Der Dichter-Componist des Jahrhunderts

Textdaten
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Autor: Hermann Kretzschmar
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Titel: Der Dichter-Componist des Jahrhunderts
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 46, S. 748–752
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Der Dichter-Componist des Jahrhunderts.


Schon wieder Wagner? – Allerdings haben wir mehr als genug von jener sentimentalen Wagner-Literatur, welche in der ersten besten Fermate des Componisten etwas ganz Besonderes findet, und zu viel von jener doctrinären, in welcher Leute von schlecht erwiesener Vollmacht gegenüber dem gewaltigen Schöpfergeist des Meisters von Baireuth die Kunstgesetze vertreten wollen. Aber wenn es Thatsache ist, daß die Einen in Richard Wagner eine Art von Menschheitsretter verehren, während ihn die Andern als Kunstverderber hassen, so bedarf es keiner weiteren Rechtfertigung, wenn immer wieder der Versuch gemacht wird, über die Bedeutung und das Wesen des Mannes aufzuklären. Der einfache Kunstfreund, welcher sich heute Abend an einer Oper Wagner’s erbaut hat, liest morgen in der Zeitung, daß die Werke des Baireuther Tonzauberers Kunstsinn und Charakter gefährden, und einem Andern, der die ganze Vorstellung wenig nach seinem Geschmack gefunden, wird in einem zweiten Blatte versichert, daß es ein Entzücken gewesen sei vom Anfang bis zum Ende. Ein Blick auf den äußeren Verlauf dieses Wagner-Krieges, der nun schon vierzig Jahre gedauert hat, hilft auch nur wenig zur Orientirung, denn darnach kann sein Ausgang noch unentschiedener erscheinen: die Gegenpartei hat bis jetzt nicht capitulirt, sondern vertröstet sich auf dieselbe Zukunft, auf welche sie schon in früherer Zeit mit spöttischem Scherze die Anhänger Wagner’s verwies.

Wird man sich jemals über Wagner völlig einigen? In der Hauptsache: ja. Ein Rest von Widerspruch wird freilich immer bleiben; Naturen, welche in der Kunst nur den Frieden und die geebnete Schönheit des Parkes suchen, kann man nicht zumuthen, Freunde eines Künstlers zu sein, der in seine Werke die Leidenschaften in ihrer vollen Naturgewalt hineinträgt. Aber seinen formellen Reformen gegenüber wollen wir uns hüten, kleinlich zu sein; denn an und für sich sind sie sachlich und historisch berechtigt und so wenig unerhört, daß sie von dem harmlosen Theile des Publicums in der Regel nicht als Neuerungen empfunden, ja wohl überhaupt gar nicht bemerkt werden. Wie Wenige unter denen, welche den „Fliegenden Holländer“, den „Tannhäuser“ oder den „Lohengrin“ anhören, haben eine Ahnung davon, daß die Anlage dieser Werke eine andere ist, als die einer Mozart’schen Oper! Auch der junge Richard Wagner wurde bei den ersten Schritten, die er als schaffender Künstler that, vom Geiste der Nachahmung geleitet. Daß er mit den Ouvertüren, Schauspielmusiken und Opern seiner Junggesellenjahre den hervorragendsten Meistern der Reihe nach seinen Tribut gebracht habe, erzählt Wagner selbst auf’s Anmuthigste in seiner Selbstbiographie. Erst mit dem „Fliegenden Holländer“ sehen wir Wagner von der vorhandenen Opernform einigermaßen abweichen. Der Daland und seine Melodiensucht gehört freilich noch ganz zu der alten Oper im schlechten Sinne des Worts. Aber für die Verknüpfung der Scenen hat er hier einen neuen Kitt gefunden. In dieser Oper erscheinen zum ersten Male die berühmten „Leitmotive“, in welchen Etliche nebst einer gewissen Geschicklichkeit im Harmonisiren das ganze Geheimniß von Wagner’s Kunst gefunden zu haben meinen. Außer dieser Aeußerlichkeit ist für die musikalische Entwickelungsgeschichte unseres Componisten in dem „Fliegenden Holländer“ noch manches von höchster Wichtigkeit; namentlich darf nicht übersehen werden, wie eng hier der Musiker sich an den Poeten kettet. Dieser ist mit jenem stark und schwach; wir erblicken den Componisten auf Höhen, wo nur immer die gewaltigsten Meister der Tonkunst hingekommen sind, wenn er das erschütternde Loos der Helden singt, und flach, wenn es sich um Daland's Feilschereien handelt. Es scheint, als könnte er viel besser fliegen als gehen. Wer Wagner’s „Holländer“ mit den „Meistersingern“ vergleicht, kann dies nur thun mit Erstaunen über die unvergleichliche Entwickelung, die zwischen diesen beiden Werken mit dem specifischen Musiker vor sich gegangen ist, aber noch bis zum „Lohengrin“ zeigt sich dieser vom Dichter oft unbedingt abhängig, und gering, wo ihn der letztere im Stiche läßt.

