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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1855
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[281]

No. 22. 1855.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle. Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

Schlom Weißbart.
Ein Bild aus Litthauen.
Vom Verfasser der schwarzen Mare.
(Schluß.)


Es war im Anfang October, als wir diese Straße passirten. Die Witterung war hell, die Sonne schien warm. Es hatte bis kurze Zeit vorher geregnet und der Weg war sehr schlecht. Hatten die Pferde von Baubeln bis Powilken den Wagen nur mühsam durch den schwer gewordenen, sich fest an die Räder anlegenden Sand ziehen können, so konnten sie von Powilken bis Peteraten nur mit der größten Anstrengung vorwärts kommen, unter dem fortwährenden Antreiben, Schlagen und Fluchen des Kutschers, oder vielmehr des Executors Matz. Der Kutscher, ein Miethkutscher, einer von jenen Litthauern, die es als Pflicht ansehen, für einen Deutschen sich nie zu übereilen, hätte freilich lieber in dem ersten besten Kruge übernachtet, als seinen Pferden für uns eine mehr als gewöhnliche Anstrengung zuzumuthen. Matz hatte es sich deshalb um so weniger nehmen lassen, sich zu ihm auf den Bock zu setzen, um ihn und seine Pferde anzutreiben.

Dennoch hatte sich der Tag schon so ziemlich geneigt, als wir bei dem Kruge zu Peteraten anlangten. Etwa fünfzig Schritte vor diesem hörten wir einen lauten Wortwechsel zwischen Matz und dem Kutscher.

„Du wirst hier nicht anhalten, Bursch,“ rief der Executor.

„Aber mein Perd kann nicht weiter, Pons Wachtmeisteris,“ entgegnete der Litthauer, der etwas Deutsch verstand, jedoch das F nicht gut aussprechen konnte, und dem deutschen Titel die lithauische Endung anhing.

„Dein Pferd? Deine durstige Zunge kann vor der Kneipe nicht vorbei,“ höhnte ihn der Executor, der eine souveraine Verachtung gegen alle Litthauer hatte, so daß er, wie nothwendig es ihm auch für sein Amt war, nicht einmal Litthauisch hatte lernen wollen.

„Ich werde fragen Pons Kreisjustitrath.“

Das Wort „Justiz“ können die Litthauer nicht aussprechen. Möchte es nicht auch für die Deutschen besser sein, wenn sie das Wort gar nicht, und statt dessen nur das in ihrem Bewußtsein lebende „Recht“ kennten?

„Was, Du litthauischer Lümmel,“ fuhr ihn der Executor an, „Du willst Dich unterstehen, mich bei dem Herrn zu verklagen?“

„Ich will ja nur fragen, Erken, liebes (liebes Herrchen).“

„Fragen kann ich selbst.“ Der Executor bog sich zurück nach dem Innern des Wagens. „Herr Kreisjustizrath –“

„Ich habe Alles gehört, Matz. Sie sind heute sehr böser Laune.“

„Diese Litthauer sind zu faul und zu durstig. Sie stecken sogar ihre Pferde an, die von Natur ein prächtiges Vieh sind. Aber Sie werden doch nicht zugeben, daß der Mensch hier anhält. Es wird ohnehin bald dunkel.“

„Können die Pferde es bis Coadjuthen aushalten?“

„Bis Neustadt, wenn es sein muß.“

„So lassen Sie vorbeifahren.“

„Hast Du gehört, Bursch? Du hältst nicht an.“

„Meine arme Perd –“

„Schweig und fahr.“

Aber auf einmal schrie der Executor laut: „Halt, Kerl, halt!“ Mit einem Satze war er vom Bocke an der Erde. „Herr Secretair,“ rief er, „mir nach, rasch, in den Krug.“

„Was haben Sie, Matz?“

„Der Trinkat! Mir nach, Herr Secretair. Sie bleiben bei der Frau Gemahlin, Herr Kreisjustizrath.“

Der Wagen war unmittelbar vor dem Kruge. Matz sprang auf diesen zu. Der Secretair und ich eilten ihm nach. In der Krugstube rief der Executor:

„Ich habe den Kerl am Fenster gesehen!“

Wir eilten in die Krugstube. Sie war leer. Nur die Krügerin stand am Schenktisch. Auch kein Versteck war da, das Jemanden hätte verbergen können.

„Wo ist der Kerl geblieben, der hier war?“ stürmete der Executor auf die Frau ein.

Asz ne permanau Wokiszka, Pons! erwiederte die Frau frech.

„Ich werde Dich Wokiszka lehren. Wo ist der Mörder? Sprich, oder Du bekommst den Kantschu.“

Die Litthauerin schien in der That nicht zu verstehen. Der Secretair wiederholte die Frage auf Litthauisch.

Die Frau wollte nichts davon wissen, daß Jemand dagewesen sei. Sie sei den ganzen Nachmittag allein gewesen.

Der Executor Matz hatte unterdeß die Schlafkammer durchsucht, die, wie in allen litthauischen Krügen, sich hinter der Krugstube befand. Sie war gleichfalls leer. Er durchsuchte weiter das ganze Haus, während der Secretair und ich das Haus verließen, um einen allenfalls aus dem Hause Entspringenden anzuhalten. Es entsprang aber Niemand. Der Executor kam nach einiger Zeit unverrichteter Sache zurück. Wir setzten unsern Weg fort.

[282] Seine üble Laune hatte sich vermehrt. Er schwor darauf, daß er das Gesicht des entflohenen Mörders in der Krugstube am Fenster gesehen habe. Der Kutscher hatte die Zeit benutzt, sich im Kruge einen Schnaps geben zu lassen. Das machte ihn noch verstimmter.

Nach einer Weile hörten wir im Wagen, wie vorn neben den Pferden eine fremde Stimme sprach: „Labbas Wakere!“ (guten Abend) sagte Jemand. Der Kutscher antwortete sein „Dieko“ (Dank) sehr kühl, ein Beweis, daß der Gruß ihm von keinem Litthauer geboten war.

Gleich darauf sagte die Stimme auch in gutem Deutsch: „Guten Abend, guten Abend, Herr Wachtmeister Matz.“

Der Executor dankte gar nicht. Er brummte nur einen Fluch zwischen den Lippen. Ich hatte die Stimme erkannt.

In Ostpreußen und Litthauen hat das Bureauwesen eine besondere, zahlreiche Klasse von Menschen unter dem Namen „Schreiber“ hervorgebracht. Sie gehen aus den untern Ständen hervor; auch in Litthauen nur aus den deutschen Familien. Als Knaben von vierzehn Jahren, nachdem sie nothwendig Schreiben und Rechnen gelernt haben und dann eingesegnet sind, kommen sie in die Lehre, in die „Schreiberei,“ wie zu einem Handwerke. Die Lehre dauert drei Jahre, wie auch gewöhnlich bei einem andern Handwerke. Sie wird bestanden in den Schreibstuben der Rechtsanwälte und der untern Behörden. Am Meisten bei jenen, und unter den letzteren bei den Gerichten. Jedoch hier nur im unmittelbaren Dienste bei den Actuarien, die gegen die Beziehung der gesetzlichen Schreibgebühren die gerichtlichen Schreibereien selbstständig zu besorgen haben. Nach beendigten Lehrjahren stellt der Lehrherr einen förmlichen Entlassungsbrief aus, und der Lehrling ist nun „gelernter Schreiber.“ Als solcher wandert er gleich einem Handwerksgesellen durch das Land, fechtend und seine Dienste anbietend, bei Rechtsanwälten, in den Kanzleien der Behörden, in den „Schreibereien“ der Landgüter und wo man ihrer sonst bedarf. Manche dieser Schreiber schlagen gut ein. Eine große Anzahl derselben aber wird zu nichtsnutzigem Gesindel und zu einer wahren Landplage. Bei halber Bildung überheben sich viele. Für die Wenigsten ist die knappe Besoldung, die sie bekommen, eine ausreichende. Höchstens erhalten sie für den Bogen sechs Pfennige. Davon können sie nicht leben, zumal wenn sie älter werden, oder Familie haben. Um mehr zu verdienen, drängen sie sich an die Parteien an, die mit dem Rechtsanwalte, dem Gerichte u. s. w. zu verhandeln haben. So werden sie untreu. Sie suchen die Leute in den Krügen und Schenken auf. So werden sie lüderlich, besonders Säufer. In solcher Weise ist der Grund zur Demoralisation des Standes gelegt, und das Verderben erbt sich fort. Wenn sie zuletzt von ihren Prinzipälen fortgejagt werden, gehen sie auf das Land, und werden nun doppelt eine Landplage als Winkelconsulenten, Schwindler, Diebsgenossen. In Litthauen sind diese Schreiber zugleich die Dolmetscher bei den Behörden und Rechtsanwälten. Aus den unteren Ständen hervorgehend, haben sie von frühester Kindheit an so gut Litthauisch wie Deutsch gesprochen.

Der Mensch, der dem Kutscher und Executor einen guten Abend bot, hatte als Schreiber und Dolmetscher bei der Kreisjustizcommission in Ragnit gearbeitet, bis ich ihn, vor ungefähr einem halben Jahre, sowohl wegen Trunksucht, als auch wegen Collisionen mit Angeschuldigten fortgejagt hatte. Ich hatte seitdem nichts von ihm gehört. Er gehörte zu den Schlechtesten seiner Klasse.

Der Fluch des Executors hatte ihn nicht von dem Versuche abgehalten, ein weiteres Gespräch anzuknüpfen.

„Sie fahren wohl nach Coadjuthen, Herr Wachtmeister?“ fragte er.

Er erhielt keine Antwort.

„Geht es von da weiter, Herr Wachtmeister?“

Er bekam wieder keine Antwort.

„Der Herr Kreisjustizrath sind in dem Wagen, und wenn ich nicht irre, habe ich auch die Frau Kreisjustizräthin darin gesehen?“

Der Executor antwortete ihm endlich:

„Möchten Sie ganz genaue Auskunft haben, Herr John?“

„Gewiß, lieber Herr Wachtmeister,“ erwiederte der Schreiber höhnisch.

„So gehen Sie nach Ragnit und fragen Sie dort auf der Kreisjustizcommission nach.“

„Danke für den güthigen Rath, Herr Wachtmeister. Aber ich kann es näher haben.“ Er wandte sich an den Kutscher: „Wann wirst Du zurückfahren?“ fragte er diesen auf Litthauisch.

„Höre,“ sagte der Executor zu dem Kutscher, „wenn Du dem Menschen mit einer Silbe antwortest, so haue ich Dich mit dem Kantschu hier durch, daß Dir für heute Abend Hören und Sehen vergehen wird.“

Der Schreiber wandte sich wieder an ihn. „Der Herr Wachtmeister sind ja gewaltig bös heute.“

Der Executor schwieg wieder.

„Ja, ja, der Herr Wachtmeister haben auch Ursache dazu; die ganze hochlöbliche Kreisjustizcommission.“

Der Executor wurde aufmerksam.

„Was wüßten Sie denn?“ fragte er mit anscheinender Wegwerfung.

„Freilich nicht mehr, als Sie, Herr Wachtmeister. Oder sollten Sie noch nicht wissen, daß heute Nacht zwei der gefährlichsten Verbrecher der Kreisjustizcommission entsprungen sind?“

„Ich habe davon gehört, Freundchen.“

„Aha, Sie sind wohl auf der Verfolgung begriffen? Ich sehe da den großen Executorsäbel an Ihrer Seite.“

„Mit dem kann ich auch andere Hundsvötter messen, wenn mein Kantschu nicht mehr ausreichen sollte.“

„Die beiden Entsprungenen werden Sie weder mit dem einen noch dem anderen messen.“

„Wer weiß! Die Polizei hat lange Arme in Preußen, und die Gensd’armen reiten schnell.“

„Die Todten reiten noch schneller, Herr Wachtmeister!“ Der Schreiber lachte laut über seinen Witz. „Aber über die Grenze reiten diese preußischen Todten nicht,“ setzte er hinzu.

„Die langen Arme aber,“ erwiederte der Executor, „können die Grenze sperren.“

„Pah, wenn es zu spät ist.“

„Noch ist es nicht zu spät, Freundchen, Freundchen. Die beiden Kerle sind noch im Lande.“

„Freuen Sie sich nicht darauf, Herr Wachtmeister. Es könnte wohl Ihr Unglück sein, wenn es wahr wäre.“

„Wie so, Freundchen?“

„Nun, ich meine nur so, Herr Wachtmeister. Aber haben Sie nie etwas von einem Ding gehört, das man die Urfehde nennt?“

„Urfehde? Nein, das kenne ich nicht.“

„Ich glaube es wohl. Es existirt nicht mehr. Aber es war früher eine vortreffliche Einrichtung für Kreisjustizcommissionen und andere Kriminalgerichte. Die Herren Beamten konnten dabei ruhig schlafen und auch – reisen. Doch lassen Sie sich das Weitere vom Herrn Kreisjustizrath erzählen, der hat ja studirt. Und nun gute Nacht, lieber Herr Wachtmeister, Kommen Sie glücklich über.“

Er wollte sich seitab in das Gebüsch entfernen. Mit einem Sprung war der Executor vom Bocke, und dem Schreiber in dem Nacken.

