Textdaten
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Autor: Carl Ernst Bock
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Titel: Die Anacahuitesucht
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 774–775
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Aerztliche Strafpredigten.
Die Anacahuitesucht.

Ein Jauchz entringt sich jetzt den hustenden Brüsten der schwindsüchtigen Menschheit aller Länder und mit ihm das Wort Anacahuite, welches ein in den Apotheken ziemlich theures Holz ist, das die deutschen Lungenleidenden dem preußischen Consulate zu Tampico in Mexico zu verdanken haben und das zu einem Theelöffel voll auf zwei Tassen Abkochung früh nüchtern, sowie des Abends vor Schlafengehen zu trinken ist, wenn es nämlich den Indianern Brustleiden aller Art curiren soll. Natürlich muß es der schwindsüchiige Europäer ebenfalls in Tampico, aber ja nicht etwa in Europa, und zwar längere Zeit trinken, wenn er gesunden will. Doch könnte er auch, wenn ihn sein Weg nicht gerade nach Mexico führt, dafür in Algier oder Egypten, meinetwegen auch in Palermo oder Madeira, früh und Abends einige Tassen Süßholzthee oder eine Abkochung von geraspeltem Ofenbankholze trinken. Der Erfolg wird ziemlich derselbe sein, ob man dieses oder jenes thut, denn nicht das Holz, wohl aber das Klima schafft dem Brustkranken in Mexico die Besserung und scheinbare Heilung.

„Ja, mir hat aber dieses Anacahuite auffallend schnell Linderung meiner Brustbeschwerden gebracht.“ So sprach ein Lungensüchtiger, der so vernünftig war und seit einigen Wochen einen Respirator[1] trug, trotzdem aber so unvernünftig war und diesen heilsamsten aller Heilapparate (s. Gartenlaube 1855, Nr. 8) für nichts, den ziemlich indifferenten, nur etwas bitterlich und zusammenziehend schmeckenden Holzthee aber für ein Wundermittel achtete. – Am Respirator läßt sich übrigens der Unverstand der kranken Menschheit recht deutlich sehen, denn nur wenn Brustkranke auf dem letzten Stück Lunge röcheln, da klammern sie sich erst dieses vortreffliche Schutzmittel für die Athmungsorgane, welches beinahe den Winteraufenthalt in warmen Klimaten ersetzen kann, vor dem Munde an. Und was dabei so empört, nur erbärmliche Eitelkeit oder die lächerliche Heuchelei, trotz des Aussehens eines ausgenommenen Herings doch eine Hausknechtsgesundheit besitzen zu wollen, die ist’s, die eine ganz enorme Anzahl von hustenden Schwindsüchtigen [775] viele, viele Jahre früher, als es nöthig wäre, in’s Grab stürzt. Wenn solche respiratorscheue Selbstmörder dann den Tod heranrücken sehen, so jammern und wehklagen sie ganz ungerechter Weise über ihr Unglück, nicht aber über ihren Unverstand, der das Unglück herbeizog; ja sie höhnen wohl gar die medicinische Wissenschaft, weil sie ihnen neue Lungen einzusetzen nicht vermag. Tod und Verderben und nebenbei noch meine Verachtung jedem Lungenkranken, der bei rauher kalter Witterung nicht einen Respirator trägt, vorausgesetzt nämlich, daß ihm an seinem Leben etwas liegt.

Was müßte man denn nun eigentlich von einem Mittel, welches die Lungenschwindsucht curiren soll, verlangen? Diese Frage läßt sich aus dem, was die Wissenschaft über diese Krankheit weiß und was im Jahrgange 1855, Nr. 15 der Gartenlaube ausführlich besprochen wurde, dahin beantworten: entweder muß das Mittel die eben im Gange befindliche Absetzung von Tuberkel- (oder Schwindsuchts-) Materie, die in der Regel mit hitzigem Fieber (sehr beschleunigtem Pulse und erhöhter Hautwärme) einhergeht, sofort zum Stillstand bringen, oder hatte dies (wie wohl immer) die Natur schon gethan, so mußte es einen spätern Nachschub von Tuberkelmasse (also einen neuen Anfall von Tuberkelabsetzung) ganz und gar verhindern. Das Unschädlichmachen der schon in die Lungenspitzen abgesetzten Tuberkelmasse besorgt stets die Natur, dazu haben und brauchen wir kein Hülfsmittel. Es thut dies die Natur hauptsächlich mit Hülfe zweier Entzündungsprocesse, nämlich der Brustfell- und der Lungenentzündung, welche der unwissenschaftliche Arzt gern wegcuriren möchte. Glücklicherweise mißglückt aber dieses unglückselige Vorhaben stets, und deswegen können Schwindsüchtige, die sich eigentlich über stechende Schmerzen auf der Brust freuen sollten, so lange am Leben bleiben.