Dieser Umstand hat zu der Meinungsverschiedenheit über Wagner den ersten und einen sehr heftigen Anstoß gegeben. Wenn seine Verehrer ihn unumwunden in eine Reihe mit den größten Componisten der Vergangenheit stellten, so dachten sie einseitig an Leistungen wie die große Auftrittsarie des „Holländers“, und wenn dem gegenüber seine Gegner ihn wie eine Art Dilettanten behandelten, so hatten sie vielleicht den Daland im Auge und manche Rollen von Wagner’s fürstlichen Baßsängern: König Heinrich und Landgraf Hermann. Nur übersahen sie dabei in ihrem Gesammturtheile, daß Wagner auf dem Wege war, den Organismus der Oper auf eine höhere, jedenfalls neue Stufe zu bringen. Die Gereiztheit, welche sich den Debatten leider gleich von Beginn an beigemischt hatte, verhinderte dieses Zugeständniß, welches gegen Mozart und Beethoven ebenso wenig einen Vorwurf einschließt, wie man mit der Behauptung „Columbus hat Amerika entdeckt“ den Ruhm Karl's des Großen schmälert.

Wenn man die Reformen Wagner’s näher bezeichnen will, so kann man es nicht umgehen, einiges Allgemeine über die Oper vorauszuschicken. Sie hat die Aufgabe, eine Handlung mit Hülfe der Musik darzustellen, und besitzt dem gesprochenen Schauspiele gegenüber den Vorzug, den in den scenischen Vorgängen liegenden Gefühls- und Stimmungsgehalt stärker und inniger ausdrücken zu können. Wenn sie aber diesem Zwecke, wie bekannt genug, sehr häufig nicht entsprochen hat, so liegen die Gründe hierfür erstens in der Natur der Musik überhaupt und zweitens in den musikalischen Verhältnissen, die zu der Zeit herrschten, als die Oper entstand.

Was die Natur der Musik überhaupt betrifft, so haben von den Philosophen des Alterthums und den Leitern der mittelalterlichen Kirche ab bis auf unsere Tage sich von Zeit zu Zeit denkende Männer die Frage vorgelegt, ob die Musik mehr schade oder nütze? Ueberall, wo sie zugelassen war: in der Kirche, auf der Bühne, beim Marsche der Krieger, auf dem Tanzboden und im Concertsaale, hat sie immer wieder die Neigung gezeigt in’s sinnlos Sinnliche zu verfallen, und sich als ein zwiefältiges Instrument erwiesen, mit dem ebenso viel Unheil angerichtet, wie Segen gestiftet werden kann. Nirgends aber kommt soviel darauf an, in welchem Sinne ihre Macht gebraucht wird, wie in der Oper. Der Meister erschließt hier mit seiner

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Richard Wagner.
Nach einer Photographie des Lenbach’schen Gemäldes auf Holz übertragen von Adolf Neumann.
(Verlag der „Photographischen Gesellschaft" in Berlin.)

