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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1855
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 23. 1855.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle. Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.


Die Doppelgängerin.
Von August Schrader


I.
Der Freund.

Das glänzendste Fest der römisch-katholischen Kirche ist das Frohnleichnamsfest. Brüssel bietet an diesem Tage einen wahrhaft magischen Anblick: die Straßen sind sorgfältig von Staub gesäubert und mit Blumen bestreut, die Balkons und Fenster der Häuser mit Kränzen, Guirlanden und Teppichen reich geschmückt, sind mit Zuschauern angefüllt, daß sie den Logen eines Theaters gleichen; in der Mitte der Straße bilden die Garden für die herannahende Prozession eine Gasse, und hinter dem Rücken der Krieger wogt das Volk, sonntäglich geschmückt, in dichtem Gedränge. Wie fest gebannt stehen die Neugierigen an ihrem Platze, den die Meisten schon vor Aufgang der Sonne eingenommen haben, um ihn desto sicherer zu erlangen.

Um neun Uhr erschüttert ein Kanonenschuß die Luft. Ein allgemeines Gemurmel der Zufriedenheit läßt sich vernehmen, denn dieses Zeichen kündigt an, daß die große Prozession die Kirche St. Gudula verläßt, um sich unter dem Geläute aller Glocken langsam durch die Stadt zu bewegen. Bald hört man die Musik und die frommen Gesänge, der Duft des Weihrauchs mischt sich mit dem Wohlgeruche der Blumen, und bei dem ehrfurchtsvollen Schweigen der Menge erscheint im strahlenden Ornate die hohe Geistlichkeit, gefolgt von Dominikanern, Kapuzinern und Karmelitern.

Der imposante Zug bewegt sich dem großen Marktplatze zu, wo vor dem alten Rathhause, das mit grünen Zweigen und Kränzen bedeckt ist, sich ein Altar erhebt. Unter den neugierigen Zuschauern, die in der Nähe dieses Altars Posto gefaßt, bemerken wir einen jungen Mann, der sich nicht nur durch sein Aeußeres, sondern auch durch sein freieres Benehmen von den Andächtigen seiner Umgebung unterscheidet. Er trägt einen höchst eleganten schwarzen Anzug, und verräth den Stutzer vom feinsten Geschmack. Da er den feinen Filzhut in der Hand trägt, bemerkt man sein sorgfältig coiffirtes braunes Haar, das sich in einem Toupet über der hohen Stirn erhebt. Sein schönes Gesicht mit einem schwarzen krausen Barte über der Oberlippe ist von der Hitze geröthet. Während alle andern Personen ehrfurchtsvoll des herannahenden Schauspiels harren, hat er sein goldenes Lorgnon an die Augen gesetzt, und prüft, mit der Ungezwungenheit eines Kenners, den Zug weiß gekleideter junger Mädchen, die Blumen streuend der Prozession vorangehen, und sich dann in Gruppen um den Altar stellen. Vier von ihnen tragen einen prachtvollen Teppich, den sie auf den Stufen ausbreiten.

„Adam!“ flüsterte er einem Manne zu, der neben ihm stand.

Adam hörte nicht sogleich, denn seine ganze Aufmerksamkeit war auf die vier Mädchen gerichtet, die sich knieend auf den Ecken des Teppichs niedergelassen, und die kleinen weißen Hände betend zusammengelegt hatten. Sie bildeten eine unaussprechlich reizende Gruppe. Es schien fast, als ob man die lieblichsten Geschöpfe zu diesem frommen Amte auserlesen hätte.

„Adam, Adam!“ rief lauter der junge Mann.

„Gnädiger Herr?“ fuhr wie erschreckt der Angeredete auf.

„Kennst Du das junge Mädchen, das links neben der ersten Stufe auf dem Teppich kniet?“

„Vielleicht!“

„Was soll das heißen?“

„Daß ich erfahren kann, wer sie ist, wenn ich mich jetzt in der Person täuschen sollte.“

„Du erhältst einen Friedrichsd’or, wenn Du sichere Nachricht bringst, und wirst sofort aus dem Dienste gejagt, wenn Du Dich als einen ungeschickten Teufel zeigst. Geh, ich gebe Dir Frist bis diesen Abend.“

Adam, ein kleiner hagerer Mann in einem blauen Livréerocke, lächelte so zuversichtlich, als ob er sagen wollte: halten Sie den Lohn bereit, ich werde ihn gewiß verdienen. Dann verschwand er im Gedränge, um gleich darauf in der Nähe des jungen Mädchens wiederzuerscheinen. Die Blicke des jungen Herrn ruhten unverwandt auf der lieblichen Erscheinung, und wahrlich, das Mädchen war völlig geeignet, die Aufmerksamkeit im hohen Grade zu fesseln. Bei dem Klange der Glocken, den Tönen der Musik und Gesänge, die sich mehr und mehr näherten, bei dem leisen Gemurmel der Betenden glich sie einem Seraph, der zur Verherrlichung des Festes vom Himmel herabgesendet. Ihr Haar, schwarz wie Ebenholz, fiel in schweren Locken auf die Schultern herab; ihre Stirn, weiß wie der zarteste Alabaster, schien das heitere Sonnenlicht widerzustrahlen, die schönen edel geschweiften Brauen schienen von der Hand eines Malers künstlich erschaffen zu sein; die gesenkten Augenlider mit den schwarzen Wimpern verhüllten einen feuchten, von himmlischer Bewegung erfüllten Blick; die kleine edel geschnittene Nase gab ihrem anmuthigen Profil jenen Charakter antiker Schönheit, den man nur selten noch auf der Erde findet. Ein ruhiges, kaum merkliches Lächeln, das zwar von der Seele ausgegangen, aber die Lippen noch nicht erreicht hat, verlieh dem rosigen Munde einen unbeschreiblichen Ausdruck von Keuschheit, Frömmigkeit und Milde. Das kleine runde Kinn gab diesem reifenden Gesichte die höchste Vollendung. Der mattweiße schlanke [294] Hals trug das liebliche Köpfchen mit natürlicher, ungezwungener Grazie. Der jugendliche, elastische Körper war von einem weißen Mousselinkleide eingehüllt, dessen weite Falten bis zu den Fußspitzen hinabgingen. Die zarte Taille umschlang ein Gürtel von weißem Schmelz, in dem ein schwarzer Rosenkranz mit einem goldnen Kreuze hing. Mehr als ein Beobachter bewunderte diese seltene, und dabei so bescheidene Schönheit.

Die Ankunft der Prozession veränderte die Scene. Die Zuschauer wurden zurückgedrängt, die Garden bildeten einen Kreis um den Altar, und eine kurze Messe begann. Der weite Marktplatz mit der unabsehbaren Volksmenge, die stets neuen Zufluß aus den Straßen erhielt, ward zur Kirche. Unser Beobachter hatte das Mädchen aus dem Gesichte verloren, dessen Schönheit er als eine engelgleiche anerkennen mußte. Für die Festlichkeit hatte er ferner keinen Sinn, und mit Ungeduld harrte er des Augenblicks, der ihm eine Veränderung seines Platzes erlauben würde. Endlich setzte sich die Prozession wieder in Bewegung, aber dem Stutzer war es unmöglich, einen Platz zu gewinnen, von wo er den Gegenstand seiner Bewunderung erblicken konnte. Grollend zog er sich aus dem Menschenstrome zurück, und schlug den Weg nach dem großen Parke ein, um während eines einsamen Spazierganges an die wunderbare Erscheinung zu denken. Er sollte nicht lange allein bleiben, denn in einem der schattigen Laubgänge trat ihm ein Spaziergänger entgegen, ein junger Elegant, der ihn mit der lebhaftesten Freude begrüßte.

„Sie hier, Graf, und um diese Zeit?" rief er aus.

„Wundern Sie sich darüber, Herr von Dermont? Der Tag ist schön, und da das Getöse in der Stadt mir lästig ist – –"

„Man sprach schon davon, daß Sie Ihre Reise nach Scheveningen angetreten hätten.“

„Wer sprach davon?“

„Es war nur eine Vermuthung, die ich gerechtfertigt fand, da die Marquise von Beaulieu schon vorgestern nach dem Orte abgereist ist, wo sie sich von den anstrengenden Freuden des verflossenen Winters zu erholen pflegt. Ach mein Bester, die reizende Wittwe ist der Reise in ein Bad werth! Ich beneide Sie um die Liaison mit der geist- und geldreichen Frau!“

„Sie sind sehr offenherzig, Dermont!“

„Mein Gott, alle Welt spricht darüber! Und, verhehlen Sie es nicht, die Eifersucht des Lords, der bei jeder Gelegenheit mit seinen Pfunden prahlt, ist für Sie ein großer Triumph.“

„Lassen wir das!“ sagte lächelnd der Graf. „Ich halte es für keinen Sieg, dem Lord Darnley vorgezogen zu werden. Er ist mehr einfältig als anmaßend –“

„Wie alle Leute, die ihren Reichthum nicht erworben haben. Verstand und Bildung sitzen bei ihnen in der Kasse!“ rief Dermont. „Uebrigens hegt der Lord eine ernste Leidenschaft für die schöne Marquise, und es sollt mich wundern, wenn er ihr nicht in das Bad folgte, um dort seine eifrigen Bewerbungen fortzusetzen. Seien Sie auf der Hut, Graf, der edle Lord könnte Ihnen gefährlich werden!“

„Ich lasse es darauf ankommen, mein Freund!“ sagte lächelnd der Graf Montlosier. „Vor der Hand werde ich noch in Brüssel bleiben, mag der Lord reisen oder nicht.“

Die beiden Männer gingen Arm in Arm durch den Park. Sie waren die einzigen Spaziergänger an dem sonst so belebten Platze, da die ganze Bevölkerung der Hauptstadt der Prozession folgte. George von Montlosier hörte das Geplauder seines lebhaften Freundes schweigend und theilnahmlos mit an, denn seine Gedanken waren immer noch bei dem reizenden Blumenmädchen, dessen Madonnenköpfchen einen tiefen Eindruck auf ihn ausgeübt hatte. Während des Gesprächs sah Dermont oft nach der Uhr, und unmerklich hatte er den Weg nach der Allee eingeschlagen, die für Reiter und Wagen eingerichtet war.

„Bekennen Sie es, Dermont,“ sagte George, „Sie hat eine bestimmte Absicht um diese Zeit in den Park geführt. Wollen Sie allein sein – ich ziehe mich zurück.“

„Sie haben es errathen, Graf! Aber es ist mir lieb, Sie gefunden zu haben. Sie sind mein Freund, und Ihnen darf ich wohl anvertrauen, daß ich diesen Morgen kein müßiger Spaziergänger bin. Hören Sie eine wunderliche Geschichte, die ich vor vierzehn Tagen hier im Parke erlebt habe.“

„Sind Sie verliebt, Dermont?“ fragte George lächelnd.

„Ich glaube.“

„Seit dem Bruche mit der koketten Mathilde hatten Sie den Frauen ewigen Haß, selbst Verachtung geschworen."

„In der ersten Aufregung hätte ich noch mehr gethan; ich verhehle nicht, daß ich mich damals in einer Verfassung befand, die mir das Leben verhaßt machte, und wäre mir dieses Abenteuer nicht begegnet, wer wüßte, was ich gethan hätte. Fast scheint es, als ob mir das Schicksal einen reichen Ersatz zugedacht hat.“

„Nun, so erzählen Sie!“

„Das Zerwürfniß mit der stolzen Mathilde hatte mir meine heitere Laune völlig zerstört, und ich zog mich aus allen Cirkeln zurück, die das übermüthige Geschöpf zu besuchen pflegte; ich wollte selbst den Schein meiden, als ob ich eine Annäherung suchte. Der Gedanke, daß eine andere Neigung der Grund ihres seltsamen Betragens sein könne, daß man mich gewissermaßen bei Seite geschoben habe, erfüllte mich mit einem unbeschreiblichen Grolle, und ich muß gestehen, daß das Gefühl gekränkten Stolzes mich mehr quälte, als das erlittene Unglück in der Liebe. Um jene Zeit nun sprach ich mich über die Frauen im Allgemeinen aus, wie Sie wissen. Fast muß ich annehmen, als ob sich Gott Amor, den ich lästerte, dafür rächen wollte. An einem heitern Frühlingstage durchstrich ich einsam den Park. Ich kam in die Eremitage, die dort unten tief im Gebüsche versteckt liegt. Erschöpft warf ich mich auf die Bank, die in dem kleinen anmuthigen Raume stand. Durch die farbigen Fenster fiel ein mattes, melancholisches Licht herein, das, vereint mit der Stille der Umgebung, meine düstere Stimmung vermehrte. Ich gefiel mir in dieser Situation, und gab, um mit den Worten eines bekannten Diplomaten zu reden, meinen Gedanken eine besondere Audienz. Da fiel mein Blick auf ein Buch, das neben mir aus der Bank lag. Ich öffnete es und fand: les avantures de Télémaque von Fenelon. Es war eine von den eleganten pariser Taschenausgaben. Ohne weiter an die Person zu denken, die es zurückgelassen, begann ich zu lesen. Die Lektüre interessirte mich, und ich weiß nicht, wie lange ich ihr nachgehangen, als ich plötzlich das Knistern von Schritten und das Rauschen eines Frauenkleides vernahm. Ich sah auf, und eine Dame stand vor mir, deren Schönheit mich blendete wie ein elektrisches Licht. George, es war kein irdisches Wesen, das war ein Engel, eine Göttin. Welch eine Anmuth in dem reizenden, blühenden Gesichte, welche Eleganz in den herrlichen Formen, welche die Blüthe der Jugend schmückte! Sie trug ein Kleid von himmelblauer Seide, einen weißen Shawl und einen weißen Hut mit Federn. George, ich war so geblendet, daß ich nicht daran dachte, sie könne gekommen sein, um das Buch zu holen, und ich vergaß, es ihr anzubieten. Schweigend erhob ich mich und grüßte.“

„Verzeihung, mein Herr, begann eine zarte, kindliche Stimme, Verzeihung, wenn ich störe – ich vermisse ein Buch, das ich ohne Zweifel hier vergessen habe.

„Dann lächelte sie, als sie meine Zerstreuung bemerkte. Himmel, was war das für ein Lächeln! Welche Korallen schimmerten dabei durch den Purpur der feinen Lippen! Welche Grübchen zeigten sich auf den engelgleichen Wangen!“

„Dermont,“ rief der Graf, „mir scheint, Mathilde ist vergessen! Sie sprechen in Ihrer Begeisterung nur von dem Engel – was thaten Sie?“

„Ich überreichte das Buch, indem ich eine Entschuldigung stammelte.“

„Und die Dame?“

„Sie nahm es, und dankte durch eine graziöse Verbeugung. Die reizende Leserin des Telemaque wollte sich nun entfernen. Der Gedanke, daß ich sie vielleicht nie wiedersehen würde, gab mir den Muth, eine Unterredung anzuknüpfen, und sie ging mit einer Leichtigkeit und Gewandtheit darauf ein, daß ich bald meine Fassung wiedererlangt hatte und ruhig die bezaubernde Schönheit bewundern konnte. So begleitete ich sie aus der Eremitage in den Park. Aus ihrem Wesen sowohl wie aus ihrer Unterhaltung ging hervor, daß sie der höhern Sphäre angehörte, und dabei sprach sie mit einer Naivität, die ihrer Schönheit einen wunderbaren Nimbus verlieh.“

„O, sie muß wohl ihre Naivität bewahrt haben, da sie den Telemaque lesen konnte!“ rief der Graf mit einem Anfluge von Ironie. „Ueber das kindliche Gemüth!“

„Spotten Sie nicht, Graf!“ sagte Dermont ernst. „Unsere Salondamen, die von modernen Romanen sprechen, die sie lesen, von Corneille, Raçine, Goethe und Schiller, die sie nicht lesen, [295] diese Damen, behaupte ich, kokettiren nur mit der Bildung, während hier wirklich ein Schatz von Kenntnissen vorhanden ist.“

„Also eine gelehrte Dame!“

„Auch das nicht. Sagen Sie, eine denkende, eine fühlende Dame.“

„Und zu allen diesen Ansichten sind Sie durch die kurze Unterredung gekommen?“

„Hören Sie weiter, und bilden Sie sich nicht vorschnell ein Urtheil, vielleicht schildert meine Begeisterung falsch oder mit zu grellen Farben. Ich begleitete sie also durch den einsamen Theil des Parks, dessen Schlangenwege ihr bekannt sein mußten, denn sie führte mich zu der Fontaine. Hier trat uns eine elegant gekleidete, bejahrte Frau entgegen, die auf meine Begleiterin gewartet hatte. Die beiden Damen grüßten sehr artig, dann verließen sie mich. Ich glaubte zu bemerken, daß die jüngere tief erröthete, als ich bei dem Abschiedsgruße einen bedeutungsvollen Blick auf sie warf. Es würde verletzend gewesen sein, wenn ich meine Begleitung hätte fortsetzen wollen. Ich blieb bei der Fontaine, und sah den Damen nach, bis sie in der nächsten Krümmung des Wegs verschwanden. Graf, erlassen Sie mir die Beschreibung des Eindrucks, den das göttliche Geschöpf auf mich ausgeübt hatte. Welch’ ein Contrast lag zwischen ihr und Mathilde! Mir war, als ob ich jetzt erst eine wahrhaft schöne Frau gesehen hätte. Träumend ging ich zur Hauptallee zurück. Da fuhr ein eleganter offener Wagen an mir vorüber – die beiden Damen saßen darin. Unwillkürlich blieb ich stehen und zog ehrerbietig den Hut. Mein Engel aus der Eremitage nickte so freundlich mit dem Kopfe, als ob er mir nicht genug für den kleinen Dienst danken konnte, den ich ihm geleistet hatte. Dies Alles hielt ich für ein günstiges Zeichen, und ich beschloß, der Schönen nachzuforschen. Am folgenden Tage war ich um dieselbe Stunde wieder in dem Parke. Leise schlich ich mich zu der Eremitage und lauschte durch eins der goldgelben Fenster. Meine Ahnung hatte mich nicht getäuscht – die Schöne saß wieder auf der Bank und las im Telemaque.“

