Aufsätze gut und billig fertige – da kam diesen Morgen schon ein großer stattlicher Herr mit einem schwarzen Barte, und gab mir den Auftrag, ein Akrostichon zu fertigen. Das Gedicht, sagte er, solle zärtlich und geistreich sein, denn er habe es für seine Braut bestimmt, die er nächstens heirathen werde. Und nun rathen Sie, welche Namen er mir angegeben hat. Josephine Lindsor!“
Das war zu viel. Hätte ihn der Gedanke an das verrathene Geheimniß seines Vermögens nicht abgehalten, er würde in ein lautes Lachen ausgebrochen sein, Er ließ sich nun den Mann, der das Gedicht bestellt hatte, beschreiben.
„Wann will er die Verse abholen?“
„In einigen Tagen; das Hochzeitsgedicht soll ich ebenfalls anfertigen. Als ich ihn fragte, ob er einen besondern Gedanken ausgesprochen zu haben wünschte, gab er mir zu erkennen, daß das überaus glückliche Verhältniß durch ein Heirathsgesuch in der Zeitung entstanden sei, und ich solle darauf anspielen. Weiter weiß ich nichts.“
Philipp hielt es für gut, sich seiner Papiere noch nicht zu entäußern. Er bat den Magister, über den Heirathskandidaten Näheres zu erforschen und es ihm mitzutheilen.
„Der Mann ist ein Narr,“ sagte er unwillkürlich hinzu „es kann Madame Lindsor nicht einfallen, sich zu verheirathen. Sie leisten mir und der Dame einen Dienst, wenn Sie dafür sorgen, daß diese Geschichte, die entweder Dummheit oder Bösartigkeit erfunden hat, nicht weiter verbreitet werde.“
Philipp verließ den verwunderten Magister. Er suchte den einsamsten Theil der Promenade auf. Seine Lage war entweder eine sehr komische oder eine sehr ernste, Er wunderte sich zwar nicht darüber, daß Josephine Heirathsgelüste erregte, und es war natürlich, daß Annäherungsversuche nicht ausbleiben würden, was aber konnte den jungen Mann zu ihr führen, der Anna’s Geliebter war und die Rückerstattung des Vermögens in Aussicht gestellt hatte? Warum hatte man einstimmig und in einem so frostigen Tone den Besuch der Soirée abgelehnt? Das Resultat seines Nachsinnens war die Ansicht, daß man Josephine’s heimliche Ehe vermuthe, und aus Neid Intriguen spinne, um ihr zu schaden. Die Beschuldigung einer Bigamie war zu plump, als daß er ihr Glauben schenken konnte. Philipp beschloß, im Stillen zu forschen, seiner Gattin nach und nach die herrschenden Gerüchte mitzutheilen, und sie endlich zur Abreise zu bewegen. Dem poetischen Bewerber wollte er je nach Umständen eine heilsame Lection ertheilen.
Goethe’s Aeltern.
So kurz und treffend bezeichnet Goethe seine Aeltern und den Einfluß, den dieselben auf ihn gehabt haben; den Vater, den am 31. Juli 1710 geborenen und am 27. Mai 1782 gestorbenen kaiserlichen Resident und Rath, Johann Kasper Goethe, Dr. jur., schildert am Treffendsten Lavater in seinen psychologischen Fragmenten, indem er dessen Bild mit den Worten giebt: „Das Bild des vortrefflich geschickreichen, Alles wohl ordnenden, bedächtiglich und klug anstellenden, aber auf keinen Funken dichterischen Genies Anspruch machenden Mannes.“
Goethe’s Vater war eine Erscheinung echt deutscher Art der sogenannten „alten guten Zeit"; eine Erscheinung specifisch hervorgewachsen aus dem Boden der alten, freien Reichsstadt Frankfurt, mit den nur ihr gehörenden bedingenden Elementen. Den Grund seiner gelehrten Bildung hatte er auf dem damals berühmten Coburger Gymnasium gelegt; in Regensburg, Gießen und Wetzlar weitumfassend Jurisprudenz studirt, und auf großen Reisen durch Deutschland, Holland, Frankreich und Italien weite Anschauungen von Völker-, Wissenschafts- und Kunstverkehr gewonnen; dazu reiche Sammlungen gelehrter Werke, Gemälde, Zeichnungen, Radirungen, Statuen, Gypsabgüsse, Marmore, Gefäße u. dgl. – Er gab große Summen dafür aus, die einzelnen Fächer seiner Bibliothek in durchaus gleicher Form aufstellen zu können, natürlich auch in demselben Einband; die Gemälde hatten alle gleichen Rahmen, die Zeichnungen gleiche Einfassung; dabei hatte er aber keine Vorliebe für alte Gemälde, sondern er meinte, es sei nothwendiger, die lebenden Künstler zu beschäftigen, und so war wohl kein mitlebender Künstler seiner Vaterstadt, der nicht Bestellungen von ihm empfing. Er liebte aber die Gemälde auf tüchtigen Eichenbrettern mehr, als die auf der „leichtsinnigen Leinewand;“ zu dem Zwecke hatte er stets eine Anzahl besonders guter Bohlen in petto, und es kam nicht selten vor, daß er ein weniger gutes Bild auf der deutschen Eiche lieber hatte, als ein besseres auf holländischer Leinewand, so sehr er auch auf Holland große Stücke hielt. Dies aber noch weit mehr auf Italien, das ihm – mit Ausnahme der Gasthäuser – das Land aller Länder und der einzige Gegenstand war, bei dem der sonst sehr lakonische Mann redselig wurde.
Aus Italien zurückgekommen, bot er sich seiner Vaterstadt zu einem Dienste ohne Besoldung und Belohnung an, doch unter der Bedingung, daß man ihn ohne Ballotage erwähle; da dies nach alten Normen nicht zugelassen wurde, verschwor er ein für allemal jeglichen Dienst für seine Vaterstadt, ließ sich vom deutschen Kaiser zum Rath machen, vergrub sich noch tiefer in seine gelehrten und künstlerischen Studien, in seine Schrullen und Sonderbarkeiten, und konnte sich erst in seinem 39sten Jahre entschließen, eine Tochter der Stadt zu heirathen. Das mußte denn aber auch eine der Ersten sein, und so vermählte er sich am 31. Juli 1748 mit der siebzehnjährigen Katharina Elisabeth, der dritten Tochter des wirklichen kaiserlichen Rathes, Stadt- und Gerichtsschultheißen, Johann Wolfgang Textor.
Alle seine Eigenthümlichkeiten trug er nun in „Handhabung“ seines Ehelebens und namentlich seiner Kindererziehung über. Er hatte ein ebenso großes Mißtrauen in die Schulen, als Vertrauen zu sich selbst, und wurde daher auch der Lehrer seiner Kinder; dies nach einem Erziehungs- und Unterrichtskalender, der so strenge festgehalten wurde, daß, wenn durch Krankheit und andere Zufälligkeiten Stunden und Aufgaben ausgefallen [448] waren, dieselben stets wieder nachgeholt werden mußten. Alles was ihm Freude machte, was er konnte, sollte auch Andern Freude machen, sollten auch Andere können, und so stopfte er in die jungen Gemüther eine Unmasse Stoff hinein; dies aber auch mit einer werkwürdigen Gabe: Alles lebendig, anschaulich und gegenständlich zu machen und auf das thatsächliche Leben zu beziehen. Um auch selbst den Zeichnenunterricht leiten und überwachen zu können, lernte er noch als Fünfziger diese Kunst, mit unermüdlicher Geduld ganze Sammlungen Blatt für Blatt copirend. Die Zeichnungen des Sohnes zog er selbst auf, umgab sie mit Linien und ließ in manche noch die Perspectivlinien von geübter Hand nachzeichnen. Musik mußt ihm fleißig getrieben werden, er begleitete dazu auf der Flöte. Das Italienische lernten die Kinder fast wie ihr Deutsch, und beim Tanzunterricht verschmähte er nicht, mit ungemeiner Würde selbst vorzutanzen. Daneben wurden die Kinder noch schrecklich geqält mit des Vaters leidenschaftlicher Liebe zur Seidenzucht, die er im eigenen Hause betrieb. Eine gründliche Verachtung hatte der Vater gegen die Fucht, und um dieselbe den Kindern zu vertreiben, wenn sie allein in ihr dunkles, einsames Schlafzimmer mußten, erschien er ihnen oft plötzlich mit umgewandtem Schlafrock und drohender Stimme, wodurch die Armen dann erst recht in Furcht kamen.
Seine Begeisterung für Friedrich II. war ebenso groß, als sein Haß und seine Verachtung gegen die Franzosen, und er ließ Beiden mit starrer Unerbittlichkeit auch dann freien Lauf, als der französische General Thorane, der Königslieutenant, bei ihm einquartirt war, wodurch er in höchst schwierige, ja einmal lebensbedrohende, Conflicte gerieth, ohne aber auch dabei sich zu verleugnen.