Musik wundervolle Tiefen der Empfindungswelt, erfüllt die Herzen mit Schauern der Freude und des Grauens und weckt die verborgensten und feinsten Fasern der Seele zum Fühlen und Ahnen durch seine Töne; vom Meister geführt, ist die Musik der himmlische Genius, welcher dem übervollen Gemüthe zu Hülfe kommt in den Momenten, wo die Sprache nicht mehr ausreicht und das Wort versagt. In den Händen untergeordneter Geister aber macht die Musik die Oper zu einem Sammelsurium von Effectstückchen und Aeußerlichkeiten, die nur den platten Musikvergnügling angehen. Auf diese Art von Opern paßt das Wort [750] Voltaire’s: „Was so dumm ist, daß man es nicht sagen kann – das singt man.“

Der zweite Grund, weshalb die Oper so oft die dramatische Darstellung einer Geschichte mehr verdunkelt und zerreißt als hebt und verdeutlicht, läßt sich, wie gesagt, auf die zur Zeit der Entstehung dieser musikalischen Kunstgattung herrschenden Verhältnisse zurückführen. Hier ist zunächst vom Uebel, daß für die Oper mit und neben einander zwei Sorten von Musik verwendet wurden, die sich in ihrer Qualität unterscheiden wie Meer und Ententeich, nämlich: die (einfache oder erweiterte) Arie und das Recitativ.

Als jene italienischen Schöngeister, welche um das Jahr 1600 mit der Zuziehung der Musik das griechische Drama restauriren wollten, aus der an und für sich spärlichen Zahl der damaligen Musikformen ausschließlich die Arie für ihre Zwecke verwandten, thaten sie es, weil diese Arie – der einstimmige Gesang mit Begleitung – gerade das Allerneueste war. Die Arie machte es außerdem dem Dilettanten viel bequemer als die mehrstimmigen Sätze und konnte im Drama recht gut überall da am Platze sein, wo die Handlung ein Ausruhen oder eine sammelnde Vorbereitung gestattete und forderte. Für den ganzen übrigen Theil der Handlung – sagen wir den erzählenden – boten die vorhandenen Mittel nichts Besseres als das Recitativ, eine Art Musik zweiter Classe, die in dem Kirchendienste in Brauch war und nichts weiter wollte, als daß die Worte in den großen Räumen besser verständlich wären, als wenn sie nur gesprochen würden. So wurden Arie und Recitativ zum Schema der Oper. Beide erfuhren im Laufe der Zeit mannigfache Modificationen: aus den einfachen Ariengesängen bildeten sich jene imposanten und verschlungenen Ensembles, die wir in der „Stummen“, dem „Tell“ und den „Hugenotten“ bewundern, und wer nur an die große Erzählung der Donna Anna denkt und an den Eingang der großen Arie von Beethoven’s Leonore, weiß, daß auch das Recitativ von den Segnungen der vorgeschrittenen Tonkunst profitirt hat. In diesem Schema schuf Beethoven seinen „Fidelio“ und Mozart den „Don Juan“. Gewiß: die dramatische Kunst wird nie lebendiger und packender gestalten, nie zu höheren und vollendeteren Leistungen gelangen können, als sie uns Mozart – beispielsweise – in dem ersten Finale dieser Oper vermacht hat. Aber ist es nicht niederschlagend, daß trotz dieser Meisterwerke, kaum nachdem ihre Schöpfer die Augen geschlossen, das allerdings unwiderstehliche Ohrengekitzel Rossini’s und das Raffinement Meyerbeer’s die Bühne beherrschen konnten? Ist es in der Ordnung, wenn der Genius und die aufgeputzte Niedrigkeit sich auf denselben Stuhl setzen dürfen?

