Die Brücke St. Louis an der Strasse über die Meeralpen

LXXXIX. Der Ararat Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band (1835) von Joseph Meyer
LXXXX. Die Brücke St. Louis an der Strasse über die Meeralpen
LXXXXI. Der Libanon
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BRÜCKE ST. LOUIS
Auf der grossen Strasse von Genua nach Nizza
über die Meer-Alpen.

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LXXXX. Die Brücke St. Louis an der Strasse über die Meeralpen.




Die Straße über die Meeralpen, zwischen Nizza und Genua, ist die älteste unter denen, welche Italien mit Frankreich verbinden. Schon die Dämmerungszeit der Geschichte kennt sie und nennt den Herkules ihren Erbauer. Mago, Hannibals Bruder, führte auf diesem Wege sein in Italien geschlagenes Heer nach Gallien zurück, Cäsar von daher seine Legionen in die lombardische Ebene, als es galt mit Pompejus um die Herrschaft der Welt zu streiten. Unter August und seinen Nachfolgern wurde die Straße mehrmals erweitert und verschönert und, als VIA AURELIANA, blieb sie, bis zum Sinken des Reichs, das Hauptverbindungsmittel für Rom und die westlichen Provinzen. Städte und Flecken erhoben sich damals in ungezählter Menge an den Seiten dieses Römerwegs, den Wasserleitungen, Triumphbögen und Denkmäler schmückten, dem erstaunten Reisenden gleichsam von fern schon der Weltbezwingerin Macht und Herrlichkeit verkündigend.

Als Roms Zepter zerbrochen war, wurde Ligurien durch seine Straße auf lange Zeit ein Opfer der Verheerungswuth wandernder Völker. Im siebenten Jahrhundert brachen die Lombarden herein und nahmen feste Wohnsitze in dem verödeten Lande. Ihre Herrschaft war kurz. Karl der Große, der sie unterjochte, schlug das Land zu seinem Reiche. Auch der Karolinger Stamm trug für diese Gegenden keine gute Frucht. – Nach seinem Erlöschen, im 10. Jahrhundert, machten sich die Sarazenen zu Herren der Küste, und vor ihrem Mordstahl floh die geringe Bevölkerung in die Gebirge, dort sich neue, gesichertere Wohnsitze zu bauen. Die noch übrigen Städte und Dörfer verschwanden; die Römerstraße selbst verfiel unter der zermalmenden Hand der Jahrhunderte bis auf wenige Spuren. Erst dann, als die Genueser, durch den Handel, zu Reichthum und Macht gelangt waren und ihre Herrschaft über die Küstenländer ausbreiteten, tagte diesen eine bessere Zeit. Doch duldete Genua’s furchtsame Politik nicht eine Herstellung des Weges, der französische Heere nach Italien führen konnte. – Er blieb ein elender Saumpfad bis zur Zeit Napoleon’s.

Als dieser, ein neuer Herkules, das Steuer ergriffen hatte, mit dem er später die Geschicke des Welttheils lenkte, befahl er (1802) eine Heerstraße ersten Ranges zu bauen, die von Nizza reiche bis nach Rom. – „Die Verbindung beider Republiken zu erleichtern,“ dieß nannte sein Dekret als Zweck; wohl aber mochte die innigste Verschmelzung Frankreichs und Italiens eine Hauptbase im Weltbeherrschungsplanes des Corsen ausmachen, und darum hat er so unermüdlich und die größten Opfer nicht scheuend, während der ganzen Zeit seiner Herrschaft, die Scheidefesten niedergebrochen, welche die Natur zwischen beiden Ländern aufgethürmet hat.

Das befohlene Werk wurde 12 Jahre lang ohne Unterbrechung fortgesetzt; doch war es unvollendet, als Napoleon auf den Wink der rächenden Allmacht vom Throne stürzte. Die Erben seiner Herrschaft, – sie erbten [106] nichts von seiner Größe. Die Arbeiten blieben liegen und Vieles verdarb wieder. Erst vor 8 Jahren wurde der Ausbau der Straße vorgenommen. Vollendet ist sie jetzt eine der bewundernswürdigsten Werke der Wegebaukunst, werth neben der Simplon- und Cenis-Straße genannt zu werden, und des großen Geistes, der sie entwarf und begann, ganz würdig.

Ihr bei weitem interessantester Theil ist die Strecke zwischen Genua und Nizza, wo die Arme der Hochalpen sich bald als schwarze Felsenmassen mit glatten, oder schluchten-gefurchten Häuptern, bald als wellenförmige, waldbewachsene Hügelketten zum Meere hinziehen. An manchen Stellen steigen die Bergwände 2000 Fuß hoch senkrecht zu den Fluthen hinab, und während der Reisende auf festen Felsenstirnen wandert, von Fischadlern umschwebt, – hört er das dumpfe Toben der Wogen unter seinen Füßen. Einen ganz eigenthümlichen, den Pässen über das Hochgebirge landeinwärts unbekannten Reiz hat diese Alpenstraße durch die weite und bezaubernde Aussicht auf das Weltmeer, dessen Anblick dem Reisenden fast immer zur Seite bleibt.

Die Brücke St. Louis, nahe bei’m Dorfe Mortolo, einige Stunden von Nizza, ist der berühmteste Punkt des Wegs und in Bezug auf Kühnheit und einfacher Grandiosität der Bauart ist es ein unvergleichliches Werk. – Eine furchtbare Schlucht von mehren hundert Fuß Tiefe überspannend, schreitet es in seinem blendenden Marmorgewande wie ein Wesen der Feenwelt über die Felsenzacken hin. – Napoleon selbst skizzirte an Ort und Stelle den Entwurf zur Brücke, nach dem sie nachher aufgeführt wurde; und sie trägt des Imperators Gepräge, wenn auch die Wiedertaufe der Restauration seinen Namen längst von ihr gewischt hat. – In der Nähe ist ein schönes Echo und kein Maulthiertreiber, oder Kärner, zieht des Weges, ohne ihrem Erbauer ein „VIVA!“ zu bringen, welches die Felsen hundertstimmig zurückwerfen, bis es sich, wie ein leises Murmeln, im Gebirge verliert.