„War sie allein?“

„Nein. Ihr gegenüber saß die bejahrte Frau und schlief. Heute war die Leserin einfach in Weiß gekleidet, und da sie den Hut neben sich gelegt, konnte ich den Kopf deutlich beobachten. Das gelbe Licht, das das Fenster erschuf, hatte einen Heiligenschein um das Madonnenhaupt gezogen.“

„Dermont, ich erlasse Ihnen die Beschreibung – fahren Sie fort.“

„Trotzdem mir das Herz gewaltig pochte, hielt ich es dennoch für einen Raub an mir selbst, wenn ich das Anschauen dieses überirdischen Tableaus unterbrechen wollte. Tausend Gedanken durchkreuzten meinen brennenden Kopf, und ich war selbst eitel genug zu glauben, daß die Leserin meinetwegen ihren Platz heute wieder gewählt habe. Einer Dame wie ihr, sagte ich mir, kann es sicher nicht an einem Garten fehlen, in dem sie, ohne sich der Störung auszusetzen, sich der Lectüre des Telemaque hingeben kann. Warum wählt sie diese Eremitage, die jeder Spaziergänger betreten kann?“

„So hätte auch ich philosophirt!“ meinte lächelnd der Graf. „Und haben Sie sich getäuscht?“

„Urtheilen Sie. Nach zehn Minuten erwachte die Schläferin, die Leserin setzte ihren Hut auf, erhob sich, und ließ zu meinem Erstaunen das Buch auf der Bank zurück.“

„Glauben Sie, daß man Ihre Anwesenheit bemerkt hat?“

„Nein, denn ich näherte mich sehr leise, und so lange ich lauschte, hat die Leserin keinen Blick von dem Buche abgewendet. Trotzdem aber nahm ich an, daß sie von einer Absicht geleitet ward, und in dieser Voraussetzung trat ich ihr an der Treppe der Eremitage keck entgegen. Ihr ganzes Gesicht flammte auf, als sie mich erblickte. Nachdem wir einige Schritte gegangen waren, fragte die Aeltere. „„Wo hast Du das Buch?““ – „„Mein Gott, ich habe es schon wieder vergessen!“ rief sie in einer grenzenlosen Verwirrung, und wollte zurückkehren. Sie können sich denken, daß ich ihr zuvor kam und den Telemaque mit einer Miene zurückbrachte, die durchaus meine Ansicht über die Vergeßlichkeit nicht verrieth. Wir sprachen von Fenelon, von der klassischen und von der modernen Literatur, und die unbekannte Schöne legte Ansichten an den Tag, die mich mit Erstaunen erfüllten. So hatte Mathilde nie gesprochen. Und dabei war sie sich so wenig der Macht ihrer Reize bewußt, daß sie nur schüchtern ihre geistreichen Behauptungen aufzustellen wagte. An der Fontaine nahm sie in derselben Weise Abschied, wie Tags zuvor. Ich ging nach der Hauptallee, und dort sah ich ihren Wagen wieder vorüberrollen. Wir grüßten wie das erste Mal. Mathilde war vergessen, aber um meine Ruhe war es geschehen. Die beiden folgenden Tage hatte sich regnerisches Wetter eingestellt, ich ging zur Eremitage, fand aber meine Schöne nicht. Es kam wieder gutes Wetter, aber die Leserin blieb aus. Ich bekenne, daß ich eine qualvolle Zeit durchlebte. Zu Fuß und zu Pferde durchstrich ich die Straßen und Promenaden, ich besuchte das Theater – nirgends fand ich eine Spur von meiner Unbekannten. Auf meinen Wanderungen trug ich ein Billet bei mir, das ich ihr zustecken wollte, im Falle ich sie an einem Orte wiederfinden sollte, wo ich mich ihr nur flüchtig nähern konnte. In diesem Billet bat ich sie um eine Unterredung in der Eremitage; aber leider ist es mir noch nicht gelungen, das Papier an die Leserin zu befördern, deren Namen ich nicht einmal kenne.“

„Und Sie haben sie bis jetzt auch nicht wieder gesehen?“ fragte der Graf.

„Gesehen, aber nicht gesprochen. Täglich, kurz vor zwölf Uhr, fährt sie mit ihrer alten Begleiterin durch den Park, und ich hoffe, daß sie auch heute wieder kommen wird. Die Besuche in der Eremitage hat sie eingestellt. Vorigen Sonntag war ich zu Pferde hier. Ich folgte dem Wagen, der im raschen Trabe fuhr, natürlich in einiger Entfernung, um kein Aufsehen zu erregen. Die elegante Droschke verließ die Stadt, bog in eine Straße blühender Hecken, und hielt vor einem kleinen reizenden Landhause. In dem Augenblicke, als ich vorüberritt, stieg sie aus, ich grüßte und sie dankte. So stehen die Sachen, und vergebens warte ich auf die Gelegenheit, um eine Annäherung zu bewirken; dann aber soll mich Nichts abhalten, mich unumwunden zu erklären.“

Die beiden Männer setzten in der großen Allee ihren Spaziergang fort, es schlug zwölf, aber kein Wagen war zu sehen. Der Graf theilte dem Freunde die Erscheinung des Blumenmädchens mit und schilderte den Eindruck, den sie auf ihn gemacht hatte.

„Das ist seltsam!“ rief Dermont. „So schmachten wir Beide für unbekannte Schönheiten! Aber Sie sind glücklicher als ich, die Marquise wird den Eindruck bald verwischen, während ich –“

„Während Sie hoffen dürfen, Ihr Ziel zu erreichen. Nach der Beschreibung ist Ihre Schöne eine Dame von Stand und Bildung – wer wird mein Blumenmädchen sein?“

Dermont ward nachdenkend, denn die Zeit war so weit vorgerückt, daß er auf das Wiedersehen seiner Schönen für heute verzichten mußte. Am Ausgange des Parks trennten sich die Freunde. Der Graf schlug den Weg nach St. Gudula ein, um die Rückkehr der Prozession zu erwarten. Ohne Mühe gelangte er in das Gotteshaus, denn die große Menge hatte sich bereits verlaufen. In der Vorhalle trat ihm Adam entgegen. Er zog ihn bei Seite und flüsterte:

„Was hast Du erfahren?“

„Bis jetzt nichts, aber es sind alle Einleitungen getroffen, daß ich Ihnen diesen Abend sichere Nachricht geben kann.“

„Wo befindet sich das Mädchen?“

„Folgen Sie mir!“

Adam führte seinen Herrn, der vor Ungeduld brannte, in das Innere der Kirche. Vor einem der Seitenaltäre lag das Blumenmädchen auf den Knien und betete. Zwar hatte sie ihm den Rücken zugewendet, aber an den edeln Formen, an dem von Locken umflossenen Madonnenköpfchen, an der ganzen Haltung des anmuthigen Körpers erkannte er sie auf den ersten Blick wieder. George nahm einen Platz ein, der ihm erlaubte, das Gesicht der Betenden zu beobachten. Es lag etwas unaussprechlich Heiliges in der Erscheinung des jungen Mädchens, das den zur romantischen Schwärmerei geneigten Grafen mit einem ihm bis jetzt noch unbekannten Gefühle erfüllte. Er hatte manche Schönheit gesehen, aber keine, die so rührend zum Herzen sprach, wie diese. Plötzlich bemerkte das junge Mädchen, daß es beobachtet wurde. Verwirrt blickte sie zu Boden und entblätterte eine Rose, die sie in den zarten, wie aus Wachs geformten Fingern hielt. Sie hatte ohne Zweifel denselben Mann wieder erkannt, dessen besonderer Aufmerksamkeit sie auf dem Marktplatze ausgesetzt gewesen war. Noch eine Minute blieb sie in ihrer Stellung, dann erhob sie sich und schwebte wie eine Lichtgestalt die Bogenhalle entlang. Mechanisch folgte der [296] Graf, als ob er durch eine wunderbare Macht dazu gezwungen würde. Die Schöne wählte einen Seitenausgang, und hier stand eine Magd, die ihr einen leichten Mantel und einen runden Strohhut reichte. Während sie sich damit bekleidete, entstand ein Gedränge von Landleuten und Arbeitern an der Thür, denn die Messe war zu Ende. Auch der Graf ward mit fortgerissen, und in der Vorhalle, wo sich Aller Hände nach dem Weihbecken ausstreckten, entstand ein so arges Getümmel, daß mehrere Frauenstimmen laut um Vorsicht baten. George sah, wie das arme Blumenmädchen sich zwischen einem Dutzend jener rohen Fabrikarbeiter befand, die selbst die Heiligkeit des Ortes nicht abhielt, dem zarten Wesen verletzende Aufmerksamkeit zu erweisen; es entstand ein lautes Gemurmel, und jeder wollte der Ritter des schönen Mädchens sein. Mit kräftigen Armen bahnte sich der Graf einen Weg, und schon im nächsten Augenblicke hatte er die Bedrängte erreicht. Wie eine Schutzwehr stellte er sich vor das zitternde Mädchen.

„Zurück!" rief er befehlend.

Murrend und höhnisch lachend gingen die bärtigen, rauhen Gesichter an ihm vorüber. Keiner wagte es ferner, die Hand auszustrecken. Der Strom verlief sich, und bald war George mit seiner Beschützten allein in der Vorhalle. Mit dem Anstande eines Cavaliers ergriff er das Weihbecken und präsentirte es dem jungen Mädchen. Zitternd benetzte sie die kleine Hand mit dem geweihten Wasser und besprengte Gesicht und Brust, indem sie sich fromm bekreuzte. Aber wie sie zitterte auch der junge Mann, denn er hatte ihr in das große himmelblaue Auge gesehen, dessen wunderbarer Blick ihm tief in die Seele drang. Erröthend verneigte sie sich, um ihren Dank abzustatten. In diesem Augenblicke erschien die Magd, der sie leise Auftrag gab, einen Fiaker zu holen.

„Ich bedauere das Mißgeschick, das Ihnen die Feier des Festes trübte“, sagte George höflich. „Der Pöbel umwogt noch die Kirche – ich bitte um die Erlaubniß, Sie bis zum Wagen begleiten zu dürfen.“

„Die Verlegenheit zwingt mich, Ihre Gefälligkeit zu mißbrauchen!“ flüsterte sie verwirrt.

„Wie glücklich preise ich mich, daß es mir vergönnt war, Ihnen einen kleinen Dienst zu leisten.“

Sie legte ihren Arm in den dargebotenen des Grafen. Beide traten aus der Kirche auf den Platz. In einiger Entfernung stand die Magd und unterhandelte mit einem Fiaker. Der Graf war gewandt in der Unterhaltung mit Frauen; hier aber hatte sich eine seltsame Befangenheit seiner bemächtigt. Trotzdem ihre einfache Toilette und der Dienst, den sie bei der Prozession geleistet, eine gewöhnliche bürgerliche Herkunft verriethen, so lag dennoch in ihrem ganzen Wesen ein wunderbares Etwas, das mit ihrer äußern Erscheinung im Widerspruche stand. Die wenigen Worte, die sie gesprochen, bekundeten einen Takt, der nur Damen von hoher Bildung eigen zu sein pflegt. Schweigend hatte man den Fiaker erreicht. Das Blumenmädchen zog leise den Arm zurück und dankte noch einmal durch eine graziöse Verneigung. George faßte Muth, bemächtigte sich zart ihrer niedlichen Hand, die von keinem Handschuhe bedeckt ward, und drückte einen Kuß darauf, ohne daß sie versuchte, es zu verhindern. Dann sprang sie leicht in den Wagen, und die Magd setzte sich zu ihr. In dem Augenblicke, als George den Schlag schloß, bemerkte er, daß Adam sich neben den Kutscher auf den Bock schwang. Zufrieden mit der List des schlauen Dieners sah er dem davoneilenden Wagen einige Augenblicke nach, dann trat er den Weg zu seiner Wohnung an.

Die exotischen Gefühle seiner Brust wurden auf kurze Zeit durch einen Brief verscheucht, den er auf seinem Tische vorfand. Folgende Zeilen waren es, die den poetischen Liebhaber an die traurige Prosa des Lebens erinnerten:

„Herr Graf!
„Dringende Familienverhältnisse zwingen mich, morgen früh Brüssel zu verlassen. Da ich nicht weiß, wann oder ob ich überhaupt zurückkehre, werden Sie es begreiflich finde, daß ich Ihren Wechsel über zehntausend Francs, der schon seit acht Monaten abgelaufen ist, nicht mit mir nehmen kann. Demnach sehe ich mich genöthigt, meine Nachsicht abzukürzen und Sie zu bitten, bewußten Wechsel heute noch einzulösen, Mein Rechtsanwalt, den Sie kennen, ist beauftragt, Ihnen das Papier gegen Zahlung auszuliefern. Nur die Rücksicht auf Ihre Ehre konnte mich abhalten, das Papier gewissen andern Händen zu übergeben. Einer weitern Andeutung bedarf es wohl nicht, um Sie an die Erfüllung Ihrer Pflicht zu mahnen. Daß Sie sich der vielleicht zu ergreifenden strengen Maßregel durch die Flucht entziehen, fürchte ich nicht, Ihre gräfliche Ehre, die ich bisher so großmüthig schonte, bürgt mir dafür.
Lord Darnley.“ 

Der Graf erbleichte, und das Papier zitterte in seiner Hand. Der Wechsel mußte bezahlt werden, denn nicht nur seine Ehre, auch seine persönliche Sicherheit schwebte in Gefahr. Wir erinnern den Leser an Dermont’s Andeutungen über den Lord, der in dem Grafen seinen begünstigten Rivalen bei der Marquise von Beaulieu erblickte. George war ein armer Graf, außer einer kleinen Rente, die ihm nur ein bescheidenes Leben erlaubte, hatte er keine Einkünfte. Die Marquise, eine junge kokette Wittwe von großem Vermögen liebte George, und wenn er diese Liebe auch nicht so heiß erwiederte, so hatte er dennoch das zärtliche Verhältniß unterhalten, weil bei seinen beschränkten Vermögensverhältnissen eine Heirath mit ihr wünschenswerth erscheinen mußte. Anfangs hatte ihn die Eitelkeit zu einer Annäherung an die Wittwe getrieben, die man allgemein feierte, und später, als er sich in dem Besitze ihrer Gunst sah, war seine Liebe nicht frei von Eigennutz geblieben. Der freundschaftliche Umgang mit dem Lord, der um diese Zeit in Brüssel erschien, hatte ihm Gelegenheit zu der Anleihe geboten, und er hatte sie benutzt, weil ihn seine Schulden drängten, die durch den Besuch der höchsten aristokratische Zirkel, in denen sich die Marquise bewegte, entstanden waren. George selbst hatte den Lord bei der Marquise eingeführt, der Engländer schwärmte für die Königin der Salons, und als er sah, daß der arme Freund den Sieg davon trug, war die erste Spannung getreten, die sich vergrößerte, da der Lord nicht selten mit seiner Niederlage geneckt wurde. Er prahlte nun mit seinem enormen Vermögen, und suchte durch Verschwendung zu imponiren. Je höher der Graf in der Gunst der Marquise stieg, je tiefer setzte ihn der Stolz des gekränkten Lords herab. Die Wechselangelegenheit blieb zwar Geheimniß, aber die Feindschaft Darnley’s trat immer offener hervor. George, dem ein gewisser Grad von Leichtsinn nicht abzusprechen war, hatte auf eine Befriedigung seiner Gläubiger durch die Heirath gerechnet, deren Beschleunigung nur von ihm abhing, da ihn die Marquise mit einer überspannten Zärtlichkeit liebte. Daß Darnley, der ihn haßte, mit aller Strenge verfahren würde, ließ sich nicht bezweifeln, und welch ein Triumph mußte es für den Engländer sein, wenn er seinen Nebenbuhler in das Schuldgefängniß führen lassen konnte. Die Marquise war abgereist, und wäre sie auch noch in Brüssel gewesen, hätte er es wagen dürfen, Geld von ihr zu fordern? Würde er sich von ihr nicht völlig abhängig gemacht haben? Und jetzt, wo er ein Mädchen gesehen, für das er in Bewunderung und Liebe erglühte?

Der Schlag mußte abgewendet werden; aber woher sollte er in so kurzer Zeit die erforderliche Summe nehmen? Da fiel ihm Dermont ein, der zwar ebenfalls nicht reich war, aber stets so sparsam lebte und in dem Rufe eines pünktlichen Mannes stand, daß er gewiß helfen konnte. Er eilte nach seiner Wohnung und traf ihn an. In wenig Worten theilte er ihm die Angelegenheit mit.

„Sie sind mein Freund, Dermont,“ schloß er, „und da Sie mir diesen Morgen das Geheimniß Ihres Herzens anvertraut haben, nehme ich keinen Anstand, mit Ihnen meine Ehrensache zu berathen.“

Dermont reichte ihm lächelnd die Hand.

