Die Dioskuren der Berliner Hofbühne

Textdaten
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Autor: Oswald Hancke
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Titel: Die Dioskuren der Berliner Hofbühne
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 549–554
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[549]
Die Dioskuren der Berliner Hofbühne.
Von Oswald Hancke.


„Also frisch gebeichtet, süßer Döring, wie war das gestern Abend mit dem Bouquet?“ Der also Angeredete nimmt eine gewaltige Prise, der ein unbeschreibliches Verrücken der Nase in ihrem unteren beweglichen Theile folgt.

„Aber, liebe Frieb, Sie werden mich doch nicht für fähig halten, daß ich selbst –“

„Still! Alle Indicien sind gegen Sie. Vorgestern, wo der kleinen B. zehn Bouquets geworfen wurden, spielen Sie den [550] Entrüsteten, sprechen von verwerflichen Mitteln, mit denen die jüngere Generation Reclame macht, und dabei lassen Sie sich gestern selbst Blumen werfen? Pfui, Döring! Das hätte ich von Ihnen nie geglaubt.“

„Minona, ich schwöre Ihnen bei dem Wohle Ihrer Kinder –“

„Ach was, schwören Sie doch bei Ihren eigenen Kindern, wenn Sie schon Meineide schwören müssen!“

„Aber, liebe Frieb, ich habe wirklich nie welche gehabt, und was das gestrige Bouquet anbelangt, so vermuthe ich irgend einen schlechten Witz, den sich einer von Euch Schurken mit mir erlaubt hat – sehen Sie, Sie lachen – wer war denn wieder der Anstifter?“

„Ich lache, weil mir die furchtbar komische Verbeugung einfällt, die Sie dem Publicum mit dem Bouquet machten. Im Uebrigen werden Sie wohl aus der allgemeinen Entrüstung aller Collegen entnommen haben, wie wir über diese verwerflichen Manipulationen Ihrerseits denken,“ setzte sie dann schalkhaft lächelnd hinzu und gestand damit ein, daß sie mit im Complot gewesen. „A propos, wie gefiel Ihnen der neuengagirte Herr X. heute auf der Probe?“

„Nun, wissen Sie, liebe Frieb, der Mensch ist nicht ohne Talent, aber es fehlt ihm das unentbehrliche Tüpfelchen auf dem I. Da drinnen“ – und des Redners Hand schlägt auf die breite Brust – „da drinnen sitzt nichts und hier oben“ – er schlägt mit dem Zeigefinger ein Tremolo auf der rechten Stirnseite, wo die noch immer jugendlich dunklen, zierlich vom Hinterkopfe nach vorn gekämmten Haare eine intriguante Ecke bilden – „hier oben fehlt’s auch. Brustkrank, liebe Frieb! Ich sage Ihnen“ – und die Hand Döring’s senkt sich mit ausgespreizten Fingern auf die Schulter der berühmten Collegin – „der Kerl ist langweilig – lang-wei-lig,“ wiederholt er mit lauter Stimme und jedes Wort scharf markirend dicht vor dem Ohre der Dame.

Sie lächelt und sagt mit dem Tone der Geheimräthin Seefeld in Benedix’ Störenfried: „Er scheint aber ein fleißiger Mensch zu sein, Döring; wenigstens wußte er auf der Probe, was er wollte, und konnte seine Rolle à la bonheur, wohingegen Sie in unserer großen Scene im zweiten Acte nicht so ganz, wie soll ich sagen –“

„Lustspiel, liebe Blumauer, Conversationston; ja, wenn ich immer alles das dumme Zeug nachsprechen sollte, was diese Herren Stückfabrikanten schreiben, dann adieu Wirkung! Wenn ich aber als Brömser im ‚Lustspiel‘ im letzten Acte den Monolog nach meiner Uebersetzung spreche –“

„Ich hatte bereits mehrfach und erst gestern Abend wieder die Ehre, diesen Monolog von Ihnen zu hören, aber heute sprachen Sie einige Male gar nicht, guter Döring, und Sie müssen mich in meiner großen Rede a tempo unterbrechen, sonst –“