„Schurke,“ rief er, „Du hast Nachricht von den beiden Entsprungenen. Heraus damit, wo sind sie? War der Trinkat nicht in dem Kruge dort? Sprich die Wahrheit, Kerl, oder ich durchbläue Dich zu Brei.“

Der Schreiber konnte sich nicht rühren unter den kräftigen Händen des Executors. Aber hatte dieser gemeint, ihn einzuschüchtern, so hatte er sich vollständig geirrt. Der Mensch höhnte ihn nur noch mehr.

„Kehrt sich die Welt um?“ sagte er. „Die Diener der Gerechtigkeit fallen die ehrlichen Leute räuberisch auf offener Landstraße an!“

„Nicht die ehrlichen Leute, Bursch, aber die Spitzbuben.“

„Also doch Spitzbuben gegen Spitzbuben!“

„Matz,“ rief ich zum Wagen hinaus, „lassen Sie den Menschen los, und steigen Sie wieder auf.“

Er ließ augenblicklich von dem Schreiber ab, und begab sich wieder auf den Bock. Wir fuhren weiter.

„Wie konnten Sie sich so vergessen, Matz?“ warf ich ihm vor. „Ich kenne Sie heute nicht wieder.“

Er schämte sich. „Verzeihen Sie mir, Herr Kreisjustizrath. Ich kenne mich selbst heute nicht. Mich ärgert Alles. Es ist mir immer, als wenn uns ein Unglück auf dieser Reise bevorstände. [283] Ich meine, ich könnte und müßte es abwenden. Und ich weiß doch nicht wie. Das ärgert mich. Und dann, der Kerl drohete offenbar. Ich schwöre darauf, er ist mit dem Trinkat zusammen gewesen. Vielleicht war der Victor auch schon da. Solch Volk giebt sich seine Rendezvous.“

„Sie nehmen da,“ warf ich ihm ein, „in Allem das Unwahrscheinlichste an. Wie würde dieser Mensch drohen, mithin verrathen, wenn er mit den Verbrechern einverstanden wäre?“

„Er war immer ein leichtsinniger Prahlhans. Und ich halte mich daran, was ich fühle, es liegt mir etwas schwer auf dem Herzen.“

„Matz, meine Frau lacht Sie aus.“

Er antwortete nicht.

Wir kamen wohlbehalten in Coadjuthen an und fanden eine freundliche und behagliche Aufnahme beim Gastwirth Wahl.

Am nächsten Morgen früh fuhren wir nach Russisch-Neustadt. Meine Frau mußte gestehen, daß es in Rußland nur wenig anders aussehe, als in Preußen.

Die Gegend hinter Coadjuthen war wieder dürres, graues Haideland, mit wenigen halb fruchtbaren Strichen, auf denen man dann und wann ein armseliges Bauerndorf antraf. Die Wege waren schlecht. Ganz so war es jenseits der Grenze. Die Haide war dort nicht minder und nicht mehr dürr und grau; die Bauernhütten nicht mehr und nicht minder armselig und verfallen. Die Wege waren nur wenig schlechter. Nur Eins war anders, oder sah vielmehr anders aus: die Menschen. Indeß nicht immer schlechter als in Preußen. Die Kosaken freilich, die uns sofort an dem geflickten und verwitterten Grenzschlagbaume empfingen, sahen in ihren grauen, geflickten und doch noch zerrissenen Mänteln, mit den unreinen Gesichtern und den noch unreineren Bärten eben so verwittert aus, wie der Schlagbaum und der Doppeladler, der auf dem gelb und grau angestrichenen Grenzpfahle auf sie herniederblickte, schien nicht mit Stolz über die Söhne sich zu freuen, sondern etwas mürrisch sich ihrer zu schämen.

Auch die Frauen, denen man begegnete, hatten kein freundliches Aeußere. Es waren meist plumpe Gestalten, platte Gesichter mit blasser Farbe, gedrücktem, trägem Wesen, eingehüllt in lange, weite, unkleidsame Jacken von grauer Farbe. Wie sehr stachen diese Szameitinnen ab gegen die flinken, runden oder zierlichen Litthauerinnen in den rothen Margienen und bunten Tüchern. Hübsch waren nur die Jüdinnen, die sich viel und neugierig in Neustadt sehen ließen, feine, listige Gesichter, zierliche Figuren, gehoben durch halb europäische, halb orientalische Tracht. Besonders reizend standen ihnen die kleinen bunten Turbane.

Ein weit hübscherer Menschenschlag als der Litthauer, waren dagegen die Männer in Szameiten. Kräftig gebaut, behende und beweglich, mit frischen Gesichtern und klugen Augen, den graugelben enganschließenden Wandrock mit kurzem aufstehenden Kragen fest um den Leib gegürtet, machten sie durchgängig einen günstigen Eindruck.

Das Städtchen Neustadt (Novemiasto) ist wie andere russische und polnische kleine Städte: schmutzige Häuser von Holz, schmutzige unregelmäßige Gassen. Die bessern Häuser gehören den zahlreichen Juden; die jüdische Synagoge war schöner als die katholische Kirche.

Meine Geschäfte in Neustadt waren bald vollendet. Der russische Assessor aus Rossiena hatte, wie gewöhnlich, jede Vorbereitung verabsäumt, an keine Vorladung, an keine Gestellung, nicht einmal an seine Acten gedacht. So war nur wenig zu verhandeln.

Nach Beendigung dieses Wenigen vergaß ich nicht, mit ihm über den Juden Schlom Schwarzbart zu sprechen. Er kannte den Namen nicht. Ebenso unbekannt war ihm Schlom Weißbart. Ich ließ den Polizeibeamten (Kludszweit) von Neustadt herbeiholen. Auch dieser wollte von einem Schlom Schwarzbart nichts wissen. Es gebe der Schlome gar viele in Neustadt; sie trügen alle Bärte, schwarze oder graue oder weiße. Man unterscheide sie nur nach den Straßen oder Häusern. Wenn ich diese nicht zu bezeichnen wisse, so könne er mir keine Auskunft geben. Er wisse nur, daß man Einen von ihnen in Preußen, wo der Mann lange gefangen gehalten worden, Schlom Weißbart nenne. Der sei ein ordentlicher, braver Mann, wie übrigens alle Schlome und andere Juden in Neustadt. Ich könne mich fest auf das Alles verlassen. Denn nächst Preußen – der Mann machte hierbei eine sehr devote Verbeugung – sei die Polizei nirgends besser als in Rußland.

In wiefern der Mann wahr gesprochen, davon sollt ich mich bald überzeugen. Der Executor Matz, der ihm, als er mich verließ, mißtrauisch gefolgt war, theilte mir alsbald mit, der Polizeibeamte habe sich unmittelbar von mir nach der Gegend begeben, wo die meisten Juden des Städtchens wohnen, und dort in ein Haus, das man ihm als das des Schlom Weißbart bezeichnet habe.

Von einem Schlom Schwarzbart hatte übrigens auch der gewandte Executor nichts erfahren können, und eben so hatte Niemand den Muth gehabt, ihm irgend etwas Nachtheiliges oder Verdächtiges über Schlom Weißbart mitzutheilen. Alle hatten ihn vielmehr einen stillen und braven Mann genannt. Schlom Weißbart war offenbar wieder zu Vermögen gekommen. Darum auch der Schutz der guten russischen Polizei. So bestätigte Schlom Weißbart selbst es mir.

Wenige Augenblicke vor meiner Abreise aus dem Städtchen ließ ein Jude sich bei mir anmelden. Ich nahm ihn an, wiewohl ich vergeblich darüber nachsann, was er von mir wolle.

Schlom Weißbart trat ein. Er sah sehr wohl aus. Das bleiche Gesicht war voll und frisch geworden; die kräftige Gestalt hatte sich gerundet. Sein weißer Bart war sorgfältig gepflegt. Ein langer, bis auf die Knöchel herunter gehender Kaftan von schwarzer Seide gab ihm vollends ein stattliches Aussehen. Seinem Aussehen entsprach sein Benehmen. Der kriechende Jude des ragniter Gefängnisses war nicht mehr zu erkennen. Seine Freundlichkeit hatte er indeß beibehalten. Sie war nur ruhiger, sanfter geworden, wie der Ausdruck seiner großen schwarzen Augen.

„Der Herr Kreisjustizrath verzeihen mir,“ sagte er, „daß ich bin abgereiset von Ragnit, ohne dem Herrn zu danken.“

„Zu danken, Schlom? Wofür?“

In der That kämpften Lachen und Mißtrauen in mir, indem ich die Züchtigung des Juden und die Wuth seines Abschiedes mit diesem Danke zusammenhielt.

Aber sein Gesicht zeigte weder Hohn noch Bosheit.

„Haben der Herr vergessen,“ entgegnete er, „wie Sie mir haben zukommen lassen bessere Kost, und wie Sie haben beschleunigt mein Erkenntniß? Säße ich doch noch jetzt, wenn der Herr nicht hätten gehandelt so gütig an mir.“

Die Untersuchung, in die der Jude verwickelt gewesen, war allerdings noch nicht zu Ende. Ich bemerkte ihm, daß ich nur meine Pflicht gethan, und fragte ihn, wie es ihm jetzt gehe.

Er wurde lebhafter.

„Gut, wie der Herr sehen. Gott ist mir gewesen barmherzig. Er hat gesegnet mein Bemühen. Nächst Gott danke ich es dem Herrn Kreisjustizrath. Ohne den Herrn säße ich noch in Ragnit. Auch meine Frau wollte kommen zu danken dem Herrn. Aber sie konnte nicht verlassen unser Kindchen. Ja, Herr, geboren hat sie mir ein prächtiges Mädchen, vor acht Wochen. Gott behüte mich ferner. Möge er auch behüten den Herrn Kreisjustizrath.“

Der Kutscher meldete, daß angespannt sei. Der Jude entfernte sich mit wiederholten Danksagungen.

Waren sie ernstlich gemeint oder waren sie erheuchelt?

Der Executor Matz, der zugegen gewesen war, sagte:

„Trauen der Herr Kreisjustizrath dem Juden nicht. Er ist ein falscher Bösewicht.“

„Zu welchem Zwecke sollte er geheuchelt haben? Er konnte ja zu Hause bleiben.“

„Ich weiß es nicht. Aber ich traue dem Juden nicht. Es ist mir, als hätte er etwas Schlimmes vor.“

„Sie sehen noch immer schwarz?“

Er antwortete nicht. Aber als wir abfuhren, untersuchte er sorgfältig sein Doppelterzerol.

Wir fuhren den Abend bis Coadjuthen, wo wir die Nacht blieben.

Zum nächsten Morgen hatte ich mehrere Personen nach Coadjuthen bestellt, deren Vernehmung in verschiedenen Untersuchungen nothwendig war, und die, dort in der Nähe wohnhaft, durch Alter oder Kränklichkeit verhindert waren, die Reise nach Ragnit zu machen. Ihre Vernehmung hielt mich länger auf als ich erwartet hatte, so daß es schon drei Uhr Nachmittags war, als wir die Rückreise von Coadjuthen antraten. Niemand war unzufriedener über die Verspätung als der, für die ganze Dauer dieser Reise nun einmal verstimmte Executor Matz. Er wurde noch mehr gereizt, als wir, im Augenblicke der Abfahrt, die Entdeckung [284] machten, daß der Kutscher zu viel dem Schnapse zugesprochen hatte. Indessen hatte der Mensch noch seine volle Besinnung, und Matz selbst hatte oft behauptet, als ächter Fuhrmann und Reiter bewähre der Litthauer sich erst, wenn er zu viel Schnaps getrunken habe.

Wir kamen ohne Unfall, kurz nach Sonnenuntergang bei dem Kruge zu Peteraten an. Der Kutscher verlangte hier Halt zu machen, um seine Pferde für die mühsame Tour bis Tilsit zu stärken. Der Abrede gemäß hätte er zwar noch bis Powilken fahren sollen. Allein die Erwartung, besonders des Executors Matz, in Peteraten die Bestätigung zu erhalten, daß am vorgestrigen Tage der entflohene Trinkat da gewesen sei, bewog uns, nachzugeben.

Es war kalt geworden. Dem klaren, warmen Sonnentage war ein klares Frostwetter gefolgt. Der Aufenthalt am Kruge war auf mindestens eine halbe Stunde zu berechnen. Wir verließen daher sämmtlich den Wagen und begaben uns in die Krugstube.

In der Krugstube befand sich nur ein einziger Gast. Es war der Schreiber John. Er saß vor einem großen Schnapsglase. Sein geröthetes Gesicht zeigte, daß das Glas nicht das erste war, aus dem er getrunken hatte. Seine schwere Stimme sollte dies bald noch mehr beweisen.