An diesem Fehler war das Schema selbst schuld: in seiner Zwiespaltigkeit von Arie und Recitativ gab es die Veranlassung, daß ein Theil, nämlich die Arie, auf Kosten des Ganzen bevorzugt wurde. Die Oper konnte nicht gut viel mehr sein, als ein Arienspiel; das Drama dabei war meist Nebensache – in italienischen Theatern ganz eingestandenermaßen; da conversirte und promenirte man von Loge zu Loge, und nur bei besonderen Nummern schenkte man der Scene einige Aufmerksamkeit. Eine solche Oper war das reine Gartenconcert in geschlossenem Raume. In Deutschland ist der Anstand jederzeit mehr gewahrt geblieben, aber wer den Unterschied in der Wirkung von Recitativ und Arie anschaulich vor sich sehen will, der braucht nur die Gesichter der Zuhörer und das Aufathmen und Zurechtsetzen zu beobachten, wenn endlich das Orchester in einen regelrechten Tact einlenkt und der Sänger die Positur zu der längst erwarteten „Nummer“ einnimmt. Componisten, welche es mit dem Drama wirklich ernst meinten, scheinen nicht selten Noth gehabt zu haben, die Verfasser ihrer Libretti von diesem Ernste zu überzeugen. Das geht aus den Verhandlungen hervor, welche ein Mozart mit Da Ponte, Paisiello mit Dalasti und Andere mit Anderen geführt haben. Ja bis in die jüngste Zeit haben etliche Dichter einen besonderen Ruf für Operntexte deshalb genossen, weil sie es so virtuos verstanden, an einem dramatischen Skelet zahllose „musikalische Situationen“, wie eine Reihe von Mönchsgebeten, Krönungsmärschen, Mädchenreigen und andere Utensilien der Opernfabrikation anzubringen.

So war es trotz der Thaten der Meister das Schicksal der Oper, mit den bedeutendsten Kunstmitteln zu einem gewöhnlichen Amüsement zu dienen und das Publicum zu demoralisiren – darum hauptsächlich, weil ihr Schema ein fehlerhaftes war.

Es ist nun Wagner's erstes und größtes Verdienst, daß er diesem Uebel Abhülfe geschaffen und eine Methode gezeigt hat, in der die Operncomponisten den Zweck ihrer Aufgabe nicht so leicht vergessen können. Jederzeit wird es noch darauf ankommen, ob der, welcher die Oper schreibt, ein wahrer Künstler ist oder blos ein Routinier, aber soweit das Uebel seine Wurzel in dem alten Schema der Oper, in ihrem schroffen Unterschiede zwischen Recitativ und Arie – wir begreifen hierunter alle geschlossenen Musikformen, Ensembles, Finale etc. – hatte, ist es durch Wagner beseitigt worden. Wagner veranlaßte die Musik zum ersten Male ihre Gaben gleichmäßig über das Ganze zu vertheilen: dem Recitativ, der alten Quelle der Langweile, führte er einen neuen Strom von Musik zu, und der Arie entzog er unter Umständen von ihrem Ueberfluß; immer mit zwiefacher Berücksichtigung dessen, was dem Drama frommte, und dessen, was die Musik leisten konnte; denn von jener Zeit, wo die Oper erfunden wurde, bis auf die Jugendjahre Wagner’s war die Musik eine andere geworden. Innerhalb dieser Endpunkte lag die Entwickelung der Instrumentalmusik, welche inzwischen der Tonkunst ungeahnte Gebiete erschlossen. Wohl war sie für die Oper und auch für das Recitativ schon benutzt worden, aber Wagner war der Erste, welcher in ihren unerschöpflichen Schatz hineingriff mit dem bestimmten und festen Willen, sie zur Ausfüllung der alten gefährlichen Lücke der Opernform zu benutzen.

Bei Wagner begegnen wir zum ersten Male der angewendeten Symphonie und damit einer Eigenthümlichkeit, die seine Werke als eminent deutsche bezeichnet. Ihm, dem tiefen Kenner unserer Wiener Classiker, dem von Jugend an begeisterten Verehrer Beethoven’s, war der Glaube an die Macht und Verständlichkeit des Orchesters so natürlich und außerhalb jeden Zweifels, wie sein eigenes Leben, und nicht eine Secunde lang konnte es gerade ihm zweifelhaft erscheinen, daß in der Oper das, was die Menschenkehle nicht wiederzugeben vermag, die Instrumente zum Ausdruck bringen müßten. Und diesen Grundsatz führte Wagner in seiner Oper durch, erst unbewußt, dann immer sicherer und energischer, am gewaltigsten in seinem „Tristan“, der erhabensten und schwierigsten seiner Opern. Nach Beethoven’s Tode giebt es in der Musik nichts, was so neu, so hinreißend, so durch und durch lebendig, geistvoll und interessant ist, wie das Orchester der „Meistersinger“, des „Tristan“ und der „Nibelungen“.