„Ja, liebe Freundin, das hatte nun seinen guten Grund,“ erwidert der Künstler mit schlauem Lächeln, „das ist eben die wunderbare Discretion in meinem Spiele; ich hätte nicht um Venedig die Wirkung Ihrer Rede stören mögen – aber jetzt muß ich noch eine halbe Stunde zu Lutter; ich sage Dir, Minona, der Kerl hat einen 1862er Latour – Milch – Milch“ – und ein seliges Augenblinzeln, das eine Thräne höchsten Entzückens zerdrückt, verklärt die Züge des Künstlers. –

Mit Recht darf man Theodor Döring und Minona Frieb-Blumauer, die wir dem Leser Beide in etwas drastischer Weise vorstellen, die Dioskuren der Berliner Hofbühne nennen, denn selten haben zwei geistesverwandte Künstler Gelegenheit gehabt, durch langes Neben- und Miteinanderwirken sich so in die gegenseitige Individualität einzuleben und dadurch das Zusammenspiel zur höchstmöglichen Naturwahrheit zu erheben, wie die Genannten.

Wer so glücklich gewesen ist, beide Künstler in der Ausübung ihres Berufes gesehen zu haben, wird einen bleibenden Eindruck für sein ganzes Leben empfangen haben, und es ist eine unbestreitbare Thatsache, daß seit Decennien fast jede dramatische Novität des Berliner Hoftheaters, in der Theodor Döring und Frau Frieb-Blumauer in hervorragender Weise gemeinschaftlich agirten, des Erfolges sicher ist, auch wenn sie minderen Anspruch auf dramatischen Werth machen darf. Benedix’ „Störenfried“ z. B., der es an den meisten deutschen Bühnen höchstens zu einem „Erfolg der Achtung“ brachte, wurde in Berlin durch die Meisterleistungen unserer beiden Künstler als Leberecht Müller und Geheimräthin Seefeld zu einem dauernden Repertoirestücke dieser Bühne, und es wäre leicht, zwei Dutzend solcher Beispiele anzuführen.

Beide Künstler ähneln sich darin, daß sie den Rollenkreis des sogenannten Charakterfachs im ernsten wie im heiteren Genre mit gleicher Genialität umfassen, wie es die Repertoires Beider beweisen. Noch heute ist der „Nathan“ des mehr als siebenzigjährigen Döring eine unerreichte dramatische Leistung, und wer seinen „Banquier Müller“ kennt, den er in seiner ganzen Eigenart geschaffen und mehr als vierhundertmal darstellte, wird sich bei dem bloßen Gedanken an diesen originellen Kauz eines herzlichen Lachens nicht erwehren können. Die tragische Kraft eines „Lear“ liegt ebenso sehr in dem Bereiche seiner Begabung, wie die ätzende Schärfe eines „Mephistopheles“, und der liederliche und versoffene „Sir John Falstaff“, den Döring zehnmal öfter als irgend ein anderer deutscher Schauspieler darstellte, findet in ihm einen ebenso trefflichen und mustergültigen Vertreter, wie der aus der niederen bürgerlichen Sphäre gegriffene „Commissionsrath Frosch“ in Kotzebue’s „Der Verschwiegene wider Willen“.

In gleichem Maße finden wir diese Vielgestaltigkeit in dem Repertoire der Frau Frieb-Blumauer. Heute spielt sie die alte Herzogin von York in „Richard der Dritte“, morgen die geradezu zwerchfellerschütternde „Madame Freude“ in „Die Unglücklichen“. Mit tiefem Gefühle und edler Repräsentation stellt sie heute die unglückliche Königin Maria Leszczynska in Brachvogel’s „Narciß“ dar und morgen in bezaubernder bürgerlicher Einfachheit und Herzlichkeit die Oberförsterin in Iffland’s „Die Jäger“. Die classischen Gestalten einer „Daja“ und „Amme“ (Romeo und Julie) athmen bei aller Schärfe der Charakteristik in der Darstellung der Frau Frieb-Blumauer eine bezaubernde Decenz, und selbst in den gewagten Figuren einer Madame Hersch im „Kammerdiener“ etc. weiß die Künstlerin mit wahrhaft bewunderungswürdigem künstlerischem und weiblichem Tacte die Grenzen des ästhetisch Schönen innezuhalten.