„Es wäre eine Schande für unsern Adel“, sagte er, „wollten wir dem Engländer gestatten, daß er die Macht seines Geldes und seines Hasses eins der Mitglieder desselben fühlen ließe. Sie sind mein Freund, Graf, und da ich weiß, daß Sie dereinst zurückzahlen können, so verwende ich meinen Credit, um Ihnen heute noch die Summe zu schaffen. Ehe zwei Stunden verflossen, werde ich in Ihrer Wohnung sein.“

[297]


 Galileo Galilei.

Sinnend die Blicke zum Himmel erhoben,
Forscht Galilei dem Sternenlauf nach,
Strebt zu entziffern die Räthsel da droben;
Und in dem grübelnden Geiste wird’s Tag.

5
     Ob auch die Satzung spricht:

     „Erde, du regst dich nicht!“ –
Lauter und stärker in deutlicher Klarheit,
Mit unumstößlicher, ewiger Wahrheit
     Ruft es der Himmel noch:

10
     „Ja, sie bewegt sich doch!“


Und der Jahrhunderte Wahn zu vernichten,
Schreibt er sein großes, unsterbliches Buch.[1]
Wahrheit, sie ist ihm die erste der Pflichten,
Treibt ihn, zu stürzen veralteten Trug.

15
     Wer es auch immer spricht:

     „Tellus bewegt sich nicht!“ –
Hier mit Beweisen und leuchtenden Gründen
Will ich der denkenden Welt es verkünden!
     Brechet des Irrthums Joch!

20
     „Hört’s! Sie bewegt sich doch!“
[298]

Aber des tödtenden Buchstabens Knechte
Scheuen des Geistes lebendiges Licht,
Und, mit dem Bannstrahl in drohender Rechte,
Mahnet den Denker das Ketzergericht.

25
     „Sprich, wie die Schrift es spricht:

     Nein, sie bewegt sich nicht! –
Oder Du mögest Dein Leben beenden
Tief in des Kerkers umnachtenden Wänden,
     Glaubst Du es immer noch:

30
     Ja, sie bewegt sich doch!


Als durch der Kerkernacht fressende Uebel
Endlich dem Greise die Manneskraft brach,
Spricht er’s – die Hand auf geschändeter Bibel –
Bebend und stammelnd den Peinigern nach,

35
     Wie es der Buchstab spricht:

     „Nein, sie bewegt sich nicht!“
Doch weil die Schrift, an dem Himmel geschrieben,
Tief in dem Herzen ihm stehen geblieben,
     Knirschen die Zähne noch:

40
     „Und sie bewegt sich doch!



Wahrheit! Du mußt deine Märtyrer haben;
Ohne sie winket dir nimmer der Sieg! –
Als man den Dulder schon lange begraben,
Lange sein Mund, der begeisterte, schwieg,

45
     Und nun kein Mensch mehr spricht:

     „Nein, sie bewegt sich nicht!“ –
Kündet ein Denkmal am heiligen Orte:[2]
Wahrheit, du siegst! – Und es huldigt dem Worte
     Selber die Kirche noch:

50
     „Ja, sie bewegt sich doch!


Fesselt die Erde in zwängende Schranken!
Greifet der Zeit in das rollende Rad!
Bindet die Flügel der kühnen Gedanken!
Haltet die Menschheit auf strebendem Pfad! –

55
     Thörichter Blödsinn spricht:

     „Erde, beweg’ dich nicht!“ –
Nimmermehr zwingt ihr sie, stille zu stehn!
Vorwärts und vorwärts wird ewig sie gehn!
     Hindert und hemmet noch –

60
     Und sie bewegt sich doch!

 G. H–r.




Handwerker-Briefe.[3]
Nr. 1.

Sie wünschen von mir genaue Auskunft über die in Delitzsch, Eilenburg, Braunschweig, Wolfenbüttel und verschiedenen andern Städten zur Hebung des Handwerkerstandes und Kleingewerbes bestehenden volkswirthschaftlichen Vereine, weil sich auch in Ihrem Orte das Bedürfniß dazu immer dringender herausstellt. Ich bin um so mehr zur Erfüllung Ihres Wunsches bereit und im Stande, als ich mich mit dem Geist und der Einrichtung dieser Vereine erst neuerlich viel beschäftigen mußte, indem es galt, auch in unserm Städtchen einen Vorschußverein zu gründen, der mit Anfang dieses Monats, ganz nach dem Muster des Delitz’scher, seine Wirksamkeit eröffnet hat.

Ohne Sie mit gelehrten Auseinandersetzungen ermüden zu wollen, muß ich doch vor allen Dingen über den volkswirthschaftlichen Standpunkt, die leitenden Grundsätze, welche bei Einrichtung jener Vereine inne gehalten sind, so viel im Allgemeinen vorausschicken, als zum Verständniß der ganzen Organisation, sowie der erzielten Resultate unerläßlich ist. Dabei lassen Sie uns einen unbestrittenen Erfahrungssatz als Ausgangspunkt wählen. Es ist der allseitig anerkannte charakterische Zug der neuern Industrie, daß sie mehr und mehr die Naturkräfte sich dienstbar zu machen, dieselben für ihre Arbeitszwecke auszubeuten sucht, und so der Thätigkeit des Menschen jene gewaltigen Mächte zugesellt, welche die Produktivität seiner Arbeit bis in das Unendliche steigern. Bei den ungemeinen Fortschritten der letzten Jahrzehnte auf naturwissenschaftlichem wie auf technischem Gebiet, greift diese Tendenz immer reißender um sich, und bringt es nothwendig mit sich, daß der vereinzelte, nur auf seine Hand angewiesene Arbeiter nicht Stand zu halten vermag, daß der lohnende Betrieb sich mehr und mehr in großartige Etablissements concentrirt. So geht dem Kleingewerbe, dem Handwerk ein Nahrungszweig nach dem andern verloren und in den fabrikmäßigen Betrieb über. Gegen diesen Gang der Dinge ankämpfen zu wollen, ist eben so widersinnig als vergeblich, da derselbe mit dem Fortschritt menschlicher Kultur überhaupt nothwendig zusammenhängt, und seine wohlthätigen Wirkungen für die Gesellchaft im Ganzen nicht bestritten werden können, weil auf diese Weise die zur Nothdurft und Annehmlichkeit des Lebens erforderlichen Güter immer wohlfeiler beschafft und also einem immer größeren Kreise von Konsumenten zugänglich gemacht werden können. Freilich leiden unter solchen Uebergangsperioden ganze Klassen von Producenten, welche die alte, erlernte Betriebsweise verlassen und in neue, ungewohnte Bahnen einlenken sollen. Allein, wenn einmal das Festhalten des Alten auf die Dauer zur Unmöglichkeit wird, so kommt es vor Allem darauf an, den einzigen Rettungsweg so bald als möglich einzuschlagen, ehe der letzte Rest von Kraft dazu in völliger Verkommenheit schwindet. Dies kann aber nicht anders geschehen, als daß man sich dem Fortschritt anschließt, daß man, anstatt gegen jene unwiderstehlichen Mächte anzukämpfen, sie sich verbündet, die eigene, schaffende Hand durch sie verstärkt, anstatt dieselben im ohnmächtigen Entgegenstemmen von ihnen zermalmen zu lassen.

Nun gehört aber zu diesem Einlenken mehr als die bloße Einsicht und der Wille. Da bedarf man zur Produktion in größerem Maßstabe allerhand Vorrichtungen und Anstalten, als Maschinen, Instrumente, Gebäude etc., die mehr oder weniger kostspielig sind. Weiter gehört ein Geschäftsbetrieb dazu, der alle kaufmännischen Vortheile benutzt. Da gilt es, sich weitere Absatz- und Bezugs-Märkte zu öffnen, die rechten Zeiten und Konjuncturen abzupassen, besonders im Großen und Ganzen, mit Vermeidung der Detailhändler, das Rohmaterial anzuschaffen, und zu alledem gehören wiederum beträchtliche Geldmittel. Kurz, es liegt in dem angedeuteten Sachverlaufe, daß zu einem lohnenden Gewerbebetriebe je länger jemehr Kapital erfordert wird, daß Jemand ohne bedeutende Mittel immer weniger die Möglichkeit des Bestehens vor sich sieht. In richtiger Würdigung dessen haben daher der Großhandel und die Fabrikindustrie zu dem Institut der Banken ihre Zuflucht genommen, welche, theils aus öffentlichen Fonds, theils durch das Zusammenschließen von Privatkapitalien gegründet, dem Einzelnen die nöthigen Mittel vorschießen. Dagegen fehlte es gerade denen, welche eine solche Hülfe am Meisten Noth thut, dem Handwerker und Kleingewerbe, bisher durchaus an solchen ihnen zugänglichen Instituten. Auch läßt sich nicht leugnen, daß, wie die Sachen stehen, die Organisation des Kredits in einer dem Bedürfniß dieser Klassen entsprechenden Weise mannigfache Schwierigkeiten bietet. Und hier sind wir eben bei der Aufgabe angekommen, welche sich die erwähnten Vereine gestellt haben. Obschon sie nämlich die Sache von verschiedenen Seiten aus in Angriff nehmen, laufen sie doch sämmtlich darauf hinaus:

daß sie den Handwerkern und kleinen Gewerbtreibenden so viel wie möglich die Vortheile eines angemessenen Kapitals bei ihrem Geschäftsbetriebe zu sichern, und sie namentlich in den Besitz

[299]

der erforderlichen Geldmittel zu setzen suchen, deren sie zum Aufschwunge ihrer Geschäfte nicht entrathen können.

Sie unterscheiden sich dabei wesentlich von gewissen Bestrebungen auf diesem Felde, welche das Wohl der arbeitenden Klassen ebenfalls an der Stirn tragen, im Grunde aber weiter Nichts thun, als unter irgend einer Form Almosen aufbringen und auf gut Glück hier und da ein Körnlein davon auf den dürren Boden verstreuen. Ebenso wenig stimmen sie in das Geschrei nach Staatshülfe ein, das man von so vielen Seiten hört und welches im Grunde auf dasselbe hinaus läuft, da der Staat nichts Anderes ist, als die Gesammtheit der Steuerpflichtigen und keiner Klasse Etwas geben kann, ohne es den andern zu nehmen. Vielmehr halten unsere Vereine als obersten Grundsatz fest:

daß alle solche dem wirthschaftlichen Gebiet angehörigen Unternehmungen lediglich und allein auf die eigene Kraft der Betheiligten gegründet sein müssen, und niemals von der Gnade Dritter, von fremdem, guten Willen abhängen dürfen, weil ihnen sonst die ächte Lebensfähigkeit gebricht.

Gewiß ist diese Grundlage auch die einzige gesunde, probehaltige, und im Gegentheil Nichts so geeignet, die Leute zu entsittlichen, ihre Thatkraft zu lähmen und sie dem völligen Ruin entgegenzuführen, als wenn man sie systematisch an die Vorstellung gewöhnt, daß sie ohne Almosen nicht bestehen können. Ueberdem ist es eben so gemeingefährlich, die zahlreichste, physisch kräftigste Klasse an die Unterstützung ihrer bemittelten Mitbürger zu verweisen, als die Durchführung einer solchen Unterstützung Seitens der letzten auf die Länge unausführbar wird. Wenn doch lieber Alle, welche den Trieb, zu helfen, in sich spüren, sich die Aufgabe stellten, die Arbeiter, die in ihnen selbst liegenden Hülfsmittel richtig erkennen und anwenden zu lehren, gewiß, es würde mit dem vielen guten Willen, mit den vielfach zersplitterten Kräften und Mitteln auf dem großen noch so wenig angebauten Gebiete bei weitem mehr geleistet werden.

Hiernach ist die Selbsthülfe der Grundstein, auf welchen unsere Vereine ihre Wirksamkeit stützen, und es kam nur darauf an, die geeignete Form zu finden, in welcher dieselbe der gestellten Aufgabe gewachsen war. Ohne hier auf eine nähere Erörterung des wechselseitigen Verhältnisses zwischen Arbeit und Kapital in der Volkswirtschaft einzugehen, steht für uns doch Folgendes fest. Auch der völlig Mittellose repräsentirt immer noch einen wirthschaftlichen Werth in der Gesellschaft, seine Arbeitskraft. Nun gilt aber im gewöhnlichen Verkehr die Arbeitskraft des Einzelnen nicht als genügende Sicherheit für die Kapitalanlage, weil sie vielen Zufälligkeiten ausgesetzt ist und den Erfolg zu wenig in ihrer Gewalt hat. Deshalb versagt sich ihr der Kredit entweder völlig oder wird ihr nur unter so lästigen Bedingungen zu Theil, daß die dadurch zu erzielenden Vortheile fast ganz aufgewogen werden. Allein dies ändert sich, sobald sich die Arbeitskraft vereint. Sobald hier eine größere Gesammtheit von Arbeitern durch Uebernahme der solidarischen Verbindlichkeit die Zufälle und das Mißlingen, welchen der Einzelne ausgesetzt ist, überträgt, und die wechselseitige Garantie Aller für einander übernimmt, hebt sich der Grund, welcher dem Kredit entgegenstand und die erforderliche Sicherheit für den Gläubiger ist vorhanden. Somit hätten wir in der Solidarität (gemeinsame Verpflichtung) die Form festzuhalten, in welcher die unbemitteltern Handwerker, bei Beschaffung der erforderlichen Kapitalmittel, sich selbst zu helfen vermögen. Durch ihren Zusammenschluß, durch das Einstehen Aller für Einen und Einer für Alle, werden sie in finanzieller Hinsicht eine Macht, vermögen sie über Mittel zu gebieten und einander Summen zu Gebote zu stellen, welche sich jedem Einzelnen von ihnen sonst hartnäckig entzogen.

Nach diesen allgemeinen Andeutungen über den Charakter der fraglichen Vereine, werde ich nun auf die Einrichtungen und Erfolge einiger der Hauptsächlichsten im Einzelnen eingehen. Doch möge zuvor noch eine Verwahrung hier ihren Platz finden, wenn nämlich dieselben im Vorstehenden mit der großen Frage, welche gegenwärtig die industrielle Welt bewegt, in Beziehung gebracht wurden, so ist man doch seitens der Gründer und Theilnehmer weit von der Ueberhebung entfernt, deren Lösung etwa darin finden zu wollen. Kein Handwerker wird durch den bloßen Beitritt dazu zum Fabrikanten, das bildet sich Niemand ein. Aber, wie der Verfall des Kleingewerbes kein plötzlicher ist, sondern nur allmälig und fast unmerklich sich vollzieht, so ist es auch weder nothwendig, noch möglich, daß das Einlenken in die neuen Gewerbsbahnen mit einem Male vor sich gehe. Vielmehr kann hier ebenfalls nur ein allmäliger Uebergang mit verschiedenen Entwicklungsstufen Statt finden. Und wenn die Vereine, um die es sich handelt, nicht mehr thäten, als die ersten Einleitungen dazu zu treffen, wie sich dies durch Anknüpfen an das Bestehende am Füglichsten will thun lassen, so wären sie doch immer ein nützliches Glied in der großen Kette fortlaufender Entwicklung. Sicher befinden sie sich selbst nur noch in den ersten Anfängen, und sind der Vervollkommnung nach vielen Seiten hin fähig. Und wenn demungeachtet sie schon jetzt ganz unleugbar den Betheiligten wesentliche, bei der schweren Zeit doppelt werthvolle Vortheile bieten, so dienen sie auch außerdem dazu, ihrem Blick das eigentliche Ziel der ganzen Bewegung klarer vor das Auge zu bringen. Das aber sollte sie mindestens vor dem Absprechen derjenigen Klasse von Leuten schützen, welche überall mit dem Ende anfangen wollen, und jeden Ausgangspunkt verschmähen, der nicht mit einem Schritte zum Ziele unbedingter Vollkommenheit führt.




Der Mai in London.

Der Engländer ist ein praktischer Mann. Er giebt sich deshalb ungern mit Dingen ab, die nicht unmittelbar nützlich sind, d. h. Geld bringen oder „machen.“ Thomson, der die Jahreszeiten besang, Shakespeare, der von der volksthümlichen englischen Kunst, fette Ochsen zu schlachten, zu der Poesie überging, und alle dergleichen Leute gehören der Vergangenheit an, und wenn in London ein Shakespear’sches Stück gegeben wird, ist das Theater leer. Der Engländer hat keinen Sinn, kein Talent, keinen Geschmack für schöne Künste; was er davon eben braucht, bezieht er Alles aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Nur in den niedern und niedrigsten Klassen hat sich der Sinn für schöne Darstellung bestimmter Ideen und Gefühle lebendig erhalten. Und so steht hier das Talent, durch Erregung christlichen Mitleidens in künstlerischer Form Vorübergehenden etwas kleines Geld abzunehmen, unter den schönen Künsten obenan. Man thut, als wolle man ein Schächtelchen Schwefelhölzer, Apfelsinen, Gutta-Percha-Eidechsen, Spinnen von Draht, Streichschwamm verkaufen, man macht besonders oft Musik, man singt Choräle auf der Straße, man tanzt, spielt Theater, singt aus Onkel Tom’s Liederbuch, schreibt mit Füßen, geht auf Händen und giebt sonst auf tausenderlei Weise jener unmittelbarsten und volksthümlichsten Kunst des Bettelns eine künstlerische Form. Das heißt hier nicht mehr Betteln. Künstler und Künstlerinnen machen die Geldmacher, die vorbeigehen und zusehen, durch ihre Leistungen zu Schuldnern, von denen sich viele durch einen halben oder einen ganzen Penny abfinden und das Uebrige schuldig bleiben. Die Masse dieser Künstler und die Menge ihrer Leistungen auf den Straßen verdienten von einer künstlerischen Meisterhand gezeichnet und von einem Walter Scott der Gegenwart geschildert zu werden.