„Aha, Herr Wachtmeister, schon zurück? Gute Geschäfte gemacht in Rußland? Auch den Schlom Schwarzbart eingefangen? Oder hat es nicht glücken wollen?“

Wir wollten umkehren. Allein ein anderes Zimmer war in dem Kruge nicht zu haben. Draußen in der Kälte zu sitzen, war gleichfalls nicht angenehm, und der Executor Matz erklärte, dafür einzustehen, daß der Mensch kein verletzendes Wort sprechen werde.

„Nur," setzte er hinzu, „müssen Sie mir erlauben, mich mit ihm einlassen zu dürfen. Ich muß erfahren, was der Schurke schon von dem Schlom Schwarzbart weiß.“

Als habe er die Anrede des Schreibers nicht gehört, ging er zu dem Schenktische und bestellte sich ein Glas Warmbier.

„Alter Soldat, alter Sergeant,“ höhnte der Schreiber, „trinkt warmes Frauenbier. He, Herr Wachtmeister, wollen Sie nicht mit mir trinken? Echten Kümmel.“

„Schlom Schwarzbart hat ihn wohl für Sie bezahlt" fragte der Executor.

„Was würde das dem Kümmel schaden?“

„Dem Kümmel nicht. Aber wer sich hier in Preußen der Freundschaft des Schlom Schwarzbart rühmt, den möchte ich wohl auf die Kreisjustizcommission nach Ragnit bringen, nicht in die Kanzlei, aber in die Gefängnisse.“

„Ei, ei, Herr Wachtmeister, wir sind hier nicht auf der Haide, wie vorgestern Abend.“

„Wir sind auch nicht weit von ihr entfernt.“

„Da haben Sie Recht,“ warf der Schreiber mit einer eigenthümlichen Hast ein.

Der Executor wurde aufmerksamer.

„Auch der Schlom Schwarzbart ist wohl nicht weit?“

„Es ist möglich.“

„Oder waren Sie vielleicht drüben in Neustadt bei ihm?"

„Ich gehe nicht gern über die Grenze.“

„Wo hätten Sie denn gehört, daß wir den Schwarzbart haben?“

Der Schreiber lachte höhnisch laut auf.

„Haben Sie ihn wirklich, Herr Wachtmeister? Wohl in dem Wagenkasten da drüben? Oder da in ihrem Busen unter dem Rocke, neben dem Pistol, das sich dort abzeichnet?“

Der Executor nahm einen ernsten Ton an. „Hören Sie, Bursch. Sie wissen einerseits, daß wir den Juden nicht haben. Sie wissen andererseits, daß in Russisch-Neustadt Schritte gethan sind, ihn zu fangen. Jetzt heraus damit, woher haben Sie diese Nachricht? Wenn sie nicht antworten, werde ich den Herrn Kreisjustizrath bitten, Sie zu arretiren. Verdächtigt sind Sie genug.“

Der Executor hatte sich diesmal nicht verrechnet. Die Furcht vor der Kreisjustizcommission that ihre Wirkung. Der Schreiber gab nach.

„Nun, nun, Herr Wachtmeister, nicht so strenge; ich scherzte ja nur.“

Das Gespräch wurde unterbrochen. Der Kutscher trat ein. Er sah geheimnißvoll, beinahe etwas verstört aus.

Pons Secretaris!" rief er leise und winkend dem Secretär zu.

Er sprach mit diesem leise.

Auch das Gesicht des Secretärs nahm den Ausdruck einiger Aengstlichkeit an. Er bat mich, mit ihm auf den Flur zu kommen, mit einem doppelten Winke auf den Schreiber, aber auch auf meine Frau.

„Was giebt es?"

„Der Kutscher meldet verdächtige Sachen. Während er die Pferde gefüttert, hat er zwischen den Bäumen jenseits der Landstraße mehrere Männer vorbei schleichen gesehen. Zuletzt ist Einer an ihn heran gekommen, ein Jude, der ihn gefragt hat, wen er fahre, und wohin die Reise gehe. Der Jude hat lauernde Blicke in den Wagen geworfen.“

„Wie war das Aeußere des Juden?“

„Er hat einen langen schwarzen Bart getragen, und, was dem Kutscher besonders aufgefallen ist, keine jüdische Kleidung, sondern einen kurzen szameitischen Wandrock.“

„So soll der Schlom Schwarzbart bei seinen Verbrechen in Preußen gekleidet sein.“

„Allerdings.“

„Der Verdacht des Matz würde dadurch bestätigt werden.“

„Das macht mich eben besorgt.“

„Welche Richtung haben die Männer genommen?“

Er wußte es nicht. Er fragte den Kutscher danach, der mit uns die Krugstube verlassen hatte.

Der Litthauer zeigte in den Weg nach Coadjuthen hinein.

„Von daher kommen wir ja, Herr Secretär.“

„Aber hundert Schritte in jenem Wege geht eine Straße nach der Plein ab. Sie läuft in die tilsiter Landstraße wieder ein, und ist für Fußgänger jetzt bequemer zu passiren als die letztere. Auf dieser bricht man durch die noch zu dünne Frostdecke des Moorgrundes durch. Ueber den Sand in der Plein geht man weg.

„Woher waren die Männer gekommen?“

Der Litthauer gab die Richtung des dingkenner Forst an.

„Nach dieser Auskunft,“ bemerkte ich, „wüßte ich keinen Grund zu einem Verdachte. Wenn jene Menschen etwas gegen uns im Sinne hätten, so machten sie einen eben so weiten als unnöthigen Umweg, um aus dem dingkenner Forst durch die Plein in den tilsiter Weg zu gelangen.“

„Es ist wahr; die tilsiter Straße führt an dem Forst entlang.“

„Ich wüßte überhaupt nicht, wer und warum man uns überfallen wollte.“

„Jene entsprungenen Verbrecher, der Schlom Schwarzbart, der unzweifelhaft von dem verrätherischen Kludszweit schon erfahren hat, wie auf ihn vigilirt wird. – Es treibt sich außerdem immer Gesindel genug an der rechten Memelseite umher.“

„Und was sollte alles dieses Gesindel von uns wollen? Uns zu berauben, wäre wenigstens nicht der Mühe werth.

„Aber zu Rache ist solches Volk stets geneigt."

„Matz scheint Sie angesteckt zu haben, und jener Schreiber mit der Urfehde. Schweigen wir von der Sache gegen meine Frau, die sich beunruhigen möchte. Der Kutscher scheint mit seinen Pferden fertig zu sein."

Der Kutscher spannte wieder an. Wir fuhren weiter.

Der Executor Matz hatte zu seinem großen Verdruß aus dem Schreiber nichts heraus gelockt.

Es war völlig dunkeler Abend geworden. Die Pferde kamen nur sehr langsam vorwärts. Der Moorgrund des Weges war von dem Forste nur mit einer dünnen Kruste überzogen. Bei jedem Tritte brachen sie durch diese durch. Zu Fuße wären wir schneller voran gekommen.

In der That holte uns bald ein Fußgänger ein. Matz wurde unruhig als er den Menschen sah. Auf einmal sprach er leise in den Wagen hinein.

„Es ist der Schreiber John, Herr Kreisjustizrath. Soll ich den Menschen anhalten?“

„Damit der Mensch Ihnen noch einmal den Vorwurf des Straßenraubes machen kann?“

„Aber was hat der Kerl hier auf der Straße zu schaffen? Er wohnt nach dem Forst zu.“

[285]

Iskander Bei.


„Die Straße ist so frei für ihn, wie für uns.“

Er beruhigte sich brummend.

Wir kamen immer langsamer weiter. Der Weg wurde schlechter, die Pferde müder. Der Abend wurde dunkler. Rechts von der Plein her drängte sich in die Landstraße ein dichter Nebel, der die Luft noch mehr verfinsterte. Man konnte kaum den Wald unterscheiden, an dem der Weg links vorbeiführte.

Ein Laut, außer dem Geräusch unsers Fuhrwerks, war weit und breit nicht zu hören. Nicht einmal ein vereinsamtes Hundegebell aus der Ferne.

Wir waren in der menschenleersten Gegend auf der Strecke zwischen Tilsit und Coadjuthen.

Im Wagen waren wir stumm. Ich leugne nicht, daß ich, nach Allem, was ich gehört, an die Möglichkeit eines Ueberfalles dachte, und daß meine Phantasie allerlei Chancen desselben verarbeitete. Aber ich dachte auch nur an eine Möglichkeit. Gegen eine Wahrscheinlichkeit lag Alles vor. Um so mehr schwieg ich von unserer Lage, um meine Frau nicht zu ängstigen, die keine Ahnung von einer Gefahr zu haben schien. Aus Rücksicht für meine Frau schwiegen auch wohl die Anderen.

Auf einmal wurde der Executor Matz wieder unruhig. Er bewegte sich auf dem Bocke hin und her, beugte sich bald rechts, bald links zur Seite, erhob sich dann, um über das Verdeck des Wagens hinter denselben zu blicken. Er schien nach allen Seiten [286] den dicken, undurchdringlichen Nebel durchdringen zu wollen. Zugleich zog er seinen Säbel mehr hervor, daß er ihn bequemer ziehen konnte, und ich sah, wie er einen Knopf vorn an seinem Rocke lösete, um mit dem ersten Griffe das Doppelterzerol fassen zu können.

„Was haben Sie, Matz?“ fragte ich ihn.

Er antwortete leise: „Es ist, als hörte ich Jemanden gehen, und doch sehe ich nichts."

„Wo sollten Sie gehen hören?"

„Bald zur Seite, bald hinten ’naus."

„Hört der Kutscher nichts?“

„Er schläft seinen Rausch aus."

„Aber er fährt ja."

„Der Litthauer fährt im Schlafe noch immer besser als nüchtern. Nur schlafend oder betrunken ist das Volk zu gebrauchen.“

„Ihre gute Laune scheint endlich wieder zu kommen.“

„Halt, da sehe ich den Kerl.“

„Was sehen Sie?“

„Lassen Sie mich machen.“

„Freundchen,“ rief er in den Weg hinein. „Heda, Sie, kommen Sie mal hier zu mir heran.“

Er bekam keine Antwort.

„Kutscherchen, halt einmal,“ sagte er zu dem neben ihm sitzenden Kutscher.

Der Kutscher hielt. Der Executor stieg ab.

Ich sah unterdeß aus dem Wagen. Ich konnte nur den Executor erblicken. Er sah sich um, nach allen Seiten. Plötzlich lief er seitwärts auf einen Baum zu, der neben der Landstraße durch den Nebel hervorschimmerte. Es schien eine weiße Birke zu sein.

„Habe ich Dich, Bursch?“ hörte man ihn gleich nachher rufen. „Verdammter Spion, was machst Du hier, und was machtest Du eben am Wagen?“

„Herr Wachtmeister, lassen Sie mich.“

Es war die Stimme des Schreibers John. Sie war laut und trotzig und nicht jene schwere Stimme des Rausches, die er vorher vielleicht nur affectirt hatte.

„Steh Rede, Schurke, was schleichst Du uns nach?“

„Herr Wachtmeister, ich rathe Ihnen –“

„Du willst drohen, Narr?“

„Ich rufe um Hülfe.“

„Rufe.“

„Hülfe, Hülfe! Hierher!“ schrie der Kerl mit lauter Stimme in die stille Finsterniß hinein.

Es war, als wenn er ein verabredetes Signal gegeben hätte. Die Gegend belebte sich plötzlich. Von allen Seiten hörte man Menschen herbeirennen, zwar stumm, schweigend, aber desto hastiger.

„Hierher, Ihr Männer, zu Hülfe!“ wiederholte die Stimme des Schreibers.

„Fort, fort!“ rief der Executor dem Kutscher zu. Er hatte sich von dem Schreiber losgerissen. Er war mit einem Sprunge bei dem Wagen, mit einem zweiten auf dem Bocke.

„Fort, in des Teufelsnamen. Jag, Kerl, was die Pferde laufen können. Der verdammte Verräther! Das lag mir so schwer auf dem Herzen.“

Der Kutscher hieb auf seine Pferde. Der Boden war gerade dort fester. Wir flogen im Galopp davon.

„Vor den Hunden Reißaus nehmen zu müssen!“ fluchte der Executor. „Hätten wir nur mehr Waffen bei uns. Aber dieser eine Säbel und dieses jammervolle Ding von einem Terzerol! Der verdammte Verräther!“

„Haben wir denn wirklich Gefahr?“ fragte meine Frau.

Sie saß dicht neben mir, aber ich konnte nicht fühlen, daß sie zittere.