Aber wir sind nicht berufen, an dieser Stelle biographisches Material zusammenzuhäufen und Bäume in den Wald zu tragen, das heißt hier noch einmal die eminente und allseitig anerkannte Künstlerschaft Beider in ihrem Berufe zu constatiren. Nur auf ihr Thun und Gebahren hinter den Coulissen wollen wir den Leser einen Blick werfen lassen, und auch das verlohnt sich wahrlich der Mühe.

Wenn wir der Bühnentradition Glauben schenken dürfen, so hat eine frühere Epoche der Schauspielkunst eine große Anzahl von Bühnenoriginalen gezeitigt, die nach und nach ausstarben und deren Andenken höchstens noch in den ihnen nacherzählten Anekdoten unter den Jüngern Thalias lebt; nur höchst selten, in einem blassen Abklatsche, finden wir unter der jüngeren Generation noch einzelne Exemplare dieser Species vertreten – die Zeit scheint ihrer Existenz nicht mehr günstig zu sein. Aus Döring’s eigenem Munde, der auf mehr denn fünfzig Jahre bewegten Bühnenlebens zurückblickt, haben wir in drastischer Schilderung einige dieser Originale aus früherer Zeit kennen gelernt; er selbst aber darf in seiner ganzen Art den Anspruch höchster Originalität machen, ja, es ist unleugbar, daß die Mythe bereits anfängt, das Haupt Döring’s mit einem Anekdotenkranz zu schmücken, von dessen überwiegender Anzahl von Blättern man sagen darf: „Wenn es nicht wahr ist, ist es doch gut erfunden“.

Döring beherrscht auch im Leben und außerhalb der Bühne alle seelischen Empfindungen in ihrem äußeren Ausdrucke mit staunenswerther Genialität, und die außerordentliche Lebhaftigkeit seines Temperaments giebt ihm jeden Augenblick Veranlassung hierzu. Die geringfügigste Gelegenheit zeigt ihn uns in allen Abstufungen des Aergers, des Zornes und der höchsten Wuth, und gerade weil eine Veranlassung hierfür nicht vorliegt, erreicht er auf seine Umgebung die umgekehrte Wirkung, nämlich die unendlicher Heiterkeit. Ich erinnere mich einer Faust-Vorstellung im Berliner Opernhause, wo eine mit den hier üblichen offenen Verwandlungen nicht vertraute Souffleuse nach einer Scene Mephisto-Döring’s das Verwandlungszeichen zu früh gab, und Döring über versinkende Büsche und unter seinen Füßen sich öffnende gähnende Abgründe hinwegtanzen mußte und nicht ohne Gefahr in die Coulisse gelangte. Es ist wahr, alle Augenzeugen waren anfangs erschrocken, als aber Döring plötzlich hinter den Coulissen niederkniete und mit höchster Emphase ausrief:

[551] 

Minona Frieb-Blumauer und Theodor Döring.
Letztes Bild des jüngst verstorbenen Paul Bürde in Berlin.

[552] „Herr Gott, ich, danke Dir, daß Du diesem Weibe (er meinte die Souffleuse) keine Kinder gegeben hast – sie würde Mörder zur Welt gebracht haben“ – da blieb „kein Auge thränenleer“ und er selbst lachte zuletzt mit. Am nächsten Morgen, wo eine Probe stattfand, war ich heimlicher Zeuge, wie Döring die „mörderische“ Souffleuse abstrafte. Sie nahte sich mit leidender Miene und geknicktem Wesen und stammelte eine Entschuldigung. Er sah sie stumm, aber mit zornfunkelnden Augen an. Der leidende Ausdruck in ihrem Gesichte nahm zu.

„Was haben Sie denn?“ fragte er endlich mit verhaltenem Ingrimm.

„Ach, ich bin so erschöpft, Herr Döring; Sie wissen ja, meine Collegin ist krank, und nun tagtäglich der anstrengende Dienst – wenn ich nur nicht auch krank werde!“

„Um Gotteswillen, das fehlte gerade noch! Weib, haben Sie denn Fleischextract zu Hause?“

„Nein, wozu das?“

„Zur Stärkung. Hier nehmen Sie einmal das Geld“ – und mit zitternden Händen öffnet er sein riesengroßes Portemonnaie – „und kaufen Sie sich nach der Probe sofort Fleischextract – ein Theelöffelchen, Liebe, in Bouillon gerührt – vortrefflich!“ Die Finger senken sich in die große goldene Dose, die er von Stawinsky geerbt, behaglich führt er den feinen französischen Schnupftabak zur Nase, deren Spitze zweimal die bekannte Wendung nach rechts macht – und aus war die Geschichte.