Wir beschränken uns hier auf Skizzirung des einen Volksfestes, in welchem die künstlerischen Talente der untern Klassen, besonders der Schornsteinfeger, in ganzer Pracht und Fülle hervortreten und den sonst ewig geschäftsernsten Straßen ein heiteres, farbenbuntes Ansehen geben, am ersten Mai. Weshalb sich besonders die Schornsteinfeger berufen fühlten, den Mai volksfestlich zu begrüßen, weshalb sie die höhere Tanzkunst auf das Straßenpflaster bringen, und lange, breite Pritschen tragen und sich in Kleidung und Benehmen so närrisch zeigen, da es doch blos gilt, so [300] viel als möglich Kupfergeld zusammenzutreiben – das überlassen wir Gelehrten zur Untersuchung. Wir halten uns an die unmittelbare Erscheinung. Man hört dumpfe Trommeln, schrillende Pfeifen und ungeheueres Jachzen der lieben Straßenjugend. Mit den Augen entdeckt man zunächst dicke Volksmassen. Sie wälzen sich kreischend näher heran, so daß wir uns plötzlich unter ihnen befinden. Auf einem langen Untersatze und mit einem langen Halse sieht man dann auch wohl gelegentlich mitten in den Brennpunkt der Kunstleistung hinein. Schreiend bunte Gestalten in allen Arten farbigen Papiers und mit schwarz und blau und grün gestrichenen Gesichtern huldigen da auf dem unbequemen Boden des Steinpflasters der höhern Tanz- und Springkunst. Unter ihnen befinden sich zuweilen auch Damen im höhern Balletkostüm und Paare von Füßen exercirend, die an Größe und Plumpheit ihres Gleichen wohl kaum finden, obgleich die Engländerinnen in dieser Beziehung alle etwas verdächtig sind, weshalb sie auch unlängst den kurzröckigen Bloomerismus mit besonderm Fanatismus so lange bekämpften, bis er seinen Geist und seine Beinkleider und sein Balletkostüm aufgab. Von den gesammelten rothen Beweisen öffentlicher Anerkennung bereiten sich die Künstlergesellschaften Abends zunächst Maitränke, jedoch ohne Waldmeister und ohne Rheinwein. Das aromatische stille Kind des Mai’s im Walde kennt der Engländer gar nicht, und den schönsten Sohn des Vater Rhein liebt er nicht. Er ist ihm zu locker und leichtsinnig. Ueber die Walpurgisnächte der londoner Kunstzauberer klagt Niemand mehr als die braven Policemen, welche die Damen und Herren des Nachts, von aller menschlichen Hülfe und ihrer papiernen Kleiderherrlichkeit entblößt, oft auch der Verfügung über ihren eigenen Schwerpunkt beraubt, nach Hause oder in eine Polizeistation begleiten müssen, so daß man schon am Morgen des zweiten Mai die schönen Blumenkränze und Kinder des Wonnemonds mit dem Kehricht der Polizeigefängnisse im vertrautesten Umgange sieht.

Freilich das ist denn auch blos die Kehrseite der Vertretung des Frühlings zwischen den endlosen, nebeligen Steinmassen London. In der That werden die Göttinnen Flora, Pomona, Ceres und selbst ihre unterirdische Tochter Proserpina nirgends saftiger, üppiger, reichlicher, künstlerischer und andachtsvoller verehrt und verzehrt als in England. Der Mittelpunkt ihrer prachtvollen Kunsttempel ist in großartigen botanischen Gärten Londons, in den Ausstellungen der Florikultur und Hortikulturgesellschaften, welche seit beinahe einem Jahrhundert unzählige Pflanzen, Blumen und Bäume hier einheimisch gemacht haben und damit ununterbrochen fortfahren. Doch diese Prachttempel liegen uns jetzt zu fern. Selbst die weltberühmten Palmen- und Orchideen-Paläste zu Kew (in London, deren erstere die Idee zu dem großen Krystall-Palaste gaben), können wir jetzt nicht besuchen, da uns vorläufig der londoner immerwährende Blumen-, Frucht- und Gemüsemarkt, der „Coventgarden“, hinlänglich zu sehen, zu riechen und zu bewundern geben wird. Der Mittelpunkt des Marktes sieht wie ein gigantischer Tempel des alten Griechenlands aus, dessen Mitte in einer langen Halle die Aristokratie der Blumen und Früchte in etwa funfzig Läden hinter großen Spiegelscheiben und auch vor denselben zur Schau und feil bietet. Um ihn herum drängen sich in unzähligen Straßen, die von Blumen, Früchten und Gemüsen gebildet werden, die wohlfeileren und gemeineren Produkte des Feldes und Gartens. In der großen Halle, die in einem ewigen Dufte schwimmt, spazieren die Herrschaften und Dienstboten höherer Herrschaften auf und ab und bezahlen mit Schillingen, was draußen für Pence wohl auch so gut zu haben ist. Doch nein, die Kinder der Natur, die der Kunst ihre höchste Schönheit verdanken, sind nur im Innern und auch da oft noch unter besondern Glasglocken zu sehen und müssen zum Theil beinahe mit Gold aufgewogen werden. Daß es das ganze Jahr hindurch jeden Tag große, frische Weintrauben giebt, Trauben in Farbe, Duft und Größe alle gemalten Fruchtstücke und die berühmten biblischen Kalebs übertreffend, gehört noch nicht zu den Wundern und Seltenheiten, da sie eben alle Tage frisch die Schaufenster schmücken, zuweilen auch mit ihrem ganzen Stammbaume und den Reben und Blättern, zwischen denen sie wuchsen.

Ebenso ist das Dasein von Erdbeeren aller Art noch kein Wunder, aber die Art ihrer Erscheinung! Was ist aller Farbenschmelz in den berühmtesten Landschaften, was alle Herrlichkeit Carl Maria Farina’s gegen diese saftigsen, ätherischen Träume des Frühlings, des holden unter sonnigen Glasfenstern träumenden Lenzes! Sie sind so schön, daß ich immer mit besonderem Vergnügen gesehen habe, wie Kinder bei aller Macht ihrer Lüsternheit jede einzelne erst ehrerbietig ansehen und bewundern, ehe sie mit dem Akt der Vernichtung beginnen. Sie sind so groß, daß man bequem davon abbeißen kann. Ihr Purpur ist mit einer solchen Fei- und Feuerlichkeit überhaucht, daß sie mit dem Abendroth und Krönungsmänteln concurriren können. Von den Aepfeln und Birnen wäre auch ein hohes Lied zu singen, wenn sie nicht zu gewöhnliche Gattungsnamen trügen. Apfel! Birne! Das klingt nicht viel besser, als wenn Jemand blos Schulze heißt. Die Engländer sagen gar blos „Eppel,“ wodurch der Abstand zwischen Name und Sache noch größer wird. Wie kann man diese riesigen, schlanken, glänzenden, saftstrotzenden portugiesischen Birnen Birnen nennen. Ich bin fest überzeugt, daß die Portugiesen ihnen einen weit klangvollern Namen geben. Die kleinen, wie ächte Perlen im Morgenroth schimmernden amerikanischen „Damen-Aepfel“ würden den schönsten Hals einer Jungfrau noch verschönern, so niedlich, so glänzend, so golden, so rosenfingerig morgenroth leuchten sie aus den netten Körbchen hinter den Spiegelscheiben hervor. Nur einen Blick auf die Werke der Proserpina, der Früchte schaffenden Unterwelt, der Mohrrüben und Kartoffeln, des Rhabarbers und der Radieschen, des Spargels und der Erdäpfel. Mohrrübe ist nach deutschen Begriffen etwas Komisches, Gemeines und gewinnt nur einiges Ansehen mit Schoten. Die englische Mohrrübe im Coventgarden tritt wie ein stolzer Riese im Gefühle einer Souverainität auf, die keine Köchin anzutasten wagt. Die englische Mohrrübe wird deshalb auch blos in Wasser gekocht und so in ungeheuern Stücken auf den Tisch gebracht, wie denn der Engländer überhaupt so viel Respekt vor dem Aroma der Natur hat, daß er alle Gemüse, in sofern er sie ißt, aus dem gekochten Wasser aufgabelt. Die englische Mohrrübe ist stets kerzengerade, wie ein erster Liebhaber im ersten Akt, und mißt nicht selten drei bis vier Fuß in der Länge. In der Stärke aber wetteifert sie mit dem stärksten Mannesarme.

Der deutsche Begleiter der Mohrrübe, die junge Schote, tritt auch hier, und zwar alle Tage frisch den ganzen Mai hindurch, ausgehülst selbstständig in Nöseln à 20 Silbergroschen auf. Dort hinten sitzen Gruppen von Weibern zu Zwanzigen und Dreißigen, die blos vom Schotenaushülsen leben. – Es war am 6. Mai Nachmittags drei Uhr, als ich die ersten neuen Kartoffeln in Coventgarden erblickte, blos drei bis vier Thaler die Metze. Neue Kartoffeln! Welch gemüthlicher, deutscher, gartenlaubiger Gedanke, zumal mit neuen Heringen! O über euch trocknen Engländer! Ihr habt keine Ahnung von frischen Kartoffeln, neuen Heringen und frischer Butter in einer blühenden Gartenlaube. Eure Schoten fangen die Heringe, aber ihr eßt sie nicht. Ihr habt keine Idee von Gartenlauben. Die Wonne der Pellkartoffeln ist euch völlig unzugänglich. Ihr eßt sie nur halb verbrannt in Butter und sehr spärlich zu euren homerischen Fleischkeulen. – Dort ein Heer indianischer Häuptlinge mit struppigem Hauptschmuck! Alles Ananas, sechs Mal billiger und schöner als in Deutschland. Der zerlumpteste Bettler ißt sie ebenso wie Apfelsinen. Aus der Vogelperspektive muß London ganz gelbscheckig aussehen, so dicht sind die Straßen mit Apfelsinenverkäuferinnen bedeckt: drei für einen englischen Pfennig.

Ueber das Reich der Flora geh’ ich mit einem allgemeinen Ausruf des Staunens und erhabner Verstummung hinweg. In Berlin ist die künstliche Blumengärtnerei weiter, breiter, volksthümlicher, hier tritt sie mit den blühenden, seltensten Wundern Indiens und der Tropen hauptsächlich für die Aristokratie auf, die für ihre gepuderten Kutscher große, geschmacklose Sträuße von den kostbarsten Blumen kauft, wenn sie in die große italienische Oper bei Coventgarden fährt. Die Blumen in den Fenstern, wodurch deutsche Städte oft ein so reizendes Aussehen bekommen, kennt der vornehme Engländer nicht. An den Fenstern darf nichts zu sehen sein. Ein schöner Mädchenkopf hinter blühenden Blumen am Fenster würde hier die Leute auf der Straße versammeln. Kein gebildeter Engländer läßt sich am Fenster sehen, es müßte denn ein Wellington begraben werden. Und auch dann vermiethet er das Fenster lieber. – Von der ungeheuern Bedeutung und Fülle des Marktes von Coventgarden bekommt man erst den rechten Begriff von Mitternacht bis Morgen. Da kommen von allen Seiten himmelhohe Wagen (wenigstens verdecken sie ganz den Himmel, wenn man mitten durchgeht), alle schwer beladen, drei Stockwerke hoch, [301] und Hunderte von Menschen steigen auf und ab und leeren und füllen Körbe und Säcke und lassen so jeden Morgen des ganzen Jahres den Mai in neuer frischer Auflage erscheinen und nicht blos der Lenz mit Familie, sondern auch Sommer und Herbst und zwar so, daß die vornehmen Herrschaften immer in der Jahreszeit, wo gewisse Früchte unmöglich erscheinen, dieselben just ganz frisch auf ihren Tafeln, in silbernen und goldenen Schalen auftischen können.




Jagd- und Lebensbilder aus Amerika.
Nr. 4. Ein Kampf mit grauen Bären.

Der graue Bär (Ursus ferox) ist das furchtbarste von allen wilden Thieren, welche den Kontinent von Amerika bewohnen, selbst den Jaguar und den Trugar nicht ausgenommen. Besäße er die Schnelligkeit des Löwen oder Tigers der alten Welt, so würde er auch diese noch übertreffen, denn er ist so stark, wie der erstere und so grausam wie der letztere. Glücklicher Weise überholt ihn jedoch das Pferd, sonst würden ihm noch weit mehr Menschen zum Opfer fallen, als es geschieht. Auch die Büffel, Elenns und das Wild entrinnen ihm leicht, gelingt es ihm aber, sie zu überraschen, so sind sie unfehlbar seine Beute, denn er ist so stark, daß er den stärksten Büffel zur Erde zieht. Er ist so groß wie der Polarbär, dem er auch im Gliederbau am Meisten gleicht, nur hat er längere Ohren, seine Pfoten sind stärker und sein Aussehn ist wilder. Die meiste Kraft besitzt er in den Vorderklauen, die so groß sind, daß ihre Spur häufig 12″ lang und 8″ breit ist. Sein Gewicht beträgt durchschnittlich 500 Pfund. Sein Fell ist meistentheils bräunlich mit weißen Haaren vermischt, zuweilen aber auch ganz weiß oder gelblich-roth.

Man findet ihn in den Rocky Mountains an den Küsten des nördlichen Eismeeres entlang, durch den ganzen Kontinent bis dahin, wo der Rio Grande die Krümmung nach dem Golf von Mexico macht. In den vereinigten Staaten und Canada hat man ihn nie wild gesehen. Das ist indessen sehr natürlich. Sie sind durchweg bewaldet und der graue Bär liebt den Wald nicht, sondern hält sich lieber in öderen Gegenden unter niedrigem Gesträuch in der Nähe von Strömen aus, wo ihm das Wild zuläuft. Er klettert auch nicht, dazu sind seine kolossalen Klauen zu ungeschickt.

Er ist außerordentlich gefräßig und verschlingt Fisch, Fleisch und Geflügel mit gleicher Begier, und läßt sich nebenbei auch noch Frösche, Eidechsen und anderes Gewürm sowie Larven von Insekten gefallen. Ferner liebt er süße Beeren und ist im Stande, nach Rüben ganze Prärieäcker umzuwühlen. Häufig jagt er den Panther oder ein Rudel Wölfe von ihrer Beute, um sie sich anzueignen.

Die Jagd auf ihn bildet den Höhepunkt alter Jagdthaten in Amerika, und man hört daher natürlich auch allerlei Jagdgeschichten darüber. Für die Indianer ist das Erlegen eines grauen Bären eben so ruhmvoll, wie die Erbeutung eines menschlichen Scalps und sie ziehen zu einer solchen Jagd auch zu ganzen Stämmen aus.

Einer meiner Jagdfreunde wußte eine sehr lustige Geschichte zu erzählen, die ihm auf der Jagd mit einem grauen Bären begegnet war.

Er ging in der Prairie auf die Antilopenjagd und war eben im Begriff, ihnen schußgerecht nahe zu kommen, indem er eine rothe Wolldecke, die er mit sich führte, vor sich ausspreizte und dadurch die Aufmerksamkeit dieser ungemein neugierigen Thiere erregte, als er mit einem Male ein paar Schritt von sich entfernt einen grauen Bären erblickte. Diese Versuchung war zu stark für ihn und er sandte diesem eine Kugel aus der Büchse zu, welche er durch die Decke gesteckt hatte, in der er auch eine Oeffnung für sein Gesicht hatte. Der Bär war nicht hinreichend getroffen und brüllte daher nun wüthend auf und kam auf den frechen Schützen zugelaufen. Schon hielt sich dieser für verloren, als ihm einfiel, daß er einmal gesehen, wie die Spanier die wüthendsten Stiere durch Ueberwerfen eines rothen Tuches zum Stehen bringen. Er beschloß daher, das Gleiche zu thun und warf dem Bären, als er nahe genug war, die Decke solcher Gestalt über den Kopf, daß dieser durch die Oeffnung kam, und drückte sich dann schnell unter ihm weg, um nach einem Baum zu entfliehen, den er vorher in’s Auge gefaßt hatte. Erst nachdem er ein paar hundert Schritte gelaufen war, wagte er es, sich umzusehen. Da bot sich ihm ein urkomisches Schauspiel dar. Der Bär wollte ihm fortwährend folgen, konnte aber der Decke wegen nicht, und zerrte und zauste an dieser voller Wuth, ohne sie loswerden zu können. Als mein Freund dies sah, änderte er seinen Entschluß, lief rasch in das Lager zu seinen Gefährten und warf sich auf sein Pferd, um zu dem Bären zurückzueilen und ihm eine bessere Ladung zu ertheilen. Er fand ihn auch noch ziemlich auf derselben Stelle, aber jetzt hatte er die Wolldecke schon zu lauter Fetzen zerrissen, die ihm nachschleppten, wenn er sich bewegte. Er überholte ihn leicht und sandte ihm eine Kugel in’s Gehirn, die ihm den Garaus machte.