Wie diese Instrumente jauchzen und jammern, lachen und klagen, scherzen und weinen, toben und träumen, andeuten und erzählen, beschwichtigen und antreiben können – das ist ein unbeschreiblicher Genuß, ein Genuß, von dem der Musiker nur bedauert, daß er nicht allen Menschen zugänglich ist. Unsere Zeit musicirt viel, aber man kann manchem dieser freiwilligen und berufsmäßigen Musiker zurufen: „Verstehst du auch, was du liesest?“ Und Wagner’s Instrumentalmusik verursacht in mancher Beziehung größere Schwierigkeiten, als die anderer Componisten. Man ist in der Oper nicht gewohnt, das Orchester überhaupt für so wichtig zu nehmen und die Aufmerksamkeit für dasselbe mit der für die Sänger zu theilen. Auch geübte Musiker unterliegen deshalb, neuen Werken Wagner's gegenüber, mitunter dieser Anstrengung mitten im Zuhören – wie viel mehr andere Opernfreunde, die noch durch den Dissonanzenreichthum seiner Ausdrucksweise genirt werden! Es ist ganz gewiß, daß der leidenschaftliche und extravagante Charakter, den Wagner’s Musik in vielen Partien trägt, sehr befremden und ermüden, und daß man dadurch behindert sein kann, zu der Poesie seiner Werke durchzudringen. Wo ein Kenner den Meister bewundert und von der Tragik seiner Situation sich in tiefster Seele gerührt und getroffen fühlt, wo er über den Humor und die Treuherzigkeit seiner Scenen lacht, kann ein Anderer unter dem Eindruck der bloßen Häßlichkeit stehen. Es kommt weiter in Betracht, daß wir nicht viele Wagner-Sänger wie Karl Hill und Albert Niemann, Heinrich Vogl und Therese Vogl haben und daß für eine große Anzahl von Sängern und Dirigenten der Stil der Wagner’schen Werke noch fremd und unüberwindlich ist. Es kommt ferner noch hinzu, daß auch der sagenhafte Stoff seiner Werke, über den sich viele Deutsche so freuen, anderen ein Verhältniß zu denselben erschwert, und es lassen sich der begründeten Bedenken noch mehrere erheben. Aber daß man angesichts der Partituren Wagner's und des unendlich gesteigerten Antheils, welchen er die Musik am Drama nehmen läßt, angesichts der Fülle neuer Aufgaben, durch die er ihr Ausdrucksvermögen bereichert hat, daß man angesichts dessen hat meinen können: [751] Wagner habe die Musik degradirt, von einer Herrin zur Dienerin gemacht: das ist ein complicirter Irrthum.

Die Mangel der alten Opernform sind von den früheren Componisten ebenfalls empfunden worden. Man suchte sie zu beseitigen, indem man die Musik in ihrer Selbstherrlichkeit beschränkte und ihr Schweigen gebot, wo sie das Drama stören wollte. In diesem Sinne reformirte Gluck. Einen Schritt näher an Wagner heran tritt Spontini, welcher die dramatische Kraft der Musik selbst zu benutzen suchte, allerdings nur innerhalb ihrer beiden hergebrachten Grundformen. Es ist Einer vorzüglich, der an dem Schema selbst ernstlich zu rütteln begann, nämlich Karl Maria von Weber im ersten Auftritte der „Euryanthe“, welcher uns Recitativ und Arie in einer Mischung von bisher unbekannter Freiheit zeigt. Auch in der Wiederholung dramatisch bedeutungsvoller Musikmotive zeigt diese Oper Verwandtschaft mit der Weise Wagner’s. Wenn aber dieser glücklicher war, als seine Vorgänger, so liegt dies daran, daß er in seiner Person die Thätigkeit des Musikers mit der des Dichters vereinigte.