Seine Ruhe in Gefahr war eben so groß, als sein Jähzorn in Momenten der Erregung, und wir sehen ihn bei einem so furchtbaren Gewitter, wie es vielleicht in Frankfurt je erlebt wurde, wo Frauen und Kinder betend und heulend auf den Straßen lagen und Männer flüchteten, ganz ruhig die noch nicht zerschlagenen Fenster und Spiegel ausheben und abnehmen. – Gründlich verachtete er auch das Kartenspiel; noch mehr die Gasthäuser; er wünschte deshalb die alte, gute Zeit mit den Hospitälern zurück und schenkte – namentlich reisenden Künstlern, Gelehrten und Virtuosen – die lieberalste Gastfreundschaft. Dagegen war er förmlich knauserig bei Ausflügen zu Landparthien, wobei er selten etwas verzehren ließ. Durchaus praktisch, mußten seine Bedienten zugleich Schneider sein, und für ihn und den Sohn die Kleider machen; dies aber auch stets vom feinsten Tuche, das er stets in reicher Auswahl vorräthig hatte. – Die Poesie war ihm ein hoher Kultus; doch so verhaßt die ungereimte Poesie, daß Klopstock’s Werke ihm nie vor die Augen kommen durften, und es heftige Scenen gab, als er entdeckte, daß dieselben in seinem Hause heimlich gelesen wurden, in Manchem auswendig gelernt waren.
Des Sohnes steigender Ruhm machte ihn selig und stolz, doch hätte er auch gleichzeitig einen tüchtigen Juristen in ihm gewünscht. Die höchste Bezeichnung, die er dem ruhmgekrönten Sohne gab, war die eines „singularen“ Menschen, wobei er aber auch behauptete: „Wenn ich Deine Talente gehabt hätte, ich würde ganz anders damit gewirthschaftet haben.“
Wie er, bei aller Gottesfürchtigkeit, die Priester im Ganzen nicht liebte, und sie wohl „schwarze Männer mit weißen Krägen“ nannte, so auch, bei allem Respekt vor Hoheit und Würde, die Fürsten nicht; er traute ihnen besonders keine Aufrichtigkeit und keine wahre Liebe zum Bürgerstande zu; er war daher auch schwer zu bewegen, den Sohn nach Weimar ziehen zu lassen, doch freute er sich unendlich, als derselbe von dort aus mit seinem großartigen Fürsten zuerst die Vaterstadt wieder besuchte, und er nun den fürstlichen Herrn und den fürstlichen Dichter mit Pracht und Glanz bewirthen durfte.
Kurz nach dem Tode des alten Rathes schrieb Herzog Karl August in seiner resoluten Manier an Merk: „Goethe’s Vater ist nun abgestrichen und die Mutter kann nun endlich Ruhe schöpfen“ und er setzte dann noch hinzu, daß dies wohl der einzige gescheidte Streich gewesen wäre, den der Alte in seinem Leben gemacht habe.
Man darf aber in dieser Aueßerung den edlen Karl August nicht verkennen; sie kam weniger aus Lieblosigkeit gegen den Vater, als aus Liebe und Verehrung für die Mutter, „die Frau Rath“ oder „Frau Aja“, die von den Höchsten und Edelsten ihrer Zeit geliebt und verehrt wurde. Wieland schreibt von ihr: „sie ist die Königin aller Weiber, die Herz und Sinnen des Verständnisses haben.“ – Dem Herzog Karl August scheint sie „eine Glorie um ihre alte Mütze zu tragen.“ Könige und Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen besuchen sie, wohnen bei ihr, fahren mit ihr in’s Theater, schnupfen mit ihr aus einer Dose, backen mit ihr Eierkuchen, pumpen Wasser mit ihr am Brunnen, daß die Oberhofmeisterinnen hinzu treten und Einhalt thun müssen. Sie ist der Schirm und Hort aller Dichter und Künstler, gleichsam die „Herbergsmutter“ der schönsten und edelsten Geister ihrer Zeit; mochte das nun der Poesie und Kunst, ober Würsten, Wein, Strümpfen und Bratenwendern gelten.
Bettina von Arnim hat ihr das schönste und charakteristische Denkmal gesetzt. Sie selbst hat ein solches hinterlassen in vielfachen Briefen. Hören wir sie selbst, wie sie z. B. an die Herzogin von Weimar schreibt:
„Am 11. April 1779. Durchlauchtigste Fürstin! Bei uns ist’s Messe!!! Weitmäuligte Laffen feilschen und gaffen, gaffen und kaufen. Bestienhaufen, Kinder und Fratzen, Affen und Katzen u. s. w. – Doch mit Respekt geredt, Frau Aja! Madame La Roche ist auch da!!! Theuerste Fürstin! Könnte Doctor Wolf (Goethe), den Tochtermann sehen, den die Verfasserin der „Sternheim“ ihrer zweite Tochter aufhängen will; so würde er nach seiner sonst löblichen Gewohnheit mit den Zähnen knirschen und ganz gottlos fluchen. Gestern stellte sich mir das Ungeheuer vor – Großer Gott!!! wenn mich der zur Königin der Erden (Amerika mit eingeschlossen) machen wollte; so – ja so – gebe ich ihm einen Korb. Er sieht aus – wie der Teufel in der siebenten Bitte in Luther’s kleinem Katechismus – ist so dumm wie ein Heupferd, und zu allem seinen Unglück ist er Hofrath. Wenn ich von all’ dem Zeug was begreife, so will ich zur Auster werden.“
Vom 1. März 1783, aus der ersten Zeit ihrer Wittwenschaft: „Ich befinde mich, Gott sei Dank, gesund, vergnügt und fröhlichen Herzens, suche mir mein bischen Leben noch so angenehm zu machen als möglich. Doch liebe ich keine Freude, die mit Unruhe, Wirrwar und Unbequemlichkeit verknüpft ist. Denn die Ruhe liebte ich von jeher – und meinem Leichnam thue ich gar gern die ihm gebührende Ehre. Morgens besorge ich meine kleine Haushaltung, auch werden da Briefe geschrieben. Eine so lächerliche Correspondenz hat nicht leicht Jemand außer mir. Alle Monate räume ich mein Schreibpult auf, aber ohne Lachen kann ich das niemals thun. Es sieht darin aus wie im Himmel: alle Rangordnung aufgehoben – Hohe und Geringe, Fromme und Zöllner und Sünder – alles auf einem Haufen. Der Brief vom frommen Lavater liegt ganz ohne Groll beim Schauspieler Großmann. Nachmittags haben meine Freunde das Recht, mich zu besuchen, aber um vier Uhr muß Alles wieder fort. Dann kleide ich mich an – fahre entweder in’s Schauspiel oder mache Besuche, komme aber um neun Uhr wieder nach Hause.“
In ihr erstes Mädchenleben tritt eine ebenso sonderbare als mächtige Liebe, der sie durch ihr ganzes Leben mit rührender Pietät anhing, sie still im Herzen verbergend, und nur in tiefsten und trautesten Stunden bei den ihr Theuersten sie hervorholend aus dem heiligen Schrein: die Liebe zum jungen deutschen Kaiser Albrecht von Baiern, der im Jahre 1742 die Osterfeste in Frankfurt feierte. Um ihn eines Tages recht deutlich und lange sehen zu können, stieg sie auf einen Stuhl, stürzte herab und trug eine ernste Kniewunde davon; auch diese blieb bis zu ihrem Tode und beschleunigte denselbstn in erneutem, heftigem Aufbruche. –
Siebzehn Jahre alt, wurde sie verheirathet, und der jungen Mutter stand der Sohn im Alter näher als der Gatte; er wurde ihre Welt, ihr Himmel, ihr Alles; früher als bei andern Jünglingen ihr Freund, ihr Vertrauter; er verstand sie wie Niemand, und Niemand hat auch wohl ebenso den Knaben und Jüngling, dann den großen Dichter verstanden als sie; sie war ihm gegenüber Coriolan’s Volumnia in’s gute reichsstädtische Deutsch übertragen. Nannte Goethe die intimste Freundin der Mutter, das Fräulein von Klettenberg (siehe „Bekenntnisse einer schönen Seele“ in Wilhelm Meister) seinen „Rath,“ so nennt er dabei die Mutter als seine „That.“ – Und welch’ eine prächtige That war sie, als es nach Frankfurt strömte, um den durch „Götz,“ und „Werther“ rasch berühmt gewordenen Sohn zu sehen, zu hören und zu beschmausen. Da stellte sie sich das dar als die wirthschaftende Elisabeth im „Götz.“ Als die Grafen[WS 1] [449] Stollberge kamen, versetzte sie sich in’s Mittelalter, so als ob sie als Aja bei irgend einem Hofe des Orients angestellt sei; seit dieser Zeit blieb ihr der Name „Frau Aja.“ Goethe erzählt eine Scene aus der Anwesenheit der Grafen (im Auszug) also: „Die Grafen waren damals voll Ungestüm, und nach einer und der andern genossenen Flasche Wein kam der poetische Tyrannenhaß zum Vorschein, und man erwies sich lechzend nach dem Blute solcher Wütheriche. Um dies in’s Heitere zu wenden, verfügte sie sich in ihren Kellerm, wo ihr von den ältesten Weinen wohl unterhaltene große Fässer lagen, Jahrgänge 1706, 1719, 1726, 1748, von ihr selbst gepflegt und nur bei feierlich bedeutenden Gelegenheiten in Anspruch genommen. Mit diesem Gewächs erschien sie wieder vor den lautgewordenen Jünglingen und rief ihnen zu: „Hier ist das wahre Tyrannenblut! daran ergötzt Euch, aber alle Mordgedanken laßt mir aus dem Hause.“