„So lustig ist die Geschichte nicht, die ich auf der Jagd mit grauen Bären erlebte,“ begann darauf ein Kapitain, der zu unserer Gesellschaft gehörte, „aber vielleicht ist sie nicht minder lebendig und interessant. Ihr wißt, ich habe einmal nebst einigen Gefährten eine Zeit lang mit Indianern gejagt. Auf dieser Parthie, in den Bergen von Santa Fé war es, wo mir mein Abenteuer aufstieß. In einem tiefen Thale, wo wir über Nacht unser Lager aufgeschlagen hatten, wurden wir vom Schnee überfallen und als wir des Morgens ausziehen wollten, sahen wir nichts als eine ungeheure Schneefläche vor uns. Auch die steilen, wohl 200 Fuß hohen Berge, welche das Thal einschlossen, waren ganz mit Schnee und Eis bedeckt. An ein Vorwärtsgehen war unter diesen Umständen nicht zu denken, wir mußten im Lager bleiben. Dieses war auf einem kleinen Plateau errichtet, das durch einige Fichten vor dem Winde geschützt war, die uns zugleich Brennmaterial lieferten. So weit befanden wir uns ganz wohl, aber bald gingen unsere Vorräthe aus und wir waren zwei, drei Tage lang ohne Nahrung. Männer und Frauen saßen in düsterer Verzweiflung um die Feuer und kauten an den Stückchen Leder, die sie noch auftreiben konnten, bis sie zuletzt die Sohlen ihrer Mocassins dazu nahmen. Es war ein trauriger Anblick. Wir Andern streiften ab und zu in der Nähe des Lagers umher, irgend etwas Eßbares zu entdecken, aber immer vergebens. Endlich sahen wir einen Indianer auf seine Kniee fallen, und hastig den Boden mit der Axt aufwühlen. „Was ist das?“ riefen fast Alle zugleich in seiner Nähe. „Yam-Yam! Yam-Yam!“ rief er freudig aus, indem er rastlos weiter hieb.

„Wahrhaftig, der Indianer hat Recht, es ist die Manna Wurzel,“ sagte der deutsche Doctor, der uns als Naturalist begleitete, indem er einige Blätter in die Höhe hob. – Auch ich erkannte diese als zu dem wunderbaren Conrolrulus, Iponea lentophylla gehörig, dessen Wurzel Manna-Wurzel heißt, weil sie ungefähr die Gestalt eines solchen hat.

Nach ein paar Minuten waren ein halbes Dutzend Leute damit beschäftigt, zu hacken.

„He,“ rief ihnen darauf der Doctor zu, „seid keine Narren! Das heißt blos Zeit verschwenden. Macht ein tüchtiges Feuer über der Stelle, dann bekommen wir die Wurzel gleich getrocknet. Das leuchtete Allen ein und es wurde ein mächtiges Feuer angezündet, um das sich Alle herumsetzten, um darüber zu kalkuliren, ob die Wurzel ausgewachsen und ein „fettes altes Thier“ sein werde

Da krachte es mit einem Male über unsern Köpfen, als wäre ein hohler Baum umgestürzt. Wir sahen auf und erblickten einen großen Gegenstand – ein Thier, das sich einen Weg bahnte und dann geradewegs auf die Klippe zulief und sich dann kopflings von dieser hinabstürzte. Es gab einen lauten Fall, aber schnell sprang das Thier auch wieder auf und stand auf allen Vieren. Es war ein Büffel und sämmtliche Jäger brachen in ein lautes Hurrah aus. Für einen Moment waren beide Parteien – die Jäger und der Büffel, gleich überrascht, und der letztere blickte uns ganz verwundert an, aber dies dauerte auch nur einen Augenblick, dann rannte er mit dem Horn gegen die Erde, wüthend vorwärts, um durch unsre Plattform zu brechen. Wir hatten aber auch schon unsre Büchsen ergriffen und sowie er durchbrach, krachten mehrere Schüsse und noch andere folgten ihm. Ein Blutstrom [302] bezeichnete seinen Lauf, nichts desto weniger stürmte er aber fort der Thalebene zu. Ein Theil von uns folgte ihm natürlich wie hungrige Wölfe und nach ungefähr fünfzig Schritten fanden wir ihn verendet am Boden liegen.

Jauchzend gaben wir dies unsern Kameraden kund und fin­gen an, ihn triumphirend nach dem Lager zu ziehen, da traf uns plötzlich ein gellender Ruf und wilder Schrei von der Plattform aus, und wir hörten die Weiber kreischen. Schnell rannten wir zurück, um zu sehen, was es gäbe.

Da bot sich uns ein Anblick dar, der auch den Muthigsten erbeben machen konnte. Unsere Jäger, die Indianer und die Wei­ber rannten wild durcheinander, stießen halb wahnsinnige Schreie aus und zeigten nach oben, denn da standen am Rand der Klippe – entsetzlich – die furchtbaren Ungeheuer des Gebirges – die grauen Bären!

Es waren ihrer fünf, die wir sehen konnten, wie viele mochten noch dahinter sein. Fünf genügten, unsere ganze Gesellschaft zu zerreißen, eingeengt und matt vor Hunger wie wir waren.

Sie hatten den Büffel bis an die Klippe verfolgt, und auch sie hatte offenbar der Hunger getrieben. Zwei von ihnen krochen schon an dem Rande umher und suchten offenbar nah einer Stelle, wo sie hinabsteigen konnten. Die andern drei standen auf ihren Hinterbeinen aufrecht da und manövrirten mit ihren Vorderpfoten in furchtbar komischer menschenähnlicher Pantomime.

Uns war indessen gar nicht lächerlich zu Muthe, Jeder hatte zu seiner Waffe gegriffen, und wer vorher seine Büchse abgeschossen hatte, beeilte sich, sie zu laden.

„Um des Himmels willen, schießt noch nicht,“ rief Einer der Unseren, ein alter Trapper, aus, indem er die Büchse eines der Indianer zurückhielt.

Die Vorsicht kam aber schon zu spät. Ein halbes Dutzend Kugeln sausten schon in die Höhe. Diese brachten ganz die Wir­kung hervor, welche der Trapper fürchtete. Die Bären wurden durch die Kugeln in Wuth gesetzt, die sie zwar nicht gefährlich verletzten, aber doch durch ihr Fell drangen. Mit finsterem Ge­heul kletterten sie jetzt an den Klippen hinab. Jetzt stieg die Scene der Verwirrung zu ihrem Gipfelpunkt. Ein paar Feiglinge lie­fen davon, sich in dem Schnee zu verbergen. Andere kletterten auf die Fichten.

„Sorgt für die Frauen!“ rief der alte Trapper aus. „Ihr feigen spanischen Hunde, wenn Ihr nicht den Muth habt, als Männer zu kämpfen, so steht wenigstens den Weibern bei, zu de­nen Ihr gehört, Ihr Schufte!“

„Seht Ihr danach, Doctor,“ rief ich darauf dem Deutschen zu, da auch diesem wohl der Kampf erspart werden konnte, und er that es auch auf’s Beste, indem er mit ein paar Spaniern die Weiber zusammentrieb und nach der Stelle geleitete, wo wir den Büffel gelassen hatten.

Die erfahrenen Jäger unter uns wußten, daß Verstecken un­ter diesen Umständen das schlechteste Mittel gewesen wäre. Die wilden Thiere würden uns einzeln aufgesucht und zerrissen haben. Wir mußten ihnen entgegentreten und mit ihnen kämpfen, das war es, was sich Jeder sagte, und wir beschlossen, dies auch aus­zuführen.

Wir waren ungefähr zwölf mit den Delawaren und Sha­wanos. Wir fingen unser Feuer an, während die Bären hinab­stiegen, aber unsere Büchsen waren nicht alle in Ordnung, die Kälte hatte unsere Finger erstarrt und der Hunger uns in fiebe­rische Aufregung versetzt. So mochte es wohl kommen, daß kein Schuß eine tödtliche Wirkung übte, sondern die Thiere nur zu größerer Wuth stachelte. Es war ein furchtbarer Augenblick, als der letzte Schuß abgefeuert und die Zahl unserer Feinde noch die­selbe war.

Wir schleuderten unsere Büchsen von uns und griffen zu den Beilen, Tomahawks und Jagdmessern, und erwarteten schweigend unsere gräulichen Feinde.

Wir standen dicht an dem Felsen, und es war unsere Absicht, den ersten Schlag zu thun, sowie die Thiere rücklings die Klippe hinabkämen. Darin täuschten wir uns indessen. Als die Bären noch etwa zehn Schritt von der Plattform waren, stand der erste Bär still und schwankte, ob er hinab sollte als er unsere Stellung sah. Im nächsten Augenblick kamen aber seine Genossen wüthend vor Schmerz auf denselben Felsvorsprung hinabgetaumelt, und mit furchtbarem Geheul stürzten sie sich plötzlich in unsere Mitte.

Jetzt folgte der entsetzlichste Kampf, dem ich je beigewohnt habe. Das Rufen der Jäger, die noch wilder tönenden gellenden Schreie der Indianer, das heisere Brüllen der Bären, das Ab­prallen der Tomahawks von den Hirnschalen wie von Gestein, das dumpfe Bohren der Jagdmesser und ab und zu das Stöhnen, wenn die furchtbaren Klauen in die Muskeln der mit ihnen Rin­genden drangen – Gott, es war eine furchtbare Scene!

Baren und Menschen wälzten sich über die Plattform in wil­dem Kampf um Leben und Tod, und durch den Schnee rieselten kleine Ströme von Blut. Hier kämpften zwei oder drei gegen einen Feind, dort stand ein tapferer Jäger allein gegen ihn. Meh­rere lagen auf dem Boden umher, und jeden Augenblick verrin­gerten die Bären die Zahl ihrer Angreifer.

Ich wurde gleich im Beginn des Kampfes niedergeworfen. Als ich mich wieder aufraffte, sah ich die Bestie auf dem dahin­gestreckten Körper eines Menschen liegen. Es war Freund Godé, ein Franzose, ich nahte daher dem Bären und bohrte mein Messer in seine Rippen. Ich stieß, so gut ich konnte, fühlte aber dabei mein Schwäche. Da ließ der Bär den Franzmann los, kehrte sich um und stürzte auf mich los. Ich suchte seinem Anlauf zu ent­gehen, trat zurück und hielt ihm mein Messer entgegen. Mit einem Male lag ich aber im Schnee, fühlte den schweren Körper über mir, seine Klauen drangen in meine Schulter, der feuchte Athem des Thieres berührte mich, ich wehrte mich mit dem rechten Arm und wir rollten in dem Schnee umher.

Dieser blendete mich, ich fühlte, wie ich durch den Blutver­lust immer schwächer wurde, ich rief, aber wer konnte hier zehn Schritt weit hören, dann vernahm ich ein sonderbares Zischen, eine helle Flamme huschte vor meinen Augen vorbei, ich sah etwas wie eine Fackel und es roch wie nach gesengtem Haar. Dann hörte ich Stimmen zugleich mit dem Brüllen des Thieres, die Klauen wurden aus meinem Fleisch gezogen, das Gewicht von mir ge­nommen, ich konnte wieder athmen. Ich stand auf, rieb mir die Augen und sah umher. Ich erblickte Niemand. Ich war in einer tiefen Hohle, die durch unser Umherwälzen entstanden war, aber ich stand allein. Der Schnee war ringsum mit Blut gefärbt. Aber wo war mein furchtbarer Feind? Und wer hatte mich aus seiner tödtlichen Umarmung gerettet? Ich trat vor. Da sah ich eine neue wunderbare Scene. Ein fremd aussehender Mann rann über die Plattform mit einem großen Feuerbrand in der Hand, den er in der Luft schwenkte. Damit jagte er einen Bären, der vor Wuth und Schmerz brüllte und die Klippen zu erreichen suchte. Zwei waren schon halbweges hinauf, denen das Blut aus den Seiten troff. Der verfolgte Bär klomm ihnen nach, um seinem Verfolger zu entgehen, der ihm das Fell zu verbrennen suchte. Darauf machte sich dieser an einen vierten Bären, der mit zwei bis drei schwachen Gegnern stritt. Auch er wurde in einem Nu geblendet und folgte heulend seinen Genossen nach den Klippen.

Der fremde Mann sah sich nach dem fünften um. Er war verschwunden, Niedergestreckte, verwundete Männer lagen überall umher, aber der Bär war nirgend zu sehen. Er war offenbar durch den Schnee entflohen. Verwundert blickte ich den fremd aus­sehenden Mann an. Er sah Einem von uns gleich und doch war er es nicht. Er war ganz kahlköpfig, kein Härchen war auf sei­nem Kopf, der wie ein Spiegel glänzte. Man kann sich denken, wie erstaunt ich war, als plötzlich der alte Trapper aufsprang und ausrief:

„Herr Gott, Ihr seid das, Doctor! Drei Cheers für den Doctor.“

Jetzt erkannte auch ich ihn. Wahrhaftig, es war unser deut­scher Freund, den wir bis dahin alle nur mit braunem Haar ge­kannt hatten,

„Hier, Doctor, ist Euer Scalp,“ rief der Trapper aus, in­ dem er ihm seine Perrücke reichte, „aber Himmel Donnerwetter, Ihr habt uns alle gerettet. Kommt, ich muß Euch umarmen!“

Damit ergriff er den braven Deutschen und tanzte mit ihm in wilder Freude umher. Nach und nach erhoben sich nun auch die Anderen und fingen an aufzuthauen. Aber wo war der fünfte Bär? Diese Frage kehrte zunächst immer wieder.

„Da unten läuft er,“ rief eine Stimme, und gleich darauf sahen wir auch in der Ferne ein Thier sich heftig im Schnee bewegen.

Mehrere luden ihre Büchsen, um ihm zu folgen und ihn wo­ möglich zu erlegen; der Doctor bewaffnete sich mit einem frischen [303] Kienbrand, aber noch ehe diese Vorbereitungen zu Ende waren, tönte ein eigenthümlicher Schrei zu uns, der unser Blut erstarren machte. Die Indianer sprangen sogleich auf, ergriffen ihre Tomahawks und rannten nach dem Thal. Sie kannten die Bedeutung dieses Schreies – es war der Todesruf eines ihrer Stammgenossen.

Sie liefen denselben Weg entlang, den wir am Morgen gebahnt hatten, und die, welche ihre Büchsen geladen hatten, folgten ihnen. Mit ängstlicher Spannung beobachteten wir sie von der Plattform aus, aber noch ehe sie die Stelle erreichten, sahen wir, daß Alles vorbei war, und wir folgten ihnen schweigend mit den Augen. Endlich kamen sie an. Auch sie standen schweigend still, denn das Loos des Tapferen, der mit dem Bären gerungen hatte, war entschieden. Es war ein Shawano-Krieger, der sein Leben eingebüßt hatte, indem er sein Scalpirmesser dem Bären in’s Herz stieß.

Die Mahlzeit war theuer erkauft, die uns des Bären Fleisch darbot, vielleicht hatte dieses eine Opfer aber viele Leben gerettet. Wir hatten jetzt den Bären, den Büffel und zuletzt noch die Manna-Wurzel. Damit reichten wir nun glücklich aus, denn nach ein paar Tagen trat Frost ein und der Schnee wurde so hart, daß wir ihn überschreiten und die wärmern Regionen aufsuchen konnten, wo es uns nicht an Wild fehlte.




Literarische Aquarellen.
In Briefen an eine Dame von Feodor Wehl.
I.
Georg Spiller von Hauenschild.

Es ist mir sehr angenehm zu hören, mein liebes Fräulein, daß Sie sich noch immer mit inniger Freude der Stunden erinnern, die wir im Hause Ihres Herrn Bruders so oft in Gesprächen über Literaturgegenstände zugebracht haben. Ich wohnte damals in Ihrer Nachbarschaft und kam gern gegen Abend mit irgend einem neuen Buche in der Hand zu Ihnen, um Ihnen, Ihrer Schwägerin und Fräulein Pauline daraus vorzulesen. Es geschah dies im Sommer bei schönem Wetter unten im Garten, bei schlechter Witterung oder im Winter oben in dem traulichen Balkonzimmer, das ich mit seinen Tapeten, Bildern, Möbeln und Nippes noch so deutlich vor mir sehe, daß ich es malen könnte. Der runde Tisch, um den wir uns da zu versammeln pflegten, stand mitten in dem kleinen Gemach gerade vor der Balkonthüre, der ich selbst immer gegenüber meinen Platz einzunehmen liebte, während Frau Laura und Fräulein Pauline links davon um den Theeständer und Sie rechts ihnen gegenüber saßen, mit irgend einer leichten Handarbeit beschäftigt.

Es sind Jahre seitdem vergangen und wir sämmtlich beinahe in alle vier Winde auseinander gestreut. Sie leben wieder am Rhein in Ihrem älterlichen Hause, Frau Laura mit ihrem Gatten in Paris und Fräulein Pauline, welche die einzige ist, die zurückgeblieben, sehe und spreche ich so selten einmal, daß sie mir fast nicht weniger abwesend gelten darf, als Sie andern alle. Ein einzelner Freund, der uns verläßt, entzieht uns durch sich selbst schon viel, aber noch weit mehr wird uns durch den Abgang einer ganzen Familie entzogen, und zwar deswegen, weil mit ihr uns auch eine Menge anderer Beziehungen verloren gehen, zu denen wir durch sie gelangt waren. Bei dem Fortgange von Ihres Herrn Bruders Familie habe ich das besonders schmerzlich empfunden, denn die Lücke, die dadurch in meinen Umgang gekommen, ist mir eigentlich nie wieder ausgefüllt worden.