„Matz scheint es zu glauben, obgleich ich nicht recht einsehe, warum man uns hier überfallen sollte.“

„Am Ende,“ sagte der Executor, „muß ich zugestehen, daß ich mich umsonst geängstigt habe. Diese Spitzbuben sind alle feige. Wahrscheinlich gehen sie auch heute Nacht nur auf Diebereien aus; der Nebel ist ihnen günstig. Da dürfen sie vorher nicht viel Spektakel machen. Zudem sah der Verräther, daß ich ein Pistol bei mir trage. Wir sind nicht gar weit von Dinglauken, wo der Oberförster mit allen seinen Jägern und Hunden wohnt. Man könnte dort hören, wenn hier geschossen wird. Bei alledem wünschte ich doch, daß der Weg noch eine Meile so glatt und fest wäre, wie hier.“

Das war aber eben nicht der Fall. Wir waren wieder in den tiefen Moorgrund gekommen, mit der dünnen, zerbrechlichen Eiskruste darüber. Der Galopp, selbst der Trab der Pferde hörte auf. Bei jedem Schritte brachen sie durch. Wir kamen nur langsam vorwärts.

Der Kutscher trieb eifriger die Pferde an. Der Executor trieb den Kutscher an. Er nahm selber die Peitsche. Wir kamen nicht rascher voran.

Wir horchten in den Weg hinein. Es war kein Geräusch zu vernehmen. Wir glaubten, unsere Verfolgung sei aufgegeben. Aber wir sollten uns nur kurze Zeit diesem Glauben hingeben dürfen.

Nach einer Weile vernahmen wir deutlich die Schritte von Laufenden hinter uns. Sie kamen näher. Sie mehrten sich. Aber noch immer wurde keine Stimme laut.

Es war jetzt kein Zweifel mehr, daß wir verfolgt wurden, und daß irgend ein gewaltthätiger Angriff gegen uns gemacht werden sollte.

„Julie,“ sagte ich zu meiner Frau, „bist Du gefaßt? es scheint uns eine schwere Stunde bevorzustehen.“

„Setzt mich von Allem in Kenntniß, was Ihr befürchtet,“ erwiederte sie.

Ihre Antwort bezeugte ihre erhabene Fassung.

„Ich fürchte zunächst einen Raubanfall. Wir haben aber auch noch mehr zu fürchten. Die Bande des Schlom Schwarzbart scheint hinter uns zu sein. Entweder sind sie auf Pferdediebstähle hierher aufgebrochen oder gar absichtlich zu unserer Verfolgung, und zwar mit den beiden Verbrechern, die vorgestern aus Ragnit entsprungen sind, und von denen der Victor schon früher mit ihnen in Verbindung stand. Wir schweben, ich darf es Dir nicht verhehlen, in Lebensgefahr.“

„Wir haben keine Waffen.“

„Außer dem Wenigen, was Matz bei sich trägt, nichts. Aber ich denke, daß wir dennoch nicht ganz hülflos sind. Wir nähern uns Dinglauken. Es liegt dort im Walde. Man sieht es vom Wege aus nicht. Aber lauteres Geräusch würde man von dort aus hören können.“

„Sodann kann auch Powilken nicht gar zu weit mehr sein. Und zuletzt, vielleicht kann ein Wagen uns begegnen. Vielleicht sind gar die Jäger der Oberförsterei in der Nähe, um Wilddieben aufzupassen. Zuletzt, mein Freund, stehen wir unter dem Schutze Gottes.“

Ich sah dennoch, wie ihre Hand nach ihren Augen fuhr, während ihre Lippen leise hauchten: „Die armen Kinder.“

Wir hatten vier kleine Kinder zu Hause. In kurzer Zeit konnten sie Waisen sein.

„Herr Kreisjustizrath,“ sagte der Executor Matz, „das Gesindel kommt näher, Sie sind ohne alle Vertheidigung. Nehmen Sie hier meinen Säbel.“

„Nein, Matz, treue Seele,“ antwortete ich ihm. „Ihr Säbel ist besser in Ihren kräftigen Händen. Zudem könnte ich ihn hier im Innern des Wagens kaum gebrauchen. Aber wenn Sie mir etwas abgeben wollen, so überlassen Sie mir Ihr Terzerol. Beider Waffen können Sie sich ohnehin zu gleicher Zeit nicht bedienen.“

Er reichte mir sofort das Terzerol hin.

Es war ein kleiner Doppelläufer, der in der Nähe gute Dienste leisten konnte. Für den Secretär war keine Waffe da. Der kränkliche, schwächliche Mann hätte auch freilich nicht viel mit ihr ausrichten können. Die Schritte der Laufenden waren dem Wagen näher gekommen. Sie hatten ihn beinahe erreicht.

Matz gab Zügel und Peitsche an den Kutscher zurück.

„Hau Du nur immer darauf los,“ sagte er zu ihm, „auf Pferde und auf Menschen. Und wenn der Weg wieder besser wird, so laß galoppiren, so viel die Thiere können.“

„Aber Pons, wenn sie mich todtschlagen?“

„Schlag Du sie zuerst todt, Bursch.“

Er schien etwas von seinem Humor wieder gewonnen zu haben.

Doch gleich darauf sagte er sehr ernst: „Sie sind am Wagen. Jetzt aufgepaßt. – Bei Gott, der lange Victor ist an der Spitze.“

Ich leugne nicht, daß es mich kalt durchfuhr als ich den Namen hörte. Meine Frau umfaßte mich. Aber in dem nämlichen Augenblicke ließ sie mich wieder los, um mich nicht in meinen Bewegungen zu hindern.

[287] „Hurrah, wir haben sie!“ schrie die Stimme Victor’s, die mir nur zu wohl bekannt war. „Reißt sie aus dem Wagen. Mit dem Wachtmeisterchen auf dem Bocke nehme ich es auf.“

Die kräftige Faust des Menschen fiel den Pferden in die Zügel. Die Thiere standen.

Der Wagen war von zwanzig Menschen umgeben.

Der Kutscher hieb auf die Pferde. Es war vergebens. Er hieb nach dem Räuber, der sie festhielt.

„Schlagt den Hund von Kutscher todt,“ schrie der Räuber auf litthauisch.

Vier Kerls rissen den Kutscher vom Bocke.

Matz schlug mit seinem Säbel auf sie ein.

Den Augenblick ersah der lange Räuber. Er ließ die Pferde los, sprang von hinten auf den Executor zu und faßte ihn in den Nacken, um ihn gleichfalls vom Bocke zu reißen.

Victor war die Seele des Ueberfalls. Es galt die äußerste Nothwehr. Ich bedachte mich nicht länger. Beide Hähne des Terzerols hatte ich schon früher gespannt.

Ich zielte nach dem Kopfe des Räubers. Ich drückte los.

Er fiel zur Erde.

Aber nicht er allein. Er riß den Executor mit sich nieder.

Ich hatte ihn getroffen, aber nicht tödtlich.

Er wüthete. „Hunde,“ schrie er, „Jetzt sollt Ihr Alle sterben.“

Er stieß die Worte abgebrochen hervor, gurgelnd, unter heftigem Ausspucken.

Ich mußte ihn im Gesichte getroffen haben, so daß das Blut ihm in den Mund drang. So hörte sich sein Sprechen an, sehen konnte man in der Finsterniß nichts.

Matz und der Räuber balgten sich an der Erde.

Der Schuß schien die Anderen erschreckt zu haben. Sie wichen von dem Wagen zurück.

Ich sprang aus dem Wagen, um den Executor von dem Räuber zu befreien. In demselben Augenblicke fühlte ich mich gelähmt. Einer der Räuber hatte mir eine Schlinge um den Hals geworfen. Ich wurde zu Boden gerissen.

Ein Kerl kniete sich auf mich.

Die stechenden grauen Augen des Mörders Trinkat leuchteten in wildem Hohne über mir. Kräftige Fäuste wanden mir das Terzerol aus der Hand.

Den Executor Matz hörte ich neben mir nur noch stöhnen. Das Balgen hatte ein Ende genommen. Auch er war überwältigt, von der Menge bezwungen. So waren wir denn nach sehr kurzem Kampfe verloren.

Meine arme Frau!

Ich konnte mich nicht einmal nach ihr umsehen. Eine Menge von Fäusten hatten mir rasch Hände und Füße gebunden. Meinen Kopf hielt Trinkat fest. Ich konnte mich nicht rühren.

„Habt Ihr ihn fest?“ fragte auf litthauisch die Stimme Victor’s; aber noch an der Erde und noch immer gurgelnd und ausspuckend, und wie es schien, schwächer.

„Fest gebunden,“ antwortete Trinkat.

„Und die Frau? Ich sehe sie nicht. Reißt die Frau aus dem Wagen.“

„Muth, Muth, mein Kind!“ rief ich. „Der Herr wird uns beistehen.“

„Und was dann weiter, Victorchen, mein Freund?“ fragte Trinkat.

„In den Wald hinein. Mit ihnen allen. Bis der Schlom Schwarzbart kommt. Wir dürfen ihm die Freude nicht verderben. Und mich schleppt nach. Der verdammte Hund. Ich kann nicht aufstehen. Er hat mir die Backe entzwei geschossen. Er wird dafür büßen. Voran, voran!“

„Langsam, langsam,“ rief auf einmal in einiger Entfernung eine laute Stimme.

Der Trab eines Pferdes wurde hörbar.

Die Stimme schien mir bekannt zu sein. Sie lautete wie die des Juden Schlom Weißbart. Aber doch auch wieder anders.

„Schlom, Schlom Schwarzbart!“ riefen einige der Räuber.

Unser Schicksal mußte sich entscheiden. Freilich wie?

Der Trab des Pferdes war näher gekommen. Ein Mann sprang von dem Pferde.

„Habt Ihr sie Alle?“ fragte er.

Es war nicht die Stimme Schlom’s Weißbart. Sie hatte Aehnlichkeit mit dieser. Aber sie war tiefer, rauher.

„Alle,“ war die Antwort.

„Auch die Frau?“

„Auch die Frau!“

„Wo ist der Richter? Der strenge Richter?“

„Hier, hier, Schlom Schwarzbart.“

Ein jüdisches Gesicht beugte sich über mich, mit dunkelen, großen Augen, mit einem langen, glänzend, schwarzen Barte.

„Schlom Weißbart,“ wollte ich rufen. Aber der Bart war nicht der Bart des Schlom Weißbart; mir fiel die Aehnlichkeit ein, welche die beiden Juden mit einander haben sollten. Der Wütherich Schlom Schwarzbart stand vor mir.

„Was soll mit ihnen geschehen!“ fragte einer der Räuber den Juden.

„Aufgehängt sollen sie werden,“ schrie Victor. „Aufgehängt an den nächsten Bäumen. Sogleich! schnell!“

„Aufgehängt,“ wiederholte auf litthauisch der Mörder Trinkat. „Wollten sie doch auch uns an den Galgen und auf das Rad bringen.“

Meine Frau ward aus dem Wagen gerissen. Man legte sie neben mir an die Erde. „Unsere armen Kinder,“ rief sie mir zu. „Und doch kann der Herr uns noch Hülfe senden.“ Sie suchte meine gebundene Hand und hielt sie fest in der ihrigen. Auch jetzt fühlte ich sie nicht zittern.

„Männer,“ erhob sich die Stimme des Juden auf litthauisch. „Es ist jetzt genug.“

„Was ist genug, Jude!“ schrie wüthend Victor. „Gehängt sollen sie werden.“

„Bist Du ein Narr, Victor?“ sagte der Jude zu diesem auf Deutsch. „Ich habe Dir gethan Deinen Willen, bis hierher. Aber nun ist es genug.“

„Gehängt sollen sie werden, Alle,“ schrie der lange Räuber wüthender.

„Bindet sie los!“ befahl der Jude auf litthauisch den Anderen.

„Hängt den Juden mit ihnen auf,“ schrie Victor.

„Bindet sie los,“ wiederholte der Jude befehlend.

„Trinkat, hänge den Juden auf,“ schrie Victor.

Aber Trinkat rührte sich nicht.

„Bindet sie augenblicklich los,“ befahl der Jude zum dritten Male.

Wir wurden losgebunden.

Als ich mich aufrichtete, stand Schlom Weißbart vor mir, mit seinem listigen, freundlichen Gesichte, lächelnd, den weißen Bart streichend.

Der Jude hatte den schwarzen Bart abgenommen.

„Der Herr ist gewesen brav gegen mich,“ sagte er. „Brav gegen mich und meine Frau. Bleibe der Herr immer brav gegen die armen Leute. Ist doch auch der Spitzbube ein Mensch.“

Er schwang sich auf sein Pferd.

„Mir nach!“ rief er.

Er ritt zurück, nach der Plein zu. Die Bande folgte ihm.

Drei von ihnen nahmen den verwundeten Victor auf die Schultern, den der Blutverlust stiller gemacht hatte.

Wir setzten ungehindert unsern Weg fort.

Nur der brave Executor Matz jammerte. Man hatte ihm seinen Säbel und sein Doppelterzerol nicht zurückgegeben.


Ueber die weitern Schicksale aber und das Ende des schwarzen Weißbart erzähle ich den Lesern der Gartenlaube hoffentlich bald ein Mehreres.