Ihres Sohnes Abgang nach Weimar geschah mit durch ihre Vermittelung; aber sie selbst reisete erst dorthin, als nach dem Tode des Vaters der Sohn sie einlud. Sie führte ihr Haus und ihre Wirthschaft ganz in alter Weise fort bis 1794, wo sie Alles verkaufte und eine kleinere, aber freundlich-behaglicher Miethwohnung an der „Hauptwache“ bezog. – Im Jahr 1797 bekam sie Besuch von Goethe’s ehelicher Freundin, der viel genannten Vulpius, später erst Goethe’s Gemahlin. Es spricht wohl sehr für diese viel Geschmähte, daß die herrliche Frau Rath sie stets sehr gern und respektirt hatte; sie nannte sie in vielfacher Correspondenz ihre „liebe, liebe Tochter,“ und verstand ganz praktisch sicher, daß gerade diese Natur durchaus für ihren Sohn passe. Das ist wohl beachtenswerth. – Das Theater blieb ihr bis zum Tode eine Hauptleidenschaft, und die Matrone benahm sich darin als Hauptperson und wie zu Hause; dies als ganz natürlich angesehen von den Frankfurtern, die hier alle mögliche Huldigungen ihr darbrachten. Im Goethe-Zelter’schen Briefwechsel wird z. B. erzählt: „Es wurden Goethe’s „Geschwister“ gegen; das Haus war wegen der Hitze sehr leer. Da rief sie auf’s Theater: Herr Verdy, spielen Sie nur tüchtig, ich bin da, worauf Verdy und alle übrigen sehr gut, ja begeistert spielten.“ Als Alles vorüber war, schrie sie ganz laut: „Ich bedanke mich schön und will es auch meinem Sohn schreiben.“ Darauf fing sie eine Unterhaltung an, und das ganze Publikum hörte mit großer Aufmerksamkeit zu, bis die Frau Rath das Haus verlassen hatte.“
Gern möchten wir die außerordentliche Matrone noch begleiten durch die zwei letzte Jahre ihres Lebens, wo sie im Umgang mit dem wunderbaren Mädchen Bettina sich noch so recht in vollstem Glanze ihres Herzens und Geistes und im Phantastischen zeigte; wo die herrlichsten Lebens- und Herzensäußerungen von ihr ausgingen; gern noch schildern die rührende prächtige Scene, wo sie sich im reichsten Anzuge der berühmtesten Frau ihrer Zeit, der Frau von Staël, vorstellte mit den Worten! „Je suis la mère de Goethe!“ gern noch ausführlich erzählen, wie Tiek ihr als Dr. Gall vorgestellt wurde und sie ihm sogleich ihren weißen Kopf hinhielt, damit derselbe untersuchen sollte, was ihr Sohn von ihr habe; wie sie dann aber hell auflachte, angeführt zu sein; noch lieber möchten wir genau die wunderbare Ruhe und Heiterkeit beschreiben, mit der sie ihren Tod herannahen sah; doch der Raum geht zu Ende, wir müssen Abschied nehmen von der herrlichen Frau, wie sie nun auch Abschied nahm von der Erde. Am Morgen ihres Todestages, den 13. September 1808, war sie noch zu einer Gesellschaft eingeladen; da ließ sie wohlgemuth antworten: „Die Frau Rath kann nit kommen, sie hat alleweil zu sterben.“ – Nun ordnete sie ihr Leichenbegängniß auf’s Pünktlichste an; bestimmte den Wein und Kuchen, der bei ihrem Begräbniß gegeben werden sollte, gebot den Mägden, ja nicht zu wenig Rosinen in die Kuchen zu geben und meinte dabei: „Das konnt’ ich mein Lebtag nit leiden und würde mich noch im Grabe darüber ärgern.“ Sie starb in der Nacht; als die ächte „Frau Rath,“ als die wahre „Frau Aja,“ ruhig, weise, liebevoll, in alttestamentlicher Gottesfurcht, „voll Zuversicht auf den unwandelbaren Volks- und Familiengott.“
Wanderung durch Deutschland in London.
„Es wäre so weit ganz hübsch in London, wenn sich nur nicht immer noch zu viel Engländer unter uns herumtrieben," sagte einmal ein berliner Witzbold in einer londoner deutschen Kneipe, und zu mir ein ander Mal die Frau eines alten, pensionirten Policeman, die sich der „rein englischen Zeit“ noch erinnern konnte: „in hundert Jahren giebt’s keine Engländer mehr in England.“ Das scheint auch wirklich so. Die eigentlichen Engländer haben schon seit 780 Jahren nichts mehr zu sagen in England. Nachdem der normännische Wilhelm der Eroberer das Land den Angeln, Sachsen, Dänen u. s. w., die nach einander erobert und geherrscht, abgenommen und unter seine Ritter vertheilt hatte, herrschten diese bis heute, und wenn sie neuerdings von ihrer Herrlichkeit viel verloren haben und vielleicht noch mehr verlieren, gewinnen’s nicht die alten Anglo-Sachen oder eigentlichen Engländer, sondern die neuen Normannen oder Franzosen und die Deutschen. Wie leicht können die Franzosen einmal über Nacht herüberkommen, wieder bei Hastings, wie Wilhelm der Eroberer, landen, sich mit den dort in der Nähe lagernden 3000 Mann deutscher Fremdenlegion verbinden und die französisch-englische Alliance dadurch bekräftigen, daß sie England ganz in Frankreich aufgehen lassen! Soldaten mit Patriotismus, das Land zu vertheidigen, giebt’s ja nicht mehr, und die Engländer im Civil bewiesen dem Kaiser Napoleon im April so brennende, illuminirte Liebe und Verehrung, daß er vielleicht schon damals außer den Leuten auch das Land erobert hätte, ohne einen Schuß Pulver daran zu wenden, wenn er nur den Wunsch geäußert haben würde: „Gebt mir das Land. Herren, die regieren können, habt ihr ja doch nicht mehr! Ich will euch den alten constitutionellen Schwindel mit Lappen aufflicken, die nicht mehr halten, abnehmen und eine ganz neue Staatsmaschine geben!“
Doch das ist ausschweifende Phantasie. Eigentlich wollte ich blos auf das historische Faktum, das man bei Beurtheilung Englands in der Regel übersieht, aufmerksam machen, daß die Engländer kein Volk, keine Nation sind, sondern das bunteste Gemisch der verschiedenen Völker und feindlichsten Racen: Picten, Scoten, Dänen, Angeln, Sachsen, Caledonier, celtische Hochländer, Polen, Juden, Franzosen, Griechen, Italiener, Ostindier, Waliser und die schlimmsten und mißhandeltsten von Allen, die Ireländer, endlich die überlegendsten und gefährlichsten von Allen, 39 Sorten Deutsche. Allerdings hatte sich ein isolirter englischer Charakter und Typus ausgebildet: kaltes, sorgfältig rasirtes Gesicht zwischen steifen Vatermördern und rothblondem Backenbart, kostbare Weste, kein Hinterkopf, Rock und Hosen, die sehr viel kosten und niemals passen, lange Beine, schiebender Gang mit den Knieen, innen sehr weit vor, Hut hinten über hängend wegen Mangel an Hinterkopf, wodurch die kalte, herzlose, steife Physiognomie mit einer starken Färbung von Dummheit überhaucht wird, kurz, der englische „Mylord“, der in ältern, deutschen Lustspielen so lange abgehetzt ward; aber „Mylord“ hat bedeutend aufzuhören angefangen seit den großen Ueberschwemmungen von 1848 vom Continente her, besonders seit der großen Ausstellung von 1851. Er verschwindet zusehends in französischen Moden, deutschen Meistern, Meubles und Materien, deutschen Stubenmalern und Mechanikern, deutschen Lehrern und Schneidern. Im Allgemeinen erkennen freilich die [450] Deutschen ihre Macht und Menge in England am Wenigsten. Die älteren Ansiedler und viele Kaufleute denken immer noch, es sei ihre Pflicht, ihre Abkunft und Muttersprache zu verleugnen, und der „deutsche Klub“ im Westende hat eine aus Gevatter Schneider und Handschuhmacher bestehende Obrigkeit, welche das Wohl ihres vereinigten Deutschlands nur in einem schauderhaften Englisch berathet, und nur zuweilen verschämt und stotternd ohne alle Rücksicht auf Construction, auf Mir und Mich ihre Muttersprache mißhandelt. Es giebt eine Menge Deutsche, welche ihre Muttersprache ver-, und die Englische nicht gelernt haben, so daß sie sprechen, als wären sie vom lieben Gott eben direkt vom Turmbau zu Babel weggejagt worden.
Im Allgemeinen erkennt der Deutsche seine intellectuelle und praktische Ueberlegenheit über den Engländer, die er beweist und bewährt. Früher schämte er sich politisch, ein Deutscher zu sein. Nun das hat den jetzigen politischen Leistungen Englands gegenüber auch aufgehört. Sind wir politische Nullen, schmeicheln wir uns auch der Unschuld, die in jeder Null sich rein und rund darstellt, während die politisch freien Engländer sich von Politik und Polizei lauter negative Decimalbrüche treten lassen. Früher schämte sich der Deutsche auch social, ein Deutscher zu sein. Wenn der Engländer einen Ausländer, besonders einen Deutschen beschreiben wollte, schilderte er immer zuerst schmutzige Wäsche. Aber wir wissen und die Engländer sehen’s auch schon, daß in keinem Lande der Erde sich so viel schmutziges, gemißhandeltes, ausgebeutetes, zerlumptes Volk herumtreibt als in England, daß unter der reinsten Wäsche, unter dem dicksten Gold, unter der brillantesten Herrlichkeit sich schmutziger Humbug und betrügerische Heuchelei blähen und brüsten. Außerdem haben sich die Deutschen in London mit schief getretenen Stiefeln, zugeknöpftem Rock ohne Knöpfe (aus Mangel an westlicher Civilisation), mit ungewaschenen Gesichtern und Hemdenkragen so ziemlich verkrümelt; sie sind verdorben und gestorben oder englische Arbeiter, Lehrer, Commis, patentirte Erfinder, Eigenthümer oder wenigstens Soldaten geworden, ohne welche nach der Erklärung des damaligen Ministeriums die westliche Civilisation sich hätte für bankerott erklären müssen.