So lange Sie und die Familie Ihres Herrn Bruders hier waren, ging ich nie an die Lektüre irgend eines poetischen Werkes, ohne zuvor bei Ihnen vorgefragt zu haben. Ich wußte ja, daß ich da immer, wenn nicht allzu viel Fremde anwesend oder Sie alle selbst nicht aus waren, theilnehmende Seelen fand. Ihren Herrn Bruder nahmen nach Tisch sein Consulat und seine anderweitigen Geschäfte noch immer auf ein paar Stunden in Anspruch, und während dieser, wußte ich, waren dann seine Tanten mehr oder minder auf sich selbst angewiesen. Da kamen mein Lesen und mein Gespräch Ihnen dann gar wohl zu statten. Noch neulich, als ich nach langem Zwischenraume Fräulein Pauline wieder einmal sprach, rechnete sie mir in liebenswürdiger Dankbarkeit vor, was Sie durch mich Alles hatten kennen lernen. Und ich muß gestehen, ich war selbst erstaunt, es so viel zu finden. Es gäbe, Buch an Buch gereiht, eine ganz artige Handbibliothek, in der man den „Kosmos“ von Humboldt, die neuern Werke von der George Sand, von Lamartine, die damals eben erscheinenden Gedichte von Alfred Meißner, Moritz Hartmann und manches andere immerhin Werthvolle und Bemerkenswerthe antreffen könnte. Auch die Publikationen von Max Waldau habe ich Ihnen zuerst zugeführt. Fräulein Pauline erinnerte mich an das Interesse, mit dem Sie seinen Roman „Nach der Natur“ zuhörten und an die Sensation, welche die „Cordula“ unter Ihnen erregte.

Ich habe noch ganz wohl im Gedächtniß, daß ich damals dem Dichter eine briefliche Mittheilung darüber machte und wie er diese aufgenommen, beweist mir eine Stelle aus seinen Briefen, die ich aus seiner Correspondenz mit mir hervorgesucht habe, und welche lautet: „Sie freuen sich auf meine Person!! Lieber Himmel, ich, der ich so gern von Herzen heiter sein möchte, bin anfort ein sehr langweilig trüber Kumpan geworden. Gottschall hat es erprobt. Indeß komme ich hoffentlich so befreit als möglich und werde schon sehen, daß Sie keine Schande an mir haben, wenn Sie Ihre Güte so weit ausdehnen wollen, mich mit liebenswürdigen und nachsichtigen Menschen bekannt zu machen. Bin ich auch nicht mehr frischgrünes Laub, so bin ich doch auch noch nicht dürr und vertrocknet, man müßte denn meine Magerkeit so taufen wollen.“

Dies schrieb er von seiner Besitzung Tscheidt bei Bauerwitz in Schlesien aus am 18. August 1852 an mich, zu einer Zeit, da er im Sinne hatte, seinen Verleger Campe, Freund Gottschall und mich in Hamburg zu besuchen. Die Krankheit, der er kürzlich in der Blüthe seiner Jugend erlegen ist, kam dazwischen und so ist aus seiner Hierherkunft nichts mehr geworden.

Ich habe ihn nur einmal und zwar blos im Vorüberstreichen gesehen, und da ich weiß, daß Sie sich, mein liebes Fräulein, für diesen Autor besonders interessiren und mich durch Fräulein Pauline haben auffordern lassen, die literarische Unterhaltung, die ich mit Ihnen sonst mündlich gepflogen, doch gelegentlich einmal schriftlich fortzusetzen, so glaube ich das nicht besser thun zu können, als indem ich an meine flüchtige Begegnung mit ihm anknüpfend, versuche, Ihnen ein Bild von ihm und seinem schriftstellerischen Wirken zu geben.

Daß ich diesen Versuch hier in der „Gartenlaube“ gedruckt erscheinen lasse, geschieht, weil Sie, wie ich gleichfalls von Fräulein Pauline erfahren, Abonnentin dieser Zeitschrift sind und mir scheint, daß wohl auch die übrigen Leser derselben einiges Interesse daran nehmen könnten.

Max Waldau ist kein großer, weithin Epoche machender, aber doch jedenfalls ein angenehmer und wohl zu respektirender Autor, dessen eigentlicher Name Georg Spiller von Hauenschild lautet, und mit dem sich etwas vertraut zu machen, wohl der Mühe verlohnt.

Als ich im Sommer 1850 nach längerer Abwesenheit nach Hamburg zurückgekehrt war, befand ich mich am Tage meiner Ankunft mit mehreren Bekannten vor dem, an der besuchtesten Promenade gelegenen, sogenannten Alsterpavillon, als ich plötzlich an diesem ein Menschenpaar vorübergehen sah, dessen Anblick mich frappirte. Der Herr war hoch und schlank und von jenem leichten, ich möchte sagen, beflügeltem Gange, wie er nur künstlerischen und hochstrebenden Naturen eigen zu sein pflegt. Es lag eine Art Rhythmus darin, ein gewisses Etwas, das ich in der Bewegung von Dichtern schon oft getroffen. Das dunkle Haar war voll und lockig nach dem Nacken zurückgeschlagen und nur lose [304] von einer schwarzsammetnen, barettmäßigen Reisemütze bedeckt. Die Züge des Gesichts, frei und edel in ihren Linien, ließen Seelenadel und Geist vermuthen. Zwei große, wie mir schien, in dunkler Bläue erstrahlende Augen, gaben dem Ganzen einen Ausdruck von Schwärmerei und Glück.

Nie, muß ich bekennen, werde ich diese Erscheinung vergessen, die mich beim ersten Blick für sich einnahm, und so mächtig anzog, daß ich ihr lange nachsah, und im Interesse über sie ganz versäumte, auch die Dame näher zu betrachten, die ihr zur Seite ging. Nur, daß sie ebenfalls hoch und schlank und etwas Junonisch-Majestätisches in ihrem Wesen hatte, gewahrte ich beim Nachschauen noch, das ein so emsiges und auffallendes war, daß der hinzutretende Doctor H…, es gewahrend, mir zurief:

„Kennen Sie denn diese Personen nicht? Das ist der Verfasser von „Nach der Natur“ mit seiner Frau, die er sich eben von Heidelberg her nach seiner schlesischen Heimath heimholt.“

„Wie, Hauenschild?“ rief ich. „Hauenschild war das?“

„Nun freilich,“ lautete die Antwort. „Eben der. Er wohnt im Hotel Belvedère und ich habe das Vergnügen, ihm alle Tage an der table d’hôte gegenüber zu sitzen, die er durch seinen Geist, seine Liebenswürdigkeit und heitere Laune entzückt. Seien sie morgen unser Gast und lernen Sie ihn kennen. Das ist ein Mann für Sie.“

Man kann sich denken, mit wie großem Vergnügen ich auf diesen Vorschlag einging, und um so mehr, wenn ich hier noch anführe, daß ich bereits von Rudolph Gottschall und dem bremer Verleger, Franz Schlodtmann, auf die Bekanntschaft im Voraus sehr gespannt gemacht war. Beide, der mitstrebende Dichter, wie der junge, damals sich wacker umthuende Buchhändler waren seines Lobes voll gewesen, und hatten mir nicht genug Gutes zu seinem Lobe mittheilen können. Das ist eine hinreißende, wahrhaft geniale Dichternatur, sagte man mir, eine lebensvoller, quellender Geist, dessen Sprudeln und Rauschen zu beobachten und zu folgen, ein seltener Genuß ist. Seine Unterhaltung, war mir von dem enthusiastischen Gottschall versichert worden, sei wie ein Strom, in dem alles Höchste und Kleinste der Erde mitsammt dem gesternten Firmament sich wiederspiegele. In seinen Worten, hieß es, baue sich kaleidoskopartig im ewigen Wechsel der Gedankenzusammenfügung und Auflösung eine ganze Welt vor der Seele des Hörenden auf. Und mit seinen Briefen, behauptete man, sei es etwas Aehnliches. Die Gedankenfülle, Länge und interessante Mannigfaltigkeit derselben war in einem gewissen Kreise meiner literarischen Bekanntschaft gleichsam sprüchwörtlich geworden. Ein Brief à la Hauenschild wurde jeder Brief genannt, den man als bedeutend anerkennen wollte.

Daß ich nun höchst begierig war, Hauenschild selbst kennen zu lernen, mit dem ich schon durch Andere längst in eine nahe, geistige Verbindung gesetzt worden, wird man ohne Zweifel begreiflich finden, und mir darum glauben, wenn ich hier gestehe, daß ich den Mittag des andern Tages kaum erwarten konnte. Endlich war er da und ich im Hotel Belvedère sogleich mit der Bitte bei Herrn Heuer, dem gefälligen und intelligenten Besitzer desselben, mich so recht in unmittelbarer Nähe Hauenschild’s placiren zu lassen.

„Aber mein Gott,“ sagte dieser, „wissen Sie denn nicht, daß er heut früh mit seiner jungen, schönen Frau nach Schlesien abgereist ist? Warum sind Sie nicht acht Tage früher gekommen? Nun werden Sie sich mit dem Nachhall seines Hierseins begnügen müssen, denn der ganze Tisch wird die Abwesenheit dieses schönen Paares vermissen, und seine Klagen darüber laut werden lassen.“

Ich war wie vom Donner gerührt, und begab mich in sehr gedrückter und verdrossener Stimmung auf meinen Platz, wurde aber am Ende doch noch froh, wenigstens eine Nachlese seines hamburger Aufenthaltes abhalten zu können. Es wurde fast die ganze Tischzeit über von nichts, als ihm und seiner Frau gesprochen. Und aus diesen Gesprächen der Tisch-Habitué’s erhellte deutlich und klar, daß mir meine Freunde nicht zu viel zu Hauenschild’s Lobe erzählt. Auch hier fielen alle Urtheile zu seinen Gunsten aus. Man rühmte die Lebendigkeit, die Fülle und den unnachahmlichen Reiz seiner Gespräche, seine Lust, sich mitzutheilen, die stete Geneigtheit, sich auf Alles und Jedes einzulassen und da begierig zu lernen, wo er nicht lehren konnte.

Ein junger Kaufmann, welcher an einem Exportgeschäft betheiligt war, zeigte sich ganz begeistert darüber, daß der Dichter, als er ihm eines Tages mit einem andern Kaufmanne die Chancen einer neuen Unternehmung erörtern hörte, ihn ersucht hatte, auch ihm einen Einblick in dieselben zu gönnen, im Falle er eine solche Neugier nicht für unbescheiden halte. Wir im Innern von Deutschland, hatte Hauenschild gesagt, haben nur so wenig Gelegenheit, dergleichen überseeische Spekulationen kennen zu lernen, daß ein Schriftsteller, der doch gar wohl in den Fall kommen kann, sie einmal berühren zu müssen, mit allem Eifer zugreifen muß, sich an geeigneter Stelle damit bekannt zu machen. Mit einem Kunstgärtner hatte er sich viel über Blumenzucht unterhalten, bei dem Besitzer des Hotels sich so genau nach dem Gange und Betriebe seines Geschäftes erkundigt, als ob er im Sinne hätte, selbst einen Gasthof anzulegen.

Ein solches Benehmen war bei Hauenschild, wie ich später oft Gelegenheit hatte, wahrzunehmen, keine Koketterie oder Liebedienerei, sondern ein wirkliches Interesse, das er für alle Dinge hatte, die er Menschen mit allem Ernst und Eifer betreiben sah. Nur die müßigen Liebhabereien waren ihm zuwider, und dagegen hat er sich immer ziemlich unbarmherzig erwiesen. Alles, was er selbst angriff, gewann auch nur zu bald eine Ansehen, das weit darüber hinausging, wie dies z. B. seine Vignettenzeichnerei beweist.

Hauenschild nämlich, der viel Sinn für Schönheit hatte, liebte es auch, die Bücher elegant eingebunden zu sehen. Unter dem 16. Juli 1852 schrieb er mir selbst:

„Ich habe eine Passion dafür, daß gute Bücher auch hübsche Bücher sind. Gottschall kann Ihnen sagen, daß alle meine Bücher luxuriös gebunden werden, und daß ich jährlich ein ganzes Kapital für den Buchbinder brauche. Wundern Sie sich also nicht darüber, daß ich mich so lebhaft für – Einbände interessire.

Um diese sauber, sinnig und artig werden zu lassen, beschäftigte er sich auf das Angelegentlichste damit, Umschlagvignetten für besondere Werke zu zeichnen, in welchem Kunstzweige ein gewisser R. Schubert in Berlin, auf Hauenschild’s besondere Anregung hin, neuerdings sehr Außerordentliches geleistet hat. Die sämmtlichen Umschlagvignetten im Campe’schen Verlage rühren von Hauenschild her, und mit welchem Eifer er sich daran zu schaffen machte, kann am Besten auch wieder eine Stelle des schon vorin citirten Briefes darlegen: „Außer diesen größern Arbeiten (der Jongleur, Umarbeitung der Cordula u. s. w.)“ schreibt er, „und einer Menge von kleineren kritischen Arbeiten, die nunmehr nicht länger warten dürfen, hab’ ich noch eine Menge Anderes vor, worüber ich Ihnen aber lieber ein anderes Mal schreibe. Auch mein Umschlagzeichnen kann ich nicht lassen, obgleich mir’s in Breslau schön damit ging. Wir saßen in Zedlitz-Hotel Abends zusammen, Emil Devrient, Gottschall, Karl Beck, Kurnik, Herr und Frau Moritz, Doctor Nimbs und noch einige Andere. Wir kamen auf Heine, auf den Romanzero und den Faust. Einer aus der Gesellschaft behauptete, das Tanzpoem könne schon des Umschlags wegen kein Glück machen. Ich wollte zwar keine Meidinger’sche Anekdote anführen, mußte aber endlich freiwillig meine Verfasserschaft eingestehen, da dem Zeichner Absichten zugemuthet wurden, an die er nicht denken konnte.“

„Es gab ein großes Gelächter. Aber denken Sie sich auch nur, wie die von mir angegebene Idee ausgeführt worden ist. Ich wollte haben, daß eine antike Venusstatue, ausdrücklich noch die kapitolinische, ruhend auf den Staubgefäßen einer Lilie, als der Blume der Reinheit, entgegengesetzt würde der Mephistophela, die emporwächst aus einer Passiflore, als der Blume des mittelalterlichen Christenthums. Der Hellenismus, dessen Schöpfung die Göttin der Schönheit ist, sollte gegenüberstehen der Ausgeburt des Leidenkultus, nämlich raffinirter Lüderlichkeit. So war denn auch der Tänzerin eine angemessene Stellung und eine prägnante Physiognomie zugedacht, während die Statue in aller makelfreien Reinheit des Marmors erscheinen mußte. Sie sehen, daß dieser Plan wohl mit dem Texte harmonirt. Statt dessen aber kehrte die Ironie des Schicksals in Gestalt eines Lithographen die Sache um: Mephistophela sieht noch anständig aus gegen die in ein nacktes, schiefbeiniges Frauenzimmer travestirte Capitolina. Die ganze Geschichte ist somit verunglückt, aber ohne meine Schuld. Zum Glück rettete später wenigstens R. Schubert meine Zeichnung für den Romanzero, die allerdings ohne Werth ist, durch seine Platte für die Miniaturausgabe. Es ist immer nicht angenehm, auch das Unbedeutendste, was man sauber auf das Papier gebracht hat, durch Ungeschicklichkeit verpfuschen zu sehen.

[305]

Georg Spiller von Hauenschild.

Hauenschild lieferte später auch eine Deckelzeichnung zu Hafis in Hellas, die von Schubert trefflich gestochen war, und von Hauenschild in mehren Briefen an Freunde sehr gelobt wurde.

Man sieht schon hieraus allein, wie ernst es ihm um die Sache zu thun war, und kann es noch mehr sehen, wenn man diese Umschlagvignetten selbst in Augenschein nehmen mag. Sie sind alle gar sinnig, hübsch und poetisch ausgedacht und in der geschickten Ausführung von R. Schubert eine Zierde der Bücher, denen sie beigegeben sind. So eifrig, wie er sich hiermit befaßte, befaßte er sich aber noch mit vielen andern Dingen, z. B. mit der Musik, auf deren Felde er die Arbeiten des Liedercomponisten Robert Franz und des Dramatikers Richard Wagner auf das Antheilnahmsvollste begleitete, so wie er denn auch für die Schöpfungen der Maler ein achtsames Auge hatte. Neben diesem Allen war er der beste Ehemann und Vater. Unter dem 7. December 1851 schrieb er mir: „Seit lange drängt es mich, Ihnen zu schreiben, aber ich kam zu dem Briefe so wenig, als überhaupt zum Arbeiten. Mein Junge ist jetzt der Mittelpunkt meines Lebens, ich tanze nach seiner Pfeife und bin, da der kleine Kerl die Manie hat, nur bei mir still zu werden, immer auf den Beinen. Das arme Kind ist trotz seiner prächtigen Augen nicht so gesund, als ich es wünschte, Grund genug für mich, ängstlich zu sein. Kinderhaben, heißt unsterblich sein! Sie sehen, daß ich um meine Unsterblichkeit besorgt bin. Jedenfalls bin ich’s mehr für meine lebendige als für die gedruckte. Prutz schrieb mir: Alle sogenannten Freuden sind Dreck gegen Aelternfreuden. Er hat Recht. Die Strophen Byron’s, in denen er von seiner Ada spricht, haben mir jetzt ganz andern Klang. – Sie werden mich auslachen, aber ich lasse mir’s gern gefallen. Die Leute sagen, ich hätte manchen guten Vers geschrieben, aber mein bestes Gedicht ist doch der Junge mit den großen blauen Augen. Ich bin nicht blasirt, warum sollte ich mich also nicht freuen? Ich habe noch nie Grund gehabt, mich eines Wortes zu schämen, warum sollt’ ich also meine Freude nicht aussprechen? Lachen Sie immerzu über das Geständniß, daß der kleine Kerl mich, der ich sonst täglich zwölf Stunden Arbeitszeit hatte, um die Hälfte bringt – ich schäme mich dessen nicht.“

Wer hätte auch mögen, daß er das sollte! Das Glück und die Freude darüber waren ihm wohl zu gönnen, schon allein um seines Fleißes und seiner unermüdlichen Arbeitslust wegen, ja, man dürfte um seiner Gesundheit willen sogar äußerst zufrieden mit der Erholung und Muse sein, die er sich nun doch zuweilen glaubte gestatten zu können oder zu müssen, denn schon damals waren seine Freunde über seine unausgesetzte schriftstellerische Thätigkeit in nicht geringer Sorge. Wohl kein anderer deutscher Autor hat so viel und unausgesetzt geschrieben, wie er. „Nach der Natur,“ „Aus der Junkerwelt,“ „Cordula,“ entstanden rasch nach einander und zugleich mit seiner unendlichen Menge von Journalartikeln, Kritiken, Notizen und Gedichten. Fast alle besseren deutschen Zeitschriften brachten Aufsätze von ihm; und neben diesem Allem unterhielt er eine sehr ausgebreitete und seinerseits sehr ausführliche Correspondenz, so wie er auch das Neueste fast aller Literaturen las.