Der Name des verstorbenen Regisseurs der Hofbühne, Stawinsky, bringt mich auf ein geradezu staunenswerthes Talent Döring’s, nämlich die Nachahmung fremder Individualität bis zu erschreckender Aehnlichkeit. Man glaubt fast mit Stawinsky selbst zusammen zu sitzen, wenn Döring mit dessen Ton und Manieren von ihm erzählt. So lernten wir jüngeren Leute durch dieses Talent Döring’s die Heroen der deutschen Bühnenwelt, Ludwig Devrient, Seydelmann etc. etc. in lebensgetreuen Copien kennen, und wir wendeten nicht selten alle Schlauheit und List an, um ihn zu dergleichen Productionen zu bewegen. Oft wurden ganze Complote geschmiedet, um ihn zum Erzählen oder dergleichen zu veranlassen, und als besonders wirksam erwies es sich stets, wenn Dieser oder Jener in seiner Gegenwart etwas geradezu unmöglich nannte, was man ihm von Döring’s Talent erzählt.

„Wenn ich mir Ihr Gesicht ansehe,“ beginnt z. B. der Eine, „halte ich es für unmöglich, daß Sie in der That ohne Schminke und andere Hülfsmittel im Stande sein sollen, Friedrich’s des Großen Gesicht so gut nachzuahmen, wie mir dies erzählt worden ist.“

„Warum denn für unmöglich, lieber Freund?“ fragt Döring gereizt und mit überlegener Siegesgewißheit.

„Weil Ihr Kinn in seiner Bildung dieser charakteristischen Gesichtspartie Friedrich’s des Großen geradezu entgegengesetzt ist.“

Ueber Döring’s Gesicht fliegt ein mitleidiges Lächeln.

„Das verstehen Sie nicht, Lieber – dann drücke ich eben mein Kinn zurück.“

„Das Kinn zurückdrücken? Aber bester Herr Döring, das ist ja eben unmöglich.“

Döring springt nun, der Opposition müde, auf.

„Larifari, da sehen Sie her!“ und nun legt er wirklich die vor Erregung zitternde Hand auf sein Kinn, das sich wie ehrfurchtsvoll vor dem Drucke der Finger zurückzuziehen scheint, das ganze Gesicht verlängert sich um zwei Zoll und wir sehen plötzlich den scharf markirten Kopf des alten Fritzen mit den feuerflammenden Augen vor uns.

„Bei Gott,“ fährt der Andere bewundernd, aber seinem Systeme getreu fort, „Friedrich der Große! Aber wie es möglich ist, aus diesem Gesicht plötzlich das des ersten Napoleon zu machen, ist mir unbegreiflich.“

Döring antwortet durch die That. Mit einem raschen Griffe der rechten Hand ballt er die Haare auf der Stirn düster zusammen; ein Ruck mit den Schultern, der den Hals verkürzt, die Arme übereinandergeschlagen – und vor uns steht der große Schlachtenlenker, wie wir ihn so oft im Bilde gesehen haben.

Einen außerordentlich drastischen Abschluß erfuhr eine solche Scene einst hinter den Coulissen durch einen langjährigen Collegen Döring’s und bekannten Mitarbeiter dieses Blattes dadurch, daß dieser in dem Augenblicke hinzutrat, als Döring in angegebener Weise Friedrich den Großen nachahmte, und im Tone höchster Bewunderung ausrief:

„Vortrefflich! Napoleon, wie er leibt und lebt!“ –

Der geniale Künstler pflegt die vielen harmlosen Scherze, welche sich seine Collegen mit ihm im Vertrauen auf seine eigene Vorliebe für heiteren Verkehr erlauben, stets in gemüthlichster Weise aufzunehmen, wenn die Art, wie er die Anstifter eines Scherzes abfertigt, oft auch eine sehr drastische ist. So hat Schreiber dieses bei einer solchen Gelegenheit eine wohlapplicirte Ohrfeige von Döring erhalten, an die Geber und Empfänger sich noch jetzt nach Jahren bei ihrem öfteren Zusammentreffen in heiterster Weise erinnern.