[288]
Iskander Bei.
(mit Portrait.)

Unter den hervorragenden Führern der türkischen Armee wird neben Omer Pascha keiner mehr genannt und keiner von den Feinden mehr gefürchtet als Iskander Bei eigentlich Graf Jelinsky, der Obrist der Baschi Bozuks. Schon sein Name allein ist ein Beweis, daß er den Orientalen den Eindruck einer ungewöhnlichen Erscheinung macht. Denn Iskander ist im Morgenlande ein Heldenname, den seit den Tagen Alexander’s des Großen – Iskander heißt Alexander – ein Nimbus umgiebt. Der tapfere Georg Castriota, der in vielen Schlachten den Türken furchtbar wurde, erhielt von ihnen den Namen Iskander Bei (Skanderbeg), und der Erbe seines Namens, der Iskander Bei des jetzigen Türkenkriegs, ist auf dem besten Wege, es dem gefürchteten Albanesen an kriegerischem Ruhm gleich zu thun.

Graf Jelinski ist im Jahre 1812 in Bessarabien geboren und mithin ein geborener russischer Unterthan. Er ist von tartarischer Abstammung und soll den mohamedanischen Glauben bekennen. Die Bildung, welche er erhielt, war aber eine europäische. Die Verschwörung des russischen Adels, welche die letzten Lebensjahre Alexander’s vergiftete, hatte ihren Sitz im Süden und wurde nie ganz entdeckt. In eine der geheimen Gesellschaften, welche in Bessarabien sich erhalten hatten, trat Graf Jelinski. Die Verschworenen wurden verrathen und verhaftet, doch er hatte das Glück, den Nachstellungen der russischen Polizei zu entkommen. Von diesem Augenblicke führte er das Leben eines politischen Flüchtlings und eines Abenteurers. Sein umherschweifendes Leben führte ihn zu vielen Ländern, nur zu keinem, wo Waffenruhe herrschte. Als Dom Pedro für den Bürgerkrieg in Portugal warb, stellte sich Jelinski in Oporto ein und machte sich bald unter den wilden Gesellen des pedristischen Heeres bemerklich. Mit der Waffenstreckung der Miguelisten hatte Portugal seinen Reiz für ihn verloren, und er wandte sich nun nach Spanien, wo der Bürgerkrieg eine größere Ausdehnung zu erlangen anfing. Es war in der Zeit, da die Fremden in hohem Ansehen standen und in Truppenkörper vereinigt wurden. Graf Jelinski wählte sich seine Lieblingswaffe, die Reiterei, und gab solche Beweise von Todesverachtung und Entschlossenheit, daß man ihn wählte, eines der Freikorps, die man aus Fremden gebildet hatte, der Kriegszucht zu unterwerfen. Die Légion provisoire, an deren Spitze er trat, hatte den übelsten Ruf. Allerdings stürzte sie sich mit Wuth in den Kampf, machte sich aber durch ihre Zügellosigkeit zur Geisel des Landes und ermordete regelmäßig die Offiziere, welche sich anmaßten, Ordnung einzuführen. Man erwartete jeden Tag zu hören, daß Graf Jelinski das Schicksal aller seiner Vorgänger getheilt habe. Man hörte das Entgegengesetzte, daß er die wilde Legion gebändigt habe. In der That imponirte er seinen gesetzlosen Soldaten so gewaltig, daß sie ihm mit Begeisterung gehorchten.

Jelinski hatte sich elf Orden erkämpft, als er Spanien vor der Beendigung des Bürgerkriegs verließ. Was ihn forttrieb, ehe der letzte Schuß gefallen war, kann nur die Zurücksetzung gewesen sein, die den Fremden von den nationalstolzen Spaniern zu Theil wurde. Die unangenehme Stille, die in Europa herrschte, bestimmte ihn, nach dem Orient zu gehen. Zwei oder drei Mal war er in Algier, natürlich immer in Zeiten, in die größere Unternehmungen der Franzosen fielen. Die Gerüchte, die sich über einen nahen Zusammenstoß der Engländer und Russen in Asien verbreiteten, lockten ihn nach Herat, wo er der Belagerung beiwohnte. Hier in seiner Erwartung getäuscht, wandte er sich nach China und machte die dortigen Feldzüge mit, ohne Befriedigung zu finden, da die Chinesen sich gar zu schlecht schlugen. Er kehrte nach Algier zurück und erfocht sich in den letzten Kämpfen mit Abd-el-Kader den Orden der Ehrenlegion. Die Revolutionsbewegungen von 1848 und 1849 stellten ihm die vollste Befriedigung seiner kriegerischen Leidenschaft in Aussicht. Es begegnete ihm, der bisher stets eine siegreiche Sache vertheidigt hatte, daß er sich einer zum Untergange bestimmten Partei anschloß. Die Magyaren, deren Kampf er zu dem seinigen gemacht hatte, unterlagen und Jelinski betrat mit den Trümmern ihres Heeres den türkischen Boden.

Männer wie er waren willkommen. Mit einem höhern Grade bekleidet, begleitete er Omer Pascha auf dessen Feldzügen in Bosnien und gegen Montenegro, und erwies sich zugleich als kühner Soldat und als guter Feldherr. Nach dem Ausbruche des türkisch-russischen Kriegs an die Donau versetzt, erhielt er den Befehl über die Reiter, welche die äußersten Vorposten zu besetzen hatten. Die Tollkühnheit, mit der er seinen Soldaten weit voran in den Feind sprengte, war selbst den Türken so räthselhaft, daß man einige Zeit glaubte, er suche auf diese Weise eine Gelegenheit, zu den Russen überzugehen. Seine Reiter hatten Anfangs Furcht vor den Lanzen der Kosaken, aber Iskander Bei kehrte das Verhältniß bald um: die Kosaken fürchteten sich vor seinen Reitern. Das Treffen von Csetate machte ihn auf längere Zeit kampfunfähig. Unter den ersten Angreifenden der vorderste, nahm er das Dorf Csetate im Fluge, hieb und ritt nieder, was ihm in den Gassen von Russen begegnete, brach aber bei einem Sturhz mit seinem erschossenen Perde mehrere Rippen und konnte wochenlang das Lager nicht verlassen. Seine Wiederherstellung markiren die Niederlagen, die er den Feinden in der kleinen Wallachei zugefügt hat. Die Baschi Bozuks, die man allgemein für untauglich hält, machen sich unter seiner Führung sogar der regelmäßigen russischen Reiterei furchtbar. Neuerer Zeit hat er sich durch seine Ausfälle von Eupatoria aus wieder vielfach hervorgethan, wurde aber bei einem der letzten schwer verwundet, so daß er lange Zeit für todt in den Zeitungen figurirte. Seine kräftige Gesundheit überwand auch diesen neuen Schlag. Als er nach langer Zeit mit Verlust zweier Finger zum ersten Male vor der Front seiner Reiter erschien, ernannte ihn der Obergeneral zum Pascha.

Sein Aueßeres schildert ein Berichterstatter der „Dailey News“ als ungewöhnlich. „Iskander Bei ist ungefähr von Mittelgröße, aber muskelstark und ebenmäßig gebaut; Haar und Bart sind kohlschwarz, doch wo möglich nicht ganz so schwarz wie seine Augen, die wie Feuer unter dunkeln buschigen Brauen hervorblitzen. Eine lange feingebogene Nase, ein kleiner Mund, dünne Lippen, eine hohe Stirn und eine von Sonne und Wind bronzirte Gesichtsfarbe bilden zusammen eine höchst markirte Physiognomie.“




Sorge für Leben und Gesundheit Gewerbtreibender.
Mittheilungen aus England.

Ungefähr eine Million Menschen verdienen in Europa ihr Brot unter der Erde. Von diesen kommen etwa 250,000 auf englische Bergleute. Nachweislich sterben davon jährlich 30,000 an dieser Lebensweise, d. h. sie werden in den Bergwerken lebendig begraben. Die Schleifer der berühmten Schneidewaaren von Sheffield bringen’s blos zu einem Durchschnittsalter von 35 Jahren. Das ist ein hohes Alter im Vergleich mit der Sterblichkeit der „Trocken-Schleifer.“ Der Sand ihrer Zeituhr verstaubt und versteinert ihre Lungen gewöhnlich schon nach sechs bis acht Jahren tödtlich. Hunderte von gliedergefesselten, vom Kopfe bis zum Fuß gelähmten Menschen wanken und liegen umher als Opfer der Rahmen-Vergoldung und Bequecksilberung von Spiegelglas. Die dabei entwickelten Quecksilber-Dämpfe schlichen sich als Hauch des Todes in die Glieder der Männer, die unsere Zimmer verschönern und der blühenden Schönheit, ehe sie zum Balle hüpft, von ihren Reizen erzählen. Die kokette Schönheit, welche sich so gern im Spiegel beschaut, mag sich in Acht nehmen, daß ihr nicht einmal der verkrüppelte, leichenfarbige Verfertiger ihres Trümeau sein Gestalt im Spiegel zeige.

Dr. T. K. Chambers in London zeigte unlängst in der [289] „Gesellschaft der Künste“ („Society of Arts“ die Kinnlade eines Congreve-Schwefelholzmachers, die ihm durch eine gefährliche, aber gelungene Operation ausgeschnitten worden war, um ihn von der Qual des Kinnladentodes zu befreien. Unzählige seiner Collegen in England, Deutschland, Frankreich, Oesterreich u. s. w. sind Opfer derselben eigenthümlichen, furchtbaren Krankheit.

Schneider, Näherinnen, Schuhmacher und andere krummsitzende Gewerbtreibende leiden massenweise an chronischer, schlechter Verdauung, wodurch das Glück und die Dauer ihres Lebens bedeutend verkürzt wird. Die bei ihrer Arbeit unnatürlich zusammengedrückte Lunge ist nicht im Stande, das Blut und die Nahrungssäfte gehörig zu sauerstoffen. Daher schlechte Verdauung, Lungenkrankheiten und Schwindsucht. Ein Baumwollenlord von Manchester theilte uns neulich mit, daß allein im Departement des Packens binnen zehn Jahren vierzig junge Arbeiter an Abzehrung gestorben seien. Wie manche fleißige Waschfrau leidet an unnatürlich erweiterten Adern in Folge des angestrengten, gebogenen Stehens am Waschfasse, oder an vergifteten Händen in Folge des Gebrauchs scharfer Alkalien und Bleichmittel! Wie viele Arbeiter verderben sich die Augen durch Arbeit dicht an der scharfen, flackernden Gasflamme. Die armen, jungen Mädchen, welche jetzt professionsmäßig Goldketten machen, erblinden zum Theil schon während ihrer Lehrzeit.

Schiffe verbrennen und sinken jährlich mit Tausenden von Menschen und Millionen mühsam erworbener Schätze trotz ihrer luft- und wasserdichten Abtheilungen, trotz der Tausende verschiedener Rettungsboote von der einfachen Planke an bis zu dem patentirten Kunstwerke, das man in der Regel nicht vom Schiffe loskriegen kann, wenn es just gebraucht werden soll.

Baugerüste, von denen schon Tausende herunterfielen, todt oder als gebrochene Krüppel, bleiben immer noch offen, ungeschickt und unsicher, obgleich wir über die Chinesen spotten, die seit Jahrtausenden nicht blos Häuser und Porcellan-Tempel, sondern auch bedeckte, sichere Gerüste zu bauen verstanden. Bleiweiß behält sein Privilegium, Menschen todt zu peinigen. Brauer fallen in ihre eigenen Bottiche, und Seifensieder kochen sich selber mit in ihren quackernden Kupferkesseln. In Fabriken macht sich die offene Maschine oft genug das Vergnügen, Menschen bei den Armen zu packen, sie gegen scharfe Kanten zu schleudern oder zu Brei zu zermalmen. In London, wo mit Dampfmaschinen allerlei sündhaft Vieh zu Wurst gemacht wird, vermißte die Frau eines Dampfwurstmachers plötzlich ihren Gatten und konnte ihn nirgends wiederfinden, bis sie von einem Kunden, der verschiebene Knöpfe in ihrer Wurst gefunden, auf die Quelle seines Verschwindens aufmerksam ward. Er hatte sich von der Maschine packen und mit Haut und Haar zu Wurstbrei zermalmen lassen. Rothglühende Eisenstücke fliegen in des Grobschmieds Auge und scharfe Kiesel stauben in die Pupille des Mauerers. Seeleute, Ziegelbrenner und allerhand amphibische Gewerbtreibende werden von Rheumatismus und Gicht gefoltert. Des Schneiders Fistel und des Bäckers Scrophel sind keine Gespenster der Vergangenheit. Fabrikanten von Chemikalien und Apothekerwaaren vergiften sich mit Pulvern und stechenden Dünsten, indem sie für die Gesundheit ihrer Mitbrüder arbeiten.