Man wird es gestehen müssen, daß dieses rastlose Thätigsein etwas Seltenes und Merkwürdiges und noch dazu an einem Manne ist, der in glücklichen Verhältnissen lebte und durchaus nicht nöthig hatte, sich seinen Lebensunterhalt zu erwerben. Seine Familie war nicht eben eine überaus reiche, doch eine anständig begüterte und die Besitzung Tscheidt bei Bauerwitz in Oberschlesien, die er mit seiner Mutter und seinen Schwestern, wie zuletzt mit seiner eigenen Familie bewohnte, zeigte sich durchaus genügend, sie alle in glücklicher Wohlhabenheit existiren zu lassen.

Die Unabhängigkeit und Muse, die ihm dadurch gewährt war, hat ihn denn auch vereint mit seinem unverdrossenen Streben und Talente so rasch und gleichsam im Fluge zu der künstlerischen Höhe gelangen lassen, wie wir ihn in seinen letzten poetischen Erzeugnissen [306] einnehmen sehen. Seine erste, größere Produktion „Blätter im Winde. Brüssel. C. G. Vogler. 1847,“ die jetzt nur selten ist, ließ kaum den Mann in ihm ahnen, der er später geworden ist. Auch hat Niemand so streng als er selbst darüber abgeurtheilt. Als er mir 1851 einmal eine Ballade einsandte, schrieb er mir dabei unter Anderem: „Ich sende Ihnen eine Ballade, Sie gehört zu meiner Sammlung von Neckarsagen, die ich eigentlich nur für meine Frau machte. Sie könnte aber ganz gut eben solch’ Bändchen bilden wie W. Müller’s „Loreley“. Ich traue mir nur in dieser Beziehung so gut als nichts zu. Die Balladen und Romanzen in meinen „Blättern im Winde“ sind das Abgeschmackteste, was es in diesem Genre giebt, wie denn das Bändchen selbst eine Musterkarte aller denkbaren Geschmacklosigkeiten ist. Nichts als Bilder und Metaphern, und jede Metapher eine Boa constrictor, die mindestens einen Gedanken erquetscht. Die meisten dieser Gedichte stammen allerdings aus den Lümmeljahren 15–17, aber ich war doch fast zehn Jahre später noch so dumm, sie mit all’ ihrem Bilderunflath drucken zu lassen. Ich wage also auch der Beilage keine Lobrede mitzugeben. Schade wär’s, wenn ich solch’ echten Balladenstoff verhunzt hätte. Und nichts ist besser, als eine Sage in endgiltiger Fassung. Aber sie muß in die rechten Hände kommen.“

Später, als ich die „Blätter im Winde“ gegen ihn selbst ein wenig in Schutz genommen, schrieb er mir noch einmal darüber: „Faktisch ist, daß nicht ein Dutzend Gedichte ganz unverändert wieder gedruckt werden dürfte. Diese sehen aus, als wenn sie ein Anderer darin verloren hätte. Etwa noch ein Dutzend ginge in anderer Fassung zu halten, der übrige Bilderschwulst ist eben eine Musterkarte von Geschmacklosigkeiten. Warum sollte ich mich schämen, das zu gestehen? Das wenigstens müssen mir meine ärgsten Feinde lassen, daß ich jetzt und immer bereit bin, einen dummen Streich, den ich vor einer Stunde gemacht, sobald ich ihn eingesehen, nicht reuig, aber entschieden so zu nennen, wie er es verdient. Es dürfte für den Literarhistoriker, der mich analysiren wollte, nicht uninteressant sein, zu sehen, aus welchem schlesischen Bilder- und Wortschwall ich mich zu lesbarerer Einfachheit herauszuarbeiten hatte. Wir Schlesier leiden alle an einer ästhetischen Krankheit, an Bilderüberfluß und Hang zur Wortmacherei, das geht durch von Hoffmannswaldau und Lohenstein an. Ich habe mich davon soweit losgemacht, daß Gottschall sagen konnte, ich sei zuweilen „trivial“ im Verse. Ich werde mir also wieder in etwas die Zügel schießen lassen. Daß ich sonst das Ineinanderpranschen von Bildern weg hatte, dafür zeugen leider die „Blätter im Winde.““ Im Uebrigen sehen Sie die schlesischen Poeten an, Gottschall an der Spitze: Tropen schießen ihnen unter den Fingern auf, wohin sie nur greifen. Ob Gottschall recht hat, weiß ich nicht, aber ich weiß zwei Stellen in Cordula, deren Inhalt prosaisch ist, obgleich die Form ihr Bestes thut. Möglich ist’s indeß, daß er im Rechte ist, denn in die Scylla fällt, wer die Charybdis vermeiden will.“

Diese „Blätter im Winde“ übrigens, die allerdings, wie ich schon gesagt, nicht eben hervorragend sind, dürfen doch immerhin deswegen für den Beurtheiler Hauenschild’s von einiger Bedeutung sein, weil sich schon alles das darin im Keime zeigt, durch was er sich später die besondere Theilnahme der Lesewelt erwarb. Freimuth, schöne Humanität, Liebe zu allem Großen und Schönen strahlt glänzend daraus hervor. In einem Liede: „Es gilt!“ lauten z. B. die beiden letzten Strophen:

„Die Menschen, der besten Rechte beraubt,
Sie gilt’s, aus der Tiefe zu heben,
Vernichtung den Kasten, die ahnenbestaubt
Als Sclavenvögte nur leben.
Wir brauchen aber die Vögte nicht mehr,
Wenn keine Sclaven mehr frohnen,
Die Welt von Geiern und Drachen leer,
Der Bienenkorb von Drohnen.

„Dann drückt die ganze Menschheit in’s Haar
Den Kranz des Ruhmes und Sieges,
Die Palme führt in den Fängen der Aar,
Statt wilder Blitze des Krieges,
Und wenn sich so in Jubel und Lust
Gewandelt die finstern Loose,
Mag lieblich blüh’n an jeder Brust
Auch eine duftige Rose.“

Anfang des Jahres 1848 rief er auch Ludwig Uhland an:

„Laß deiner Saiten Zauber wieder klingen
Von kühnen Sängern und biderben Rittern,
Von Minneglück und tapfren Lanzensplittern,
Und dann von Völkern, die um Freiheit ringen.

„Du sagtest selbst, man müsse jubelnd singen,
So lange noch des Herzens Fibern zittern,
Den Geist des Alters Fesseln nicht erbittern
Und ihn berauben seiner Adlerschwingen.

„Doch Seelen, wie die deine altern nimmer,
Geöffnet bleiben dir des Lichtes Pforten,
Glänzt auch des Hauptes Haar mit bleichrem Schimmer.

„Man hoffet noch auf dich an allen Orten,
Und sehnt sich in dem bunten Versgeflimmer
Nach Vater Uhland’s ernsten, tiefen Worten.“

Daß ein Geist von so männlichem Gehalt keine Freude an der Lovelyliteratur, die sich zuletzt eine so übermäßige Geltung bei uns verschaffte, zu haben vermochte, wird man sich denken können, und der erste seiner „Drei Briefe über Schrift und Kunst“ in den „Blättern für literarische Unterhaltung.“ Nr. 32 (vom 7. August 1852) ist auch ein sprechender Beweis dafür. Als er mir denselben schickte, schrieb er mir dabei: „Die freundliche Theilnahme an meinem Streben, die Sie mir wiederholt in Ihrem Blatte und neuerdings in Ihrem letzten Briefe bezeugten, ließ mich Ihnen bereits gestern den eben eingetroffenen „„ersten““ Brief über Schrift und Kunst zusenden. Ich wünschte, daß die dort ausgesprochenen Gesinnungen den Beifall derer hätten, denen es Ernst ist um künstlerisches Ringen im Allgemeinen, um die Poesie insbesondere und vor Allem um ehrliches, sittliches und menschenwürdiges Dasein. Ohne Zweifel ist uns eine schöne Aufgabe geworden, wenn meine Auffassung des poetischen Apostelamtes die richtige ist, wenn wir in der That berufen sind zu einer „„innern Mission““ für Schönheit, Kraft und Freude. Aber, so sehr ich davon durchdrungen bin, daß ich das Rechte getroffen, ich verhehle mir doch keinen Augenblick, daß der passive Widerstand, die Apathie der Männer gegenüber allen poetischen Leistungen, jedes segensreiche Wirken jetzt wie vorher in Frage stellt. Es wird mir Niemand die Wahrheit des Satzes bestreiten, daß erst die Lust, die selbstbewußte Lust an einem liebenswürdigen Leben befähigt: zu manchen politischen Bestrebungen, aber man wird doch nach wie vor die einzigen Mittel zum Zwecke als Tändeleien und Schaumblasen müssiger Geister geringschätzen und großen, ja allen Werth legen auf verfrühte Demonstrationen, die nur dann etwas bedeuten, wenn sie von innerlich befreiten Menschen ausgingen. Es gab kaum eine Zeit, in welcher das Gewicht der Poesie von denen, die den Fortschritt wollen, in gleichem Maße verkannt wurde, wie in der jetzigen. Und doch haben sie an dem Treiben der Gegenpartei, an dem Hätscheln der Geibel’s und Redwitze einen derben Fingerzeig. Die Pfaffen waren seither ja klüger als die ehrlichen Leute. Immer glückt’s freilich nicht, mit Redwitz ist es sogar übel mißglückt. Der arme Junge hat sich in Wien so gräßlich blamirt, ihm ging gegenüber seiner Professur ein so helles Licht auf, daß er, vergeblich wartend auf die Gaben des heiligen Geistes und eine Wissensoffenbarung von oben schon jetzt in seines Nichts durchbohrendem Gefühle das Feld räumt. Dies Fiasko thut mir seinethalb leid, aber es ist gerecht.“

Wie er selbst diese „innere Mission“ für Schönheit, Kraft und Freude vollführt wissen wollte, dafür sind seine Romane und „Cordula“ ein Beweis. In der letzteren ist der Kampf zwischen dem verwelkenden, in seinen Sünden absterbenden Ritterthum und dem gesunden, kräftig aufblühenden Volke geschildert und in diesem Kampfe die Liebe eines Mädchens, das sich in dem Gedichte in dem ganzen mystischen Reize ihrer Jungfräulichkeit darstellt. „Ich gestehe,“ schrieb er mir über „Cordula“ selbst, „daß mir der Anklang, den das Gedicht gefunden, Freude macht. Daß man meine Verse kühl aufgenommen, daß ich sogar über mein Lieblingsgedicht „„Sirvante von Pierre, Cardinal““ (Hamburg, Hoffmann und Campe. 1850), nur von Paris aus Gutes von mir vorher Fremden hörte, betrübte mich fast – wenn ich auch im Stande bin, selbst zu beweisen, daß das Publikum eigentlich recht hatte. Cordula ist in der That von meinen poetischen Arbeiten, mit Ausnahme des Sirvante, die einzige nicht specifisch für mich geschriebene. Daher ist sie auch so gut wie ein Erstling, hat dessen Schwächen, aber vielleicht auch seine naiven Vorzüge. Ich will zusehen, daß ich’s jetzt der Welt noch bequemer mache. Ich selbst [307] fand einen Haufen von Uebelständen, die Kritik zeigte mir andere – und so grob ich werde, wenn man mir unrecht thut, so gelehrig bin ich, wenn man mich am rechten Ende faßt. Alle Längen und trocknen Reflexionen werfe ich fort. Frisches Laub will ich bringen, nicht dürre Aeste.“

Wie „Cordula,“ so hat er auch „nach der Natur“ umgearbeitet. „Ich bin so wenig verliebt in meine Schöpfungen,“ sagt er in einem Briefe an mich, „daß ich sie jedesmal wieder so gut als neu mache, wenn ich sie zurück bekomme.“ Da ich hier keine kritische Abhandlung über Hauenschild’s Werke zu schreiben in Absicht habe, so will ich mich auf den Werth oder Unwerth dieser und seiner andern Romane „Aus der Junkerwelt“ gar nicht einlassen, sondern nur bemerken, daß er dem ersten besonders seinen schriftstellerischen Ruf und hauptsächlich wohl deswegen verdankt, weil derselbe, wenn auch nicht in der Geschichte selbst, wie dies später die „Ritter vom Geiste“ thaten, so doch in den in ihr geführten Gesprächen den vollen Inhalt der Zeit zur Verhandlung brachte. Es war der wirklich moderne Roman, der hier gegeben wurde, der Roman der Gegenwart, der sich tief in ihre Fragen und Ideen einließ, und nicht in so kleinen und erbärmlichen Capricen verloren ging, als dies gemeinhin bei den Romanen der Hahn-Hahn der Fall ist.

„Aus der Junkerwelt“ ist ihm wohl in mehr als einer Beziehung besonders aus dem Herzen geschrieben. In einem seiner Briefe an mich klagt er: „Das Schicksal hat eine Todsünde begangen, als es mich in trostlos unerquicklichste Umgebung placirte. Das Volk verstehe ich kam und kann seine Sprache nicht reden; von den Junkern machte ich keinem eine Visite, denn ich verstehe nichts von Hunden und bin außerdem in Bezug auf Unterhaltung verwöhnt. Ich hatte immer mit Menschen zu thun, die mehr wußten als ich; hier mußt’ ich dociren, und zwar vor tauben Ohren. Seit vier Monaten war ich nicht einmal in Ratibor, der nächsten Stadt. Ich bin froh, wenn ich diese Race nicht sehe. Sie werden sie aus meinen „Alltagsgeschichten“ kennen lernen, sobald ich nur erst den „Jongleur“ fertig habe. Wenn nur mein Junge immer, wenn ich arbeiten will, so gut schliefe, wie im Moment, dann ginge die Sache rasch. Alle Skizzen sind angelegt.“

Er hatte noch Vieles vor; ein Plan drängte bei ihm den andern; sein Geist war immer voll. Mitten in dem Trubel dieser geistigen Regsamkeit ergriff ihn ein heftiges Nervenleiden, das sich auf’s Ohr werfend, seinen Kopf auf’s Furchtbarste angriff. Ich habe den Brief gelesen, den sein Arzt an Campe schrieb und worin seine Krankheit ganz schlicht, aber so eindringlich erzählt wurde, daß einem die Haare dabei zu Berge stehen konnten. Der Arme muß, darnach zu schließen, ganz entsetzlich gelitten haben. Auch hat er sich in der That nie mehr ganz erholt und ist in den ersten Monaten dieses Jahres dem Uebel erlegen.

Sein Tod hat im Allgemeinen weniger Sensation gemacht, als man voraussetzen durfte. Der Kriegslärm übertönte die Klagen und das Hinschwinden eines so thätigen und strebsamen Lebens, da bei längerer Dauer ohne Zweifel noch gar manches vor sich gebracht haben würde. Wie der Literarhistoriker über das von ihm Geschaffene urtheilen werden, muß man dahingestellt sein lassen, aber wie sie auch urtheilen mögen, daß er ein liebenswürdiges, rüstiges und strebsames Talent gewesen, werden sie ihm unter allen Umständen zugestehen müssen. Sein schnelles Emporkommen und Bekanntwerden in der Literatur hat ihn ein wenig, ich nicht sagen, eitel, aber zuversichtlich in dem, was er schaffen wollte, gemacht und ihm eine gewisse Redseligkeit über all’ sein literarisches Thun und Lassen angeeignet. Er sprach und schrieb gern viel über das, was ihn beschäftigte, und daher ist es gekommen, daß diese Beschäftigung oft ein größeres Ansehen bekam, als sie im Grunde zu haben verdiente. Ueber die Vorstudien und Arbeiten zu seinem „Jongleur“ hatte er so viel Wesens gemacht, daß man dies über ein Jahr mit anhörend meinte: es müsse Wunder was davon entstanden sein. Und doch war dies nicht der Fall. Wenigstens meldete mir Rudolph Gottschall aus Breslau, der an Hauenschild viel verlor: „Leider ist von Max Waldau wenig hinterlassen worden, vom „Jongleur“ nur einige Kapitel – was mit seinen eigenen Aussagen und Bemerkungen in auffallendem Widerspruche steht.“

In dieser Plauderlust über sein Schaffen verräth sich ein wenig der literarische Parvenu, und seine vornehme Nonchalance, welche wir bei dem Fürsten Pückler und vielen andern durch günstige Umstände in eine glückliche Lage gebrachten Autoren wahrnehmen können. Bei Hauenschild ist indeß beides weder unangenehm noch verletzend geworden, sondern stets nur eine harmlose Eigenheit seines Wesens geblieben.

Andere und Würdigere mögen tiefer und eingehender über ihn schreiben, hier sollte nur in aller Kürze ein ungefähres Bild seines Wirkens und Charakter gegeben werden, und das ist, wie ich glaube, so geschehen, daß sich auch der Uneingeweihte wenigstens eine ungefähre Vorstellung davon zu machen im Stande sein wird.