Englische Arbeiter aus Deutschland! Das ist ein gewaltiges, freudiges Wort, obwohl mit trauriger Färbung für das Mutterland. Jahr aus, Jahr ein kommen sie herüber, weil ihnen der Wirkungskreis daheim zu eng ward, nicht selten mit nichts, als einer Erfindung in der Tasche, an der sie zu Hause halb verhungerten, um hier erst noch einmal halb zu verhungern, bis sich der Capitalist oder die Compagnie findet, ihm die Erfindung abzukaufen, sich patentiren zu lassen und Tausende von Pfund daraus zu schlagen, während der Erfinder, abgespeis’t mit einem Taschengelde, „unschuldig, flachshaarig und mit blauen Augen,“ ohne Namen, aber solid seinen Lebensweg weiter verfolgt und nicht selten wieder etwas erfindet. Der bloße Zufall hat mich mit vielen Dutzenden solcher deutschen Erfinder bekannt gemacht, die erst lange umher hungerten und nun tüchtige Mechaniker und Geschäftsleute geworden sind. Einige waren schon so klug, die Erfindung nicht aus der Hand zu geben, so daß ihnen die Engländer Haus und Herd halten und Geld geben, so viel sie haben wollen. Ein Erfinder mit Familie aus den höhern Ständen war so weit gekommen, daß er, nachdem Alles in’s Leihhaus gewandert und die Pfandzettel verkauft worden waren, das schöne Haar seiner Frau (auf deren Bitten) abschnitt und verkaufte, um einen seit drei Tagen und drei Nächten eingedrungenen Besuch, den nackten, physischen Hunger, los zu werden. Jetzt lebt er in einem glänzenden Hause als Chef eines großen Geschäfts, durch welches seine Erfindung mit großem englischen Capitale ausgeführt wird.
Ein Anderer, der vorigen Sommer halb verhungert durch den James-Park wankte, fand dort ein vor Hunger fieberndes Mädchen und nahm sie mit nach Hause, in der Hoffnung, unterwegs etwas zu erfinden, womit Beider Hunger gestillt werden möchte. Wenn er auch nicht gleich etwas erfand, entdeckte er doch noch ein altes Faß, das er verkaufte, um es in Brot zu verwandeln. Jetzt umkreisen ihn Engländer, Amerikaner und Franzosen, um ihm ein halb Dutzend, zum Theil wichtigste Erfindungen abzuschwindeln. Aber er ist pfiffiger wie sie, und wußte sich sogar aus den Klauen eines Kapitalisten, dem er sich mit Leib und Seele hatte verschreiben müssen, wieder heraus zu winden, um Meister seiner Schöpfungen zu bleiben. Darüber später, wenn die betreffenden Erfindungen reif sind.
Von den deutschen Arbeitern und Gewerbtreibenden in London herrschen Mechaniker, Stubenmaler, Uhrmacher, Kunsttischler, Bäcker, Schneider, und in Whitechapel (Klein-Deutschland) die Zuckersieder ganz entschieden vor und werden durchweg den Engländern vorgezogen, welche in keiner Sphäre so solid, so geschickt, so genau und geschmackvoll arbeiten.
In Kunst- und Geschmacksachen theilen die Deutschen ihre Lorbeeren hauptsächlich mit den Franzosen, aber auf dem Gebiete physikalischer Instrumente, der Zimmerdecorationen, Meubles und Kleider haben unsere Landsleute bereits entschiedenes Uebergewicht. Man sagt wohl, die pariser Meubles seien geschmackvoller, vergißt aber dabei, daß in Paris fast alle deutschen Arbeiter auch sehr reich vertreten sind und in den Tischlereien auch der Zahl nach überwiegen.
Am Dichtesten vertheilen sich deutsche Arbeiter (besonders Tischler, Mechaniker und Schneider) in dem Theile des Westendes, der sich zwischen Regentsstreet und Tottenham Court Road in dichte Straßen zusammendrängt. Hier ist es wieder besonders Charlottestreet und deren nächste Nachbarschaft, wo jeden Sonnabend die meisten Exemplare der Gartenlaube gute Leser finden, da sie sich der deutschen Sprache nicht schämen und gebildeter und gesunder sind, als die englisch-deutschen Doppel-Karricaturen in der City und dem deutschen Philister-Klub. Sie haben ihren heitern, gesunden Verein für sich, in welchem jetzt Gottfried Kinkel (auf besondere Einladung des Vereins) wissenschaftliche Vorträge hält (Geographie, Geschichte u. s. w. im Zusammenhange mit andern Kulturelementen der Menschheit). Der Verein wurde früher von Communisten, Karl Marx, Willich[WS 2] u. s. w. gehumbugt und tyrannisirt, hat aber diese Herren alle nach einander ausgestoßen (Karl Marx hatte sich geweigert, von 86 Pfund Sterling – etwa 600 Thalern – Rechnung abzulegen). Das schmutzige Gezänk ist verschwunden; gebildete, stattlich gekleidete, frische Jünglinge und Männer kommen jetzt zusammen, um ihres deutschen Charakters, ihres deutschen Kulturtriebes froh zu werden und sich immer weiter zu bilden, da sie gebildet sind. Nur der englisirende Sclave des Geldmachens verachtet Vernunft und Wissenschaft, radebrecht Abends Englisch und spielt ächt deutsch Schafskopf dazu. Diese Arbeiter haben, statt sich englischer Bornirtheit zu fügen, nicht nur ganze Häuser und Werkstätten erobert, sondern auch einen englischen Bierwirth in der Charlottenstraße gezwungen, ihnen die Belletage einzuräumen und deutsche Blätter anzuschaffen.
Wollen sie sich einmal ganz besonders amüsiren, geschieht es durch ächt deutsche Excursionen, wie neulich nach dem Eppingwalde in fünf lustigen Vergnügungs-Omnibus (à 10 Thaler jeder) mit eigenen Tonnen Bier, deutschen Musikanten, deutschem Jugendhumor, lauter deutschen Tugenden und Schönheiten, mit Ausnahme der Damen. Diese wurden aus betrübendem Mangel des Originalartikels von Englands schönen Töchtern rekrutirt. Jeder hat natürlich etwas Liebes (wenn nicht schon eine Frau), denn die Wirths- und Meistertöchter sind ganz leidenschaftlich hinter den Deutschen her. Und wie waren sie im grünen, duftigen Walde unter Tanz und Musik und geselliger Abzapfung großer Bierfässer (Einige hatten sich ein Faß unter eine Brücke gekollert, im trinkend die deutsche Absonderung zu vertreten), beim Pferde- und Eselreiten und Herunterfallen, unter Lust, Gelächter und Jugendübermuth begeistert für deutsches Wesen mit den rothen, jugendlichen Backen, den blauen Augen und den blonden, braunen, brünetten und schwarzen Backen-, Schnurr- und Knebelbärten!
Freilich will und kann ich den Deutschen in London nicht idealisiren. So schimpft fast Jeder auf seine Mitbrüder wegen Unverträglichkeit, Wortklauberei, Streitsucht und giebt dadurch selbst in der Regel das schlagendste Beispiel seiner Behauptung. Niemand weiß, wie viel Deutsche es in London giebt, die Angaben schwanken zwischen 80 und 150, ja 200,000 Seelen. Aber nirgends haben sie einen entsprechenden Mittelpunkt. Die neununddreißig Vaterländer und Parteien finden sich hier alle in separirten Vereinen und Kliken wieder, ein Beweis, daß Politik und Polizei nicht eigentlich an der deutschen Uneinigkeit Schuld sind, sondern diese selbst; denn hier hindert und constabelt sie keine „hohe Behörde.“ Manche deutsche Gegend Londons ist wie eine kleine Stadt mit allem Klatsch, aller Topfgukerei und allem Scandal, wie man ihn nur in Deutschland unter dem Namen „Kleinstädterei“ produciren und kultiviren kann. Auch findet man unter den deutschen Kaufleuten und Shopkeepers viel schamlose Schwindler und corrumpirte [451] Subjekte; aber diese Art Deutsche sind in der Regel schon vom Hause aus als Juden und Polen und Deutsche zugleich verwahrlost worden, und können das deutsche Wesen weder im Aus- noch im Inlande beschmutzen. Gerade im Gegensatze zu diesem Repräsentanten deutschen Deckblattes in Fleetstreet muß ich die Erfahrung Ihres Gartenlauben-Agenten hier hervorheben, daß unter den Hunderten von Abonnenten gerade die Arbeiter wahrhaft ängstlich sind, um ihre Abonnements immer rechtzeitig zu bringen, wenn nicht danach geschickt wird.