Das sind einige von den Quälgeistern der Gewerbtreibenden. Kann das Gewerbe, das so sehr treibt und getrieben wird und sich mit allen Künsten und Gewalten der Wissenschaft waffnet, nicht auch diese bösen Geister vertreiben? Soll die Menge leiden und sterben für die Bequemlichkeit und den Luxus Weniger? Kunst, Wissenschaft und Gewerbe im Verein können sich gegenseitig sehr wohl schützen und fördern; nur ist der eine oder andere Betheiligte immer noch zu bequem, zu kurzsichtig, zu conservativ, um sein Leben zu conserviren. Vor allen Dingen sind es die Gewerbtreibenden selbst, welche sich gegen „Neuerungen“ zu ihrem Wohle steifen. Sie verlachen und verhöhnen den „Respirator,“ der vor Mund und Nase gebunden, alle schädlichen Gase und Substanzen von der Lunge abhält oder zersetzt, ohne das Athmen zu erschweren. Etwas Holzkohle in diesem neuen Respirator entwaffnet die schärfsten, giftigsten Gase, Säuren und Dünste.

„Droguerien-Reiber“ binden den giftigsten Stoffen gegenüber wohl einen Shawl um Mund und Nase, aber oft blos eine halbe Stunde. Wenn sie sich an Gerüche „gewöhnt“ haben, halten sie dieselben für unschädlich. In einer großen Chemikalien-Fabrik kletterte ein Mann mit einem offenen Lichte an einer riesigen Retorte in die Höhe um den sich verbreitenden Wasserstoffgasgeruch zu entdecken. Es erfolgte eine ungeheuere Explosion, und der Mann stürzte in Stückchen zerrissen herunter.

Bäcker können sich gegen ihre Handleiden durch öfteres Reiben mit rohem Fleische schützen, aber sie thun’s nicht. Stubenmaler und überhaupt Gewerbtreibende, die mit mineralischen Farbstoffen zu thun haben, fühlen zuweilen eine Arbeit in ihren Eingeweiden, als wenn darin eine Waschfrau ausränge. Gegen diese Kolikanfälle giebt es zuuächst ein Universalmittel, Reinlichkeit. Mit schmutzigen Händen zu essen und in den farbengetränkten Kleidern auch nach der Arbeit einherzugehen, ist die beste Manier, den Körper auch innerlich auszufärben und mit Bleiweiß auszufüllen. Bleiweiß und Terpentin, stark geheizte und dichtverschlossene Räume halten Viele für nothwendige Bedingungen, um den Wänden und der Decke jene Mattigkeit zu verleihen, die man den gleißenden Oelfarben vorzieht (bei dem Baue des neuen Kaiserschlosses in Petersburg sind bekanntlich Tausende von Malern Opfer jener Geschlossenheit und Hitze geworden). Wenn man’s mit rechter Farbe recht anfängt, ist jene vornehme Mattigkeit der Wände ebenso gut beim freien Zutritt der Luft und ohne künstliche Hitze zu erreichen. Aber freilich, das widerspricht der Fachwissenschaft vieler Stubenmaler, und so fahren sie fort, sich zu vergiften und einzuschließen. Auch das giftige Bleiweiß ist gar nicht nöthig, Zink-Sulphat oder „Zinkweiß“ oder „Zinkblei,“ wie’s die Maler nennen, ist ein ganz vollkommener und unschädlicher Stellvertreter des Bleiweiß. Aber kein Sebastopol ist schwerer zu zerstören als Vorurtheile und Traditionen in Gewerben.

Die meisten Augenleiden, die jetzt mit dem Betriebe gewisser Gewerbe verbunden sind, ließen sich vermeiden. Das Auge ist geschaffen, weißes Licht zu sehen. Das alle künstliche Beleuchtung übertreffende Sonnenlicht erträgt jedes gesunde Auge ohne Nachtheil. Es besteht aus einer Mischung der primären Farben[1] Blau, Gelb und Roth. Künstliche Beleuchtung hat in der Regel zu wenig Blau. Bläuliche Schirme um Oel- ober Talglicht thun daher dem Auge unter allen Umständen gut. Blau in einer gewissen Menge zu künstlichen Lichtstrahlen gebracht, giebt ein weißes, sonnenähnliches (wenn auch schwächeres) Licht. In der großen Lichterfabrik zu Belmont tragen die Arbeiter alle blaue Brillen von gewöhnlichem glatten Glas) und Niemand leidet seitdem mehr an schlimmen Augen. Goldarbeiter, besonders die armen Goldketten-Verfertigerinnen, würden durch dasselbe Mittel unendlich viel Augenleiden fern halten.

In den englischen und amerikanischen Waarenhäusern, wo oft für Millionen von Thalern Fabrikate aufgehäuft sind, lauert die Schwindsucht auf jede schwache Brust und Erkältung, besonders in den mächtigen Kattunniederlagen. Gefärbte Kattune werden im feuchten Zustande dicht und eng gepackt, um die Stoffe glatt und die Farben frisch zu erhalten. Die Diener in solchen Häusern müssen täglich manchmal viele Hunderte von Ballen und Packeten öffnen und dabei die entfesselten Farben- und Wasseratome einathmen. „Wenn wir die Ballen gefärbter Wollenzeuge öffnen, ist’s gerade, als ständen wir bis über die Ohren in faulen Pfützen,“ sagte einmal Einer dieser Lagerhausdiener.

Gegen die Krankheiten der Schneider und Näherinnen giebt’s jetzt Nähmaschinen, die zwar Viele noch kränker, d. h. brotlos zu machen scheinen, aber wenn sie erst sich geltend gemacht haben, werden sie mehr Menschen ihr gesünderes Brot verschaffen, als jetzt die Handarbeit. Die Erfindung der Buchdruckerkunst machte tausend Mönche, die Bücher abschrieben, brotlos, um Millionen von Druckern und Setzern in’s Leben zu rufen.

Für die Schuhmacher hat man Bänke und Tische erfunden, welche ihn in den Stand setzen, in aufrechter Stellung zu arbeiten. Aber Crispin, der alte traditionelle Pechhengst, schimpft auf die Neuerung von Leuten, die von seiner „Kunst nichts verstehen.“ Und so bleibt er hocken mit der Nase über den Knieen und den Pechdraht nach beiden Seiten ausziehend, bis er Löcher in der Brust hat, groß wie eine Hacke am Stiefel. Gepflöckte Schuhe kämpfen mit den pechdrahtgenähten und Guttapercha mit Ledersohlen. Die Pflöcke und die Sohlen von „vegetabilischen Eisen“ (ein guter Ausdruck für Guttapercha) sind Erlöser für den alten Crispin, aber er möchte ihn lieber kreuzigen.

Die Schwefelholzmacher athmen tapfer in phosphorigter Säure den Tod der Kinnbacken ein, obgleich man längst aus unschädlich [290] gemachtem Phosphor gute Zündhölzer macht. Phosphor einer höhern, als jetzt üblichen Temperatur ausgesetzt, ändert seine Farbe und verliert die leichte Entzündlichkeit und Entwicklung der giftigen Säure. Dieser amorphische Phosphor, wie ihn, glaub’ ich, die Chemiker nennen, wird in der großen Fabrik von Sturge in Birmingham ausschließlich verarbeitet und von den schrecklichen Kinnbackenleiden hat sich seitdem keine Spur mehr gezeigt. Die von diesem Phosphor gemachten Hölzer entzünden sich nicht so leicht, als die andern, und bedürfen der Reibung auf sehr rauher Oberfläche; aber wenn dieser Nachtheil (in gewisser Beziehung eine Wohlthat, da die empfindlicheren Zündhölzer noch sehr lange die Luft vergiften) das Wohl von Tausenden bedingt, wird gewiß Jeder, der ein Licht oder eine Pfeife anzündet, gern etwas stärker reiben.

Die Gliederlähmungen der Vergolder werden mit der Zeit durch Elektricität, welche Meister in Vergolden ist, ganz geheilt werden. Was die Naturkraft umsonst macht, braucht die kostbarere menschliche Hand nicht auf Kosten ihres Eigenthümers zu thun, so daß menschliche Kräfte für höhere, gesündere Produktion frei werden.

Die Geschichte der Stahlschleifer-Krankheiten in England ist ein hartnäckiger Kampf von Seiten der Leidenden gegen ihr Wohl. Man versuchte magnetische Mundstücke, welche die feinen, scharfen Stahltheilchen von der Lunge zurückhalten, einzuführen. Die Schleifer empörten sich dagegen. Keiner wollte sich durch einen Maulkorb lächerlich machen, sondern lieber dreißig Jahre vor seinem Tod sterben. Man wolle nur ihren Wochenlohn herabsetzen, räsonnirten sie, denn wenn das Schleifen nicht mehr so viel Leben abschliffe, sei es nicht mehr so viel werth. Ganz logisch. Aber man sieht, bis zu welchem Zerrbilde der Industrialismus hier ausgebildet erscheint! – Jetzt macht man den Stahlstaub durch einen scharfen Luftzug zum Theil unschädlich, aber nur in wenigen Anstalten. In den meisten bestehen die Schleifer noch auf guten Wochenlohn und frühen Tod. Grimmig und tückisch sitzen sie vor ungeheuern Steinen, welche mächtige Dampfkraft mehrere tausend Mal in der Minute dreht. Manchmal giebt so ein Fels der Centrifugalkraft nach, berstet, wie von Pulver gesprengt und zerschmettert den Mann davor. Man führte starke eiserne Schilder zum Schutze der Leute ein, aber sie finden es in der Regel zu mühsam, sie zwischen sich und den Stein zu schrauben. So sitzen sie in Stahlstaub, alle Augenblicke gewärtig, zerschmettert zu werden. Aber sie sind’s „gewohnt“ und dann passirt ja auch nicht alle Tage ein Unglück. – Die Bergleute wissen, daß sie am Vielfältigsten in Gesellschaft des Todes arbeiten. Sie wissen, daß im Durchschnitt allein in England jährlich 30,000 Menschen verunglücken, obgleich längst alle Mittel bekannt sind, durch welche man jedes Jahr diese 30,000 retten könnte. Die Mittel kosten zu viel und neue Arbeiter kann man für dasselbe Geld, welches die Verschütteten u. s. w. kosteten, immer wieder haben. So denkt und räsonnirt der große Industrialismus und macht viel Geld dabei. Zwar haben die englischen Kohlenschachter eine Massenpetition an’s Parlament gerichtet, man möge etwas zu ihrer Sicherheit thun, dabei sind sie aber selbst wahre Fatalisten und verhöhnen die Davy-Lampen, welche die Entzündung „böser Wetter“ unmöglich machen. Manchmal brennt ihnen unten (bis 1260 Fuß tief) die Lampe nicht hell genug; so wird sie geöffnet und heller gemacht. Aber Du kannst Dich auf diese Weise zerschmettern, sagt man ihnen. „O gewiß,“ erwiedert er heiter, „aber sollen wir einmal ausgeblasen werden, geschieht’s doch. Das fragt dann nichts nach sonne Lampe.“

Das ist ruchlos. Woher kommt diese Ruchlosigkeit? Von Unwissenheit, verwahrloster Erziehung, hornhäutiger Abstumpfung. Die Leute sind nicht nur unwissend, sondern stolz auf ihre Verdummung und mißtrauisch gegen die Wissenschaft, von der sie keine Ahnung haben. Es ist leicht, auf die Arbeitgeber und Fabrikherren zu schimpfen, aber auch nicht schwer, zu sehen, daß die Schuld von tausendfachem Mord und Todtschlag in der fieberhitzigen Industrie von den Arbeitern stark getheilt wird. Wissen ist Macht, Bildung Leben, Einsicht Gesundheit, richtiges Eigeninteresse – Liebe und Humanität. Ohne unser Thema weiter fortzusetzen und zu klagen, wollen wir uns des richtigen Weges freuen, auf welchem wir alle gebildeten Völker thätig und produktiv erblicken. Ich habe diese Bemerkungen der Gartenlaube zugesandt, weil ich sie für das thätigste, tüchtigste Organ zur Verbreitung und Vervolksthümlichung des wirklichen, praktischen, produktiven Wissens und der wahren Macht halte. Wie die Gartenlaube Jeden, der da will, zu seinem eigenen Arzte und seiner eigenen Apotheke macht, wird sie im gesegneten Fortwirken im Stande sein, die bösen Geister aus den Stätten der Arbeit und Produktion vertreiben zu helfen, zunächst die bösesten aller Geister, die des Dünkels, der Stumpfheit gegen Neuerungen und Fortschritte, der stolzen Unwissenheit.