Für alle dramatischen Trivialitäten der alten Oper muß den Männern, welche die Libretti verfaßten, ein Theil der Verantwortung zugeschoben werden. Voll des besten Willens, dem Componisten gefällig zu sein, waren sie zugleich meistens ohne die volle Einsicht in die Fähigkeiten der Musik und dienten zweien Herren, von denen sie den einen so gut wie gar nicht kannten.

Mit jenen Librettisten hat nun Wagner allerdings nichts gemein. Geben wir herzhaft zu, daß er ein wirklicher Dichter ist! Wer sich bei Stabreimen und bei Wortbildungen aufhalten will, kann freilich finden, daß z. B. Wilhelm Jordan jene eleganter handhabt und daß diese bei Wagner oft abstoßen. Man kann dagegen aber auch anführen, daß Wagner’s Stäbe für den Gesang sehr bequem und daß seine neuen Wörter in der Mehrzahl von großer Anschaulichkeit sind. Mag man ferner auch die Aehnlichkeit seiner Figuren; das Gewagte in manchen seiner Situationen beanstanden. Wichtiger ist jedenfalls, daß Wagner nur darstellen will, was der Darstellung werth ist, und daß er darzustellen weiß, was er will. Im Gegensatze zu dem aufdringlichen Wirrwarr vieler Opern fällt gerade an Wagner’s Dramen die Knappheit der Handlung, die Einfachheit des Aufbaues, ihre scenische Sparsamkeit und Genialität auf. Oft ist ein ganzer Act nur ein einziges Bild. Kein Knäuel von Intriguen; ein Conflict, klar und deutlich zum Herzen sprechend, und die Lösung zuweilen von jener Tragik, welche Aristoteles im Auge hatte, als er „Furcht und Mitleid“ vom Drama verlangte. Dem „Ring des Nibelung“ ist von jener dramatischen Meisterschaft das geringste Theil geworden – das größte wiederum jenem „Tristan“, dem wir schon in anderer Beziehung die erste Stelle unter Wagner’s Werken anweisen mußten.

Mit Ausnahme der „Meistersinger“ zieht durch alle Dramen Wagner’s ein leiser Ton; in allen klingt das hohe Lied der Liebe durch, jener geheimnißvollen Macht, welche Menschen beglückt und verdirbt. Indem er ihrer weltbewegenden Kraft nachspürte, fand Wagner das moderne Publicum willig, ihm auch auf den sagenhaften Boden entlegener Zeiten zu folgen, und vermochte es, in dem heutigen Geschlechte für eine vergessene Cultur dasjenige allgemeine und starke Interesse zu wecken, welches die begeisterten Kenner und Erforscher dieser Vorwelt vergeblich ersehnten. Mit einem solchen Dichter ergänzte sich aber in Wagner ein Componist von ungewöhnlicher Kühnheit und glühendem Feuer; Beide halfen sich auf Schritt und Tritt und zwar schon beim Entwurfe des Dramas.

So kam Wagner, indem er von zwei ihm gleichzeitig verliehenen Fähigkeiten einen natürlichen Gebrauch machte, ganz von selbst auf sein System. Es kam vorzugsweise dem Recitativ zu Gute und bot das Mittel, diesen bisher geringschätzig behandelten Theil der Oper mit dem anderen gleichwürdig zu machen und damit der Oper die ihr fehlende Einheit des Materials, des Ausdruckes und des Interesses zu gewinnen. Unter denen, die diesem Wagner’schen Recitativsystem auf dem Gebiete der Oper bereits gefolgt sind, seien Hermann Götz mit „Der Widerspänstigen Zähmung“ und August Klughardt (im „Iwein“), im Auslande Verdi mit der „Aida“ genannt. Im Liede durch Schubert („Winterreise“) und Schumann („Dichterliebe“) bereits vorbereitet, hat die Wagner'sche Methode neben Liszt namentlich durch Cornelius Anwendung gefunden, welcher auch, gleich Wagner, seine Gedichte zum größten Theile selbst verfaßte.