Döring ist nämlich ausgesprochener Gourmand, und als er eines Tages während der Probe auf der bekannten Plauderbank des Schauspielhauses saß und seinen Collegen mit allen Finessen die Freuden eines genossenen Diners schilderte, kam plötzlich einer derselben auf den barocken Gedanken, ihn zu fragen, ob es wirklich wahr sei, daß er gern todte Seefische äße. Döring’s Gesicht war plötzlich ganz Abscheu und beleidigter Geschmack.

„Ich todte Fische?“ replicirte er gereizt. „Nein, lieber Freund, lieber vor Hunger sterben. Wenn Fische in mein Haus kommen, werden sie in’s Wasser gesetzt, und dann müssen sie mit dem Schwanze aufschlagen, daß das Wasser umherspritzt. Lebendig müssen sie sein, le-ben-dig, Lieber, oder sie existiren für mich gar nicht.“

Der Frager entfernte sich schweigend, doch schon nach wenigen Minuten trat auf sein Anstiften ein zweiter College mit derselben Frage zu Döring heran. Dieser schaute ihn einen Augenblick verblüfft und mißtrauisch an, als aber Jener ein ganz unverfängliches Gesicht machte, sagte er nach einer Pause:

„Ich begreife nicht, wie Ihr solche Dummheiten glauben könnt,“ und wiederholte nun mit einigen passenden Variationen die erste Antwort. Aber über ein Kleines erschien ein Dritter mit den „todten Seefischen“. Döring nahm eine gewaltige Prise, lächelte verächtlich und murmelte etwas von „dummen Jungens!“ Als aber ein Vierter und Fünfter mit der ominösen Frage herantraten, nahm er eine drohende Haltung an und suchte einen der Frager zu erwischen, um diese „Frechheit“, wie er sagte, „exemplarisch zu bestrafen“; allein dieselben entzogen sich dem angedrohten Gerichtsverfahren durch schleunige Flucht. Ich war während dieser ganzen Scene auf der Bühne thätig gewesen, als der Urheber des Scherzes in einer gerade eintretenden Probenpause zu mir trat und mich mit dem harmlosesten Gesichte anstiftete, Döring zu fragen, ob er gern todte Seefische esse. Ich vermuthete einen Scherz, wie er fast täglich vorkam, hatte aber natürlich keine Ahnung von der Ausdehnung desselben. In diesem Augenblicke trat Döring selbst aus der Coulisse auf die Bühne, und ich ging einige Schritte auf ihn zu. Er blieb stehen, musterte mich mit seinen durchdringenden Augen, und es schien fast, als habe er mir die ominöse Frage bereits von den Lippen abgelesen, denn er stand jetzt wie zum Sprunge bereit. Die ausdrucksvolle Mimik seines Gesichts belehrte mich zwar darüber, daß irgend etwas im Werke war, aber ich wollte nicht Spielverderber sein, und begann mit möglichst unbefangener Miene:

„Essen Sie denn –“ weiter kam ich nämlich nicht, denn mit jugendlicher Beweglichkeit hatte mich Döring bereits am Kragen gefaßt und mit dem Ausrufe: „Nein, lebendig müssen sie sein,“ verabreichte er mir zum Jubel der Umstehenden eine wohlgezielte Ohrfeige. – Ich brauche wohl kaum zu bemerken, daß diese Ohrfeige ebenso wenig ernsthaft gemeint war, wie die an ihn gerichtete Zumuthung der Vorliebe für todte Seefische.

Mit Genugthuung pflegte übrigens der Altmeister von einer anderen Ohrfeige zu erzählen, die er einst ausgetheilt. Er war in Hannover engagirt, und Iffland’s „Jäger“ sollten zur Aufführung kommen. Döring spielte den Oberförster, eine seiner Meisterleistungen, ein junger Mann den bösen Jägerburschen Mathes, der in der fünften Scene des ersten Actes von dem Oberförster verabschiedet wird. Wir müssen zum Verständnisse des Ganzen hier eine Stelle wörtlich citiren:

Oberförster: „Eure Zeit ist ohnedies heute ganz um.“

Mathes: „Herr Oberförster, ich nehme es an und ziehe gleich ab.“

[553] Oberförster: „So? Nun – wenn Ihr wollt, ich kann schon wollen. – Da ist Euer Geld.“

Mathes: „Empfehle mich.“

Oberförster: „Gute Besserung!“ (Mathes geht.)