Zwar können wir auch in London nicht mehr in das „Kaffeehaus zur deutschen Einigkeit“ in Greekstreet gehen, denn es ist nichts dahinter und wegen Zerwürfnissen zwischen „Soll“ und „Haben“ geschlossen; aber gleich nicht weit davon in zwei Old Comptonstreet finden wir hinter einem kleinen Cigarrenladen den kleinen blonden Schütz mit Kaffee, Restauration, Billard und Gemüthlichkeit nebst einer guten Zahl deutscher Zeitungen und Journale. Wollen wir Literatur, Kaffee und Cigarren für einen Penny großartig genießen, gehen wir ein paar Schritte weiter in das große Lesecabinet am Leicestersquare, das ein Engländer ganz im deutschen Stile eingerichtet hat, d. h. ohne die englischen, kirchstuhlartigen Breterkasten, hinter denen sich schweigend und menschenfeindlich die Stockengländer gegenseitig abkasten.
In dem neuen Lesecabinet rauchen, lesen und sprechen die verschiedenen Nationen ganz ungenirt durch einander, und den Engländern gefällt das auch, wenn sie’s erst einmal probirt haben.
Weiter oben, nicht weit von Regents-Quadrant finden wir in Queenstreet den großen deutschen Biersaal des ehemaligen famosen Hanauers Göhringer, jetzt im Besitz eines von Australien zurückeingewanderten Deutschen, Perl, der 1848 mit dem berliner Auswanderungszuge ging, zwei Häuser davon (Nr. 12) ein deutsches Speisehaus, wo man mit bescheidenen Mitteln gut ißt. Der andere Hanauer, Schurtner, behauptet sein Bierhaus in Langacre mit zunehmendem Emponpoint und mit Musik und deutschen Liedern jeden Sonnabend. Dazwischen hat ein österreichischer Adeliger von Australien, Herr von Bibra, ein großes Cigarren-, Speise- und Billardgeschäft mit Erfolg eröffnet. Kleine deutsche Kaffeehäuser und mehrere große deutsche Hotels und Logirhäuser verstecken sich hier in Nebenstraßen. Einige größere bilden eine Ecke in Finsburg-Square (City) und eine unzählige Menge Bierlokale und kleine Kaffeehausräuberhöhlen zerstreuen sich in Whitechapel, besonders in der Nähe der Katharinen-Docks, wo die Dampfschiffe anlegen und die von Seekrankheit angegriffenen deutschen Brüder beim Aussteigen eingefangen werden.
Uebrigens bin ich im fernen barbarischen Osten Londons mit Whitechapel und Klein-Deutschland wenig bekannt. Ich höre nur, daß die Zuckersieder sich ihr saures Leben durch häufige Tanzmusik versüßen, durch Bälle, welche die Engländer so begeisterten, daß sie die deutsche populäre Art, sich auf dem „Tanzboden“ zu amüsiren, nach Kräften copiren.
Zwischen Osten und Westen in der Mitte verbirgt sich in Cliffordsinn-Fleetstreet, das große Publik- und Speisehaus eines Kölners, wo kaufmännische Deutsche und Engländer mit einander rauchen, discuriren und sich restauriren. Und was verbirgt sich noch Alles aus Deutschland hier in diesem unermeßlichen Wirrwar von beinahe drei Millionen Menschen? Noch müßte ich wenigstens von den deutschen Buchhandlungen (Nutt, Trübner, Quaritch, Thimm u. s. f.) Musikalienhandlungen (Schott, Regentstreet), deutschen Leihbibliotheken (Timm, Bender u. s. w.), deutschen Künstlern, besonders den Malern (unter denen Karl Haag es bis zur Spitze der Wasserfarbenmalergesellschaft und bis zur Königin gebracht hat), deutschen Aerzten (Dr. Heß, <tt<Dr. Gerber u. s. w.), deutschen Kirchen, Schulen und Missionären, vom deutschen Hospitale, von deutschen Lehrern und Gelehrten, von deutschen Literaten und Correspondenten, Musik-, Gesang- und Sprachlehrern, ohne die es keine einzige respektable Schulanstalt in ganz England mehr giebt, von deutschen Straßenmusikanten, die Tag und Nacht in allen Gegenden Londons aus schmutzigen Blechinstrumenten himmelschreiende Mißtöne pusten, deutschen Bummlern, Bettlern und Betrügern, vom deutschen „Gentlemans“-Verein in der City, von deutschen Engrosgeschäften in der City, von deutschen Crösus’ in Manchester, Liverpool, Hull, Bradford, Dover u. s. w. reden, um eine Vorstellung von dem Umfange und der rasch zunehmenden Bedeutung der Deutschen in London und ganz England zu geben; aber wer kann ein so reiches, noch werdendes, zerfahrenes und zerstreutes Material in einer einzigen Wanderung besuchen und schildern? Diese in London zerstreuten deutschen Fremdenlegionen sind noch etwas Werdendes, wie die in der neuen deutschen Lagerstadt bei Shorncliffe. Sobald etwas daraus geworden ist, schreib’ ich wieder, wenn ich bis dahin noch existire.
Doch kann ich nicht schließen, ohne mit einiger Heiterkeit auf das neue „Londoner deutsche Journal für Kunst, Musik, Gewerbe und öffentliches Leben“ aufmerksam zu machen. Die erste Nummer fängt mit dem Ausrufe des sterbenden Herder an. „Gebt mir einen großen Gedanken!“ und sie findet ihn in der „russischen Buchdruckerei“ und den Ronge’schen Kindergärten zu London. Als Literatur und Journalistik hat sich Deutschland bisher immer in London blamirt, erst mit der londoner Zeitung des Herzogs von Braunschweig, dann mit der deutschen Ausgabe der „Illustrated London News“ unter Redaktion eines davongelaufenen wiener Ladendieners, Pokorny, ferner mit dem Louis Drucker’schen „How do you do?“ dann mit dem „Telegraphen“ eines Schwindlers aus Leipzig, Dresden, Berlin und Petersburg, Bertholdi (der sich Professor nannte), eine zeitlang mit der Marx’schen Fortsetzung der „Neuen Rheinischen Zeitung“ in Vierteljahrsheften, zuletzt durch das Ronge’sche deutsch-englische Löschpapier: „The Confederate“ und zu guter Letzt durch das „Londoner deutsche Journal.“ Es fehlt für ein deutsches Organ in London nicht an Capacitäten, wohl aber an Kapital, da die meisten deutschen Kapitalisten hier mit Deutschverächterei renommiren und Vatermörder und Bart wie Rothschild krämpeln.
Populäre Chemie für das praktische Leben.
Der Glaube an Wunder hat in der Jetztzeit, die sich so gern die „Aufgeklärte“ nennt, einen harten Stoß erlitten. Das Allgemeingut einer vergangenen Zeit ist nur noch das specifische Eigenthum der alten Weiber beiderlei Geschlechts. Und doch können wir nicht leugnen, daß selbst noch heute ebenso gut Wunder geschehen, wie zu irgend einer andern Zeit. So wird uns z. B. erzählt, daß auf einer Hochzeit im Alterthum Wasser in Wein verwandelt worden sei. Das geschieht jetzt fabrikmäßig; seit Jahren werden viele Tausend Quart „Pumpenheimer“ Jahr aus Jahr ein in den edelsten Wein umgewandelt, durch den sich selbst die Zunge des Kenners bestechen läßt, mag er auch noch so aufgebracht darüber sein, daß der Mensch in seiner Vermessenheit wagt, der Natur in’s Handwerk zu pfuschen. Dies eine Beispiel aus einer großen Zahl überhaupt herausgegriffen, lehrt uns, daß die Wunder heute noch eben so im Schwunge sind wie irgend je; der Unterschied ist nur der, daß sie alltäglich geworden, und dadurch eben haben sie das Wunderbare abgestreift.
Aus alter Zeit her klebt dem Chemiker der Name „Schwarzkünstler“ an; heute verdient er diese Bezeichnung mit Recht. Ueberall, wo er mit seinem Zauberstabe anklopft, bricht eine lebendige Quelle hervor, hell und rein wie die aus dem Felsen in der Wüste und mehr Segen spendend als diese, denn statt des Wassers liefert sie Arbeit. Schon früher haben wir gezeigt, wie das Hauptstreben der Gegenwart, die Förderung der materiellen Interessen, den treuesten Bundesgenossen in dem Chemiker findet. Die Geschichte vom Theer, der man in früherer Zeit gewiß einen Platz unter den [452] Mährchen aus Tausend und eine Nacht angewiesen hätte, lehrt uns auf Neue, wie die Chemie sich angelegen sein läßt, dem Ruf, der von allen Seiten an sie ergeht: „daß sie aus Steinen Brot mache“, auf direkte und indirekte Weise nachzukommen.
Hat auch der Theer, dieser schmutzige und stinkende Geselle, eben weil er kein hochzeitliches Kleid an hat, keinen Geschichtsschreiber gefunden, der die Merkwürdigkeiten seines Lebens der Nachwelt überlieferte, so müssen wir doch bei unserer Erzählung bis in die fernste geschichtliche Zeit zurückgreifen. Die Mumien der alten Aegypter geben einen mehr als wahrscheinlichen Beweis zwar nicht für das Alter des Theeres, aber doch für das Bekanntsein der Operation, bei welcher der Theer gewonnen wird. Hier aber waren die naturwissenschaftlichen Kenntnisse Eigenthum einer bestimmten Kaste, und da jede Mittheilung der Geheimnisse, ja selbst schon der Verdacht einer solchen mit dem Tode bestraft wurde, so ist davon natürlich vieles für die Nachwelt verloren gegangen.