Bei der Art, in welcher in den Werken Wagner’s Dichter und Componist sich in die Erfindung und Durchführung des Planes theilten, durfte allerdings der Musiker eine größere Freiheit in Anspruch nehmen und darauf rechnen, daß manche seiner Exclamationen und kurzen Bemerkungen, manche Subtilität und mancher Ausbruch der Ekstase, der in einem absolut musikalischen Kunstsatze unerklärlich sein würde, aus der Dichtung als naturgemäß und nothwendig begriffen und verstanden werden könne. Aber auch der Dichter des Worttextes einer Wagner’schen Oper prätendirt nicht einen vollständigen Bericht der Handlung zu geben, da viele ganz wichtige Momente der Erläuterung und Darstellung durch die Instrumente vorbehalten bleiben. Man geht immer wieder in der Irre, wenn man, wie dies wohl eine alte Oper verträgt, sich nach dem Textbuche ein Urtheil über den Sinn oder Unsinn eines Wagner’schen Dramas bilden will.

Auf derselben engen Verbindung von Dichter und Musiker, welche die neue Form seiner Opern veranlaßte, beruhen auch die großen Wirkungen der Wagner’schen Werke. Auf ein besonders angestrengtes Aufgebot äußerer Klangmittel lassen sich dieselben nicht zurückführen; denn englisches Horn und Baßclarinette haben auch andere Componisten angewendet; auch andere haben Melodien für die Posaunen geschrieben, haben die Streichinstrumente in ein mächtiges Unisono geballt und mit Bläsern und Geigern die höchsten Klangregionen aufgesucht. Was wirkt denn – um ein Beispiel zu bringen – in jener bekannten Scene des „Lohengrin“, wo Elsa die verbotene Frage thut, erschütternd? Einzig dies: daß in dem Momente, wo das arme Weib Alles verloren, das Orchester an die Stunden ihres höchsten Glücks erinnert.

In seinen ersten Opern macht Wagner von jenen Neuerungen nur einen sparsamen Gebrauch. Da giebt es noch Arien, Duette, Terzette, Ensembles und alle die selbstständigen Musikformen, welche das Wesen der Oper nicht bilden. Am Dialoge betheiligt sich das Orchester noch ziemlich leicht faßlich, fast wie nur gelegentlich, einsetzend, andeutend und in kurzen Brocken. Erst in seinen späteren Werken beschränkt er die Arienform auf das dramatisch Nöthige und macht die Instrumente zu mächtigen Mitspielern.

Zeitweise überträgt er ihnen hier auch ganz selbstständig die Erzählung von der inneren Geschichte der dargestellten Handlung. Am deutlichsten ist dies im ersten Acte der Walküre wahrnehmbar. Die Entstehung von Sieglinde’s sträflicher Liebe ist hier allein aus dem Orchester herauszuhören. Die Instrumente entschuldigen sie zugleich, indem sie uns den Uebergang von Mitleid zu Liebe so rührend verdeutlichen.

Nach dem „Lohengrin“ hat Wagner den Weg, welchen er bis dahin dem Anscheine nach unbewußt eingeschlagen, mit großer Entschiedenheit bewußt verfolgt und einer Verwechselung seiner folgenden Werke mit der alten Oper vorzubeugen gesucht, nicht nur als Componist, sondern auch als Schriftsteller und Theoretiker. Er verfaßte eine Reihe von theoretischen Werken, deren wichtigste die beiden Bücher sind, welche den Titel führen „Oper und Drama“ und „Das Kunstwerk der Zukunft“. In dem ersteren erklärt und begründet er seine eigene Methode; das andere beschäftigt sich meist mit der Kunst im Allgemeinen. Hinter diesen Werken steht ein Mann, der die Kunst ernst nimmt, der von der Ueberzeugung beseelt ist, daß sie eine Erzieherin der Menschheit ist und dem Volke zu Gute kommen muß. Von diesem Standpunkte aus hat sich Wagner wiederholt auf das Gebiet der Socialpolitik begeben, nicht als Anhänger einer Partei, sondern im Sinne Plato’s und Schiller’s.