Auf der Probe sagte der Darsteller des Mathes an dieser Stelle ex tempore: „Gleichfalls, Herr Oberförster!“

„Lassen Sie diese Scherze am Abende, lieber Freund!“ sagte Döring, „denn dem hitzigen Oberförster bliebe bei dieser Bemerkung des Mathes nichts Anderes übrig, als ihm eine Ohrfeige zu geben.“

Der Darsteller des Mathes hielt diese sehr wichtige Bemerkung Döring’s wohl nicht für ernst gemeint, denn er sagte in der Vorstellung wirklich: „Gleichfalls, Herr Oberförster!“ Kaum aber war ihm „das Wort entfahren, möcht’ er’s im Munde gern bewahren“, denn wie der Blitz ereilte ihn des Oberförsters Zorn in der halbgeöffneten Thür. Plautz! erhielt Mathes seine Ohrfeige, und Döring rief ihm triumphirend in’s Ohr: „Im Charakter der Rolle, lieber Freund!“

Als er auf der Leipziger Bühne vor nicht langer Zeit den Shylock spielte, war die erste Frage, die er an mich that:

„Wer spielt denn den Tubal?“

„Ich selbst,“ antwortete ich.

„Doch ohne Nase hoffentlich?“

„Nein, mit Nase.“

„Das heißt mit einer aufgeklebten? Ich reiße sie Ihnen bei Gott noch in den Coulissen herunter.“

„Ich erlaube mir nur meine eigene Nase zu benutzen; aber was haben Sie für eine Wuth gegen die aufgeklebten Nasen?“

„Das will ich Ihnen sagen, Lieber. Ich spiele also in Köln den Shylock, und dieser niederträchtige Kerl, der Tubal, hat sich eine falsche Nase geklebt. In der großen Scene mit mir verliert der Schurke die Nase. Das Publicum lacht, und was thut der Mensch? Sucht auf der Bühne nach der Nase umher, und während ich mich wer weiß wie sehr abhaspele, lacht das Publicum aus vollem Halse. Glücklicher Weise erblicke ich die unglückselige Gurke am Boden und schleudere sie mit einem Fußtritte in die Lampen – erst dann war die Ruhe wiederhergestellt.“

„Nun, und was thaten Sie mit dem Verbrecher?“

„Gar nichts; aber ich habe ihn gebeten, mir seinen Namen nicht zu nennen.“

„Und warum das?“

„Der Mensch hätte einmal im Unglück eine Bitte an mich richten können, und ich wäre, weiß es Gott, im Stande gewesen, sie ihm wegen der Nasengeschichte abzuschlagen.“

Diese letztere Bemerkung charakterisirt gleichzeitig die Herzensgüte des Künstlers, von der wir tausend rührende Züge erzählen könnten. Es ist eine alte Erfahrungsregel, daß die gutmüthigen und aufopferungsfähigen Menschen meist schlechte Financiers sind, und dies trifft auch bei Meister Döring zu. Er bewies dies einst schlagend, als man ihn zum Secretär des Unterstützungsfonds des Berliner Hoftheaters gewählt hatte. Dieser Fond wird durch Beiträge der Mitglieder erhalten und dient dazu, um mittellosen Schauspielern eine Reiseunterstützung zu gewähren, außerdem werden aber auch Darlehen an die Mitglieder und zwar auf eine Bescheinigung des Secretärs hin aus diesem Fond gegeben. Also, wie gesagt, Döring war zu dem genannten wichtigen Amte gewählt worden, aber schon nach acht Tagen sah man sich auf einen Wink des Cassirers hin veranlaßt, eine Generalversammlung des Unterstützungsfonds einzuberufen. Döring, aufgefordert einen Rechenschaftsbericht über seine Thätigkeit zu liefern, gestand mit vergnügtem Lächeln, daß das disponible Geld ziemlich alle sei, aber die betreffenden Darleiher hätten es wirklich alle sehr nöthig gehabt. Natürlich beeilte man sich, ihn schleunigst seines Amtes zu entheben.