Wir finden zwar diese Operation – die trockene Destillation, d. h. die Zersetzung organischer[WS 3] Körper in verschlossenen, den Zutritt der Luft abhaltenden Räumen bei Anwendung einer hohen Temperatur – bereits wieder vor wenigstens 2000 Jahren in Anwendung, aber nur in ihrer rohesten Art, in der sie sich bis auf unsere Zeit als sogenannte Meilerverkohlung erhalten hat. Der Zweck ist hier, einen sehr kohlenstoffreichen Körper oder reine Kohle zu erzielen, d. h. ein Brennmaterial – die Holzkohlen – das höhere Hitzegrade zu liefern im Stande ist, als das Holz selbst; alle Nebenprodukte werden hierbei geopfert.
Nach und nach hat man die Geheimnisse des Alterthums, auch die Nebenprodukte zu nützen, wieder aufgefunden; besonders der Holztheer ist seit längerer Zeit in Gebrauch. Bereits vor 200 Jahren machte Becher, ein deutscher Chemiker, der 1685 zu London starb, in einem Buche („närrische Weisheit und weise Narrheit“), dessen Titel für jene Zeit bezeichnend ist, darauf aufmerksam, daß man aus Steinkohlen gleichfalls einen Theer gewinnen könne, der geeignet sei, in der englischen Marine, die schon damals einen bedeutenden Aufschwung genommen hatte, den Holztheer, der zum größten Theil aus Schweden bezogen wurde, vollständig zu ersetzen. Die Stimme des Einzelnen verhallt aber ungehört wie die des Predigers in der Wüste. Der Mensch bedarf anderer Mittel als des schwachen Wortes, um aus seinem Gleichmuth aufgerüttelt zu werden. Als daher nach länger als hundert Jahren bei der Darstellung des Leuchtgases Steinkohlentheer in einigen Mengen als Nebenprodukt abfiel, da wußte man damit nichts Anderes anzufangen, als ihn in der Fabrik selbst als Brennmaterial zu verwenden, um nur einigen Vortheil daraus zu ziehen; ein Jeder stieß sich daran, daß der Steinkohlentheer einen durchdringenderen Geruch hatte als der Holztheer, und deshalb glaubte man, ihn nicht zu denselben Zwecken verwenden zu können, wie diesen, bis endlich nach Jahrzehnten dieser Irrthum über den Haufen geworfen wurde.
Bis in die neueste Zeit hinein war der Theer, d. h. seine chemische Beschaffenheit, für den Chemiker ein Räthsel, weil eben zu dessen Lösung, zu der Entwirrung dieses Gemenges von giftreichen Verbindungen ein hoher Grad von Muth und Ausdauer gehörte, der nicht bei einem Jeden zu finden. Zwar machte sich Berzelius, der ehrwürdige Altmeister der Chemiker, dessen Stuhl heute noch unbesetzt ist und auch wohl für alle Zeiten bleiben wird, in eigener Person an die Untersuchung des Holztheers, ohne aber den gordischen Knoten lösen zu können. Alles, was er uns bietet, sind zwei Namen – Brandöle und Brandharze – wodurch wir wenig gewonnen haben; denn beide umfassen eine große Anzahl der verschiedensten Körper, über deren Eigenthümlichkeiten wir keinen Aufschluß erhalten.
Dieser Vorgang schreckte jedoch andere nicht ab, gleichfalls ihre Kräfte zu diesem Versuche einzusetzen. Schon zwei Jahre später finden wir Reichenbach[WS 4] bei derselben Arbeit beschäftigt. Seine erste Abhandlung, die 1830 erschien, brachte uns die Entdeckung des Paraffims, eines blendend weißen Körpers, der große Aehnlichkeit im reiferen Ansehen mit dem Wachs hat. Die merkwürdigste Eigenschaft dieses Körpers ist seine chemische Zusammensetzung, die genau die ist des reinsten Leuchtgases, wie es keine Gasbeleuchtungsanstalt liefert. Mit welcher Schwierigkeit der Chemiker hier zu kämpfen hat, wird der Leser daraus ersehen, daß Reichenbach, außer einigen kleineren Mittheilungen, bis 1834 zwanzig Fortsetzungen seiner Untersuchung lieferte; trotz dieses bewundernswerthen Eifers und der anhaltenden Ausdauer war er doch nur immer ein Einzelner und nicht im Stande, alle Schwierigkeiten zu überwinden. Einiges Licht brachte sein unermüdlicher Eifer aber doch in diese bisher sehr dunkle Region der Chemie, und wenn wir auch dafür diesem Forscher zu großem Danke verpflichtet sind, so müssen wir um so mehr bedauern, daß er auf seine alten Tage hin in die Irrgänge seiner „odischen Briefe“ gerathen ist, die ihm in jüngster Zeit, und leider wohl verdient eine Zurechtweisung zugezogen haben.
Im Ganzen brachten uns Reichenbach’s Untersuchungen nicht viel, wenn wir absehen von einer großen Menge Namen, die zwar jetzt noch durch alle Lehrbücher der Chemie hindurch geschleppt werden, obschon man weiß, daß es eben bloße Namen sind. Außer dem Paraffim widmete Reichenbach besonders dem Kreosot seine ganze Kraft. Dieser Körper war es, der einiges Licht über die alten ägyptischen Mumien verbreitete und gleichzeitig über den alt hergebrachten Vorgang – des Räucherns der Schinken und Würste, was auch schon der Name – aus dem Griechischen gebildet und „Fleisch erhaltend“ bedeutend – anzeigt.
Fast gleichzeitig mit Reichenbach beschäftigte sich der Professor Runge,[WS 5] lange Zeit Director der chemischen Fabrik in Oranienburg bei Berlin, der auch in weiteren Kreisen des Publikums bekannt ist, mit der Untersuchung des Steinkohlentheers. So viel Wunderbares er uns auch von den hier entdeckten Körpern, namentlich von verschiedenen klaren und rothen Farbestoffen, erzählt, so waren seine Untersuchungen doch unvollständig; ja, sie enthielten selbst manchen Widerspruch. Dazu erlitt er noch, von Reichenbach, der sich in seinem Rechte gekränkt glaubte, die heftigsten Angriffe. Es ist nämlich in der Wissenschaft Gebrauch, daß das Gebiet, welches von Jemand durch eine Untersuchung in Besitz genommen worden ist, von Niemand berührt wird, damit jener ungestört fortarbeiten und sich in aller Muse entwickeln kann. Ist ja doch das Feld der Wissenschaft, das des Anbaues noch fähig ist, so unendlich weit ausgedehnt, daß es Platz darbietet für viele fleißige und rüstige Arbeiter, ohne daß einer den anderen zu beeinträchtigen nöthig hat.
Nach diesen Bestrebungen, das schwere Theerräthsel zu lösen, die nur zum Theil zu einem gedeihlichen Ende führten, trat eine lange Pause ein. Erst nach Verlauf von zehn Jahren wurden die Untersuchungen, und zwar die des Steinkohlentheers, von Hofmann[WS 6], jetzt Professor der Chemie in London, damals noch ein Schüler Liebig’s, von Neuem aufgenommen. Können wir von dieser Arbeit trotz ihrer Gründlichkeit auch nicht sagen, daß sie einen directen Einfluß auf das praktische Leben gehabt habe, so ist doch ihr Werth für die Wissenschaft um so größer, da sie den Ausgangspunkt für zahlreich andere bildet, die noch heute die Chemiker beschäftigen. Und hierbei sind Fragen zur Sprache gekommen, deren Tragweite für das praktische Leben noch gar nicht berechnet werden können. Wir erinnern hier nur an die vor wenig Jahren von der pharmaceutischen Gesellschaft zu Paris gestellte Preisaufgabe, das Chinin, diese kostbare und heilkräftige, daher in sehr großen Mengen verbrauchte vegetabilische Base, die bis jetzt nur aus der theuern Chinarinde gewonnen wird, künstlich darzustellen. Freilich war diese Aufgabe zu frühzeitig gestellt und unsere wissenschaftlichen Kräfte noch viel zu schwach, um so Großes zu vollbringen, aber das Wollen zeigt hinreichend, welchem erhabenen Ziele man zuzustreben sich für ermächtigt hält. Und dazu hat nichts anderes als der Steinkohlentheer, dieser unscheinbare, ja abstoßende Körper, der unsere Geruchsorgane so empfindlich beleidigt und an dem ein Jeder verächtlich vorübergeht, den Anstoß gegeben.
Den Reigen dieser Untersuchungen beschließen die von Hansfield gleichfalls über den Steinkohlentheer angestellten, die für das praktische Leben von der weit greifendsten Wichtigkeit geworden sind, indem er den Werth der bei der Destillation des Theeres gewonnenen Produkte für die Beleuchtung und viele andere technische Zwecke kennen lehrte.
Bei der Besprechung dieser Errungenschaften der Wissenschaften für das alltägliche Leben in unserem nächsten Briefe werden sich gewiß einem jeden Leser Ovid’s Metamorphosen, falls er sie in seiner Jugend sollte gelesen haben, in’s Gedächtniß zurückrufen, und diese sind der beste Vergleich mit den Verwandlungen, die der Theer, den vielleicht viele der Leser kaum der Beachtung werth halten, durch wissenschaftliche Behandlung erleidet. Dann auch wird [453] sich die Einleitung unseres jetzigen Briefes rechtfertigen. Eingedenk des alten Spruches: „Ein gut Ding will Weile haben,“ wollen wir für jetzt nur so viel verrathen, daß jetzt endlich die Zeit der Ernte für 25jährige Mühe und Arbeit naht, indem die mühevollen Untersuchungen, über die wir hier berichtet haben, gerade in unseren Tagen den Ausgangspunkt und die sichere Grundlage für einen neuen Industriezweig bilden, von dessen Wichtigkeit wir uns heute nur ein schwaches Bild machen können.
