Der Heerwurm im Salon der Gartenlaube

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Titel: Der Heerwurm im Salon der Gartenlaube
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aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 576
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
siehe auch: Der Heerwurm In:Die Gartenlaube, Heft 40, 1871
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[576] Der Heerwurm im Salon der Gartenlaube. Durch die Zeitungen läuft die Nachricht, daß sich wieder einmal der Heerwurm, jene oft aus Millionen von Maden zusammengesetzte, kriechend den Laubwald durchschleichende schlangenartige Erscheinung gezeigt habe, und zwar unweit Stolberg am Harz, hoch oben im prächtigsten Buchenwald und quer über den Weg nach Breitenstein dahinziehend. Und man schließt die Berichte mit der Bemerkung: „Die Frage: woher? wohin? ist noch nicht hinreichend gelöst, um mit Sicherheit die Natur dieser Erscheinung erklären zu können.“

Diese Erklärung wird die Gartenlaube in einem ausführlichen und illustrirten Artikel auf das Vollständigste bringen; heute theilen wir hierzu nur eine einleitende Beobachtung mit.

Herr Forstmeister Beling zu Seesen am Harz erfreute uns schon vor einiger Zeit mit einer gediegenen Forscherarbeit über den Heerwurm, wie er ihn auf dem Harz selbst beobachtet hatte. Auf unsere Bitte um die Illustrationen, die man zu seiner Abhandlung nothwendig wünschen müsse, schrieb er uns, daß eine seinen Ansprüchen völlig genügende Abbildung von Larvenzug, Puppe und Fliege ihm noch nicht vorgekommen sei und daß er uns lieber in den Stand setzen wolle, selbst einen Heerwurm vor uns sich bilden zu sehen und von unserm Thierzeichner abbilden zu lassen. Und so geschah es.

Es kam eine Kiste an, bei deren Oeffnung uns etwas angegangener Buchenlaubstreuduft entgegenstieg, und zwischen den zum Theil schon stark skeletirten Blättern hing, kroch und lugte das kleine Leben Tausender von Larven der soldatischen Trauermücke (Sciaria militaris), wie der Marschfreudigkeit der Maden wegen wohl das Thierchen getauft worden ist.

Wir, d. h. der Thierzeichner und die gewöhnlichen Insassen der Gartenlaube, trugen unsern naturwissenschaftlichen Schatz in Herrn Ernst Keil’s Gartensalon und verfuhren nun genau nach Vorschrift unseres Gewährsmannes. Wir legten zwei große gefeuchtete Pappebogen auf einen Tisch und beförderten die Larven (Maden) aus ihrer Blätterumhüllung auf die eine Pappe, die andere für den geordneten Marsch des Zugs rein haltend.

Die Geschöpfchen, sehr ähnlich den Käsemaden, nur heller, durchscheinender und mit glänzend schwarzen Köpfchen, sagten durch ihr Benehmen uns gleich in der ersten Minute ihrer Beobachtung, warum sie bei ihren Processionen oder Heerzügen so traulich und erbaulich zusammenhalten und sich nicht von ihrem anscheinlichen Gänsemarsch abbringen lassen. Wir schüttelten sie erst einzeln aus dem Laub heraus, ohne sie gleich zu einem Haufen zusammenzuschieben, der natürlich sofort seine Marschcolonne gebildet haben würde. So aber sahen wir, daß jedes der vielen einsam und alleine umherliegenden Würmchen in seiner Verlassenheit ein recht hülfloses Thierchen ist. Ohne sich weit von der Stelle zu wagen, hebt es unaufhörlich das Köpfchen nach allen Richtungen, nach der ihm unentbehrlichen cameradschaftlichen Hülfe ausspähend. Sobald es aber mit einem andern zusammenkommt oder, wenn der Zufall das zu lange anstehen läßt, man ihm einen Cameraden zuschiebt, so hängen die Kerlchen sofort aneinander und es kriecht immer der eine über den andern fort, hebt dann den Kopf und sucht umher, bis der andere so weit auf ihm wieder vorwärtsgekrochen ist, daß er selbst den Kopf ducken muß. Dann kriecht er wieder über den andern, und so helfen ihrer Zwei sich vorwärts, während das einzelne Würmchen kaum vom Flecke kommt. Vielleicht deutet dies Uebereinanderkriechen an, daß ihre Körperbeschaffenheit diese Art der Fortbewegung ihnen vorschreibt. Bei der Benutzung des lieben Nächsten als glatte Unterlage bleibt es, auch wenn drei- und vierhundert oder tausend übereinander kriechen: immer sind nur die oberen Schichten in Bewegung, alle kriechenden ducken die Köpfchen; sobald sie aber an die Spitze kommen, wo sie dann den Kopf mit bilden, erheben sie selbst die Köpfchen und eben nur so lange, bis die nächsten, bis jetzt unten gewesenen Schichten über sie hinwegkriechen, und so fort.