Blätter und Blüthen.

Louis Napoleon zwei Mal in London. Voltaire läßt in seiner Erzählung: „Der Optimist" seinen Helden Candide in Venedig an einem Festessen Theil nehmen, dessen Gäste von ihren Dienern alle mit „Sire“ und „Majestät“ angeredet werden. Nur der sechste Gast wird als bloßer „Herr“ etwas beiläufig behandelt. Candide, dessen Diener wird darüber ärgerlich und ruft laut: „Meine Herren, warum spielen Sie alle Könige und erkennen die Majestät meines Herrn nicht an?“

Einer der Gäste antwortete gravitätisch: „Wir spielen nicht Könige, wir sind’s. Ich bin Achmet III. Ich war mehrere Jahre Groß-Sultan. Ich entthronte meinen Bruder, mein Neffe mich.“

„Mein Name ist Iwan,“ fügte ein Anderer hinzu. „Ich war Kaiser aller Reussen, wurde aber schon in meiner Wiege abgesetzt.“

„Ich bin Karl Eduard, König von England,“ stelle sich der Dritte vor.

Und der Vierte: „Ich bin König von Polen.“

„Ich bin auch König von Polen,“ der Fünfte.

„Was mich betrifft,“ sagte der Sechste, „bin ich zwar nich ein so großer Mann als Sie, aber doch auch ein König. Ich bin Theodorus und war erwählter König von Corsika. Man nannte mich Majestät, jetzt freilich kaum „Sir.“

Vor hundert Jahren wunderte sich Candide über diese Mange abgethaner Majestäten, aber während des letzten Jahrzehnts, das so manche Majestätssonne verlöschte und verdunkelte und andere aufgehen ließ, wurden solche abgesetzte oder Candidaten-Könige so gewöhnlich, daß sich heut zu Tage ein Candide kaum über eine solche Tischgesellschaft wundern würde. In der That ist es noch gar nicht lange her, als eine ebenso auffallende Gesellschaft von Majestäten und Scepter-Candidaten sich der feinen Welt Londons in Wirklichkeit präsentirte und zwar in einer Weise, durch welche Voltaire’s erdichtetes Mahl bedeutend in Schatten gestellt ward.

Und wer war Theodorus dieser Gesellschaft? Wir werden sehen.

Es war im Juni 1847 als sich das kleine St. Jamestheater zu London von Unten bis Oben mit glänzenden Sternen der Aristokratie und verschiedener Höfe füllte. Sammet und Seide, Ordenssterne und Diamanten vom Parterre bis in die Gallerien hinauf, die Loge der Königin auf das Brillanteste mit Gaze und Damasten behangen. Es war einer jener seltenen Abende, wo die Königin hoher Gäste wegen „in state“ officiell als Königin mit allem historischen Pompe im Theater erschien. Sie saß in aller Glorie der Majestät und Jugend neben Prinz Albert. Auf ihrer andern Seite prangte der Herzog von Nemours, damals der Thronfolger Louis Philippes. – Darunter erkannte man das damals in London in komischer Weise bekannte Gesicht des entthronten Herzogs von Braunschweig, das persönliche Gegenstück zu der Theorie göttlichen Regentenrechts, mit seinen Diamantenknöpfen am Rocke und seiner Schminke auf den Backen, damals Eigenthümer und Hauptredakteur der deutschen „Londoner Zeitung.“ Ihm gegenüber erkannte man den Graf von Montemolin, damals Prätendenten des spanischen Thrones. Halb verhüllt durch die rothen Vorhänge der Eck-Logen des ersten Ranges, wie durch die Schatten seines Schicksals, saß der entthronte Bruder Don Petro’s von Portugal, Don Miguel. So fehlte Niemand mehr zu der Verwirklichung jener Voltaire’schen Gesellschaft von Ex- oder zukünftigen Herrschaften als Theodorus.

Jeder in dem glänzenden Theater-Publikum machte seine Glossen über den seltsamen Zufall dieser versammelten Größen und auch wohl seine Witze darüber, zumal über den Herzog von Braunschweig. Und jetzt trat noch dazu unten im Parquet dicht am Orchester durch eine Seitenthür vor dem geschlossenen Theatervorhange Louis Napoleon herein. Der Effect war ungeheuer. Jeder hatte sich mit den gefallenen und aufstrebenden Majestäten beschäftigt: und da ist der junge Held von Straßburg und Boulogne[WS 1] nun leibhaftig. Ein ungeheures Gelächter schwoll vom Orchester und Parquet durch alle Räume des Theaters bin in das Gesicht der Königin von England.

Der Name Louis Napoleon, dessen romantische, unglücklich abgelaufene Invasionsversuche von beiden Grenzen Frankreichs, einmal von Straßburg, das andere Mal von Boulogne, noch im frischen Andenken waren, galt damals als ein Privilegium zum Lachen. Der junge Held merkte sofort, woher diese allgemeine Heiterkeit komme, und warf einen kalten, festen, finstern Blick in die königliche Loge hinauf, wo der französische Kronprinz in lächelndem Spotte neben der Königin von England brillirte. Napoleon ging langsam und bedächtig im Parquet weiter hinauf und setzte sich unter die königliche Loge so, daß er das Ensemble in derselben brach.

Jetzt, wo die Welt Napoleon nicht nur vom 2. December in Paris, [308] sondern auch vom April 1855 in London kennt, gewinnt diese Erinnerung an jenen Abend vor acht Jahren im St. Jamestheater ein Interesse historischer und psychologischer Curiosität. Was dachte und fühlte er damals als er von Unten den kalten, verächtlichen Blick hinauf warf? Man kann sich denken, welche finstere Schatten von Rache damals durch seine Phantasie, seine Pläne fuhren, als er sich zum Gegenstande allgemeinen Hohnes verwandelt sah, spöttisch belächelt von dem, dessen Thron er einnimmt, und von der Königin des Landes, wo er als Exilirter persönlichen Schutz genoß, die ihm nun nach kaum acht Jahren mit dem größten Pompe als Kaiser empfing und im Windsorschlosse vor ihm niederkniete, um den höchsten Orden des Landes, das Privilegium der Hocharistokratie, um sein Knie zu schlingen. Jetzt gewinnt der Verlachte vom Juni 1847, der arme Chambregarnist von Kingstreet in London für jene Situation eine ganz andere Beleuchtung.

Am April 1855 bezahlten die Herrschaften, die ihn damals im St. Jamestheater auslachten, 1000 Thaler und mehr für einen Platz, blos um denselben Napoleon neben demselben Hofe von England im Theater zu sehen.

Niemand täuscht sich so sehr in dem Charakter ungewöhnlicher Individualitäten als die officiellen Weisen im Lande. Da solche Weise, besonders wenn sie Staatsmänner sind, jede Fähigkeit verloren haben, sich in’s Romantische, Abenteuerliche und polizeilich Unerlaubte nur hinein zu denken, erscheint ihnen Jeder strafbar oder mindestens lächerlich, der eine Ader für’s Abenteuerliche, Ungewöhnliche hat und verurtheilen ihn zum Irren-, wenn nicht zum Zuchthause. Gegen solche Verurtheilung giebt’s keine Appellation, und die gedankenlose Masse stimmt ein und ruft Bravo. Aber diese Verdammniß in höchster Instanz kehrt sich mit allen Begriffen von Recht, Gesetz, Moral, Ehre u. s. w. um, wenn der Erfolg und das Interesse für die Lächerlichkeit, das Abenteuer, den Staatsstreich u. s. w. und gegen dessen Verurtheilung appelliren.

Wir können uns jetzt kaum ausmalen, mit welcher moralischen und staatssittlichen Entrüstung, mit welcher pharisäischen Verachtung, mit welch’ allgemeinem Hohne damals Napoleon behandelt ward, noch viel weniger die beinahe göttliche Verehrung, welche England zu den Füßen des Kaisers brachte, als sein Erfolg und seine Stellung diese Verehrung und Abgötterei als Interesse Englands erscheinen ließ. Zufall, Umstände, Schicksal, Glück, d. h. am Ende doch abenteuerliche, romantische, rücksichtslose Willenskraft und Ausdauer in Verfolgung eines unerreichbar erscheinenden Zieles, haben die damaligen Spötter und Kreuziger Napoleon’s Lügen gestraft. Napoleon hat außerdem seine damalige Prophezeihung, daß er sich und daß er Waterloo an England rächen werde, auf die kühnste und effectvollste Weise erfüllt. Der Glanzpunkt dieser Verwirklichung und Erfüllung fiel in die königliche Loge der italienischen Oper, als Napoleon, umstrahlt von dem höchsten Pompe des englischen Hofes und der Hocharistokratie, die historische, weltberühmte Uniform seines Onkels, die jetzt in der französischen Armee nicht mehr getragene Uniform der Chasseurs de la Garde, dieselbe Uniform, die sein Onkel bei Waterloo trug, auf seinem Körper der anbetenden Macht und Herrlichkeit Englands entgegen hielt, ein Umstand, den die freie englische Presse durchweg verschwieg oder durch falsche Angaben bemäntelte. Sein Triumphzug im April führte vor der Straße vorbei, in der er einst wohnte, vor den Club-Palästen, in welchen er einst verhöhnt ward, und manche Gesichter von damals drängten sich jetzt an den Fenstern und schwangen Taschentücher und Fahnen, die in tausendfacher Fülle oben in den Straßen wehten. Fenster und Dächer, Straßen und Laternenpfähle, Omnibus und Droschken, Alles war mit anbetender, jauchzender Masse freien Englands überfüllt. Es bezahlte theuer für seinen Hohn, theuer für seinen Wellington- und Waterloostolz, theuer für die Verläugnung seiner mit 5600 Millionen Thalern Kriegsschulden bezahlten historischen Schlachtenehre, theuer für Elba, Helena, Waterloo und die spätere Palmerston’sche Freiheits-Politik, womit England sich und Europa belog und betrog. Und es scheint als sollten diese Zahlungen noch lange nicht eingestellt werden.

Es versteht sich von selbst, daß in dieser Mittheilung Napoleon weder vom moralischen, noch politischen Standpunkte in Betracht gezogen werden sollte, sondern Napoleon blos als Lection, als Consequenz, als Epigramm auf die noch nicht geschriebene Geschichte der letzten vierzig Friedensjahre.


An unsere Freunde!

Das letzte Bändchen meiner Schriften ist erschienen und bereits ausgegeben. Ich kann nicht umhin, beim Abschiede für die ungemein zahlreiche Theilnahme, die dieser Sammlung geworden, den innigsten Dank auszusprechen. Nichts gleicht dem wohlthuenden Gefühle, als wenn ein dichtend Gemüth, das einen reichen Theil seines innern Lebens veröffentlicht dahin gegeben, gewahrt, wie das mit Liebe Gegebene auch mit Liebe hingenommen wird. Und so ist es.

So möge denn diese Sammlung dazu beitragen, im stillen Familienkreise mancher Stunde der Belehrung, der ernsten Erhebung, der innigen Gemüthlichkeit, so wie der unschuldvollen Heiterkeit eine freundliche Einkehr zu bereiten.

Wo aber Gott seinen Segen gegeben, da sollen wir – so lehrt der liebevollste aller Lehrer – dankbar sein und vor Allem in Liebe auch des vom Glück weniger heimgesuchten Bruders gedenken.

Dieser himmlischen Pflicht will ich genügen und so vernehmet denn die Worte meines Herzens.

Tief im thüringer Walde, wo die altergrauen Buchen ihr waldgrünes Dach bauen, entfernt der großen Welt und ihren lärmenden Freuden, wohnt ein treues Herz, reich begabt mit himmlischem Gold und Perlen – denn die Treue, die Redlichkeit und die Gabe der Dichtkunst wohnen in ihm – ; aber arm an dem, was man irdisch Gut und Glück nennt.

Während die Gaben seines reichen und edlen Geistes, die Regenbogenfarben seiner Phantasie, die lieblichen Klänge seiner Laute tausend und abertausend Herzen entzücken, während die verschiedenen Auflagen seiner Romane, seinem Verleger reichen Gewinn abgeworfen, sitzt bei dem Sänger oft die Sorge am Tische, und schaut die Zukunft dunkel und drohend durch die Fenster, denn das Haupt des Sängers beginnt zu bleichen.

Arglos, vertrauend wie ein Kind, ward nur zu oft sein schönes Talent die Beute fremden Eigennutzes. So ist der, der so Vielen Viel gegeben, selber arm geblieben. Und mehr als arm. So vernehmt denn. Kein Ton der Freude oder des Schmerzes schlägt beglückend oder bewegend an die Seele dieses armen Freundes. Schon lange, lange nicht mehr. Nur mühsam, wie aus weiter Ferne drängt sich der umflorte Schall der Außenwelt matt in sein Inneres. Kein erfreuender Gesang, keine holdselige Melodie, kein Bachgeriesel, kein heiliges Waldesrauschen, kein Regentropfen, der in der Sommernacht befruchtend auf die Blüthen fällt, schlägt an das geschlossene Ohr unsers Sängers im thüringer Walde – und sein Haupt beginnt zu bleichen.

Aber Ihr fragt theilnahmsvoll verwundert: Wer ist dieses treue Herz, dieser edle Mann, dieser theure Sänger?

Und ich antworte: Dieser Mann, in dessen Adern kein falscher Blutstropfen rinnt; der nie das Gold der Dichtkunst zu schnödem Götzendienste gemißbraucht, dieser treu bewährte, ehrenfeste deutsche Dichter heißt:

Wie mancher ist nicht unter Euch, der nicht von den herrlichen Blüthen seiner Muse, z. B. dem Freiknecht, dem deutschen Leineweber gehört oder sich daran erquickt hätte.

Der Verleger der gegenwärtigen Sammlung, Freund Keil in Leipzig, der so gern allem unverschuldeten Unglück die schmerzlindernde Hand reichen möchte, bat daher, um den Abend des armen Sängers im thüringer Wald weniger sorgenschwer zu machen, eine Auswahl seiner Schriften ganz in gleichem Formate und demselben ungemein billigen Preis, wie die Ausgabe meiner Schriften, veranstaltet und wird keine Mühe scheuen, ihr die möglichste Verbreitung zu verschaffen und zwar mit der edelsten Uneigennützigkeit, so daß der ungeschmälerte Reinertrag dem wackern Verfasser zu Gute kömmt.

Ich bin überzeugt, daß nach dieser Mittheilung gewiß mancher Freund meiner Muse sich veranlaßt finden wird, zu dem uneigennützigen Unternehmen des Verlegers die hülfreiche Hand zu reichen und in seiner Familie neben dem gemüthlichen Ferdinand Stolle den edlen Ludwig Storch einführen, und sich somit zugleich das süße Bewußtsein zu kaufen, den Abend eines der edelsten Menschen, eines der begabtesten deutschen Dichter, eines der hartgeprüftesten deutschen Männer verschönern zu helfen, des treuen Sängers im thüringer Walde.

Möge Gott Eure Herzen leiten und diesen meinen Worten Segen geben.

Grimma, im Frühling 1855.
Ferdinand Stolle. 

Ich habe den herzlichen Einführungsworten meines Freundes Stolle nur wenig Worte beizufügen. Der Name Storch hat als Novellist und Mensch einen zu guten Klang durch ganz Deutschland, als daß ich noch Etwas zu seiner Empfehlung hinzufügen könnte. Wo sein Vörwerts-Häns, sein Freiknecht, sein deutscher Leineweber, seine duftigen thüringer Geschichten gelesen, wo seine kräftigen, echt deutschen Lieder gesungen wurden; überall hat er sich Freunde in Masse erworben. Wenige aber kennen sein treues Gemüth, seine durch und durch edle Kernnatur, sein biederes ungefälschtes Herz. Ihr könnt es glauben – Er ist Eurer vollen und ungetheilten Liebe werth! Beweist diese nun dadurch, daß Ihr seine Schriften kauft, die, ganz abgesehen von ihrem literarischen und poetischen Genusse, den sie Euch bereiten werden, dem greisen Storch die Mittel an die Hand geben, seine letzten Tage ruhig und ohne Sorge zu verleben. Ihr werdet mir’s danken. Denn seine erzählenden Schriften gehören anerkannt zu den besten, die die deutsche Sprache bietet, sie sind eben so edel wie poetisch-wahr geschrieben und ragen weit über die gewöhnlichen Romanprodukte der letzten Jahre hinaus.

Die ganze Sammlung soll 16–18 Bändchen à 71/2 Ngr. umfassen und Storch’s beste Novellen und größere Romane enthalten, die sich besondeers für Volk und Familie eigenen. Der ganze volle Ertrag bleibt allein dem Verfasser.

Möge die Theilnahme eine recht große sein. Mit diesem Wunsche grüße ich Alle, die es gut mit guten Menschen meinen.

Leipzig, im Wonnemonat 1855.
Ernst Keil. 
Zu Bestellungen bitten wir den beiliegenden Zettel zu benutzen.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Dialogo di Galileo Galilei, dove ne’congressi di quattro giornale si discorre de’ due massimi sistemi, Tolemaico e Copernicano. 1632.
  2. Zu Ehren Galilei’s wurde 1737 – fünfundneunzig Jahre nach seinem Tode – in der Kirche Sta. Croce zu Florenz ein prächtiges Denkmal errichtet.
  3. Bei der Wichtigkeit der jetzt in vielen preußischen, hannöverschen und andern Städten sich organisirenden „Vorschußvereine für Handwerker“ werden diese Mittheilungen aus der Feder eines bekannten Nationalökonomen unsern Lesern und darunter besonders dem verehrlichen Handwerkerstand sehr willkommen sein.
    Die Redaktion.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Bolougne