Pariser Bilder und Geschichten.
Wenn man von dem Boulevard Beaumarchais herabkommend, am Platz der Bastille, wo die Julisäule steht, links einbiegt, so gelangt man in eine Straße, in welcher wir nichts als Sinnbilder des Todes: Grabsteine, Urnen, Kreuze und Todtenkränze erblicken. Es ist dies die Rue Roquette, die Straße, welche uns geraden Wegs nach dem berühmtesten Gottesacker von Paris führt. Es war an einem Herbsttag des vergangenen Jahres, als ich mit einem pariser Freunde durch diese Straße nach dem Père la Chaise ging. Vor dem Thorweg, welcher den Eingang zu dem halbmondförmigen Vorhof des Gottesackers bildet, stand eine elegante Equipage, deren Kutscher und Bedienter hier auf Jemand zu warten schienen. Es war in den Nachmittagsstunden, als wir den eigentlichen Friedhof betraten und ein rauhes, herbstliches Wetter. Aber die Pariser lieben ihre Todten und bei aller Lebenslust, bei allen den Herrlichkeiten und Genüssen, welche ihnen die große Stadt an jedem Tage bietet, vergessen sie doch ihre grünen, stillen Gräber nicht, draußen auf dem Friedhof des Montmartre, des Mont-Parnasse und des Père La Chaise. Man braucht nicht am Tage aller Seelen, dem hohen Festtag der Todten, hinaus auf die Gottesäcker zu gehen, um geschmückte Gräber und Besucher der Todten zu sehen, man wird stets Blumen und Kränze auf den Gräbern und trauernde Frauen an den grünen Rasenhügeln knien finden, die sich aus dem rauschenden Treiben der großen Stadt herauf in diese stille Stätte des Friedens flüchteten, um ihre lieben Todten zu besuchen. Es ist diese Anhänglichkeit an ihre Heimgegangenen ein Zug rührender Pietät in dem Charakter der Pariserinnen und dürfte so manche andere Schwäche derselben vergessen lassen. –
Der erste Eindruck, welchen der Anblick des Père La Chaise macht, ist ein eigenthümlicher. Wenn man einen Augenblick vergessen könnte, daß alle diese zahllosen Hügel Gräber wären und die Monumente mit ihren Sinnbildern des Todes nicht an die Sterblichkeit erinnerten, so könnte man den Père La Chaise mit seinen Gruppen von Cypressen, seinen kleinen Alleen, seinen grünen Büschen, seinen Fruchtbäumen, seinen Blumen und saftig-grünen Rasen für einen großen, weiten Park halten, welchen die sonderbare Laune seines Besitzers mit Tausenden von Statuen und Monumenten geschmückt. Doch nein – der nächste Schritt um diese Biegung würde die Täuschung sogleich vernichten. An einem frisch aufgeworfenen kleinen Grabhügel, der mit Rosenstöcken, Immortellenkränzen und breiten, kostbaren Atlasschleifen bedeckt war, kniete eine schöne, junge Frau in schwarzen, seidenen Gewändern. Große Thränen rollten über ihre blassen Wangen und das schmerzliche Zucken der Mundwinkel ließ ihre Lippen kaum ein leises Gebet flüstern. An dem Grabe lehnte ein noch nicht aufgerichtetes, elegantes Kreuz von Gußeisen, auf dem mit goldenen Lettern geschrieben stand: „Hier liegt der Liebling meiner Seele, mein einziges Kind, Alfred, gestorben im dritten Jahre. Schlummere sanft, mein theures Kind! Deine trauernde Mutter.“ Dann folgte der Name.
„Es in die Frau von D., die Dame, deren Wagen mit den Bedienten Sie vor dem Thore gesehen haben,“ sagte der Aufseher, welcher uns begleitete, „ihr Söhnchen wurde vor einer Woche begraben und seitdem ist sie alle Tage gekommen. Ich kenne sie zufällig, da ich, ehe ich die Anstellung hier bekam, unter ihrem Manne in Algier gedient habe; es ist ein braver Offizier, der Herr Oberst,“ fügte er hinzu, „und jetzt bei unserer tapferen Armee in der Krim.“
Während die arme junge Frau an dem Grabe ihres einzigen Kindes weinte und betete, raubte ihr eine russische Kugel vielleicht den Gatten. Geräuschlos gingen wir weiter, die junge Mutter in ihrem Schmerz nicht zu stören, bis meine Aufmerksamkeit durch ein mit Blumen und Kränzen umwundenes Denkmal, welches unweit von Abälards und Heloisens Grabmal steht, gefesselt wurde. Es war das Grab jenes tapferen, unglücklichen Obersten Labedoyere[WS 7], der, so jung und liebenswürdig, als ein Opfer seiner Treue gegen den Kaiser fiel. Er theilte das Schicksal seines berühmten Waffengenossen, des Marschalls Ney[WS 8], welchen der Schlachtentod nur verschont zu haben schien, um ihn hinten an der Gartenmauer des Palais Luxemburg durch französische Kugeln fallen zu lassen. Unter den Bourbons durfte Labedoyere’s und Ney’s Grab weder mit Blumen noch mit Kränzen geschmückt werden; ein einfacher Denkstein mit den Worten: „Ci git le maréchal Ney duc d’Elchingen, décédé le 7 Decebr. 1815“ bezeichnete die Stelle, wo die Gebeine des Bravsten unter[WS 9] den Braven ruhten.
Mehrere Personen wurden damals, wie mir der pariser Freund versicherte, wegen Bekränzung der beiden Gräber verhaftet. Wie sich die Zeiten ändern! Auf Labedoyere’s Grab prangt ein schönes Denkmal und dem Marschall Ney, diesem tapfern, aber unglücklichen Sohn des Ruhms, hat der Neffe seines Kaisers, für den er gefallen, ein glänzendes Denkmal setzen lassen.
Wenige Schritte von dem Grabe Labedoyere’s waren noch zwei Gräber, die unsere Blicke auf sich zogen. Sie waren weder mit einem Denkmal, noch mit einem Grabstein geschmückt; zwei einfache, hölzerne, schwarz angestrichene Kreuze mit einer weißen Inschrift und einige Herbstblumen und Kränze Strohblumen waren ihr ganzer Schmuck. Auch waren es keine berühmten Namen; nicht einmal die Familiennamen standen da, nur der Vorname und eine kurze Angabe, wenn sie gestorben.
Man sah es den beide Gräbern an, daß sie zwei Kindern aus dem Volke gehörten. Nur zwei Zeilen standen auf jedem Kreuz, aber diese zwei Zeilen erzählten uns von den zwei denkwürdigsten Tagen aus der Geschichte Frankreichs. Auf dem einen der Gräber stand „Ci git mon frère[WS 10] Geoffroi † 28. Juillet 1830,“ auf dem anderen: Ici repose mon Jules † 24. Février 1848, „Madeleine.“ „Hier liegt mein Bruder Gottfried, gestorben am 28. Juli 1830, und hier ruht mein Julius, gestorben am 24. Februar 1848“ – wie einfach klingen diese Worte und wieviel sagen sie doch! Die Gräber dieser zwei Kinder des Volks, welche in den heißen Tagen des Juli und Februars in den Straßen von Paris gefallen – und mit ihnen zwei Dynastien und das Grabmal Labedoyere’s und Ney’s, welche Erinnerungen riefen sie nicht wach! Um die Geschichte Frankreichs in den letzten sechzig Jahre zu studiren, dürfte man nicht leicht einen besseren Platz als den Père La Chaise finden. Die Kreuze und Steintafeln und Grabsteine seiner Todtenhügel sind beredter als alle Bücher der Geschichtschreiber … In dem Augenblick, wo wir die zwei Gräber verließen, kam ein junges Mädchen von vielleicht zweiundzwanzig Jahren, deren Aeußeres sofort die Grisette verrieth.
„Sehen Sie die kleine Grisette – was mag sie hier wollen?“ sprach der Pariser auf sie deutend.
Das junge Mädchen trug einige Sträußer von Herbstblumen und zwei kleine Kränze, welche sie auf dem jüngeren Grab niederlegte … dann sahen wir sie niederknien, und den Kopf in die Hand gestützt, lange an dem Grabhügel verweilen. Vielleicht war es die Madeleine, welche das Kreuz auf das Grab ihres Julius hatte setzen lassen, und die nach sechs Jahren noch nicht ihren Geliebten vergessen hatte. Eine seltene Treue bei einer pariser Grisette! Der Aufseher zeigte uns dann noch die Gräber Racine’s, Molière’s, der einst durch ihre Schönheit so berühmten Madame Recamier[WS 11], der Mademoiselle Rancourt, der berühmten Schauspielerin, Casimir Perier’s, des Dichters Delille[WS 12] und einer Menge anderer berühmter Frauen und Männer, deren Namen die gewaltigsten Erinnerungen wachrufen … Aber der Père La Chaise sieht nicht blos Scenen der Trauer und Thränen des Schmerzes – er sieht auch die Küsse der Liebenden. In der dunklen Allee, die an dem Grabmal Abälard’s und Heloisen’s vorbeiführt, wandelte eine junge elegante Frau und ein junger hübscher Mann seit geraumer Zeit auf und nieder, mitunter blieben sie stehen, und nachdem sie [454] sich verstohlen umgesehen, wechselten sie schnell einige zärtliche Küsse. Mein pariser Freund versicherte mir, daß der Père La Chaise sehr häufig zum Stelldichein für Liebende, welche Vorsicht nöthig haben, gewählt wird.