Es dauerte gar nicht lange – denn da, wo das Glück einzelnen solcher Züge nicht günstig sein wollte, spielten wir etwas Schicksal und schoben frische Truppen in ihre Marschrichtung –, so bewegten sich viele, bald kürzere, bald längere einlinige Züge zwischen den Streutheilchen auf der feuchten Pappe dahin, immer die je Ersten am lebhaftesten mit erhobenem Kopfe die Richtung suchend, bis das Zusammentreffen einzelner Linien begann und damit die Bildung immer dickerer Fäden und Schnuren. Je mehr die einzelnen Züge sich der zweiten, reinen Pappe näherten, desto mehr wurde die Richtung Aller zu einer gemeinsamen. Das geschah aber wieder in verschiedenster Abwechselung. Während fünf und sechs Glieder starke Züge sich rasch zu einem Strang zusammenschoben, liefen ein- und zweigliedrige noch lange Strecken nebeneinander her, bis sie sich aneinander schlossen; ja, vom dicksten, schon kleinfingerstark angeschwollenen Strange zweigten an mehreren Stellen wieder Züge links und rechts ab, machten eine Art Recognoscirungsbogen und kehrten dann zum großen Zuge zurück. Auf der frischen Pappe kam die stahlfarbig glänzende, durch die Beweglichkeit der sich vorwärts windenden Theile fortwährend schimmernde gesammte Trauermückenlarvengemeinde als leidlich stattlicher Heerwurm an, in der That eine kleine Schlange darstellend, die schon einen Begriff geben konnte, wie eine solche Masse von Armsdicke und Vielellenlänge, die im kühlen düstern Wald über den Gehsteig dahinschleicht, eine gar schöne Gelegenheit zu schauderhaften Erlebnissen, gruselnden Sagen und handfestem Aberglauben abgeben konnte. Auch nach dieser Richtung hin beachtet der Beling’sche Artikel alles nur Wünschenswerthe.

Während unser Heerwurm auf der reinen Pappe bedächtig dahinschob, muß ihn plötzlich ein Lichtblitz von der Zwecklosigkeit seines so bereitwilligen Spazierganges getroffen haben, denn der so stattlich breite Kopf ward plötzlich uneins. Wie der unpraktische Doppelkopf des weiland römischen Reichsadlers deutscher Nation, gingen zwei Köpfe nach entgegengesetzten Richtungen auseinander und die beiden anhängenden Theile zerrten am Leib des Heerwurms, wie ehedem Preußen und Oesterreich am deutschen Bundesleib – ja der eine, nach rechts hinstrebende schob sogar ohne alle Ueberlegung über den Pappenrand dem Abgrund zu, während nach links ein starker Strang sich ablöste und viele kleine ihm sich nachvereinzelten. Da wurde uns das Bild zu politisch-anrüchig. Unser Heerwurm hatte seinen Zweck erreicht, er war dem Zeichner verfallen und wird als Holzschnitt in der Gartenlaube wieder auferstehen.

Aber auch seine eigene leibliche Auferstehung hat er bereits gefeiert. Als der Mohr seine Schuldigkeit gethan hatte, ließ Herr E. Schmidt, unser Thierzeichner, den ganzen Herrwurm in die Laubstreu zurückmarschiren und in der Kiste heimtragen. Schon nach etwa acht Tagen überraschte er uns mit den aus den Larven gewordenen Puppen und den aus den Puppen ausgeschlüpften kleinen Fliegen, und so hat Herr Forstmeister Beling durch das interessante Naturschauspiel, das er uns verschaffte, uns zugleich in den Stand gesetzt, seinen Aufsatz in der That auf das Vollständigste zu illustriren.