Die Gesellschaft der Künste in England schloß voriges Jahr das Jubiläum ihres hundertjährigen Bestehens mit Eröffnung von Discussionen und Untersuchungen über gewerbliche Krankheiten. Sie bildete einen besondern Ausschuß für weitere Verfolgung dieser Untersuchungen. Dieser setzte sich mit 375 andern, ähnlichen Gesellschaften zu diesem Zweck in Verbindung, welche nun alle daran arbeiten, von Tausenden verschiedenen Gewerbtreibenden selbst Erkundigungen einzuziehen und eine Grundlage für positive Maßregeln zu gewinnen. In England gilt es hauptsächlich, die arbeitenden Klassen mit den Mitteln gegen ihre Uebel bekannt zu machen und sie von deren Nutzen zu überzeugen. In Deutschland wird dies, Gott sei Dank, im allgemeinen nicht nöthig sein, da es von dem Grundübel Englands, der Bornirtheit und Verwahrlosung der arbeitenden Klassen durch gute Schulen und ein der Wissenschaft und Kunst längst befreundetes Volk sich mehr und mehr befreit. Aber das Feld der Wirksamkeit liegt auch hier noch sehr unkultivirt. Nennen Sie jeden Spatenstich, der hier geboten wird, willkommen.

Ich bemerke nur noch, daß die Gesellschaft der Künste Ausstellungen der Mittel zur Verhütung gewerblicher Krankheiten und Beseitigung der Krankheitsursachen vorbereitet und nächsten Mai mit einer öffentlichen Sammlung von Mitteln und Instrumenten, deren Zweck Erhaltung und Schutz des Auges ist, beginnen wird.




Ein deutscher Bauer.
Ein Lebensbild.
„Es bildet ein Talent sich in der Stille, 
Sich ein Charakter in dem Strom der Welt.“ 
Goethe. 

Vor einiger Zeit lasen wir in deutschen und französischen Blättern die Entwicklungsgeschichte des Haarkräuslers und Dichters Jasmin aus Agen im mittäglichen Frankreich und stolz warf dabei ein französisches Blatt mit vielem Selbstgefühl die Frage auf, ob unter einer anderen Sonne und unter einem anderen Himmel als denen der duftigen Provence eine solche Geistesblüthe gedeihen könne. Nicht lange darauf fanden wir in einem englischen Athenäum preisend erzählt die Geschichte eines walliser Landmannes, der vor kurzer Zeit gestorben, und in dessen Nachlaß man mehrere von ihm herrührende Handschriften, welche Erläuterungen classischer Werke, wie die des Plato, des Herodot, des Sophokles, des Livius, Seneca, Plinius, enthielten, entdeckt habe. Freue dich, stolzes England! rief am Schluß der Erzählung das Athenäum aus, Männer zu besitzen, die ebenso das Feld der Wissenschaft wie ihren Kornacker bebauen und so, den Landbau und die Beschäftigung mit den Wissenschaften vereinigend, jene Stufe des Glückes erreichen, von der Virgil und Horaz so oft geträumt, die sie so oft in ihren Liedern gefeiert.

Nach diesen Vorgängen wird es mehr als gerechtfertigt erscheinen, wenn wir in Nachfolgendem dem Gedächtniß eines deutschen Mannes einen Denkstein setzen, den Manen eines deutschen Bauers, der, herangewachsen unter dem rauhen kalten Himmel und zwischen den düsteren Tannen- und Fichtenwäldern des Voigtlandes, sich einen Ruf erwarb, welcher selbst durch das Waffengetöse jenes schrecklichen Krieges, der dreißig Jahre lang unser Vaterland von der Ostsee bis zur Donau und zum Rhein mit Schlachtenlärm [291] und Schrecknissen jeglicher Art erfüllte, bis zu den fernsten Gauen Deutschlands, in die goldnen Zimmer der Fürstenhöfe, wie in die weiten Säle der Hochschulen drang, und des Mannes Werth laut verkündete. Und das zu einer Zeit, wo außer jenen äußern Drangsalen, von denen Deutschland heimgesucht wurde, Verkehr und Mittheilung unter den verschiedenen Theilen Deutschlands so darniederlag, wo es weder Zeitungen, noch Eisenbahnen und Telegraphen gab, man zu einer Messe von Leipzig nach Frankfurt a. M. vierzehn Tage brauchte und die Briefpost trotz der schon in’s Leben getretenen Einrichtung des Franz von Taxis noch meistentheils durch Metzger, Roßkämme und sonstige wandernde Handelsleute besorgt wurde. - In dieser Zeit, am 20. Januar 1606, wurde Nikolaus Schmidt-Künzel, das ist der Name dieses einst hochgefeierten Mannes, zu Rodenacker, einem voigtländischen Dorfe, unweit der Städte Hof, Schleiz und Hirschberg, von einfachen, schlichten Bauersleuten geboren. Es ist eine seltsame Wahrnehmung, daß fast alle die Männer, deren Leben fruchtbringend und segensreich für unser Geschlecht geworden, aus der niederen Hütte des Bauers oder der Werkstätte des Bürgers hervorgingen. Wie wenige von denen, deren Namen mit goldenen Buchstaben auf den Blättern der Geschichte als Wohlthäter der Menschheit aufgezeichnet, wurden auf den Höhen des Lebens geboren, die Wiege wie vieler jener großen Eroberer auf dem friedlichen Feld der Wissenschaften, der Künste, des Gewerbfleißes war umringt von den häuslichen Sorgen, der Noth und dem Mangel der Aeltern.

So auch bei Nikolaus Schmidt-Künzel, der schon als zarter Knabe die Hirtengeißel schwingen und des Vaters kleine Heerde auf den Waldwiesen hüten mußte. Sich selbst überlassen, von einem brennenden Wissensdurst, den die Natur in des Knaben Brust gepflanzt, gequält, lag er bis zu seinem sechzehnten Jahre, seine Rinder hütend, unter den Tannen der Waldwiesen und träumte, er, der weder lesen noch schreiben konnte, wie er sich Kenntnisse und Wissenschaft erwerbe. Aber wie die erlangen, da das heimathliche Dorf weder eine Schule besaß, noch die häuslichen Umstände der Aeltern die Ertheilung eines Unterrichts gestatteten? Ein Dienstjunge, welchen sein Vater dingte, sollte der werden, welcher ihm die ersten Anfangsgründe des Wissens beibrachte, und ihn so die Laufbahn eröffnete. Dieser Knabe, aus einem anderen Dorfe gebürtig, hatte in der Winterschule dürftig lesen gelernt und wurde nun, indem er Künzel die Buchstaben erklärte, sein erster Lehrer. Mit einer glühenden Begierde bemächtigte sich Nikolaus des kleinen lutherischen Katechismus, den ihm der Knabe einst mitbrachte und sein Eifer, sein Wissensdrang war so stark, daß er in wenigen Wochen lesen lernte. Wohl murrte und schalt darob der Vater, der den Sohn lieber auf der Tenne und auf dem Acker, als hinter dem Buch sah, aber wenn es ihm nicht am Tage gestattet war zu lesen und zu lernen, so wachte er dafür bis spät in die lange Winternacht hinein und der helle Mondschein, der in klaren Nächten durch das Fenster seiner Kammer fiel, war oft die einzige Leuchte, bei der er in der Bibel und in einem alten lateinischen Katechismus las und studirte. Denn das ist eben das Besondere in dem Leben dieses merkwürdigen Mannes, daß er, der schlichte Bauerssohn, der weder je eine Gelehrten- noch eine Hochschule besucht, sich nicht blos mit der Kenntniß des für den gemeinen Mann Hinreichenden begnügte, sondern immer rastloser, unermüdlicher nach weiterer, tieferer Wissenschaft strebte und als Selbstgelehrter (Autodidakt, aus dem Griechischen abgeleitet von αὐτός selbst und διδάσκειν lehren) nicht nur das Lateinische und Griechische, sondern auch die reiche Sprachfülle des Orients, das Hebräische, Syrische, Arabische, Armenische, Persische, Aethiopische, Aegyptische, Abyssinische, Türkische, Chaldäische sich nach und nach aneignete. Es würde hier zu weit führen, aus einander zu setzen und zu erzählen, auf welche oft mühselige und seltsame Weise er sich die nöthigen Bücher, und oft so mangelhaften Hülfsmittel zu verschaffen wußte, mit welchem Bienenfleiß er überall her diese Sprachschätze holte, wie er von leiblicher Anstrengung hinter dem Ackerpflug ermüdet, des Abends beim brennenden Kienspahn die Grammatiken berühmter Sprachforscher, die Bücher über morgenländische Literatur studirte, wie er während des Dreschens zur Winterzeit sich die fremden, wunderlichen Schriftzeichen der morgenländischen Sprachen mit Holzkohle an die Lehmwände der Scheune malte und so bei harter, körperlicher Arbeit sich im Erlernen derselben übte – nur so viel sei hier bemerkt, daß er nach wenigen Jahren der meisten todten und lebenden Sprachen mächtig war und sich, wenn auch nicht immer gelehrt und elegant, doch verständlich in den meisten schriftlich und mündlich ausdrücken konnte. Gewiß eine seltne Merkwürdigkeit bei einem Bauer, der Alles, was er wußte, durch sich selbst wußte. –

Aber ein Mann, der mit solchem Feuereifer erfüllt ist, konnte nicht blos bei der Sprachkunde stehen bleiben. Nachdem er die Formen inne hatte, in welchem sich der Gedanke ausdrückt und der Stoff kleidet, wollte er sich des letzteren selbst bemeistern, und er fing an, sich mit der Erdbeschreibung, der Kenntniß fremder Sitten und Völkerschaften, mit den Lehren der Tonkunst und Erlernung des Orgelspiels, mit der Arzneikunde, mit der Stern- und Witterungskunde zu beschäftigen. – Daß er es nicht in allen diesen Wissenschaften bis zur Meisterschaft, wie z. B. in der Sprachkunde bringen konnte, wird man leicht begreifen, wenn man erwägt, daß der unermüdliche Mann niemals den Bauernkittel ablegte und so zu sagen, während er hinter dem Pflug hergehend, den Saamen in die Furchen seines Ackers streute, auch zugleich den Saamen auf das Feld der Wissenschaft säete. Aber doch erreichte er in manchen Zweigen, wie z. B. in der Arzneikunde, eine solche Stufe, daß er weit und breit, von Niedrig und Hoch als Arzt gesucht und angerufen wurde. Die Erfolge seiner Kuren waren meistens günstig, und für das arme, geplagte Landvolk, welches zu den Zeiten jenes schrecklichen 30jährigen Krieges von Seuchen und Krankheiten aller Art heimgesucht wurde, und welches von unwissenden Charlatanen, Juden, Zigeunern, alten Weibern und Scharfrichtern behandelt wurde, war ein wissenschaftlich gebildeter Arzt, wie Nikolaus Künzel, ein segenbringender Helfer. Damals, wo Glasscherben von zerbrochenen Kirchenfenstern, Wolfsaugen, Metallstaub und Wurzeln, denen man gewisse Zauberkräfte beilegte, Kleidungsstücke von durch Henkershand Umgekommenen, die üblichsten Heilmittel waren, war es freilich ein bedeutender Fortschritt, wenn Nikolaus Schmidt-Künzel mit aus Kräutern, deren Bestandtheile er chemisch untersucht, bereiteten Arzneien die Krankheiten zu bekämpfen suchte. In der Astronomie aber und in der Wetterkunde leistete er Bedeutendes und seine Kalender, die im Jahre 1653 zu Nürnberg mit kaiserlicher und chursächsischer Freiheit erschienen, waren weit und breit im deutschen Reich berühmt. Doch schon lange, bevor er diesen Kalender herausgab, hatte sein Name im deutschen Land einen guten, hellen Klang. Auf einer Reise nach Nürnberg, wohin er nach Verlust seiner mühsam erworbenen Bibliothek, die ihm von Kroaten und Wegelagern geplündert, mit Empfehlungen an die berühmten Gelehrten M. M. Dillserus und Saubertus, Bibliothekaren der alten, freien Reichsstadt, ging, kam er mit den bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit zusammen, und mit hoher Bewunderung sahen der große Crinesius von der Universität zu Altorf, Dillserus und Saubertus und andere am deutschen Gelehrtenhimmel hellglänzende Sterne den voigtländischen Bauer in dem dunklen, einfach gefärbten Kittel, darunter das wollene Hemd und Wams, den ledernen Hosen, rothen Strümpfen und großen, ledernen Bundschuhen, mit dem dreieckig aufgestülpten Filzhut, dem Spitzbärtchen, nach damaliger Gelehrtenmode, im Gesicht und den langen Stecken in der Hand vor sich stehen, um sich mit ihnen über die Sprachen des classischen Alterthums und des Morgenlandes, über alle Gegenstände der Kunst und Wissenschaft zu unterhalten. „Tam vile hospitium animae elegantis mirati sumus.“ (Wir wunderten uns über die unansehnliche Hülle eines so feinen Geistes) ruft einer jener Gelehrten in einem seiner Berichte erstaunt über ihn aus. –

Aber von dieser Reise datirt sich auch sein Ruf als deutscher Gelehrter. Oeffentlich wurde ihm von jenen ausgezeichneten Vertretern deutscher Wissenschaft der Name: Der gelehrte Bauer zugelegt und er unter dieser Ehrenbenennung in die deutsche Gelehrtenrepublik eingeführt. Doch nicht allein die Gelehrten von Fach, sondern auch die Kunst und Wissenschaft liebenden Fürsten seiner Zeit ehrten und achteten ihn. An dem Fürstenhof zu Weimar, der, wie später, auch damals in jenen wilden Zeiten, wo die Musen erschreckt von dem Klang der eisernen Waffen sich verbargen, deutscher Kunst und Wissenschaft einen sicheren Zufluchtsort bot, wurde Nicolaus Schmidt-Künzel von dem tiefgebildeten, trefflichen Herzog Ernst mit der größten Anerkennung aufgenommen, und oft sah man Herzog Ernst und den oft in Weimar weilenden gelehrten Fürst Ludwig von Anhalt in eifrigem Gespräch über Kunst und Wissenschaft, mit dem Bauersmann in einfachem leinenen Kittel, den er nie mit anderem prunkenden Gewand [292] vertauschte, wie er auch nie den Pflug, der ihm und seiner Familie den Lebensunterhalt gab, mit irgend einer anderen Handthierung wechselte. Von Weimar ging er an den Fürstenhof nach Schlackenwerthe in Böhmen und später an den churfürstlichen Hof nach Dresden, wo Churfürst August durch seinen Lehrer, den berühmten Rivius, eingeweiht in die Sprachkunde des Morgenlandes, ihn mit vielen Gunstbezeugungen empfing und sich von ihm unter Anderem auch ein Buch schreiben ließ, welches die Schriftzeichen von dritthalbhundert verschiedenen Sprachen und Schriften enthielt.