Für das Verständniß seiner Kunstwerke hat Wagner übrigens durch seine Schriften direct leider wenig erreicht. Von dem ganzen großen Werke über „Das Kunstwerk der Zukunft“ zeigt sich in der weiteren Oeffentlichkeit nur eine einzige Spur in dem Spottnamen „Zukunftsmusik“. In der That fehlt es diesen Werken nicht an Paradoxen, und ein frei denkender Musiker kann das Todesurtheil nicht acceptiren, welches dort über die sogenannte absolute Musik ausgesprochen wird, wie auch die Vertreter der anderen Künste ebenfalls die Gründe nicht einsehen können, aus denen die Selbstständigkeit jeder einzelnen Kunst zu Gunsten des einzigen Theaters aufgegeben werden soll. Die Ausschließlichkeit jener Theorien, der Fanatismus, mit welchem Menschen und Thatsachen durch dieselben mitgespielt wird, erbittert und stößt ab. Man versteht und entschuldigt diesen Charakter von Wagner’s Schriften, wenn man bedenkt, daß sie ein feuriger, heißblütiger Künstler verfaßte, theilweise in einer harten Zeit des Verkanntseins und der [752] Erbitterung, zu bedauern ist aber, daß sich allzu eifrige Anhänger des großen Künstlers haben bereit finden lassen, auch aus den Paradoxen des Meisters Dogmen zu machen. An und für sich schließen das Verständniß Wagner’s und die Liebe zu ihm eine gleiche und größere zu andern Meistern der Gegenwart und Vergangenheit nicht aus. Wagner selbst hängt mit der ganzen ihm innewohnenden Gluth an dem Schaffen der alten Meister und findet in ihren Werken die Wahrheit und die Nothwendigkeit, die er der neueren Production im Allgemeinen abspricht. Und wenn er in seinem sehr lesenswerthen Schriftchen „Ueber das Dirigiren“ die Musikpraxis der Gegenwart der Flüchtigkeit beschuldigt und Personen und Zustände hart geißelt, so thut er dies gerade im Hinblicke auf die Meisterwerke der Alten. Von dieser seiner echten Pietät und Begeisterung für die Classiker hat er auch als Dirigent sehr positive Beweise gegeben. Unter seiner Leitung hat es den Musikern oft geschienen, als ginge ihnen jetzt erst der Sinn einer altbekannten Composition auf. Als er vor etlichen Jahren mit dem Wiener Hofopernorchester die Freischütz-Ouverture zu „studiren“ begann, schien das sehr auffallend und unnöthig. Hinterdrein aber wurde beschlossen, das gleichsam neuentdeckte Stück fortan nur „Wagnerisch“ zu geben.

Mit Beethoven’s Sinfonien ging es in etlichen Großstädten ähnlich, und wenn man sich auch gegen Wagner’s Textredactionen aussprechen muß, so sind doch die Gründe seiner Aenderungen hochachtbar und frei von Willkür.

Es stände schlimm, wenn Wagner der einzige Meister wäre von diesem Verständniß für die Alten und der Fähigkeit es Andern mitzutheilen. Aber Männer seiner Art sind dennoch selten, und für einen gereiften Kunstjünger ist es ein Glück, an der Hand Wagner’s das Museum der musikalischen Meisterwerke zu durchschreiten; hundert Dirigenten aus der unmittelbaren Schule des Meisters – und der Musik im deutschen Vaterlande wäre wesentlich geholfen. Dies war der Gedanke, der die Freunde Wagner’s bewog, die Gründung einer Baireuther Stilbildungsschule in Aussicht zu nehmen. Wünschen wir diesem Projecte das beste Gedeihen!
Hermann Ketzschmar.