Es ist allgemein bekannt, und ich glaube keine Indiscretion zu begehen, wenn ich hier erwähne, daß Döring in Folge seiner gänzlichen Nichtbefähigung zum Mitgliede der Oberrechnungskammer in der ersten Zeit seines Berliner Engagements auch in seinen eigenen Verhältnissen sehr derangirt war. Um ihm Gelegenheit zu geben, seine Schulden nach Bequemlichkeit an einen Hauptgläubiger abzuzahlen und ihn vor lästigen Wucherseelen zu retten, wurden – wenn ich nicht irre – durch königliche Intervention sämmtliche Passiva an einem Tage gedeckt. Am darauffolgenden Vormittag wanderte Döring ruhelos durch alle Zimmer seiner Wohnung und sagte endlich zu seiner Frau:

„Mathilde, ich fühle mich so – so unheimlich; mich beunruhigt etwas, aber ich weiß nicht was.“

Sie schaute ihn lächelnd an.

„Du bischt ebe dran gewöhnt, Döring,“ sagte sie dann in ihrem reizenden schwäbischen Dialecte, „daß Dich Vormittags alle Deine Gläubiger besuche; darum fehlet Dir heute was.“

Er nickte zustimmend; seine Frau hatte das Richtige getroffen

Döring’s Häuslichkeit ist eine unendlich gemüthliche, einfach, aber gediegen nach jeder Richtung hin. Hier empfängt er oft den kleinen Kreis vertrauter Freunde: unter den Collegen obenan die intime Freundin des Hauses, Frieb-Blumauer, den aristokratischen Friedrich Haase, den „Talentvollsten der jüngeren Generation“, wie Döring sagt, den geistvollen Interpreten classischer Dramen Professor Werder, Adolf Stahr u. A. und entwickelt als liebenswürdiger Hauswirth den ganzen Reichthum seiner Unterhaltungsgabe und die Fülle seines schöpferischen Talentes. Ich behaupte, wer Döring nur auf der Bühne gesehen, kann ihn unmöglich in seiner ganzen Genialität beurtheilen. Er selbst pflegt als Einleitung zu diesem oder jenem Scherze zu sagen:

„Jetzt will ich Euch etwas vormachen – das ist besser, als Alles, was ich da unten zur Welt bringe.“

Wer jemals so glücklich gewesen ist, eine jener Scenen von Döring dargestellt zu sehen, wo er, mit Blitzesschnelle die Charaktere wechselnd, zwei, drei und mehr Personen in schärfster Individualisirung vorführt, wird diesen Kunstgenuß zu den schönsten Erinnerungen seines Lebens zählen. Wenn es als glänzendster Beweis für Garrick’s Genialität gilt, daß es ihm einst gelang, am hellen lichten Tage eine skeptisch lächelnde Gesellschaft bis zu Thränen zu rühren, indem er, ein Fußbänkchen auf dem Arme, in hinreißendster Weise den Schmerz einer Mutter um den Verlust ihres Säuglings schilderte; wenn der englische Komiker Mathews ganz London auf den Kopf stellte, als er engagementslos in seinem Hause Abendunterhaltungen arrangirte, in denen er ganz allein in den verschiedensten Charakteren stundenlang einen großen Zuschauerkreis zu unterhalten wußte: so darf Döring die Concurrenz mit diesen Größen nicht scheuen.

Als Professor Hebenstreit vor ungefähr fünfzehn Jahren die Schauspieler aus der Künstlergemeinschaft ausstieß, da sie nur Werkzeuge in der Hand des Dichters seien und nur eine mechanische Fertigkeit ausübten, die überdies durch äußere kleine Behelfe, wie Perrücke, Costüm, Schminke, Lampenlicht, unterstützt werden müsse, da war es Altmeister Döring, der in einer Gesellschaft einer Debatte über diesen Gegenstand dadurch ein rasches Ende machte, daß er den Anwesenden ohne alle diese „Behelfe“ einen Gang durch das Irrenhaus zu Hildesheim dramatisch vorführte. In Zwiegesprächen zwischen dem Arzt der Anstalt und den verschiedenen Irren schilderte er nun alle Phasen des Wahnsinns bald in komischen, bald in rührenden Gestalten. In einer stummen Scene führte er zuletzt die Zuschauer in den allgemeinen Versammlungssaal der Irren, wo diese sich mit Billardspiel unterhalten. Hier sprach er kein Wort mehr und zeichnete nur äußerlich, aber dem blödesten Auge erkennbar, die verschiedensten Arten des Wahnsinns der Spielenden und versetzte sein Auditorium in das höchste Staunen und Entzücken.