Die im Gange befindliche Absetzung von Schwindsuchtsmasse in das Lungengewebe eher zum Stillstand zu bringen, als dieser Krankheitsproceß sein naturgemäßes Ende erreicht hat, vermag nun Anacahuite ebenso wenig, als irgend eine andere Arznei oder Heilmethode. Hierbei bleibt das einfachste diätetische Verfahren sicherlich auch das vortheilhafteste; dies aber besteht nur in der allergrößten (körperlichen, geistigen, gemüthlichen und geschlechtlichen) Ruhe, sowie im Einathmen einer ganz reinen, warmen Luft bei mäßig nahrhafter, leichtverdaulicher Kost. Hinsichtlich der Luft wird am meisten gefehlt, denn anstatt den Patienten im größten, schönsten, hellsten, gutgelüfteten und behaglich warmen Zimmer und im Bette zu finden, trifft man ihn sehr oft in einem kleinen, düstern, kühlen, ungelüfteten Raume, dessen Luft nach alter Wäsche, Schweiß, Excrementen aller Art und fauligem Auswurfe stinkt. Das Ausgehustete sollte, wenn’s denn einmal im Krankenzimmer aufbewahrt werden muß, stets in einem gutverschlossenen Gefäße bleiben, damit die bei seiner Fäulniß entstehenden übelriechenden und dem Athmungsorgane nichts weniger als zuträglichen Gase die Zimmerluft nicht verunreinigen können. Kurz, eine reine warme Luft im reinen Zimmer ist das Haupterforderniß bei allen Brustaffectionen.

Wie durch Anacahuite aber ein Schwindsuchtsnachschub, der bei Brustkranken bald in kürzerer, bald in längerer Zeit, nicht selten aber (wenn die zuerst abgelagerte Tuberkelmasse veraltet) auch gar nicht wiederkehrt, ganz und gar verhütet werden könnte, das mag ein Anderer erklären. Verfasser würde an dieses Wunder erst dann glauben, wenn viele hundert anacahuitete Lungensüchtige früher oder später an einer andern Krankheit als an Lungentuberculose untergingen. Bis das nicht geschehen ist, gebe ich meinen Leidensgefährten den Rath: bei Vermeidung von Blutandrang nach der Lunge (also Meiden einer rauhen und kalten, staubigen und rauchigen Luft, sowie von Erkältung und Allem, was starkes Herzklopfen macht) den Ernährungszustand ihres Körpers ordentlich zu besorgen, d. h. durch richtiges Essen und Trinken, zweckmäßiges Athmen guter Luft, passende Bewegung und gehörige Ruhe ein gutes nahrhaftes, flott circulirendes Blut zu erzeugen. Eine Menge von Brustkranken kommen aus lauter Feigheit, aus Angst vor dem Tode, zu keinem Wohlbefinden; ein Nachtschweiß, einige stärkere Hustenanfälle, etwas Blut im Ausgehusteten, ein paar Bruststiche setzen ihr feiges Herz in den größten Alarm, dieses pumpt dann ganz natürlich eine unnütze Menge von Blut in die Lungen, und so kann es allerdings zum frischen Erkranken dieses schon kranken Organes kommen. Eine andere Sorte von Brustkranken läßt, um einfältiger Weise jede Spur eines Brustleidens an sich getilgt zu sehen, fortwährend an ihrem Corpus herumquacksalbern, gebraucht jeden neuauftauchenden (arzneilichen, gymnastischen, elektromagnetischen und sympathetischen) Schwindel, jagt aus einem Welttheile in den andern, stiehlt alten Jungfern dicke Möpse und verspeist deren (nämlich der Möpse) Fett auf Leberthran-Bemmen mit Heringsmilch, nimmt nach dem lebensmagnetischen Hahnemann II., Herrn Dr. Lutze, Kohle in der 10. Verdünnung, wenn seine rechte Lunge, kohlensauren Kalk aber, wenn die linke leidet, oder probirt unter Leitung eines echten Vollblut-Homöopathen die gegen Lungensucht als Hauptmittel empfohlenen etwa 30 Nichtse dem Alphabete nach durch; kurz macht eine Lächerlichkeit und Dummheit über die andere, und warum? nur um unerhebliche und unhebbare Beschwerden (Husten mit oder ohne Auswurf, kurzen Athem, Drücken auf der Brust, Magerkeit etc.) los zu werden.

Da bleibt freilich nur ein Trost: mit Brustkranken kämpfen Götter selbst vergebens, also warum nicht auch
Bock.



  1. In Leipzig beim Bandagist Reichel zu haben.