Wir hatten indessen die Höhe hinter der „Chazelle,“ von wo man die schönste Aussicht hat, erreicht. Es war ein herrlicher Anblick. Vor uns Paris mit seinen Palästen, Säulen, Thürmen, Boulevards und Plätzen, ein weites, unübersehbares Häusermeer; zur Linken die Höhen von Belleville, von La Chazelle und Montmartre. Im Osten die von Bercy sich heraufschlängelnde Seine mit ihren Brücken und Quai’s, die immer von Menschen wimmeln. – Auf dem Rückweg warfen wir noch einen Blick auf den israelitischen Gottesacker, welcher, es verdient dies erwähnt zu werden, seinen Platz gleichsam innerhalb der Mauer, welcher die hundertunddreißig Acker des Père La Chaise umschließt, gefunden … Zum Begräbnißplatz wurde der Père La Chaise im Jahre 1793 durch ein Decret des Nationalconvents, welches alle Beerdigungen in Mitten der Stadt Paris, in den Kirchen und inneren städtischen Kirchhöfen streng untersagte … Von den Höhen von Belleville und des Montmartre begann ein kalter Herbstwind zu wehen und dunkle Regenwolken zogen über den Himmel und trieben uns zum Heimweg an. Am Ausgang der Rue de la Roquette, da wo sie auf den Boulevard Bourbon mündet, hemmte eine dichte Menschenmenge unsere Schritte und zugleich schlugen die Klänge der neuen französischen Nationalhymne: „Partant pour la Syrie,“ an unser Ohr. Es war ein Regiment Linieninfanterie, welches mit seinem Musikcorps an der Spitze nach dem Bahnhof marschirte, um nach Marseille abzugehen, wo es nach der Krim eingeschifft werden sollte … Der Oberst ritt mit gezogenem Säbel an der Spitze des Regiments, dessen Glieder sich gelöst hatten, um den Frauen, Mädchen und Kindern, die von ihren Gatten, Geliebten, Vätern, Abschied nahmen, Platz zu machen. Mir fiel die junge Frau vom Père La Chaise ein, deren Mann auch in der Krim stand; wie viele von diesen weinenden Frauen, Mädchen und Kindern sahen hier auf dem Boulevard Bourbon ihre Lieben zum letzten Mal.
„Indessen,“ meinte der Pariser, „bleibt sich das gleich, ob man vor Sebastopol oder im Père La Chaise begraben liegt – man schläft hier wie dort.“
Die Worte sind charakteristisch. Die jungen Soldaten schienen übrigens durchaus nicht traurig, man sah nur heitere, muntere Gesichter, die aussahen als gingen sie zum Tanz und nicht zum blutigen Schlachtenkrieg, und als der Oberst sich endlich auf dem Pferde wendete und „Achtung!“ commandirte, die Tamboure wirbelten und die Gewehre sich schulterten und die Weiber und Kinder zurückwichen, da blitzte jedes Auge im Regiment kampfeslustig, und die Umstehenden riefen ein Hoch auf den Colonel und seiner braves garçons! Wie viele von ihnen werden die Boulevards von Paris wieder erblicken?
Allgemeiner Briefkasten.
C. in Nan. (Frankreich.) Sie wollen unserm Wunsche betreffs einer Schilderung der Deutschen im Elsaß nicht nachkommen. Höhnend schreiben Sie: „Die Deutschen im Elsaß! Was heißt das? Zwar spricht das Landvolk noch immer die alte Sprache und auch die Straßburger können noch größtentheils „ditsch redde“, zwar wird noch hier und da „der Schiller“ auf der étagère der Herrschaften und das „Habermännel“ im Koffer des Gesindes gefunden, zwar hört man dann und wann noch „ditschi Liedle“ singen:
Z’naachts, wenn der Mond scheint,
Trappelt’s uf da Brucke,
Schleppt der Hansel ’s Gretel heim
Mit der siwern Krucke.
Zwar ist vielleicht unter dem heranwachsenden Geschlechte auch noch ein oder der andere Schulknabe schwärmerisch-einfältig genug, um, auf Straßburgs Wällen spazierend und auf einer der dort liegenden Kanonen rittlings ausruhend, wehmüthige Betrachtungen darüber anzustellen, daß sein den Vogesen zugekehrtes Bein französisch, das dem Schwarzwald zugekehrte andere hingegen deutsch sei, was allerdings sehr mißlich ist, denn wenn zwei Beine einander nicht verstehen, so ist das äußerst hinderlich für’s Fortkommen in der Welt. Und freilich ließe sich manches Interessante über die Deutschen im Elsaß sagen und auch von den Zigeunern in den Vogesen wüßte ich Vieles zu erzählen. Ich aber werde diesen Gegenstand nun und nimmermehr behandeln. Ich finde, daß die Elsasser nicht Gescheidteres thun können, als sich so schnell und vollständig als möglich zu französisiren. Jede Erinnerung an die Ueberreste vom deutschen Wesen im Elsaß bringt mein Blut in Wallung – darum nichts von den Deutschen im Elsaß.“ –
So schreiben Sie und doch wollen Sie „das alte Rabenmutterland“ noch innig lieben. Wir können uns den Grund dieser Abneigung, am wenigsten aber Ihren Wunsch, die Elsasser so bald als möglich als echte Franzosen zu sehen, nicht ganz erklären. Denn wenn wir auch zugeben, daß die alten Sünden und Schwächen Deutschlands keine großen Sympathien für das einstige Vaterland erwecken können, so ist dies doch nicht Grund genug, dem Vaterlande ein Stück Land und Volk zu mißgönnen, das urdeutsch war und die Resultate deutschen Fleißes, deutscher Kunst und deutscher Sitte noch besitzt. Sie lieben das Deutsche und denken doch nicht deutsch. –
Gedichte. L. in M. O. Leidet an Härte und kann nicht benutzt werden. – Th. in Schwarzburg. Viel Feuer und Gluth, viel Liebe und Schwärmerei, aber doch nicht zum Abdruck geeignet. – E. N. in Dresden. Der Raum des Briefkastens ist zu beschränkt, um ausführliche Beurtheilungen zu geben. Das Erscheinen eines Gedichts in der Gartenlaube ist wohl die beste Kritik. – O. Sch-ch. In der Ballade: „des Schiffers Treue“ viel Schönes, bis auf den Schluß, der unpoetisch gedacht. – Th. Ude in L. Wir danken Ihnen für den Beweis Ihrer Hochachtung. Der Gedanke des Gedichts ist sehr hübsch und ansprechend. – Alfred in A. Mit vielem Interesse gelesen. Aber warum bei so viel Jugend so viel Unglück und Thränen? Gewisse Dichter kommen uns immer wie Schwämme vor, je mehr man sie drückt, je mehr Wasser geben sie von sich. – H. T. in C–n.
„Dein zu sein – o welch Entzücken,
Welche Wonne, welches Glück
Liebend Dich an’s Herz zu drücken,
Liebe spräch’ aus jedem Blick.“
Sehen Sie, das ist Alles recht hübsch und schön, und wird auch Ihrer Bertha, Emma oder Aurora recht wohl gefallen, wenn Sie ihr die Verse auf einem rosenumkränzten Briefbogen sauber copirt eines Morgens durch die Post zuschicken – aber für die Gartenlaube – das ist doch wohl Ihr Ernst nicht! Und dann wünschen Sie auch noch Honorar. Sie kleiner Schäker! – K. in W. Danken freundlichst. Werden später benutzt. – J–l. in Ch. Vielleicht später, augenblicklich fehlt es uns wirklich an Raum. – Schließlich für alle die Herren Poeten nochmals die Notiz, daß wir uns zum Zurückschicken von Gedichten nicht verstehen können und deshalb wiederholt bitten, Abschriften zu nehmen.
Z! Z. in Breslau. Wir bitten freundlichst um Entschuldigung, wenn unsere Antwort etwas später erfolgt. Der „Ritt an den Jordan“ nimmt zu viel Raum weg, als daß er Aufnahme finden könnte, dagegen werden Sie den „Schiffbruch im Archipel“ schon nächstens abgedruckt finden. Ueber die kleine Novelle werden wir später Entscheidung fassen. Dürfen wir die Anfangsbuchstaben Ihres wahren Namens den Artikeln beisetzen?
G. in E. Ihr Artikel ist geistreich, aber doch nicht ganz verständig geschrieben. Wir wollen keine hübschklingende Tändeleien, sondern unterhaltende Belehrungen. Bei Ihnen wie bei manchem andern Schriftsteller gilt das alte gute Wort: Man trifft zehn geistreiche Männer an, bis man einen Verständigen findet. Die Redaktion.
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Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ eingefügt anhand https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=ien.35556000830745&view=1up&seq=458
- ↑ August Willich
- ↑ Vorlage: orgonischer
- ↑ Karl von Reichenbach
- ↑ Friedlieb Ferdinand Runge
- ↑ August Wilhelm von Hofmann
- ↑ Charles Angélique François Huchet de La Bédoyère
- ↑ Michel Ney
- ↑ Vorlage: unten
- ↑ Vorlage: frére
- ↑ Julie Recamier
- ↑ Jacques Delille