Von unwiderstehlich komischer Wirkung ist eine Scene, welche Döring gern in heiteren Kreisen zum Besten zu geben pflegt und die ebenfalls dem Leben entnommen ist. In den Anfängen seiner Carrière war er bei einem Theaterdirector engagirt, dessen Häuslichkeit aus Frau und Schwiegermutter bestand. Letztere, eine uralte Dame, war in ihren Schwiegersohn verliebt und plagte ihn mit allen möglichen Aufmerksamkeiten. Döring schildert nun eine Tischscene in diesem häuslichen Kreise. Der Director ist übel gelaunt und verhält sich den aufdringlichen Aufmerksamkeiten der Schwiegermutter gegenüber ziemlich ablehnend, während die Frau die Alte vergeblich bedeutet, doch den Mann in Ruhe zu lassen. Wenn Döring die köstliche Figur der Alten darstellt, bindet er eine Serviette um den Kopf; im Gesicht bilden sich tausend Falten; der Mund erscheint beim [554] Sprechen vollständig zahnlos, und die Zungenspitze spielt ruhelos im linken Mundwinkel zwischen den trockenen Lippen. Selbst der vertrocknetste Hypochonder müßte bei dieser urkomischen Scene seine griesgrämliche Haltung aufgeben.

Ebenso köstlich schildert Döring eine Scene mit dem verstorbenen Dichter Dr. Carl Töpfer. Dieser beschäftigte sich sehr viel mit der Ertheilung dramatischen Unterrichts und war der Erfinder eines sonderbaren Systems, um den Unterricht in der Mimik des Gesichts seinen Scholaren gegenüber zu vereinfachen. Er hatte nämlich die verschiedenen Phasen der Leidenschaft im Gesichtsausdruck in Abtheilungen getheilt und numerirt. Als Döring nun den Dichter einst in Hamburg besuchte, sollte er sich selbst von der Trefflichkeit dieses Unterrichts-Systems überzeugen. Döring copirt nun hinreißend in Haltung, Geberde, Ton und Dialect den Dichter und ebenso unwiderstehlich komisch den etwas blöden Schüler, der auf Geheiß seines Lehrers Zorn Nummer eins, zwei, drei auf seinem Gesicht verkörpert.

Ich schließe hier die Reihe der heiteren Scenen aus dem Leben des „Altmeisters“; vielleicht erzähle ich den Lesern der „Gartenlaube“ ein anderes Mal mehr von ihm. Mögen diese Zeilen beitragen, den „Dioskuren der Berliner Hofbühne“ und ihrem künstlerischen Wirken die rechte Würdigung angedeihen zu lassen, dem ja allerdings äußere Anerkennung seitens des deutschen Publicums und der Großen der Erde in reichem Maße zu Theil geworden. Frau Frieb Blumauer trägt die goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft der Herzöge von Coburg und Meiningen, ist Ehrenmitglied der Hoftheater von Weimar und Meiningen und Professorin der Declamation an der Akademie der Tonkunst in Wien. Auch Döring ist mehrfach durch Verleihung von Orden geehrt worden, für welche Auszeichnung der große Künstler durchaus nicht unempfänglich ist. Besonderes Studium widmet er den Farben der Ordensbänder. Als der durch seinen unverwüstlichen Humor bekannte Vicedirector der Leipziger Bühne, von Strantz, einst bei Döring einen Besuch abstattete und das Band eines ihm verliehenen Ordens in der Länge einer achtel Elle im Knopfloche trug, sagte Döring nach einer Pause komischer Bewunderung: „Recht hübsch, lieber Strantz, aber es schmutzt sehr leicht.“