Ein seltenes Bild; drei gekrönte Häupter in lehrreichem Gespräch mit einem schlichten Bauer, diesen Bauer zur Seite der Fürsten, die umgeben von zahlreichem, glänzendem Hofstaate den Worten des Landmanns lauschen, Purpurmantel und Bauernkittel sich begegnend auf gleichem Weg, in gleichem Streben!

Doch wir vermögen nicht in dem engen Rahmen unseres Bildes all’ die Momente eines so reichen Lebens aufzunehmen und wollen die Skizze hier schließen. Freilich liegen drei Jahrhunderte zwischen unserer und der Zeit, in welcher der gelehrte Bauer Nicolaus Schmidt-Künzel lebte und wirkte, aber wir wissen nicht warum wir nicht das Bild des Mannes wieder in der Erinnerung auffrischen sollten, der einst eine so würdige Stelle in der Gelehrtenwelt eingenommen. Wenn den französischen Dichter Jasmin die goldene Sonne der Provence, ihr tiefblauer Himmel und die von Meereswind rauschenden Olivenbäume begeistern und zum Dichter konnten werden lassen, wenn dem walliser Landmann Wohlhabenheit und die so unendlich seit jener Zeit vorgeschrittene Bildung unseres Jahrhunderts gestatteten sich das tiefere Verständniß der beiden berühmtesten classischen Sprachen zu erwerben – so war es bei dem deutschen Bauer der unserer Nation eigene Forschungs- und Wissenstrieb, von der Natur tief in seine Brust gepflanzt, der ihm die köstlichsten Schätze der Wissenschaft finden ließ, der harten Erdscholle mühsam seine Nahrung abgewinnend, von den Fürstenhöfen, wo er geehrt, von den gelehrten Zusammenkünften, wo er geglänzt, immer wieder in sein heimatliches Dorf zurückkehrend und frei von Eitelkeit und Geldgier sein Wissen nur aus Liebe zur Wissenschaft immer und immer vermehrend - das war das Leben dieses deutschen Bauers.

Verdient er es nicht neben dem Franzosen und dem Engländer genannt zu werden, vielleicht weil der Prophet im eigenen Vaterlande am Wenigsten gilt?

K. W. 




Blätter und Blüthen.
Aus dem Skizzenbuche eines sächsischen Auswanderers.
2. Was ein Jäger erzählt.[2]

Als ich im Herbst 1854 auf dem Dampfschiff „Stern des Westens“ einen großen Theil des Missisippi befuhr, das sehr häufig an den Ufern anlegt, um Reisende auszusetzen und einzunehmen, wurde ich mit einem Ansiedler aus Texas bekannt, der gleich mir mehrere Tage auf dem Dampfer blieb, und seinen Erzählungen nach einer der größten Jäger sein mußte. Er sprach sehr gern und sehr oft von seinen Abenteuern, vorzüglich, wenn er einige Gläser steifen Grogs getrunken hatte. Namentlich erinnere ich mich einer seiner Jagdgeschichten, die er an einem Abende drei Gruppen von Reisenden nach einander in folgender Weise erzählte:

„Ich befand mich zum Besuch bei einem Freunde. Sie alle wissen, daß wir Pflanzer sehr passionirte Jäger sind und werden sich also nicht wundern, daß wir, mein Freund und ich, den ganzen Tag mit den Büchsen umherliefen. Eines Morgens war ich allein ausgegangen, schlenderte an dem Saume einer Waldes hin und stieß auf eine Herde Pekaris. Damals kannte ich den boshaften, rachsüchtigen, niederträchtigen Charakter dieser verfluchten wilden Schweine noch nicht, welche in Texas heute noch häufig hier und da eine wahre Landplage sind. Ich schoß also unkluger Weise nach Einem und es blieb auf dem Flecke liegen. Sogleich stürzten die übrigen mit ihren scharfen Hauern auf mich zu und wollten über mich herfallen. Da ich keine Zeit hatte, mein Gewehr wieder zu laden, so drehete ich es um und schlug mit dem Kolben unter meine Feinde, aber sie haben so dicke Schädel, daß meine kräftigsten Hiebe nichts ausrichten und ich wirklich schlimm in das Gedränge kam. Zum Glück stand ein Baum ganz in der Nähe, der einen Ast ziemlich tief über mir ausstreckte. Als ich mich nicht anders mehr zu retten wußte, sprang ich empor, faßte glücklich den Ast und zog mich auf denselben mit beiden Händen hinauf.

„Vor der Hand war ich freilich in Sicherheit, aber mein Sitz da oben ein höchst unbequemer. Es verging eine Stunde, es vergingen zwei, drei Stunden, keine Hülfe zeigte sich, und meine böswilligen Feinde schienen mich auf dem Baume belagern zu wollen, denn sie wichen und wankten nicht von der Stelle. Da fuhr mir endlich ein Gedanke durch den Kopf; „vielleicht sucht mich mein Freund,“ sagte ich mir; „wenn ich einmal schieße, wird er hören, wo ich bin und zu meiner Befreiung herbeikommen. Wenn ich aber so Nothschüsse abfeuere,“ dachte ich weiter bei mir, „könnte ich ja mein Pulver zugleich in anderer Weise gut anwenden, nämlich eins oder das andere der fanatischen Schweine niederstrecken.“ Gedacht, gethan. Ich lud meine Büchse, und das stärkste der Pekaris wälzte sich gleich darauf in seinem Blute unter dem Baume. Hat man einmal einen guten Gedanken gehabt, so folgen ihm bald andere. „Ich habe zwanzig Kugeln bei mir,“ sagte ich mir, „und lebendig sind nur noch neunzehn Bestien. Nichts leichter als sie alle neunzehn zu erlegen.“ So lud ich denn und schoß, und bei jedem Siege rief ich ein lautes Hurrah. Dieses fortwährende Knallen rief denn wirklich meinen Freund herbei, und er erschien vor mir in dem Augenblicke, als das letzte Schwein unter meiner Kugel gefallen war. Sie können sich vorstellen, wie er staunte, als er sah, welches Blutbad ich angerichtet hatte.“

Nach einer Viertelstunde erzählte mein Texaner einer andern Gruppe sein Abenteuer mit den Pekaris ebenfalls; zu meiner Verwunderung aber in folgender Weise:

„Auf dem Baume saß ich. Eine Stunde verging, es vergingen zwei, drei Stunden, keine Hülfe zeigte sich; meine Kräfte waren erschöpft und mein Muth fast gebrochen. – Ich suchte mich bequemer zu setzen, verlor aber das Gleichgewicht und fiel. Zum Glück ließ ich geschwind mein Gewehr los und konnte mit der rechten Hand noch einen Ast des Baumes fassen. Da hing ich nun und, wie gesagt, ich war so erschöpft, daß ich mich nicht hinaufzuziehen vermochte. Meine Füße waren vielleicht sechs Fuß von dem Boden entfernt, und wenn der Dahängende ich nicht selbst gewesen wäre, würde ich laut aufgelacht haben über die häßlichen Pekaris, die sich komische genug ausnahmen, denn sie standen rund um meine baumelnden Beine herum und versuchten empor zu springen, sie zu fassen. Zum Glück blieben alle ihre Bemühungen vergeblich, und ich hielt mich für gerettet, wenigstens in so weit, daß sie mich nicht fassen konnten, aber – wer kann sagen, wie weit der Instinkt der Thiere geht? Sie glauben wahrscheinlich nicht, was ich Ihnen erzählen will, aber, so wahr ich ein ehrlicher Texaner bin, es ist buchstäblich wahr. Einige der Pekaris legten sich platt auf den Bauch; auf den Rücken der Daliegenden stieg das größte der häßlichen Schweine, stellte sich auf die Hinterbeine und schnappte nach meinen da baumelnden Füßen. Es faßte den Absatz meines rechten Stiefels, und ich stieß nun aus Leibeskräften mit dem linken, aber ich wäre doch gewiß verloren gewesen, wenn mein Gegner auf dem Rücken der Seinigen einen festern Stand gehabt hätte. Die unter ihm Liegenden erhoben sich quiekend und grunzend, drängten sich hinweg, und mein entsetzlicher Feind – denken Sie sich! – blieb mit den Hauern an meinem Stiefelabsatz ebenfalls in der Luft hängen. Die Last, die ich zu tragen hatte, war für mein Bein zu groß; ich schwitzte Blut; denn ich sah den Augenblick schon vor mir, in dem ich den Ast würde loslassen und mich meinen Feinden übergeben müssen. Da fiel plötzlich ein Schuß; ich erschrak, ließ los und fiel auf das Pekari hinunter. Gott sei Dank, es war todt. Mein Freund war noch zu rechter Zeit gekommen und hatte das da Hängende erlegt. Blitzschnell griff ich nach meiner daliegenden Büchse; wir schossen beide unter die Heerde und errangen bald einen vollständigen Sieg über die Feinde. Fünfundzwanzig Pekaris blieben auf dem Platze.“

Einem Kentuckier, der später auf das Schiff kam, wo mein Texaner Jagdfabeln zu erzählen versuchte, theilte er sein Abenteuer mit den Pekaris in folgender Weise mit, um den Aufschneider durch Wahrheitsliebe zu beschämen:

„Es verging eine Stunde, zwei, drei Stunden vergingen und keine Hülfe erschien. Ich fühlte, daß meine Kräfte abnahmen. – Ich hätte wohl versuchen können, die Pekaris zu erlegen, aber ich hatte meine Büchse wegwerfen müssen als ich den Baum erkletterte. Was war zu thun? Ich wollte mich der Verzweiflung überlassen, mitten unter die Belagerer springen und mich durchzuschlagen versuchen, als plötzlich mein Freund vor mir erschien. Sobald er erkannte, in welcher peinlichen Lage ich war, legte er, ohne an die eigene Gefahr zu denken, auf das größte der Pekaris an, drückte ab und streckte es nieder. Alsbald kehrte sich die ganze Heerde unter dem schauerlichsten Grunzen gegen ihn. Der Trieb der Selbsterhaltung veranlasste meinen Freund, mein Beispiel nachzuahmen; er kletterte nämlich auf den ersten besten Baum. Während nun die Pekaris unter dem Baume lauernd standen, auf den mein Freund sich geflüchtet hatte, kletterte ich vorsichtig von dem meinigen herunter, nahm meine Büchse, lud sie und streckte Eines der Pekaris nieder. Natürlich stürzten sich alle Uebrigen sofort nach mir, ich aber schwang mich rasch wie ein Eichhörnchen wieder auf meinen Ast. Mein Freund kletterte nun von seinem Baume, nahm seine Büchse, schoß einen Feind nieder und flüchtete zurück auf den Baum. Ich stieg wieder herunter, lud, streckte noch ein Pekari nieder, wurde wieder verfolgt, gelangte aber von Neuem glücklich auf den Baum. Warum sollte ich Ihnen die Sache weiter ausmalen, die so einfach ist; genug, das Manöver wurde sowohl von mir, als von meinem Freunde funfzehn Mal wiederholt; denn die dummen Thiere liefen jedes Mal nach dem hin, welcher zuletzt geschossen hatte. Als alle gefallen waren, zählten wir: es lagen richtig funfzehn an meinem und funfzehn an dem Baume meines Freundes.“


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Vergl. Gartenlaube Nr. 46 von 1854.
  2. Laut Register: Teil 3 der Reihe.